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Der zwanzigjährige David lebt zusammen mit seiner Mutter seit zwei Jahren in einem kleinen Dorf in einer süddeutschen Weinregion. Er schmeißt seine Ausbildung zum Physiotherapeuten und beginnt in der einzigen Gaststätte der Umgebung zu jobben. Seine Mutter hält das für bescheuert, seine Freunde kapieren nicht, weshalb David das tut, und er selbst ist ziemlich durch den Wind, denn er kann sich nicht eingestehen, schwul zu sein. Ist er aber. David hängt noch seiner Liebe des vergangenen Sommers nach. Aber er kann sich in dieser ländlichen Region einfach keine offen schwule Beziehung vorstellen. Doch dann läuft ihm eines Abends der gleichaltrige Sid über den Weg, der ihn ziemlich triggert. David wirft seine Vorbehalte über Bord und lässt sich auf Sid ein. Der hat allerdings eine bewegte Geschichte hinter sich, die ihn ziemlich hemmt: Sid ist hier in der Gegend geboren. Seine Mutter war die jüngere Schwester des lokalen Grafen, dem nicht nur das Schloss, sondern auch fast alle Ländereien in der Umgebung gehören. Als er ein Jahr alt war, sind seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Bei diesem Unfall wurde auch die schwangere Gräfin getötet. Die Ursache des Unfalls wurde nie geklärt. Sid ist seit diesem Tag Waise. Er lebte einige Jahre bei seinem Onkel auf dem Schloss, wurde dann nach Schottland auf ein Internat geschickt. Seit ein paar Wochen ist er nun zurück in Süddeutschland, weil ihn sein Onkel in die Geschäfte einführen will, die er einmal übernehmen soll. David und Sid kommen sich näher, sie verlieben sich ineinander. Aber Sid macht einen Rückzieher, weil er es sich nicht mit seinem konservativen Onkel verscherzen sollte, der ihn adoptieren und zum Alleinerben machen will. Und der Graf akzeptiert eine schwule Verbindung keinesfalls. David wird durch die Höhen und Tiefen der Liebe geführt. Er ist wütend auf Sid, kann ihn aber nicht ziehen lassen. Werden David und Sid einen Weg aus der Misere finden? Trag dich auf Stephanos Website in die GayLetters ein: Warum mögen Stephanos Leser.innen seinen Newsletter? - Weil sie kostenlos eine prickelnde Novelle bekommen. - Weil sie sofort von den aktuellsten Neuerscheinungen erfahren. - Weil sie nur dann eine Nachricht bekommen, wenn es wirklich Wichtiges zu berichten gibt
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Stephano
Dorfidylle
GayStory
»Kann es nicht sein, dass die Wunden, die das Leben hinterlässt, nie ganz verheilen, wenn man sich nicht ordentlich um sie kümmert?«
Der Autor
Stephano wuchs in Niedersachsen auf, bevor er zum Studium nach Köln ging. Germanistik, Skandinavistik und Philosophie stand auf dem Plan. Seit 2007 schreibt er. Heute lebt er mit seinem Mann in Köln. Wenn du mehr über ihn erfahren willst, dann findest du ihn hier:
Website: www.stephano.eu
Das Auto raste ungebremst auf den Baum zu. David schrie vor Entsetzen auf. Er rüttelte am Sitz vor sich. Doch der Fahrer reagierte nicht. Der Baum kam immer näher. David spürte die Panik. Adrenalin flutete seinen Körper. Er zerrte an seinem Gurt. Sie hatten den Baum fast erreicht. David schrie nach Julian. Aber der saß ganz ruhig neben ihm. Er zwinkerte nicht einmal, sondern sagte bloß »Du bist auf dem richtigen Weg.« Dann krachte es. Ein Ruck ging durch Davids Körper, als er nach vorne geschleudert wurde und gegen die Rückenlehne des Fahrersitzes knallte. Die Windschutzscheibe zerstob in tausend Splitter. Das Auto wirbelte herum, überschlug sich. Einmal. Zweimal. David wurde hin und her geschleudert. Er krachte mit dem Kopf gegen die Decke, gegen die Seite. Ein Rucksack raste unkontrolliert durch den Innenraum. Das Fenster links neben ihm zersplitterte.
Als das Auto endlich zum Stillstand kam, hatte David jegliche Orientierung verloren. Er schmeckte Blut. Um ihn herum herrschte Totenstille. Das Auto lag auf dem Dach, David hing kopfüber in seinem Gurt. Flüssigkeit sickerte in seine Augen und tauchte alles in einen roten Schimmer. Sein Herz raste, als er zur Seite sah. Bewegungslos baumelte Julian neben ihm vom Sitz herab. David streckte mit rasendem Puls eine Hand nach ihm aus. Blut rann über Julians Gesicht bis in die Haare und tropfte an die Autodecke. Doch dann öffnete er plötzlich die Augen, blickte David sanft an und sagte: »Vertrau mir.« Danach verlor er das Bewusstsein. Wieder schrie David.
Immer noch schreiend schreckte David hoch und realisierte, dass er in seinem Bett lag. Das T-Shirt war schweißnass. Sein Kiefer schmerzte. Vermutlich hatte er die Zähne krampfhaft zusammengebissen. Langsam ließ er sich zurück auf seine Matratze sinken. Das war nur ein Traum gewesen! Er spürte sein Herz noch immer aufgeregt pulsieren. Nur ein Traum! Über ihm starrte die weiße Zimmerdecke zu ihm herab. Von draußen sickerte das erste Licht des Tages durch die Lamellen der Jalousie. Vermutlich war es noch zu viel früh, um aufzustehen. Doch David befürchtete, den Traum herauszufordern, wenn er die Augen noch einmal schloss. Also schlug er die feuchte Bettdecke zurück und schwang die Beine aus dem Bett.
Was war das gewesen? Er hatte lange nicht mehr von Julian geträumt. Und wie kamen sie zusammen in dieses Auto? Nach und nach drangen die Erinnerungen an den vorherigen Abend in Davids Hirn. Sie hatten zusammengesessen. Tomas und er. Sie hatten eine Weile gezockt und Bier getrunken. Nicht viel, denn David wollte heute fit und wach sein. Er wollte einen guten Eindruck hinterlassen und nicht verkatert wirken. Das kam nicht gut im Gastgewerbe. Müde strich er sich über den Kopf und fühlte an seinen Fingern, dass auch seine Haare nass waren. Warum Julian?
Tomas hatte von dem Unfall erzählt. Jetzt erinnerte sich David allmählich wieder. Vor zwanzig Jahren ist ein Auto auf der Landstraße zwischen dem Dorf und dem Schloss des Grafen gegen einen Baum gerast. Alle Insassen sind dabei ums Leben gekommen. David selbst muss damals ein Kleinkind gewesen sein. Ein Baby. Und er hat hier im Dorf gelebt. Also hat er die Leute im Auto vielleicht gekannt. Das alles hat stattgefunden, kurz bevor sie nach Berlin umgezogen sind. Aber von dem Unfall hat ihm nie jemand erzählt. Die Frau des Grafen sei im Auto gewesen, hat Tomas gesagt. Und ihre Schwester mit ihrem Mann. Dunkel erinnerte sich David an ein Holzkreuz und Blumen am Rand der Landstraße. Er war schon oft an der Unfallstelle vorbeigekommen, hat aber nie gefragt, was dort passiert war. Er hat seine Mutter nicht mit solchen Themen aufregen wollen, deshalb hat er sie nie darauf angesprochen.
Im Traum hat Julian neben ihm gesessen. Den Fahrer hat er nicht erkannt. Nur seine Silhouette sprang David jetzt noch einmal an. Und sofort spürte er wieder die Panik des Traums in sich hochkriechen.
Entschlossen drückte er sich vom Bett hoch und schlurfte über den schmalen Flur ins Bad. Er wollte sowohl den Schweiß als auch die furchtbare Erinnerung an den Traum loswerden. Jedes Mal, wenn er die Augen kurz schloss, tauchten die Bilder wieder in seinem Kopf auf. Weiterschlafen wäre keine Option gewesen.
Im Erdgeschoss hörte er seine Mutter in der Küche rumoren. Vielleicht war es doch nicht mehr so früh, wie er gedacht hatte. Vielleicht hatte ihn der Traum genau zur richtigen Zeit geweckt. Du bist auf dem richtigen Weg. Julians Stimme hallte durch sein Hirn. Vertrau mir. David starrte sich im fleckigen Badezimmerspiegel über dem Waschbecken an. Er war bleich. Wie sollte er jemandem vertrauen, der den Kontakt zu ihm vor Monaten abgebrochen hatte? Seine halblangen Haare waren vom Schlaf zerstrubbelt, die Wangen ein wenig hohl und die dunkelbraunen Augen teilten ihm mit, dass sie eigentlich lieber wieder hinter den Lidern verschwinden würden.
Er streifte seine Klamotten vom Leib, warf sie in den Korb mit der Dreckwäsche, dachte daran, dass er dringend waschen sollte. Er bemerkte die leichte Morgenlatte, strich sich über den flachen Bauch, überlegte, ob er sich beim Duschen einen runterholen sollte, verschob das dann aber auf den Abend. Keine Ablenkungen heute Morgen. Er hatte klare Entscheidungen getroffen, die er jetzt nur noch umsetzen musste. Er drehte das Wasser auf und stieg in die Duschwanne.
Warum ausgerechnet Julian?
Erst als David das Wasser eiskalt stellte, verscheuchte er die letzten Bilder des Traums.
David hatte den ersten Schritt getan. Jetzt musste er die Konsequenzen daraus ziehen. Er strich sich mit gespreizten Fingern durch das nasse Haar und betrachtete nachdenklich sein Spiegelbild im engen Badezimmer, das er noch immer mit seiner Mutter teilte. Auch das sollte er bald ändern. Er konnte schließlich nicht ewig mit seiner Mutter zusammenleben. Er war zwanzig! Die meisten seiner Berliner Freunde waren längst von zu Hause ausgezogen. Hier auf dem Dorf war es dagegen normal, möglichst lange bei den Eltern wohnen zu bleiben. Damit wollte er sich aber nicht abfinden, immerhin waren seit dem Umzug aus der Hauptstadt schon zwei Jahre vergangen. David seufzte. Er lebte in diesem verdammten Dorf und kam hier nicht weg. Natürlich hätte er einfach seine Sachen packen und zurück nach Berlin gehen können. Aber er wollte seine Mutter nicht allein lassen. Nicht nach all dem, was passiert war. Nicht, solange es ihr nicht wirklich besser ging. Und das konnte noch Jahre dauern. Zumindest wenn sie sich nicht endlich mit ihrer Krankheit abfand und sich professionelle Hilfe holte.
»David!« Seine Mutter rief aus dem Erdgeschoss herauf. »Musst du nicht langsam los?«
Er zuckte zusammen. Auch das stand ihm noch bevor: Er musste ihr sagen, welche Entscheidungen er getroffen hatte. Er schnappte sich ein sauberes schwarzes T-Shirt und streifte es über. Dann ging er die knarzenden Stufen der Holztreppe betont langsam herunter und begrüßte seine Mutter in der Küche mit einem Kuss auf die Wange. Wie alles in ihrem Haus war auch die Küche eng. Mehr konnten sie sich einfach nicht leisten, aber immerhin war es ein frei stehendes Haus mit einem kleinen Garten und keine muffige Wohnung, wie in Berlin. David ließ sich am Küchentisch nieder, strich mit einer Hand über die schartige Oberfläche und suchte nach den richtigen Worten.
»Bist du nicht schon viel zu spät?«, erkundigte sich seine Mutter und stellte ihm einen Kaffee hin. »Oder hast du heute keine Patienten?«
David schnitt sich eine Scheibe Brot ab und legte sie auf seinen Teller. Gerade wollte er ihr sagen, was er ihr sagen musste, als seine Mutter mit einer enthusiastischen Geste auf eine Postkarte wies, die neben der Tageszeitung lag.
»Dein Vater hat dir geschrieben.«
David nahm die Karte in die Hand. Auf der Vorderseite waren die Dächer der Oper von Sydney zu sehen. Auf der Rückseite standen die üblichen Grüße. Knapp, unpersönlich, nichtssagend.
»Ich wollte immer mal nach Australien«, sagte seine Mutter.
»Warum fährst du dann nicht hin?«, fragte David.
Er lehnte sich nach hinten und katapultierte die Karte zielsicher ins Altpapier.
»Du könntest sie wenigstens für ein paar Tage an den Kühlschrank hängen.«
David spürte Wut in sich aufsteigen.
»Wozu? Um dein Gewissen zu beruhigen?«
»Ach David, wir müssen doch nicht schon wieder streiten.«
Das bis gerade noch betont fröhliche Gesicht seiner Mutter verzog sich wie unter einem dumpfen Schmerz und ihre Mundwinkel zuckten. David starrte auf sein Brot.
»Ich habe gekündigt«, platzte es aus David heraus. »Schon vor einem Monat. Gestern war mein letzter Tag.«
»Warum das denn?«, fragte seine Mutter entsetzt. »Du warst doch ganz glücklich in der Praxis. Und warum hast du mir nichts davon erzählt?«
David seufzte.
»Ich muss mein Leben mal auf die Reihe kriegen.«
»Indem du deinen Job kündigst?«
»Du arbeitest gar nicht ...«
»Du weißt genau, warum!«
»Allerdings. Aber du hast keine Ahnung, was in mir los ist.«
Kurz huschte ein Lächeln über das Gesicht seiner Mutter.
»Ich weiß, dass du schwul bist. Deshalb hast du dich von Kristin getrennt, nicht wahr?«
»Mama! Ich bin nicht schwul!«
Nervös zupfte er an seinem T-Shirt.
Sie nickte. Dann strich sie ihm sanft über die Haare. Schnell duckte sich David weg. Ihm war ihre ständige Suche nach Nähe eindeutig zu viel.
»Und was willst du jetzt tun?«, erkundigte sich seine Mutter. »Du musst ja von irgendwas leben.«
David trank den letzten Schluck Kaffee, erhob sich und stellte die Tasse in die Spülmaschine.
»Ich bin gleich mit dem Wirt im Bullen verabredet. Der braucht Personal im Service.«
»Du willst bei Konrad arbeiten?« Die Stimme seiner Mutter klang gepresst. »Bist du dir sicher, dass das eine gute Entscheidung ist?«
»Im Moment ist alles besser, als den ganzen Tag an alten Leuten herumzukneten und sich von ihnen das Gejammer über ihre Wehwehchen anzuhören.«
»Aber ausgerechnet bei Konrad …«
David warf seiner Mutter einen irritierten Blick zu. Auf ihrem Hals und den Wangen zeichneten sich plötzlich hektische Flecken ab.
»Was weißt du denn schon von Konrad? Soweit ich mich erinnere, bist du in der ganzen Zeit, die wir hier leben, nicht ein einziges Mal im Bullen gewesen.«
Mit gerötetem Gesicht lehnte sich seine Mutter an den Küchentisch und verzog den Mund.
»Du hast keine Ahnung, wie er ist. Er ist falsch.«
»Du kennst ihn doch gar nicht. Vermutlich hast du nur irgendwelche Gerüchte über ihn gehört, mehr nicht. Und mir ist es egal, was andere Leute sagen. Ich mache mir mein eigenes Bild.«
»Ich kenne Konrad von früher«, erwiderte sie. »Das ist lange her. Und ich weiß, dass er ein schlechter Mensch ist.«
»Du spinnst! Niemand ist einfach nur ein schlechter Mensch.«
»Ich verstehe dich nicht«, jammerte seine Mutter jetzt. »Du wirfst dein Leben einfach weg, als hättest du noch ein zweites im Kühlschrank. Ohne eine solide Ausbildung wirst du irgendwann auf der Straße landen.«
David stöhnte. »Seit wann interessiert dich das? Dir geht es doch immer nur um dich!«
Seine Mutter sackte auf einen der Küchenstühle, der bedenklich unter ihr knackte, obwohl sie eigentlich viel zu dünn war. Ihre Schultern zuckten, während sie verneinend ihren Kopf schüttelte.
»Ich will doch nur dein Bestes!«
Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Ihm fielen ihre strähnigen Haare zum ersten Mal bewusst auf. Wann war sie beim Friseur gewesen? Das musste schon drei Monate her sein. In Davids Magen zog sich alles zusammen. Die Verantwortung drückte ihm die Kehle zu. Aber er wollte nicht mehr still sein.
»Mama!«, sagte er. »Das weiß ich doch.« Er trat hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. Durch die dünne Haut ertastete er jeden ihrer Knochen. »Du musst dich endlich um einen Therapeuten kümmern.«
Er spürte, wie sich ihre Muskeln unter seinen Fingern anspannten. Sie hatten schon so oft darüber gesprochen. Immer wieder hatte seine Mutter beteuert, mit der Suche zu beginnen. Aber am Ende blieb es jedes Mal bei dem Vorhaben.
»Soll ich für dich bei den Therapeuten anrufen?«, fragte er.
Seine Mutter schüttelte lethargisch den Kopf.
»Auf keinen Fall!«, flüsterte sie. »Ich komme doch ganz gut klar.« Sie hob den Kopf und wandte sich ihrem erwachsenen Sohn zu. Ein gepresstes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. »Mir geht es schon viel besser.«
»Das sagst du mir seit sechs Jahren.« David ließ frustriert die Arme hängen. »Ich will dich nicht noch mal mit einer leeren Packung Schlaftabletten auf dem Sofa finden!«
Ihr Lächeln wurde schlagartig von dem Ausdruck tiefer Traurigkeit abgelöst.
»Das wirst du mir den Rest meines Lebens vorwerfen, oder?«, fragte seine Mutter. Ein Zucken ging durch ihre Schultern und sie brauste auf: »Herrgott noch mal. Ich war in einer echt beschissenen Situation damals. Warum vertraust du mir nicht einfach mal?«
»Ich war vierzehn, Mama. Und ich war vollkommen überfordert. Wenn unsere Nachbarn damals nicht gewesen wären, hätte ich einfach daneben gesessen, während du verreckt wärst.«
Wut machte sich auf dem Gesicht seiner Mutter breit.
»Du sprichst über mich, als wäre ich ein Stück Vieh!«
»Dann verhalt dich nicht auch so!«
Impulsiv stieß sich seine Mutter von der Tischkante ab, richtete sich auf und warf dabei den Stuhl nach hinten um. Sie drehte sich zu David herum und starrte ihn aufgebracht an.
»Was ist los mit dir?«, fauchte sie. »Bist du frustriert, weil du hier keine Jungs zum Ficken findest? Oder lässt du nur deine schlechte Stimmung an mir aus, weil du keine Ahnung hast, was du mit deinem Leben anfangen sollst?«
Sie marschierte aus der Küche ins Wohnzimmer. David folgte ihr nach ein paar Sekunden und sah, dass sie mit zuckenden Schultern am Fenster stand. Sie mussten dringend lüften. Die Luft war dick und stickig. Die düstere Holzverkleidung hatte er auch schon längst gegen eine helle Tapete austauschen wollen, hatte die Arbeit aber dann doch immer wieder gescheut und lieber seine alten Kinderzeichnungen mit Heftzwecken im Holz befestigt. Seine Mutter schien die Atmosphäre in diesem Haus gar nicht bewusst wahrzunehmen. Aber David war sich sicher, dass ihre Stimmungen auch davon berührt wurden. Er berührte seine Mutter am Oberarm, doch sie entzog sich ihm sofort.
»Wir hätten nicht hierherziehen sollen«, raunte sie. »Wir hätten in Berlin bleiben sollen. Da war doch alles gut.«
»Nichts war gut. Und das weißt du genau. Du hast die ganze Zeit vor dem Fernseher gesessen und dich nicht vor die Tür getraut, weil du dachtest, die Nachbarn würden dich nach dem Selbstmordversuch schief angucken.«
Wütend wirbelte seine Mutter zu ihm herum und ihre Augen funkelten ihn an. »Das war kein Selbstmordversuch! Ich konnte einfach nur nicht schlafen und da habe ich eben ein paar Tabletten zu viel genommen!«
»Das waren fast vierzig Stück. Und eine Flasche Wodka. Das nimmt kein normaler Mensch, der einfach nur schlafen will!«
»Was willst du von mir, David? Soll ich mich von einer Brücke stürzen, damit du deine Ruhe hast? Willst du das? Soll ich das tun?« Sie schob ihn energisch zur Seite und schnappte sich ihre Jacke vom Kleiderhaken im Flur. »Ich kann sofort losgehen und springen, wenn es das ist, was du willst!«
Sprachlos sah David zu ihr hinüber. Wie flüssiger Teer verdichtete sich das triste Gefühl in seinem Bauch. Jetzt hatte ihn die Trauer auch überrannt. Er kannte das schon. Immer, wenn seine Mutter so drauf war, wie heute, schwappte irgendwann die Depression zu ihm herüber. Er wusste einfach nicht, wie er sich dagegen wappnen sollte. Aber heute konnte er sich das nicht erlauben. Er hatte gleich ein Vorstellungsgespräch. Er musste fröhlich und offen wirken, wenn er dem Wirt des Bullen gegenübersaß.
Seine Mutter stand vor der geschlossenen Haustür und starrte ihn herausfordernd an. Als er sich nicht regte, ließ sie langsam den Kopf hängen. Die Jacke, die sie gerade noch in ihren Händen gehalten hatte, fiel auf den Boden. Erschöpft lehnte sich seine Mutter an das abgegriffene Holz der Tür. Dann flossen ihr die Tränen aus den Augen und sie rutschte nach unten. Sie weinte still. Und stürzte damit David in das nächste Gefühlschaos. Er erinnerte sich plötzlich an eine Klassenfahrt mit neun Jahren und an das Heimweh. Er hatte sie so sehr vermisst, dass er beim Zähneputzen nur noch geheult hatte. Eine Stunde später war sie da gewesen und hatte ihn eingesammelt und gegen den Rat seiner Lehrerin mit nach Hause genommen. Trotz all der Erfahrungen der vergangenen Jahre liebte er seine Mutter innig und dieses Gefühl schoss ihm heiß durch den Magen. Langsam ging er auf seine Mutter zu. Er hockte sich vor sie hin und legte die Arme um sie.
»Ich will, dass es dir gut geht«, flüsterte er. »Ich will, dass du wieder lachst. So wie früher. Ich will mit dir nach Paris fahren und den Eiffelturm hochklettern.«
Seine Mutter schluchzte noch eine Weile, dann beruhigte sie sich langsam. Endlich hob sie den Kopf und sah ihren Sohn mit verheulten Augen an.
»Das weiß ich doch.« Sie legte ihre Arme um ihn. »Ich verspreche dir, dass ich mich um Hilfe kümmere.«
Vorsichtig strich David ihr über die ungewaschenen Haare.
»Wir sind doch extra aus Berlin hierhergezogen, weil du hier ein paar Leute aus deiner Vergangenheit kennst. Du hast hier Freundinnen. Warum rufst du sie nicht einfach mal an und verabredest dich mit ihnen zum Kaffee?«
»Mir tut es so leid, dass du das alles ertragen musst.«
»Versprich mir einfach, dass du dich um dich kümmerst.«
»Ich schaff das schon«, murmelte seine Mutter. »Aber überdenk bitte auch noch mal deine Entscheidung. Dein Chef nimmt dich doch bestimmt sofort zurück, wenn du ihn fragst.«
David schüttelte den Kopf. »Nein, Mama. Mit der Physiotherapie habe ich abgeschlossen. Ich muss jetzt was anderes machen. Ich will unter Leute. Unter gesunde Leute. Und deshalb gehe ich für den Anfang in den Bullen. Wenn der Wirt mich haben will.«
»Ich kann mit ihm reden. Er erinnert sich bestimmt noch an mich.«
»Das muss ich jetzt allein machen. Nicht mit meiner Mutter an der Hand.«
Langsam richtete sich David wieder auf und zog seine Mutter dabei mit sich hoch. Sie war noch etwas wackelig auf den Beinen, aber sie machte nicht den Eindruck, als würde sie im nächsten Moment umfallen.
»Ich gehe jetzt los. Bitte setz dich wenigstens einen Moment draußen in die Sonne. Wir haben einen so schönen Garten.«
Seine Mutter nickte erschöpft. Dann hob sie ihre Jacke auf und hängte sie an den Kleiderhaken. Sie drückte David einen Kuss auf die Wange und schlurfte ins Badezimmer. Die Tür schloss sich leise hinter ihr. David atmete tief durch. Immer noch hatte er einen düsteren Klumpen im Bauch. Aber er war schon etwas kleiner geworden. Wenn er gleich auf dem Rad saß und ins benachbarte Dorf radelte, würde er sich schon auflösen. Das war immer so.
Er schlüpfte in seine Jacke und seine Schuhe, steckte die Schlüssel, sein Portemonnaie und das Handy ein und verließ das Haus. Nicht ahnend, dass die neue Arbeit zu entscheidenden Veränderungen in seinem Leben führen würde.
Bevor David den Gasthof Zum brüllenden Bullen erreichte, hielt er an einer Weide noch einmal an. Er ließ den Blick über die grasenden Kühe auf den Wiesen streifen. Die Luft war noch ein wenig kühl und ein leichter Wind strich ihm über die nackten Unterarme. Der Duft der Tiere wehte zu ihm herüber. In der Ferne hörte er einen Trecker. Hinter der Weide stieg die Landschaft leicht an und war von dunkelgrünen Tannen bedeckt. Als er im hellen Licht der Sonne die Augen ein wenig zusammenkniff, konnte er den Hochsitz erkennen. Dort oben hatte er im letzten Spätsommer mit Julian darüber geredet, wie er sich eine Beziehung vorstellte. Doch er hatte dabei nur an sich gedacht, nicht an den attraktiven Jungen neben sich. Der hatte das natürlich bemerkt und war stinksauer abgezogen. Seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen, obwohl das Internat, in dem Julian bestimmt immer noch lebte, nur wenige Kilometer entfernt lag.
David verfluchte sich, dass er sich damals so bescheuert verhalten hatte. Sie hatten gemeinsam eine so schöne Zeit in Schweden verbracht – alles hatte darauf hingedeutet, dass aus ihnen beiden mehr hätte werden können. Aber David hatte es verbockt. Seine Versuche, mit Julian noch mal Kontakt aufzunehmen, waren in den Wochen danach gescheitert. In gewisser Hinsicht konnte David ihn verstehen. Wer wollte schon eine heimliche Beziehung und ein ewiges Versteckspiel spielen? Dafür hatte er sich den Falschen ausgesucht. Und vergessen hatte er Julian seitdem nicht mehr.
David streckte den Rücken durch. Er musste seine Sehnsucht jetzt für eine Weile zur Seite schieben. Er hatte ein Gespräch zu führen. Und wenn er ehrlich zu sich war, dann war er ziemlich aufgeregt. Andere Chancen hatte er hier in der Gegend nicht. In den letzten Monaten hatte er sich umgehört, wo er eine Arbeit finden könnte. Natürlich suchten die Bauern immer nach Hilfskräften. Aber David konnte sich nicht vorstellen, im Stall zu arbeiten oder bei der Weinlese zu helfen. Alexander würde ihm vermutlich sofort einen Job vermitteln. Aber David wollte lieber im Service arbeiten, anstatt bei Wind und Wetter mit dem Trecker über einen verdreckten Hof zu kurven. Also sollte er sich heute von seiner charmantesten Seite zeigen.
Er umfasste den Lenker seines Fahrrads fest und schwang sich wieder auf den Sattel. Sein Fahrrad war zwar mitgenommen, aber es fuhr ihn zuverlässig an jedes Ziel. Nur bei längeren Steigungen wünschte er sich manchmal ein paar mehr Gänge, um runterzuschalten.
Fünf Minuten später fuhr er auf den Hof des Landgasthofs. Kurz hinter dem Zaun stoppte er und ließ den Blick über die Gebäude streifen. Das Hauptgebäude an der Stirnseite war sicherlich zweihundert Jahre alt. Die massiven Holzbalken im Dach waren dunkel verwittert, die Mauern jedoch weiß getüncht und auf den Fensterbänken blühten Geranien. Auf diese Weise verströmte der Gasthof den angenehmen Charme eines familiengeführten Betriebs. An die alte Gaststätte war rechter Hand ein für die Umgebung eigentlich viel zu schickes Hotel angeschlossen, das von Glas und Stahl dominiert war, doch offenbar gab es genug Gäste, die bereit waren, die gesalzenen Preise zu zahlen. Links wurde das Ensemble durch eine ehemalige Scheune abgerundet, in der manchmal größere Feiern stattfanden. Letzten Sommer war David bei einer Hochzeit eingeladen gewesen, die zwischen Heuballen und echten Kühen in der Scheune gefeiert wurde. Alexander war ebenfalls eingeladen gewesen und sie hatten an dem Abend auch die obere Etage der Scheune erkundet. Bei diesem Gedanken musste David lächeln. Wenn die Hochzeitsgäste ein paar Meter unter ihnen gewusst hätten, was sich über ihren Köpfen abspielte, hätten sie vermutlich die Heugabeln rausgeholt.
Die Auffahrt zum Gasthof war mit hellem Kies bestreut, alte landwirtschaftliche Gerätschaften, deren ursprüngliche Funktion David nicht kannte, waren auf dem Vorplatz aufgestellt und ebenfalls mit üppig blühenden Geranien geschmückt. All das erweckte den Eindruck von Gastfreundlichkeit. David kannte diesen Ort zwar als Gast, aber er hatte keine Ahnung, ob die Freundlichkeit auch für die Angestellten galt oder ob Konrad – wie seine Mutter behauptete – ein Idiot war.
David lehnte sein Rad an die Wand der Scheune und ging gemächlich auf den Haupteingang des Gebäudes zu. Er hatte hier schon viel Zeit verbracht, denn dies war immerhin die einzige Gaststätte in der Umgebung von zwanzig Kilometern und wenn er sich mit seinen wenigen Kumpels auf ein Bier treffen wollte, blieben ihnen nicht viele andere Möglichkeiten. Er warf einen Blick durch die Fenster in den Gastraum, der um diese Zeit dunkel war. Das Frühstück war vermutlich längst abgeräumt und für die Mittagsgäste war es noch viel zu früh. Trotzdem bewegte sich hinter der Scheibe jemand.
David zog die schwere Holztür auf und tauchte in die Gemütlichkeit des Landgasthofes ein. Geradeaus befand sich der Empfang des Hotels, der gerade nicht besetzt war, rechts der Zugang zum Neubau mit den Hotelzimmern und links ging es in den Gastraum. David war einen Moment lang unschlüssig, ob er die Klingel auf dem Tresen bedienen sollte oder besser nachsah, wer gerade hinter der Bar arbeitete. In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Gastraum und Timo, einer der Angestellten, bei dem er schon viele Abende trunken am Tresen verbracht hatte, stürmte heraus.
»Dann mach deinen Scheiß doch alleine!«, fluchte er und stoppte, als er David bemerkte. »Was machst du denn hier?«, fragte er erstaunt. Dann brach er plötzlich in Lachen aus. »Du bist das! Konrad hat gesagt, dass sich heute ein neuer Kollege vorstellt.« Er schlug David freundschaftlich auf die Schulter. »Dann viel Spaß mit dem Alten. Der hat beschissene Laune und wird dich beim Lohn in Grund und Boden handeln. Zwölf Euro, sag ich dir. Nicht drunter!«
Timo schob die Außentür auf und verschwand ins helle Licht des Tages. Na großartig, dachte David. Da hatte er ja offenbar genau den passenden Moment erwischt. Er atmete tief durch, öffnete dann die Tür zum Gastraum und stand Konrad sofort direkt gegenüber.
»Dann verzieh dich doch!«, blaffte der ihn an, bevor er stutzte und David erkannte. »Dieser Idiot bescheißt mich seit Monaten. Aber das lasse ich nicht mit mir machen!«
Er wandte sich wieder um und ging ohne ein weiteres Wort auf die Theke zu. Als David ihm nicht sofort folgte, zog er fragend die Augenbrauen hoch.
»Willst du da Wurzeln schlagen oder hier arbeiten?«
Also setzte sich David in Bewegung und da ihm kein anderer Sitzplatz angeboten wurde, setzte er sich auf einen der im Boden festgeschraubten Barhocker. Konrad umrundete die Theke, stemmte sich mit den Armen auf die Ablage und fixierte David. Der ließ den Raum um sich einen Moment auf sich wirken, denn er kannte diese Umgebung nur mit vielen Gästen und großer Lautstärke. Am Wochenende war hier meist richtig viel los und die Leute aus der Umgebung vermischten sich. Genau das war es, was David an diesem Ort anzog.
Alles in diesem Raum war alt. Aber nicht heruntergekommen alt, sondern rustikal und antik. Die Tische standen sicherlich schon seit hundert Jahren hier, die Stühle vermutlich nur wenig kürzer. Überall dominierte Holz – David tippte auf Eiche – und strahlte Gediegenheit und ländliche Derbheit aus. Auf dem Boden lagen helle Dielen, denen man ansah, dass sie vor nicht allzu langer Zeit abgeschliffen worden waren. Die hell verputzten Wände waren mit Kupferstichen geschmückt, auf denen Ansichten aus der Region zu sehen waren, und das dunkle Holz der Theke hätte sicherlich detaillierte Geschichten über dieses Dorf und seine Bewohner erzählen können, wenn ihm nur mal jemand das Sprechen beigebracht hätte.
»Du willst also hier arbeiten?«, fragte Konrad und schreckte David aus seinen Gedanken auf.
David nickte.
»Kannst du auch sprechen oder muss man dir die Worte aus dem Mund ziehen?«
David schluckte. »Ja, also, ich würde hier wirklich gerne arbeiten. Ich kenne deine Gaststätte ja auch ganz gut und weiß …«
»Du bist nicht zum Saufen hier, das ist dir klar, oder?«, unterbrach Konrad ihn. »Ich kriege das ziemlich schnell mit, wenn einer meiner Angestellten versucht, mich zu beklauen. Bier kostet Geld. Auch für mich.«
»Wenn ich arbeite, trinke ich nie!«, erwiderte David. »Man muss nüchtern sein …«
»Nie?«, fragte der Wirt skeptisch. »Was ist, wenn einer der Gäste dir ein Bier ausgibt? Lehnst du das dann ab?«
David hatte den Eindruck, von Konrads Augen durchbohrt zu werden. Klar, das war eine Fangfrage.
»Ich würde erst mal versuchen, den Gast zu einer Cola für mich zu überzeugen.«
»Nicht alle unserer Gäste verstehen das. Für den einen oder anderen ist das schon ein Affront.«
»Ich kenne mich mit Menschen eigentlich ganz gut aus«, sagte David betont ruhig. »Und ich kann sehr überzeugend sein.« Er lächelte.
Konrad nickte mürrisch.
»Hast du Gastro-Erfahrung?«
»Ich hab mal bei der Hochzeit einer Freundin …«
»Du weißt über unsere Gäste Bescheid?« Konrad sah ihn herausfordernd an und bevor David etwas erwidern konnte, fuhr er schon fort: »Das Internat kennst du vermutlich. Reiche verzogene Kinder. Die Eltern kommen hin und wieder zu Besuch. Und weil die natürlich nicht im Internat untergebracht werden können, kommen die dann zu uns. Die haben hohe Ansprüche und denen werden wir gerecht. Immer und ohne Ausnahme.« Konrad verdrehte die Augen. »Und dann ist da noch der Graf von Lehengrund zu Schallenberg. Ohne den geht hier in der Gegend nichts. Seine Geschäftsfreunde gehören ebenfalls zu unseren Gästen.« Er fixierte David. »Kapiert?«
David nickte zögernd, wusste aber nicht, was er dazu sagen sollte.
»Frühaufsteher?«
»In der Praxis habe ich zwar meist erst um neun angefangen, aber …«
»Morgen früh. Punkt sechs. Wir haben gerade nicht viele Gäste, aber die müssen trotzdem frühstücken. Alina wird dir alles zeigen.«
Damit schien für Konrad das Gespräch beendet zu sein und er wandte sich ab, um in die Küche hinter dem Gastraum zu gehen.
»Äh, wie ist das mit dem Gehalt?«, fragte David zögerlich.
Konrad verharrte in der halbgeöffneten Tür. Ohne den Kopf zu drehen, fragte er: »Geld! Alle wollen immer Geld von mir.« Er schnaufte entnervt. »Acht Euro. Plus Trinkgeld.«
»Die anderen hier kriegen zwölf.«
Konrad tauchte zwei weitere Schritte in die Küche ein.
»Du bist neu. Du hast keine Routine. In der ersten Zeit wird es mich mehr kosten, dich hier arbeiten zu lassen, als dass ich daran was verdiene. Neun. Keinen Cent mehr!«
Konrad hielt die Pendeltür noch eine Sekunde lang fest, als rechne er mit einer Antwort von David, dann stapfte er in die Küche und ließ die Tür frei. Hinter ihm schwang sie einen Moment leise quietschend hin und her.
David starrte auf die schwingende Tür und plötzlich schoss ihm das Bild durch den Kopf, dass sein Leben wie diese Tür war: Es pendelte ununterbrochen hin und her. Und immer, wenn er glaubte, mal zur Ruhe zu kommen, stürmte jemand mit den Armen voller Teller durch die Tür und brachte sie wieder in die unruhige Bewegung zurück.
Erschöpft verließ David den Brüllenden Bullen und schob sein Fahrrad auf die menschenleere Dorfstraße. Er war zufrieden mit sich, weil er den Job bekommen hatte. Aber er ärgerte sich auch über den von Konrad festgelegten Stundenlohn. Das war wirklich mickrig wenig und er würde sich einschränken müssen, zumindest wenn er irgendwann einmal bei seiner Mutter ausziehen wollte.
Von Westen zog eine Regenfront auf ihn zu, aber er wollte jetzt nicht nach Hause gehen. Denn er war sich sicher, dass es seiner Mutter noch nicht besser ging. Er brauchte einen Moment für sich allein. Also schwang er sich auf sein Rad und radelte auf den Wald zu. Der drohende Regen war ihm egal, später würde er sowieso noch zum Tischtennistraining gehen und musste danach duschen. Außerdem konnte er sich im Wald unterstellen, wenn es zu ungemütlich wurde.
Er überquerte nach einem Kilometer die Autobahn, die die Landschaft in zwei Hälften schnitt, über eine Brücke, bog in einen Waldweg ab und sog den Duft des nahenden Frühlings tief in seine Lungen ein. Auf einer freien Fläche konnte er in der Entfernung das Dach des Internats ausmachen, entschied sich aber, einen großen Bogen um die Einrichtung zu machen, und keuchte, als er einen steilen Abhang hochfuhr.
Plötzlich tauchte vor ihm der Hochsitz auf, den er erst einmal bestiegen hatte. David bremste und ließ sein Fahrrad auf den Waldboden fallen. Prüfend umrundete er die Konstruktion, die ursprünglich für Jäger gebaut, aber offenbar seit Jahren nicht mehr genutzt worden war. Erinnerungen schossen ihm durch den Kopf. Der Nachmittag vor ein paar Monaten, als er Julian hier getroffen und ihm das Angebot gemacht hatte. Die körperliche Nähe, die er mit Julian erlebt hatte. Die Zurückweisung. Und nicht zuletzt seine Sehnsucht nach ihm. Wieso hatte David sich damals bloß so bescheuert verhalten?
Als es im Wald hinter ihm knackte, wirbelte er erschrocken herum und einen Moment lang glaubte er, Julian wäre hier. Aber er hatte sich getäuscht. Ein Reh sprang aus der Dämmerung des Waldes heraus und rannte über die Wiese unterhalb des Hochsitzes. Warum sollte Julian hier auch gerade jetzt auftauchen? Er konnte ja nichts davon wissen, wo David war. Außerdem hatte Julian sehr deutlich gemacht, dass er auf einen Kontakt zu David keinen Wert mehr legte.
David legte die Hände an die Leiter und blickte nach oben. Die Sprossen waren mit Moss bedeckt und wirkten glitschig. Trotzdem setzte er den rechten Fuß auf die unterste Leiste und stieg vorsichtig in die Höhe. Oben sah noch alles so aus wie beim letzten Mal. In der Ecke lag eine Decke, die Dose mit den Keksen war noch da. Und auch der kleine Holzkasten mit den Büchern wirkte unberührt. Blätter vom letzten Herbst und der Staub des Winters überdeckten alles. David hatte den Eindruck, dass seit seinem letzten Besuch auf diesem Hochsitz niemand mehr hier gewesen war. Dabei hatte Julian doch erzählt, dies sei sein Rückzugsort, wenn er es im Internat nicht mehr aushielt und allein sein wollte.
David stellte sich an die Brüstung und ließ den Blick über die Wiese und die dahinter wuchernden Wälder schweifen. Erneut sog er den Geruch des Waldes ein. Der Frühling machte sich allmählich breit, an den Laubbäumen zeigten sich die frischen Knospen und hellgrüne Blätter drängten ans Licht. Noch war es kühl, doch wenn der Mai in ein paar Tagen begann, dann würde es bestimmt auch endlich wärmer werden. David sehnte sich nach Sonne und Wärme wie selten zuvor.
Er blieb auf dem Hochsitz, bis sich irgendwann seine Blase meldete. David atmete tief durch und wäre lieber hier oben geblieben, etwas abgehoben über der Welt, auf dem Beobachtungsposten, anstatt wieder in die Realität herabzusteigen, die ihm im Moment viel zu viele Veränderungen einbrockte. Beim Abstieg schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, all seine Entscheidungen der vergangenen Tage wieder rückgängig zu machen. Doch als er den weichen Waldboden unter seinen Schuhen spürte, wurde ihm klar, dass dieser Gedanke Mist war. Er hatte sich entschieden. Und das war gut so.
Im Haus war es still. David stand eine Weile mit dem Schlüssel in der Hand im Flur und lauschte. Von seiner Mutter war nichts zu hören. Vielleicht schlief sie. Oder war weggegangen. Obwohl sie das eigentlich nie tat, es sei denn, sie musste in den Supermarkt oder zum Arzt. Und selbst dann kam David in der Regel mit. Allein konnte sie das noch nicht.
»Mama?«, rief er halblaut ins stille Haus hinein.
Aus der Etage über sich hörte er tapsende Schritte. Seine Mutter erschien am oberen Treppenabsatz und sah zu ihm herab.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte sie und David meinte in ihrer Stimme ein leichtes Zittern zu hören.
»Ich fange morgen an«, sagte David.
Seine Mutter nickte nur stumm und schlurfte in ihr Zimmer zurück.
David streifte sich die Schuhe von den Füßen und hängte seine Schlüssel an das Schlüsselbrett mit der kleinen Figur des Heiligen Antonius. Er verbrachte den Rest des Tages im Garten und scrollte durch die Instagram-Profile seiner Freunde in Berlin. In der Hauptstadt schien alles beim Alten. Seine Freunde cruisten durch die Stadt, gingen auf Partys und posteten jeden ihrer Schritte für den Rest der Welt. Er selbst hatte seit einem halben Jahr kein neues Bild mehr in sein Profil eingestellt, konnte sich aber auch nicht dazu durchringen, seinen Account zu löschen. Nicht solange er zumindest auf diesem Weg noch an seinem alten Leben teilhaben konnte. Wenn er noch in Berlin leben würde, dann würde er vermutlich irgendwas studieren. Nicht, weil ihn ein Studium besonders reizte, sondern eher, weil ihn das Leben, das er damit verband, anzog.
Er checkte auch das Profil von Julian. Das tat er fast täglich, seit sie sich nicht mehr sahen. Doch das Ergebnis war immer das gleiche: keine Fotos von Julian, nichts, das Genaueres von seinem Leben erzählte, sondern kurze Buchrezensionen, hin und wieder ein Detail vom alten Gemäuer des Internats oder ein Blick über die Landschaft, vermutlich aus seinem Fenster geschossen. David hätte Julians Gesicht gerne mal wieder gesehen. Er hatte es natürlich immer noch im Kopf und wenn er die Augen schloss, dann stand Julian von ihm. Julian in Schweden in seiner Hängematte, Julian auf dem Fahrrad, Julian mit zerstrubbelten Haaren im Bett. Und auch Julian auf dem Steg, wie er mit verzweifeltem Gesichtsausdruck dem Kanu nachstarrte, in dem David saß. Bis zu diesem Moment, nein, bis fünfzehn Minuten vorher, hatte sich alles genau richtig angefühlt. Dort oben in Schweden hatte sich David zum ersten Mal in seinem Leben vollkommen geborgen gefühlt. Und doch hatte er die ganze Zeit genau gewusst, dass auch dieses Gefühl vorüberziehen würde, so wie alles endete, was er liebte. Er hatte versucht, den Gedanken an den Abschied zu verdrängen, und manchmal war ihm das sogar gelungen. Doch das hatte nicht darüber hinwegtäuschen können, dass der Aufbruch immer näher gerückt war. David stöhnte. Er hatte das Ganze so was von verbockt.
Als er auf die Uhr sah, sprang er auf. Beinahe hätte er das Training vergessen. Schnell suchte er seine Klamotten zusammen, fand den Tischtennisschläger unter seinem Schreibtisch auf dem Fußboden, rief seiner Mutter zu, dass er zum Sport ging, und schwang sich auf sein Fahrrad, das draußen an der Hauswand lehnte. Im Gegensatz zu Berlin musste er hier das Rad noch nicht einmal abschließen, weil in diesem Dorf angeblich noch nie ein Fahrrad geklaut worden war. Er raste den Schotterweg vor dem Haus entlang, bog in die Hauptstraße ein und erreichte die Sporthalle kurz vor Beginn des Trainings.
Vor der Halle standen die anderen und Kristin sah ihn entsetzt an. Damit hätte David rechnen können. Jetzt war es für eine Umkehr zu spät.
Auf den Stufen vor dem Haupteingang warteten die anderen. Kristin sah ihm mit verzerrtem Gesichtsausdruck entgegen und blaffte ihn zur Begrüßung an.
»Was machst du denn hier?«, fauchte sie. »Ich habe gedacht, du würdest wenigstens den Anstand haben, hier nicht mehr aufzutauchen.«
David lehnte sein Rad an den Zaun und zog seine Sporttasche vom Gepäckträger. Als er von Paula und Kevin auch eher unfreundliche Blicke zugeworfen bekam, spielte er kurz mit dem Gedanken, tatsächlich wieder umzukehren. Aber würde das nicht wie ein Eingeständnis von Schuld auf die anderen wirken? Das wollte er nicht. Er warf sich die Tasche über die Schulter und ging auf die drei zu.
»Was ist mit dir los?«, fauchte Kristin ihn jetzt an. »Wie beschränkt muss man sein, sich per WhatsApp zu trennen und danach nicht ans Telefon zu gehen?«
Sie war aufgestanden und stellte sich ihm in den Weg, sodass er nicht an ihr vorbei in die Halle gehen konnte. Frostig durchlief es David. Wie sollte er Kristin erklären, was er noch nicht einmal selbst richtig kapierte? Aber ihn fragte ja nie jemand, wie es ihm ging. Immer sollte er Rechenschaft für das ablegen, was er sein Leben nannte. Für andere wirkte sein Leben allerdings wohl eher ziemlich chaotisch.
»Tut mir leid«, murmelte er und wollte schon weitergehen, doch Kristin ließ ihn immer noch nicht durch.
»`Tut mir leid`? Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?« Sie blickte ihm direkt ins Gesicht. »Bist du wirklich so erbärmlich?«
David sah die Tränen in ihren Augen schwimmen. Er seufzte. Ihm blieb die Auseinandersetzung offenbar nicht erspart. Dabei hatte er doch nur den einfachsten und unkompliziertesten Weg nehmen wollen, ohne Kristin zu verletzen.
»Das war bescheuert von mir«, sagte er. »Ich hab mich selbst nicht verstanden. Und ich hätte mit dir reden müssen.«
Entgeistert sah Kristin ihn an.
»Und was bedeutet das jetzt? Willst du die Trennung rückgängig machen?«
David schüttelte den Kopf.
»Du bist so ein Arschloch!«, fauchte Kristin.
Dann drehte sie sich abrupt um und verbarg das Gesicht in den Händen. Paula trat neben sie, warf David einen bösen Blick zu und nahm Kristin in die Arme.
David spürte einen schmerzenden Klumpen in seinem Bauch, wie zäher Teer, der sich in alle Richtungen auszudehnen schien und drohte, ihn bis in jede Zelle seines Körpers auszufüllen. Ratlos stand er auf den Stufen der Sporthalle und hasste sich selbst. Aber was hätte er denn tun sollen? Hätte er sich und seine Umwelt weiter belügen sollen? Hätte er an der Beziehung zu einem Mädchen festhalten sollen, das er nicht liebte? In ihm tobte doch schon seit Monaten dieser Sturm aus Gefühlen, für die er einfach kein Ventil fand, ein Sturm, der ihn jeden Morgen als erstes erfasste und bis zum Schlafengehen begleitete. Er wusste, dass er eigentlich aus diesem Dorf verschwinden sollte. Nach Berlin oder auch nach München oder nach Hamburg. Irgendwohin, wenn er nur nicht in diesem Kaff hängen bleiben musste, das ihm jede Entfaltung verwehrte.
Kevin packte ihn an den Schultern und schob ihn die letzten Treppenstufen hinauf, durch die Glastür und in den nach feuchten Turnschuhen riechenden Gang hinein, bis zu den Umkleiden.
»Ich schnall´s nicht, Alter«, sagte er, als die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war. »Ich meine: Klar kann mal eine Beziehung in die Brüche gehen. Aber ´ne Trennung über WhatsApp geht gar nicht.« Kevin schmiss seine Tasche auf den Betonboden. »Das sollte selbst bei dir angekommen sein. Oder kriegst du nichts mehr mit?«
David zuckte mit den Schultern und setzte sich auf die Holzbank, um seine Schuhe auszuziehen.
»Liegt das an dem Typen vom letzten Sommer?«, fragte Kevin weiter. »Auf den hast du damals so aggressiv reagiert, als der hier aufgetaucht ist. Was ist da gelaufen? Der war doch total in dich verknallt!«
Hitze schoss durch Davids Körper und er sprang wütend auf.
»Wie kommst du denn auf den Scheiß?«, blaffte er seinen Freund an. »Der war doch nicht in mich verknallt!«
Kevin schien erst von Davids Wutausbruch überrascht, dann brach er in Lachen aus.
»Natürlich war der das. Ich hab das sofort gesehen. Und mal ehrlich: So wie du reagiert hast, muss zwischen euch in diesen paar Tagen in Norwegen echt was Dramatisches vorgefallen sein.«
»Schweden!«
»Was?«
»Das war in Schweden, nicht in Norwegen!«
Kevin machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Der hat sich ja offenbar bis in unser Dorf durchgeschlagen, nur um mit dir zu reden. Hast du mit dem das Gleiche gemacht wie jetzt mit Kristin? Einfach den Schwanz einziehen und abtauchen?«
David war schwindelig. Der Raum um ihn herum drehte sich, der Boden schien wie bei einem Erdbeben zu wanken. Er setzte sich hin, damit er nicht das Gleichgewicht verlor. Kevins Worte ließen aus dem Sturm einen Orkan werden. Konnte es sein, dass sein Verhalten einem Muster folgte? Verdammte Scheiße! Ihm wurde schlecht.
»Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Kevin, der offenbar bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Soll ich dir ein Glas Wasser holen?«
David schüttelte den Kopf.
»Was kann ich denn dafür, wenn die Leute sich in mich verknallen?«, fragte er erschöpft. Als ihm klar wurde, was er da gerade gesagt hatte, spannte er die Schultern an und sah Kevin geradeaus an. »Und selbst wenn dieser Typ sich in mich verguckt hat, dann ist das doch sein Problem. Ich kann ihm nicht helfen.«
Jetzt schlüpfte er aus den Sneakern, schüttelte die Hose von den Beinen und zog sich das T-Shirt über den Kopf. Er wühlte hektisch seine Sportsachen aus seiner Tasche und zog sich an. Er wollte nicht weiter über Julian reden. Und auch nicht über Kristin. Er wollte überhaupt nicht reden. Aber Kevin war offenbar noch nicht fertig mit ihm.
»Warum dann die Trennung von Kristin?«, erkundigte er sich. »Du hast doch den ganzen Winter über alles für sie getan.«
»Sie ist eben nicht mein Typ«, antwortete David. »So einfach ist das.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Kevin ihn an.
»Nicht dein Typ? Was genau ist denn dann dein Typ?«
Das Chaos in Davids Kopf gipfelte in Wut. Er wollte einfach nur noch weg.
»Krieg du mal dein eigenes Leben auf die Reihe, dann reden wir weiter!«, blaffte er Kevin an und marschierte an ihm vorbei in die Sporthalle.
Im gleichen Moment wusste er, dass er Kevin unrecht getan hatte. Aber er wollte jetzt nicht mehr umkehren.
»Idiot!«, rief Kevin ihm noch nach, doch die zufallende Tür unterbrach jedes weitere Wort.
In der Halle wartete Björn schon auf sie. Der Trainer sah David erstaunt an, denn offenbar hatte er die letzte Beschimpfung von Kevin noch mitgekommen.
»Alles okay bei euch?«, fragte er.
»Nur ein bisschen Stunk, mehr nicht«, gab David zurück und trat an eine der Tischtennisplatten, um mit einem Ball Aufschläge zu üben.
»Bei den Mädchen scheint auch gerade die Welt unterzugehen«, sagte Björn mit leicht genervtem Ton in der Stimme. »Kristin heult und Paula redet die ganze Zeit auf sie ein. Habt ihr euch getrennt?«
»Warum wollen eigentlich immer alle von mir wissen, was in der Welt passiert?«, konterte David und knallte den Ball mit so großer Wucht an die Hallenwand, dass er eingedrückt auf den Boden fiel.
»Ehrlich gesagt habe ich gehofft, dass die Pubertät bei euch mal so langsam vorbei ist«, stöhnte Björn. »Aber offenbar habe ich mich da getäuscht.«
Frustriert hob David den kaputten Ball auf und steckte ihn in seine Hosentasche. Er hatte Kristin nicht verletzen wollen. Aber er hatte den Eindruck, dass es für eine ausführliche Erklärung oder sogar eine Entschuldigung zu spät war.
Ein paar Minuten später schlug Kevin ihm die Bälle in einer solchen Schärfe um die Ohren, dass David kaum hinterherkam. Er versuchte, die Oberhand über das Spiel zu bekommen, doch immer, wenn er sicher war, den Ball zu erwischen, spielte Kevin ihm diesen in einem nicht erreichbaren Winkel zu.
»Was ist los?«, fragte David und sah seinen Freund wütend an.
»Das fragt der Richtige! Sag du es mir!«
»Willst du mir jetzt den Rest des Tages vorhalten, dass ich mich bescheuert verhalten habe?«
Kevin setzte zu einem neuen Aufschlag an und schmetterte den Ball flach über das Netz. David verfehlte ihn.
»Nicht nur den ganzen Tag. Auch länger, wenn du nicht den Mund aufmachst und sagst, was mit dir los ist.«
»Was genau willst du denn von mir hören?«
Kevin legte den Schläger ab und stützte sich mit den Händen auf die Platte.
»Du verhältst dich in letzter Zeit echt eigenartig. Du redest kaum noch.« Er machte eine Pause. »Du trennst dich Hals über Kopf, ohne Erklärung, ohne ein einziges Wort zu Kristin. Oder wenigstens zu mir. Keiner von uns kapiert, was du da tust.«
David zuckte mit den Schultern. Er fühlte sich mies. Wie der letzte Versager, der nichts mehr auf die Reihe kriegte.
»Du hättest ihr wenigstens sagen können, was mit dir los ist. Warum du nicht mehr mit ihr zusammen sein willst. Das hat sie verdient. Immerhin wart ihr ein paar Monate zusammen.«
Als David nicht antwortete, seufzte Kevin.
»Hör mal: Wenn du schwul bist, dann ist das echt in Ordnung für mich«, sagte er. »Ich hab kein Problem damit.«
»So ein Quatsch«, wehrte David ab. »Ich bin doch nicht schwul!«
Kevin ließ den Ball über die Platte rollen und schien nachzudenken.
»Und dann diese Kündigung in der Physio-Praxis. Du hast doch immer gesagt, dass du genau das machen willst. Und dann erfahre ich über Umwege, dass du da aufhörst. Ist das nicht alles ein bisschen überstürzt?«
Für David war das alles andere als überstürzt, aber er verhandelte ja auch schon seit einem Jahr mit sich selbst, ob er die Ausbildung abbrechen sollte, oder nicht. Immer wieder hatte er sich Termine gesetzt, bis wann er eine endgültige Entscheidung treffen wollte. Und immer wieder hatte er die Entscheidung vor sich her geschoben, weil er Schiss vor dem hatte, was danach kommen würde. Vor einer Woche hatte er dann einfach die Geduld mit sich selbst verloren und Nägel mit Köpfen gemacht. Sein Chef hatte nicht gerade erfreut reagiert, schließlich musste er Davids Patienten absagen und neue Termine mit ihnen vereinbaren.
»Ich fange im Brüllenden Bullen an«, sagte David.
Kevin riss die Augen auf. »Beim alten Konrad? Bist du bescheuert?«
»Ich will halt was Neues machen. Und so viele Möglichkeiten gibts auf die Schnelle hier in der Gegend nicht.«
Kevin verdrehte die Augen.
»Das ist eine Schwachsinnsidee. Ausgerechnet im Bullen! Mit Konrad kommt doch keiner klar. Der nutzt seine Mitarbeiter aus, bis sie nicht mehr können. Und dann ekelt er sie raus. Mit meiner Cousine hat er das so gemacht. Erst vor einem dreiviertel Jahr.«
David zuckte mit den Schultern. Klar hatte er schon viele Geschichten über Konrad gehört. Und er wusste auch, dass er nicht der umgänglichste Chef war. Aber er mochte den Bullen. Immerhin traf er sich da regelmäßig mit den Jungs aus dem Dorf.
»Morgen früh um sechs gehts los«, sagte er, um seine Entscheidung zu untermauern. Jetzt konnte er nicht mehr zurück.
»Was zahlt er dir?«, fragte Kevin provokant.
»Ist das so wichtig?«
»Ich wette, er zahlt dir nicht mal den Mindestlohn.«
»Neun Euro.«
Kevin brach in schallendes Gelächter aus.
»Für neun Euro würde ich mich nicht morgens um fünf aus dem Bett quälen. Gisela zahlt zwölf für ihre Hilfskräfte. Dann stinkst du zwar nach Schweinescheiße, aber immerhin kommst du damit durch den Monat.«
»Ich arbeite doch nicht im Schweinestall!«
»Warum denn nicht? Ich kann meine Tante fragen, ob sie noch jemanden braucht.«
David schüttelte energisch den Kopf. »Ne, lass mal. Ich komm schon klar.«
»Um sechs im Bullen«, lachte Kevin. »Ich glaub’s nicht.« Er beugte sich nach vorne und schnappte sich den Ball, der ans Netz gerollt war. »Ich werde an dich denken, wenn ich mich im Bett noch einmal herumdrehe und mir vorstelle, wie sich Paula dazu legt.«
Diesmal stöhnte David. »Ich weiß nicht, ob ich deine Fantasien so genau hören will.«
»Das kann ich mir vorstellen!«, antwortete Kevin und setzte zum nächsten Aufschlag an.
Das Spiel war jetzt ruhiger, dennoch war David am Ende des Trainings völlig verschwitzt und schleppte sich mit letzter Kraft in die Umkleiden. Die Mädchen hatte sich während des Trainings von ihm ferngehalten und Paula hatte ihm manchmal aus der Entfernung auffordernde Blicke zugeworfen, so als wollte sie ihm signalisieren, doch endlich zu einer Entschuldigung herüberzukommen. Doch David hatte sich dazu nicht aufraffen können. Ihm fehlte die Kraft zu dieser Konfrontation.
Während er eine Weile gedankenverloren auf der Bank vor sich hin stierte, zog sich Kevin aus. Er zerrte sein Handtuch aus der Tasche und wandte sich dann zu David um.
»Was ist?«, fragte er. »Willst du nicht duschen?«
Er trat vor David, sodass der den Kopf in den Nacken legen musste, um Kevin nicht auf den nackten Bauch oder sogar auf den Schwanz zu gucken. Er schüttelte den Kopf.
»Ich will gleich noch ne Runde joggen«, sagte er zur Erklärung. »Ich dusche dann zu Hause.«
Wieder lachte Kevin.
»Du hast Schiss, dass du einen hochkriegst, wenn du mit mir duschst. Das ist es.«
»Quatsch!«
Kevin zuckte mit den Schultern.
»Wie du meinst.« Er drehte sich um und schlenderte zu den Duschen. »Ich verstehe dich einfach nicht«, rief er, als er das Wasser anstellte. »Du bist echt schräg zurzeit.«
David stopfte seine Klamotten in die Tasche, trank einen Schluck Wasser aus seiner Flasche, lehnte sich für ein paar Sekunden an die raue Wand unter den Kleiderhaken und schloss die Augen. Er hörte das Wasser der Dusche rauschen, er roch den Schweiß, der sich im Laufe der Jahre in die kargen Möbel der Umkleide gefressen hatte, und er schmeckte die bittere Erkenntnis auf seiner Zunge, dass er sich selbst nicht mehr verstand. Ja, er war schwul. Im letzten Sommer hatte er genau das in den Tagen mit Julian endgültig kapiert. Und offenbar wussten auch alle anderen um ihn herum, dass er auf Männer, auf Jungs stand. Seine Mutter, Kevin, vermutlich auch Kristin. Aber er selbst schaffte es nicht, dieses Wissen zu akzeptieren. Er wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen. Kevin hatte recht: Er hatte Schiss. Er wollte nicht der Aussätzige hier im Dorf sein. Auch wenn ihn bislang niemand mobbte. Aber wenn er erst einmal offen dazu stehen würde, wie er wirklich gestrickt war, dann würde das die Runde machen. Und nicht alle waren so offen wie Kevin und seine Mutter. Von Konrad, seinem neuen Chef, hatte er sogar schon einige ziemlich fiese Kommentare mitgekriegt. Er wollte sich nicht den neuen Job kaputtmachen, bevor er ihn angetreten hatte.
David drückte sich von der Wand ab und schnappte seine Tasche. Ohne sich von Kevin zu verabschieden verließ er die Umkleide, schnallte draußen seine Sachen auf den Gepäckträger und schob sein Rad nach Hause. Morgen würde ein neuer Abschnitt seines Lebens beginnen. Und schon wieder hatte er Schiss. Diesmal, weil er nicht wusste, ob er dem Job in Kneipe, Restaurant und Hotel gewachsen war.
Die Sonne arbeitete sich gerade erst über den Horizont, als David am nächsten Morgen von seinem Wecker aus dem Schlaf gerissen wurde. Schon lange war er nicht mehr so früh aufgestanden, denn in der Physiotherapie-Praxis hatte er erst um halb neun mit der Arbeit begonnen. Doch obwohl ihm diese frühe Zeit nicht passte, freute er sich darauf, den lange herausgeschobenen Neuanfang endlich umzusetzen. Außerdem hatte er diese Nacht keinen Albtraum gehabt und er deutete das als ein gutes Vorzeichen für die Dinge, die ihn heute erwarteten.
Eine dreiviertel Stunde später stand er in der frischen, noch etwas kühlen Morgenluft vor der Seitentür des Brüllenden Bullen und wartete auf die Kollegin, die ihn in die Vorbereitung des Frühstücks einweisen sollte. David kannte Alina vom Sehen. Sie kam aus einem der Nachbardörfer und war knapp fünfzehn Jahre älter als er.