Dornenjahre - Eva-Maria Bast - E-Book

Dornenjahre E-Book

Eva-Maria Bast

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Beschreibung

Eine Generation, die nie zur Ruhe kommt: Sophie, Johanna und Luise kämpfen während der Zeit des Nationalsozialismus für unterschiedliche Ziele. Sophie, die bei ihrem Mann in Frankreich lebt, wird zur Widerstandskämpferin. Luise, die gerade das elterliche Gut in Ostpreußen wiederaufgebaut hat, muss erneut alles zurücklassen und vor dem Feind fliehen. Und Johanna profitiert als Firmenchefin von den Nazis, doch ihre Tochter liebt einen Juden und gerät in Gefahr. Um sie zu retten, trifft Johanna eine folgenschwere Entscheidung.

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Eva-Maria Bast

Dornenjahre

Dritter Teil der Jahrhundert-Saga

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Reinke / Dephot

ISBN 978-3-8392-5204-8

Widmung

Dieses Buch ist dem Frieden gewidmet.

Ein Mahnmal aus Worten, inspiriert von unzähligen Zeitzeugenberichten.

Möge sich das, was unsere Vorfahren erleben mussten, nie mehr wiederholen.

Frieden ist ein zerbrechliches Gut. Wir müssen sorgsam damit umgehen.

Vorbemerkung

Liebe Leserinnen und Leser,

viele von Ihnen werden den ersten Teil der Mondjahre-Trilogie bereits kennen. Für diejenigen, die Band 1 und 2 nicht gelesen haben, habe ich hier eine kurze Zusammenfassung geschrieben. Auch wenn jeder Band in sich abgeschlossen ist, sind manche Handlungsstränge doch besser zu verstehen, wenn man weiß, was sich bisher ereignet hat.

Eva-Maria Bast

Was bisher geschah

Band 1:

Deutsches Reich 1914: Johanna Gerstett ist voller Idealismus, mutig und ein wenig unkonventionell. Sie hat Lust auf das Leben, will die Welt erobern. Und sie ist zum ersten Mal verliebt – in den Studenten Sebastian Bigall. Auch ihre Tante Sophie, die nur wenige Jahre älter ist als Johanna, hat ihr Herz verloren: an Pierre Didier, einen französischen Journalisten, der über den weltweit Aufsehen erregenden Ferdinand Graf Zeppelin recherchiert. Sowohl Sophie als auch Johanna interessieren sich – für die damalige Zeit ungehörigerweise – für Politik. Und so sind sie denn auch beunruhigt über die Aufrüstungen und beobachten besorgt die Wolken, die am Horizont aufziehen. Dann wird der österreichische Thronfolger in Sarajevo erschossen. Johanna und Sophie erleben die Wirren jener Tage des Kriegsausbruches mit, die Hamsterkäufe, die Jagd nach Gold, die Aufbruchsstimmung und die Angst. Als sich die Fronten zwischen Deutschland und Frankreich verhärten, verlässt Sophies Geliebter das Land – vor seiner Abreise verloben sich die beiden und schlafen miteinander, ein verzweifelter Akt. Sophie wird schwanger, schwanger vom Feind.

Auch Sebastian und Johannas junger Onkel Siegfried müssen in den Krieg ziehen. Siegfried ist beim Kampf um Neidenburg in Ostpreußen dabei und verliebt sich in Luise, bei deren Familie er einquartiert ist. Als die Russen vorrücken, ziehen sich die deutschen Truppen aus Neidenburg zurück – und Siegfried beschwört Luise, mit ihm zu kommen. Aber sie muss auf ihre Eltern warten, die dann jedoch grausam ermordet werden. Schier besinnungslos vor Schmerz, Wut und Hass erlebt Luise die Tage, in denen Neidenburg in russischer Hand ist.

Sophie macht derweil im Lazarett an der Westfront schreckliche Erfahrungen und wird schließlich, als ihre Schwangerschaft nicht mehr zu verbergen ist, entlassen. Siegfried und Luise haben sich inzwischen wiedergefunden und planen ihre Hochzeit in Memel. Während der Vorbereitungen werden Johanna und Luise von den Russen gefangen genommen. Siegfried sieht die beiden Frauen in der Gewalt der feindlichen Soldaten und wird beim Versuch, seine Verlobte und seine Nichte zu retten, vor ihren Augen niedergeschossen. Luise bricht im Zug, der sie nach Russland bringen soll, völlig zusammen. Sie weiß nicht, ob er getötet wurde. Doch Siegfried überlebt – stürzt aber in eine tiefe Krise, weil er ein Bein verliert und sich nur noch wie ein halber Mann fühlt.

Johanna und Luise landen in einem russischen Gefangenenlager. Johanna soll dem dort arbeitenden Arzt assistieren – und hat eines Tages ihre große Liebe, den als vermisst geltenden Sebastian, vor sich auf dem OP-Tisch. Gerade als die beiden Wiedersehen feiern, werden Johanna und Luise als Schwestern nach Petrograd an ein Krankenhaus beordert. Sebastian und sein Freund Karl flüchten aus dem Lager und reisen den Frauen hinterher. Während in Petrograds Straßen die Revolution tobt, spürt Sebastian Luise und Johanna auf. Gemeinsam mit Karl und der jungen russischen Krankenschwester Irina fliehen sie, Irina und Karl verlieben sich ineinander.

Derweil trauert Pierre im feindlichen Frankreich immer noch seiner Sophie nach. Doch seine Mutter versucht, ihn zu verkuppeln. Schließlich heiratet Pierre eine andere, sein Herz gehört aber nach wie vor Sophie.

Sebastian und Karl müssen an die Front zurück. Bei einem Angriff wird Karl vor Sebastians Augen von einer Granate getötet. Sebastian verliert den Verstand. Es dauert lange, bis man den zutiefst Verstörten findet. Während der Kaiser abdankt und die Straßen in Deutschland unter der Revolution brennen, bringt Johanna ihre Tochter Susanne zur Welt. Und Sebastian findet langsam ins Leben zurück.

Band 2:

1923: Auf dem Höhepunkt der Inflation kämpft Johanna in Überlingen am Bodensee darum, ihre Familie satt zu bekommen. Derweil marschieren im Ruhrgebiet Franzosen als Besatzer ein. Luise und ihr Mann Siegfried erleben die Besetzung mit, Siegfried schließt sich einer Untergrund-Bewegung an, die nur ein Ziel hat: die Franzosen zu vertreiben und zu besiegen. Am Bodensee verrät Sophies Schwester Helene ausgerechnet der größten Klatschtante der Stadt deren Geheimnis: Sophies Sohn ist Halbfranzose. Auf Sophie wird ein Anschlag verübt und sie flieht ins Ruhrgebiet zu Luise, die sie bei sich versteckt. Als Sophies Bruder Siegfried davon erfährt, ist er außer sich vor Zorn. Auch wenn Sophie seine Schwester ist, will er sie auf keinen Fall bei sich aufnehmen, denn sie hat das Schlimmste getan, was der Widerständler sich vorstellen kann: Sich mit einem Franzosen eingelassen, von dem sie obendrein auch noch ein Kind bekommen hat! Siegfried ist es hochpeinlich, einen Neffen zu haben, der Halbfranzose ist, er fürchtet um seinen guten Ruf bei seinen Leuten. Denn seit er im Untergrund ist, genießt er wieder Ansehen. Sein Selbstbewusstsein war stark in Mitleidenschaft gezogen worden, als er im Krieg ein Bein verloren hatte.

Siegfried droht, Sophie zu verraten, es kommt zum Streit und Luise, außer sich vor Angst um ihre Schwägerin und ihren Neffen und völlig verzweifelt darüber, was aus dem Mann, den sie einmal geliebt hat, geworden ist, erschlägt ihn. Es gelingt den beiden Frauen, die Tat glaubhaft zu vertuschen, der Verdacht fällt auf die französischen Besatzer. Aufgeklärt wird der Mord nie.

Johannas Schwester Marlene ist inzwischen zu einer jungen Frau herangewachsen, hungrig auf das Leben, hungrig nach der Liebe. Doch sie gerät an den Falschen: Marlene verliebt sich ausgerechnet in einen Angehörigen der NSDAP und erlebt nicht nur den Hitlerputsch mit, sondern auch, wie dieser ihren Geliebten immer aggressiver macht, bis er sie schließlich vergewaltigt.

In Überlingen am Bodensee ist Johanna immer unzufriedener mit ihrem Leben und ihrer Ehe. Sie hat das Gefühl, dass sie sich ganz alleine für die Familie aufreibt und dafür kämpft, ihre Kinder satt zu bekommen, während ihr Mann Sebastian, der Pfarrer, immer nur die Gemeinde im Kopf hat. Johanna rebelliert. Sie schneidet sich die Haare und die Kleider ab, trägt den Garçonne-Look und verliebt sich obendrein in den Juden Matthias Thannberg, den neuen Schulleiter, der die Nachfolge ihres verstorbenen Großvaters antrat. Eine denkbar schwierige Situation, denn Matthias Thannberg ist verheiratet und Johanna landet im totalen Gefühlschaos.

Gegenwartsebene:

Durch beide Bände hindurch zieht sich ein zweiter Handlungsstrang, der in der Gegenwart spielt. Zita, eine junge Frau aus Stuttgart, ersteigert bei eBay ein winziges altes Notizbüchlein aus Silber, das an einem Band um den Hals getragen werden kann. Als sie das Büchlein in der Hand hält, entdeckt sie, dass sich darin einige lose Seiten mit Notizen befinden. Gebannt entziffert sie die verblassten Aufschriebe, die offensichtlich aus der Zeit des Ersten und Zweiten Weltkriegs stammen. Was sie dort liest, fasziniert sie so sehr und ist so rätselhaft, dass sie beschließt, sich auf Spurensuche zu begeben. Ihre Suche führt sie an den Bodensee nach Überlingen, wo die Nachfahren einer jener Frauen leben, die ins Notizbüchlein schrieben: die Nachfahren von Johanna. Zu jener Zeit ahnt Zita noch nicht, dass der Fund des Notizbüchleins ihr Leben komplett verändern soll: Sie verliebt sich in Philippe, den Urenkel Sophies, den die Spuren der Vergangenheit ebenfalls nach Überlingen führen. Und sie entgeht knapp einem Mordanschlag, den Franziska, Johannas kleine Schwester, die inzwischen hochbetagt ist, auf sie verübt. Der Grund: Sie fühlt sich durch Zita und das Notizbüchlein bedroht, denn Franziska hat etwas zu verbergen … Gemeinsam mit Johannas Nachfahrinnen Mia und Melissa begibt Zita sich auf die Suche nach der Wahrheit, bei der auch Philippe, die Journalistin Alexandra Tuliet und der Polizist Ole Strobehn mithelfen.

Teil 1: 1938 – 1941

1. Kapitel

Paris, Frankreich, August 2013

Melissa war wie paralysiert. Sie spürte, dass ihre Knie nachgaben, als sie an der Seite ihrer Tochter versuchte, die Straße auf dem Montmartre zu überqueren. Mit wild klopfendem, ach was, mit rasendem Herzen starrte sie das verwunschene Haus an, das da auf der anderen Straßenseite inmitten eines üppig blühenden und ausgesprochen farbenprächtigen Gartens stand. Das Haus, in dem ihre Mutter lebte. Eine Mutter, die sie nie kennengelernt und die sie immer für ihre verschollene Schwester gehalten hatte. Erst vor wenigen Tagen hatte Melissa erfahren, dass es sich bei der Frau, bei der sie aufgewachsen war, gar nicht um ihre Mutter, sondern um ihre Großmutter handelte. Dass Susanne, die verschollene Schwester, über die nie jemand sprach, gar nicht ihre Schwester, sondern ihre Mutter war. Und dass ihr Verschwinden irgendetwas mit dem Dritten Reich und den Nationalsozialisten zu tun hatte.

Mehr wusste sie nicht. Aber nun hatten Melissa und ihre Tochter Mia Susanne gefunden. Wussten, dass sie in diesem Haus lebte. Ganz dicht standen sie vor der Antwort auf all ihre brennenden, drängenden Fragen. Doch mit jedem Schritt, mit dem sich Melissa dem Gebäude näherte, wuchs ihre Panik. Sie konnte dort nicht hineingehen. Sie konnte einfach nicht! Hatte diese Frau sie nicht als hilfloses Baby zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Deutschland zurückgelassen? Sie vergessen? Nie wieder nach ihr gefragt und gesucht? Auch nicht nach Kriegsende, als es nun wirklich keine Entschuldigung mehr gab?

Mia, ihre Tochter, die einige Schritte vor Melissa ging, spürte das Zögern der Mutter und wandte sich zu ihr um. »Komm«, bat sie sanft.

»Ich kann nicht«, stieß Melissa mühevoll hervor.

Mia nahm ihre Hand. »Natürlich kannst du, Mama«, erwiderte sie fest. »Ich verstehe, dass du Angst hast. Aber ich bin bei dir. Und sie kann dir nichts tun.«

Melissa schüttelte den Kopf. »Sie hat mir bereits was getan. Das Schlimmste, was eine Mutter ihrem Kind antun kann. Sie hat mich verstoßen, verlassen …«

Mia streichelte mit dem Daumen über die Hand ihrer Mutter, stieß dabei an den vertrauten Mondstein-Ring, den Melissa nie, niemals, ablegte, auch nicht in der Nacht. »Es waren schlimme Zeiten damals«, sagte sie ruhig. »Und wenn deine Mutter wirklich eine Verfolgte war, wovon wir ja momentan ausgehen, dann ist das, was sie getan hat, das Klügste, was sie machen konnte.«

»Aber sie hätte mich wenigstens danach suchen können«, beharrte Melissa. »Der Krieg ist seit mehr als einem halben Jahrhundert vorbei!« Es klang wie ein Schrei, und eine elegant gekleidete Französin, die die Straße hinaufeilte, warf ihnen einen misstrauischen Blick zu.

»Vielleicht hat sie das ja auch getan, Mama. Niemand außer ihr wird dir das je sagen können. Und wenn du sie jetzt nicht fragst, dann wirst du dich ewig damit quälen.«

Zaghaft blickte Melissa ihrer Tochter ins Gesicht. »Du hast ja recht«, sagte sie leise.

»Also, kommst du?«

»Ja.« Melissa atmete tief durch und ging dann auf die Haustür ihrer Mutter zu. Ihre Schritte waren zitternd, wurden aber selbstsicherer, je weiter sie sich nach vorne wagte. Und dann hob sie, ohne zu zögern, die Hand an den glänzenden Messingknopf und klingelte.

Es dauerte eine Weile, bis sich drinnen etwas regte. Melissa wollte schon zum zweiten Mal die Klingel betätigen, als sie Schritte hörte, die sich der Tür näherten. Und dann öffnete Susanne Thannberg. »Oui?«, fragte sie und erstarrte. Es war offensichtlich: Die elegant gekleidete und sorgfältig frisierte alte Frau hatte sofort erkannt, wer vor ihr stand.

Doch weder Mia noch Melissa bemerkten die Reaktion. Sie waren beide viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Melissa mit ihrer Aufregung und Mia mit ihrer Verblüffung. Sie kannte dieses Gesicht. Gut sogar. Sie kannte die Augen und sogar die Art, wie die alte Dame den Kopf bewegte. Sie war ihr regelrecht vertraut. Aber woher? Und warum?

Mia wollte ihre Hand wieder in die ihrer Mutter schieben, stellte aber fest, dass diese ihre Hände zu festen Fäusten geballt hatte. Auf Deutsch sagte sie: »Guten Tag. Mein Name ist Melissa Bigall. Ich bin Ihre Tochter. Und das hier …«, sie schob Mia nach vorne, »ist Ihre Enkeltochter.«

»Ich weiß«, presste die alte Frau hervor, und urplötzlich, von einem Moment auf den anderen, brach sie in Tränen aus. Minutenlang stand Susanne Thannberg mit hängenden Armen da und weinte, weinte, weinte.

Mia und Melissa wechselten einen ratlosen Blick. Dann trat Melissa einen Schritt auf ihre Mutter zu und zog sie in die Arme. Diese für sie so bedeutsame Geste war seltsam und ungewohnt, sie sehnte sich ebenso nach ihr, wie sie sie fürchtete. Doch Susannes Tränen, ihre offenkundige Verzweiflung ließen ihr keine andere Wahl, als zur Handelnden zu werden. Und das half ihr aus ihrer Beklemmung, aus ihrer Starre heraus.

Lange standen sie so, eng umschlungen, dann befreite Susanne sich sanft aus der Umarmung, ein Stück weit nur, sodass sie ihre Tochter ansehen konnte. Sie streckte die Hände aus und ließ sie über Melissas Gesicht wandern, als handle es sich um ein Kunstwerk von ungemeiner Ausdruckskraft. »Dass ich dich einmal berühren darf. Dass ich dich wirklich berühren darf«, flüsterte sie ein ums andere Mal. »74 Jahre lang habe ich mich danach gesehnt. Jeden Tag. Jede Stunde. Jede Minute.«

Auch Melissas Gesicht war tränennass. Die Finger auf ihrer Haut fühlten sich fremd und doch sehr vertraut an. Die Hände einer Mutter. Ihrer Mutter.

»Aber warum bist du denn nicht gekommen? Du wusstest doch von mir?«, fragte, nein, krächzte sie, denn die Stimme wollte ihr nicht mehr gehorchen.

»Ich war da, Kind. Ich war ganz oft bei dir als Gast in deiner Pension. Erinnerst du dich nicht?«

Melissa starrte sie an und Mia im Hintergrund schrie leise auf. Natürlich! Jetzt wusste sie, warum ihr die alte Dame so bekannt vorgekommen war. Ihr fielen all die Momente ein, in denen sie mit ihr gesprochen hatte. Sie hatte sie immer besonders sympathisch gefunden – aber auch ein wenig unheimlich, weil sie fand, dass die Frau sie stets so merkwürdig gemustert hatte.

»Das warst du?«, fragte Melissa fassungslos. Offenbar hatte sie, im Gegensatz zu Mia, bisher nicht bemerkt, dass Susannes Gesicht kein Unbekanntes für sie war. Kein Wunder, schließlich war Melissa von der Aufregung, die Mutter kennenzulernen, zu keinem klaren Gedanken fähig gewesen. Aber jetzt schien auch sie sich zu erinnern. »Natürlich. Komisch, dass mir das nicht gleich aufgefallen ist. Dass du mir so bekannt vorgekommen bist, habe ich darauf zurückgeführt, dass du… dass du… meine Mutter bist.«

Susanne nickte. »Ich bin jedes Jahr gekommen, seit … seit ich davon erfahren habe, dass du nicht gestorben bist. Dass du lebst …«

»Warum sollte ich gestorben sein?«, fragte Melissa verblüfft.

Susanne schüttelte den Kopf. »Es ist kompliziert. Ich muss alles der Reihe nach erzählen.« Schüchtern lächelte sie Tochter und Enkeltochter an. »Ich habe gestern gebacken. Möchtet … ihr ein Stück Kuchen?«

»Gern«, sagte Mia, die die ganze Zeit stumm neben ihrer Mutter und ihrer Großmutter gestanden hatte. »Aber eine Frage würde ich gerne gleich stellen.«

»Ja?« Susanne lächelte ihr aufmunternd zu.

»Franziska – deine … Tante hat doch bis zu ihrem Tod vor ein paar Wochen mit uns unter einem Dach gelebt. Hat sie dich denn nicht erkannt?«

Susanne war beim Klang des Namens zusammengezuckt. Ein Schatten war über ihr Gesicht gefallen. Doch sie riss sich zusammen, hatte sich schnell wieder im Griff. »Franziska hatte mich das letzte Mal 1939 gesehen«, erklärte sie. »Damals war ich eine sehr junge Frau, fast noch ein Mädchen. Heute bin ich alt. Es war ihr völlig unmöglich, mich zu erkennen. Und nun kommt. Wollen wir nach draußen gehen?«

Susanne führte ihre beiden Besucherinnen auf eine herrliche Terrasse. Korbsessel standen unter einem großzügigen Metallpavillon im Jugendstil, duftende Rosen rankten sich nach oben, dazwischen prachtvoller Lavendel. »Ich bin gleich wieder da«, verkündete sie und kehrte kurz darauf mit einem Tablett zurück, auf dem ein frischer Apfelkuchen neben Schlagsahne stand, außerdem Tee, Milch und Sahne in einem Service aus Silber und zarte, bemalte Tassen.

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Susanne schließlich.

»Am besten 1939. Als du gegangen bist und mich – zurückgelassen hast«, schlug Melissa vor. Es sollte nicht vorwurfsvoll klingen, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme bebte.

Sofort legte Susanne ihre schmale, schwer beringte Hand auf die etwas fülligere ihrer Tochter. »Ich wollte dich nicht verlassen, glaub mir. Wir haben das nur getan, damit du nicht gefährdet wirst. Mutter wollte mit dir nachkommen, sobald ich deinen Vater gefunden habe. Oder ich wollte zurückkommen und dich holen, sobald wir einen sicheren Ort zum Leben gefunden hätten.«

»Es war nicht so gemeint«, versicherte Melissa rasch und bewegte ihre Hand zaghaft unter der ihrer Mutter. »Das sollte kein Vorwurf sein, entschuldige bitte.«

Susanne nickte. »Es war im Herbst 1938 und ich war frisch verliebt«, begann sie ihre Erzählung. Ihre Augen verschleierten sich und man konnte sehen, dass sie tief, ganz tief in die Vergangenheit blickte …

2. Kapitel

75 Jahre zuvorKonstanz, Bodensee, 9. auf 10. November 1938

»Aber ich liebe ihn, Mutter.«

Johanna zog die gewölbten Augenbrauen sehr weit hoch und musterte ihre Tochter mit einem Blick, der Susanne kühl vorkam – der aber alles andere war als das. Es lag Sorge darin, Sorge um ihre kleine Tochter, die nun schon so groß war. Und wie sie da so stand und auf ihrer Liebe zu Leopold beharrte, erinnerte sie Johanna an sich selbst: 24 Jahre war es her, sie noch keine 20, und sie hatte Susannes Vater geliebt, war durch die Welt geschwebt und hatte die dunklen Wolken am Horizont einfach weggelächelt. Nun standen wieder dunkle Wolken am Horizont, dunkler noch als damals, und wieder liebte ein junges Mädchen einen jungen Mann. Einen Mann, der Jude war. Johanna presste die Lippen aufeinander, löste sie dann wieder und strich ihren Rock glatt.

»Das spielt keine Rolle«, beschied sie ihrer Tochter knapp. »Es ist zu gefährlich.«

»Weil er Jude ist?« Die Empörung stand Susanne ins Gesicht geschrieben.

»Ja«, sagte Johanna ruhig. »Weil er Jude ist.«

»Ich hätte nie gedacht, dass du auch so denkst!«, spie ihre Tochter ihr entgegen. »Dass du auch so bist!«

Johanna zuckte zusammen, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die Worte droschen wie Prügel auf sie ein. »Susanne«, setzte sie an.

»Nein Mama.« Die junge Frau drehte ihr den schmalen Rücken zu und starrte aus dem Fenster. »Nein.« Leise fügte sie hinzu: »Ich habe dich immer und immer und immer bewundert. Weil du so stark warst, so unabhängig. Weil du nie angepasst warst. Und jetzt bist du angepasster als alle. Ich dachte immer, du wärst stärker als Papa. Aber Papa tut wenigstens etwas, mit seiner Bekennenden Kirche. Und du, du hast immer nur das Geld und die Geschäfte im Kopf.«

Langsam wandte sie sich wieder um und sah ihrer Mutter ins Gesicht. »Ist es das?« fragte sie tonlos. »Du hast Angst, dass du keine Aufträge mehr erhältst, wenn rauskommt, dass deine Tochter sich mit einem Juden eingelassen hat?«

»Nein. Das ist es nicht«, widersprach sie. Ich habe Angst um dich.« Aber noch während Johanna die Worte aussprach, wusste sie, dass es nicht stimmte. Zumindest nicht ganz. Es ging ihr keineswegs ausschließlich um ihre Tochter. Es ging ihr auch zu einem sehr großen Teil um die Firma, die florierende Firma, die sie in den letzten 15 Jahren zu einem sehr erfolgreichen Unternehmen gemacht hatte.

Johanna konnte sich selbst nicht mehr leiden: Eine Frau, der Macht, Geld und Ansehen wichtiger waren als die Menschen, die ihr nahestanden. Wann war sie so geworden, fragte sie sich. Was war mit der jungen Frau passiert, die voller Ideale und voller Überzeugungen am Anfang eines verheißungsvollen Lebens gestanden hatte? Hatte der Krieg sie getötet? Der Kummer, die Entbehrungen, der Hunger? Die Sorge um ihren Mann, der von einer Krise in die andere stürzte und den sie stets aus irgendeinem Schlamassel befreien musste? Ja, dachte Johanna, sie hatte im Leben gelernt, dass sie sich auf nichts verlassen konnte als auf sich selbst.

Sie betrachtete ihre Tochter, diese junge Frau, die jetzt so zornig vor ihr stand und die sie in den Armen gehalten hatte, als das kleine Mädchen vor Hunger weinte, damals, während der Inflation 1923. Daraufhin hatte sie die Ärmel hochgekrempelt und in ihrem Garten Gemüse angebaut. Und irgendwann war aus der idealistischen, weichen Frau eine harte Matriarchin geworden.

Sehnsüchtig blickte sie in Susannes leuchtendes Gesicht. Sie wäre so gerne wie sie, sie wäre so gerne wieder jung. Aber sie hatte gelernt, dass das Leben bitter und hart sein konnte, dass es gnadenlos zuschlug. Dieses Wissen hatte sie ängstlicher gemacht und angepasster, da hatte Susanne vollkommen recht.

Aber es lag auch viel Wahrheit in den Worten, die sie eben zu ihrer Tochter gesagt hatte: »Ich habe Angst um dich.« Sie wollte nicht, dass Susanne den gleichen Schmerz erdulden musste wie sie. Sie wollte ein glückliches, ein unbeschwertes Leben für ihr Kind.

»Es ist verboten, Susanne«, sagte sie deshalb ruhig. Für einen Moment überlegte sie, ob sie ihrer Tochter gestehen sollte, dass auch sie einen Juden geliebt hatte, den Vater des Mannes, den Susanne liebte. Aber sie schluckte die Worte hinunter. Susanne hätte kein Verständnis dafür, denn sie, Johanna, würde damit ja vor allem auch eingestehen, Susannes Vater betrogen zu haben.

»Und wenn es verboten ist, ist es falsch?«, fauchte ihre Tochter gerade. »Das kann ich nicht finden. Ich liebe Leopold und ich werde ihn nicht aufgeben, nur weil so ein Wahnsinniger namens Hitler auftaucht. Und übrigens: Ich erwarte ein Kind von Leopold.« Trotzig starrte die junge Frau ihrer Mutter ins Gesicht, auf dem sich Fassungslosigkeit ausbreitete, als draußen die Hölle losbrach. Fensterscheiben klirrten, Menschen brüllten. Hastig wandte sich Susanne um und starrte aus dem Fenster. Mit einem Satz war Johanna bei ihr und blickte ebenfalls in die kalte Novembernacht hinaus, wo die Horden auf jüdische Geschäfte einschlugen. Und voller Entsetzen betrachteten sie später den Feuerschein am Himmel, als die Synagoge in Flammen aufging.

3. Kapitel

Paris, Frankreich, Anfang November 1938

Sophie lächelte still in sich hinein, als sie auf der Champs Élysées in Richtung Arc de Triomphe eilte. Seit 13 Jahren lebte sie nun schon mit ihrem Pierre in Frankreich. Und sie dachte, dass ihr dieses Land inzwischen viel mehr Heimat geworden war als ihr ursprüngliches Zuhause, Deutschland, es je gewesen war – wenn das Leben in der Pariser Gesellschaft auch manchmal alles andere als einfach war. Das dachte sie nicht zum ersten Mal, sondern dieser Gedanke war allgegenwärtig, seit fünf Jahren, seit die Nationalsozialisten in jener kalten Januarnacht 1933 die Macht ergriffen hatten und wenige Wochen später der Reichstag brannte. Und sie dachte es jedes Mal aufs Neue, wenn sie wieder jemanden traf, der aus der Heimat geflohen war. Immer mehr Menschen aus Deutschland kamen an, immer größer wurde der Kreis. Juden, Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller.

Anfangs war es besonders schwer für sie gewesen, hier in Frankreich. Pierres Familie war ihr mit offener Feindseligkeit begegnet und hatte dafür gesorgt, dass man sie aus den Kreisen, zu denen sie durch ihre Heirat nun mal gehörte, ausschloss. Nicht offiziell, versteht sich. Nach außen hin war man Sophie mit ausgesuchter, aber eiskalter Höflichkeit begegnet. Aber sie hatte die hämischen Blicke und das Getuschel sehr wohl bemerkt und auch, dass man sie zu wichtigen Ereignissen einzuladen vergaß. Pierre hatte immer versucht, sie aufzuheitern. Ihr weismachen wollen, dass es gewiss keine Absicht gewesen sei. Beide wussten, dass es leere Worte waren. Um seiner und ihrer Ohnmacht etwas entgegenzusetzen, hatte er ihr schließlich empfohlen, selbst eine Gesellschaft zu geben.

Sie hatte die Idee begeistert aufgegriffen, es war ihr Rettungsanker gewesen, sie hatte sich enorm angestrengt, Wochen mit der Planung verbracht. Dann war der große Tag angebrochen – und mit ihm eine Absage nach der anderen ins Haus geflattert. Die Gründe waren allesamt fadenscheinig, manchmal waren gar keine genannt worden. Es war eine offene Provokation.

Sophie hatte stundenlang in Pierres Armen geweint, dann kam der Trotz. Sie werde diesen arroganten Personen nicht länger hinterherlaufen, hatte sie erklärt und Pierre mit blitzenden, zornigen Augen angesehen. Er hatte gelächelt, denn das war Sophie, seine Sophie. Dieses zarte, zähe Wesen, diese liebliche, widerspenstige Frau. Sophie war ins Schreiben geflohen, wie sie das früher schon getan hatte. Damals wie heute trug sie immer ein kleines silbernes Notizbüchlein um den Hals, in dem sich in den Zeiten, als sie von Pierre getrennt war, auch dessen Foto befunden hatte. Ihrem Notizbuch vertraute sie alles an. Das Glück, trotz aller Ablehnung eine neue Heimat gefunden, und den Schmerz, die alte verloren zu haben.

Es tat noch immer weh, so weit entfernt von ihren Lieben zu sein – und sie sorgte sich auch um sie, denn das, was dieser Tage in Deutschland passierte, gefiel ihr ganz und gar nicht.

Auch darüber schrieb sie, und lang schon war ihr das Schreiben viel mehr als nur eine Flucht geworden. Die Welten, die sie auf dem Papier erschaffen konnte, zogen sie mehr und mehr in ihren Bann. Bessere Welten. Friedlichere Welten. Aber auch Welten voller Gegensätze. Auf dem Papier, fand sie, erklärte sich vieles, das im Leben eigentlich nicht erklärbar war, wie von selbst.

Sophie schrieb Gedichte, Erzählungen, schließlich sogar einen Roman. Als 1933 die ersten Flüchtlinge aus ihrer alten Heimat in Frankreich angekommen waren und sich die deutschenfeindliche Stimmung noch verstärkt hatte – man wahrte Sophie gegenüber inzwischen nicht einmal mehr den Schein der Höflichkeit, ließ sie die Verachtung offen spüren –, hatte sie auch diesen Schmerz ihrem Tagebuch anvertraut. Die nationalistische Presse schürte den Hass gegen die Deutschen nun ganz offen, und Pierre, ebenfalls Journalist, wurde nahegelegt, zu kündigen, da man nicht dulden könne, dass er eine Deutsche zur Frau habe.

Er war hocherhobenen Hauptes gegangen, hatte zuvor aber noch erklärt, er habe ohnehin kündigen wollen, da er die Richtung, in die sich das Blatt entwickelt habe, nicht im Geringsten vertreten könne. Zu Hause hatte er versucht, Sophie zu trösten, ihr zu erklären, woher diese Ablehnung kam. »Sie sind unsicher, Chérie«, hatte er gesagt, als er sie abends im Bett in den Armen hielt. »Sie haben Angst vor den Deutschen, sie haben das Leid des Kriegs noch lang nicht vergessen.« Sophie schmiegte sich enger in seine schützende Umarmung. »Was sollen ihnen diese armen, hungernden Menschen denn tun? Sie haben ja nichts außer einem Koffer.«

»Sie sind misstrauisch, mon amour.« Pierre küsste sie auf die Stirn. »Und sie haben Angst, dass sie mit ihnen teilen müssen. Ihre Nahrung. Ihre Arbeitsplätze.«

»Und nun hast du also auch keine Arbeit mehr«, seufzte Sophie. »Und ich bin schuld.«

Pierre lächelte in sich hinein. »Auch ohne dich hätte ich diese Arbeit niedergelegt. Ich muss hinter dem stehen, was ich tue. Du weißt, dass wir nicht verhungern werden.«

Pierre hatte zwar aufgrund der Abneigung, die seine Mutter Sophie entgegenbrachte, endgültig mit ihr gebrochen, sein verstorbener Vater und seine Großmutter hatten ihm jedoch ein stattliches Vermögen hinterlassen. Pierre arbeitete, weil er es wollte, nicht, weil er musste. Sie lebten in einem eleganten, stuckverzierten Stadthaus nahe der Champs Élysées, das schon immer viel zu groß für sie beide und das Personal gewesen war und das völlig überdimensioniert wirkte, seit Raphael, ihr Sohn, ausgezogen war mit der Begründung, er müsse nun lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Zu groß oder nicht: Sie hätten sich nie vorstellen können, es zu verkaufen, es war ihnen in den letzten 15 Jahren ein Zuhause gewesen. Und das würde es immer bleiben.

»Was wirst du jetzt tun?«

»Ich will eine eigene Zeitung gründen«, verkündete Pierre. »Eine Zeitung, die sich offen und ehrlich mit dem auseinandersetzt, was um uns herum geschieht. Und wer weiß, vielleicht schreibst du ja eines Tages für mich.«

Sophie strahlte. Seine Worte verliehen ihr Flügel, sie schrieb mehr und immer mehr, und je mehr sie schrieb, desto mehr fand sie zu sich selbst. Sie lernte sich beim Schreiben kennen, stellte sie fest. Manchmal saß sie da und starrte staunend auf das, was sie da gerade verfasst hatte, nicht wissend, woher all die Gedanken und Einfälle kamen. Wenn sie schrieb, war sie ganz frei, ganz weit.

Sie schleuderte ihre Wut auf Papier, als sie von den Bücherverbrennungen der Nazis im Mai 1933 hörte. Und so schwer es ihr fiel, sich von diesen ihren kostbaren Büchern zu trennen, trug sie sie ein Jahr später doch in die deutsche Freiheitsbibliothek, die der ebenfalls emigrierte Alfred Kantorowicz in Paris gründete. Mit diesem Tag eröffnete sich Sophie eine ganz neue Welt. In der deutschen Freiheitsbibliothek trafen sich Exilanten, tauschten sich aus – die meisten von ihnen waren dem Schreiben ebenso verfallen wie Sophie. Sie lernte Heinrich Mann kennen, den Journalisten Egon Erwin Kisch, Anna Seghers. Jeder Tag, jede Stunde, jede Minute mit ihnen war Sophie Inspiration, sie sah die Welt immer mehr mit den Augen einer Schriftstellerin. Wenn sie durch die Straßen streifte, bemerkte sie Dinge in einer Detailgenauigkeit, die sie beinah schmerzte, sie rang um Worte, weil sie zu Papier bringen wollte, was sie sah. Manchmal sprudelte es nur so aus ihr heraus, manchmal verzweifelte sie, weil sie keinen Begriff fand. Und manchmal sah sie sich der Flut der Worte und der Eindrücke, die auf sie einströmten, beinahe hilflos gegenüber und geriet in Panik, weil ihr Füller nicht schnell genug schrieb, um all das, was sie sagen wollte, zu Papier zu bringen. Sophie schrieb von den Augen der Menschen, die erst im KZ gewesen und dann geflohen waren, Menschen, die sie in der Hilfsorganisation für Flüchtlinge kennenlernte, in der sie sich engagierte. Sie schrieb von dem Kind, das jeden Tag auf der Kante des Bürgersteigs saß, traurig vor sich hinstarrend, mit gebrochenen Augen. Sie schrieb von ihrem Sohn Raphael – von dem sie zu wissen glaubte, dass er Frauen nicht liebte, sondern Männer. Raphael hatte zwar eine Freundin, war aber nicht glücklich, und mit der Intuition einer Mutter vermutete sie, warum, dachte auch, dass er es sich nie eingestehen und deshalb sein Leben lang unglücklich sein würde.

Sophie hatte sich lang gegen ihren Verdacht gewehrt, es war ihr fremd gewesen und sie sprach darüber auch nicht mit Pierre, sie wollte es erst selbst begreifen, und sie war sich fast sicher, dass er es nicht verstehen, vermutlich sogar verurteilen würde.Ihr selbst schien es in dieser offenen, dieser freien Welt der exilierten Schriftsteller, in der sie nun lebte, begreiflich zu sein, dass ein Mann auch Männer lieben konnte. Und eine Frau Frauen. So weit schienen ihre Gedanken mit einem Mal zu sein – denn sie war ja nun in der Lage, mit ihren Worten Welten zu schaffen –, dass ihr auch die Liebe zwischen Menschen unendlich weit schien. Das Einzige, was sie irritierte, war, dass man sich zwischen den Geschlechtern entscheiden sollte. Sophie grübelte darüber nach, ob es nicht eher so wäre, dass es auf den Menschen ankam statt auf das Geschlecht. Auf ihren Streifzügen durch Paris sah sie sich die Gesichter von Liebenden, die ihr begegneten, genau an und sie fragte sich, was sie zueinander hinzog. Sie wusste, dass sie Pierre liebte, immer lieben würde, aber sie dachte nun darüber nach, was passiert wäre, wenn Pierre eine Frau gewesen wäre und sie in einer Welt gelebt hätte, in der nicht klar definiert war, dass Männer Frauen zu lieben hatten und Frauen Männer. Sie hatte das Gefühl, dass die Liebe alles andere auszuhebeln und die engen Schranken zu sprengen vermochte, in die die Welt und gerade auch die Deutschen sich selbst sperrten.

Sophie fühlte ein überwältigendes Gefühl der Freiheit in sich aufsteigen – eine Freiheit, die in gewaltigem Gegensatz zu dem stand, was da gerade in dem Land passierte, in dem sie geboren worden war.

Einem Impuls folgend, warf sie die Arme in die Luft des kalten Pariser Wintermorgens, hob ein Bein und drehte sich jubelnd um sich selbst. Den vorübereilenden Menschen, die ihr verwunderte Blicke zuwarfen, schenkte sie ein strahlendes Lächeln.

4. Kapitel

Überlingen, Bodensee, 10. November 1938

Babette hatte immer gewusst, dass es ein Fehler gewesen war: Als sich Matthias, ihr Mann, 1923 um die Stelle des Schulleiters in Überlingen bewarb, hatte er verschwiegen, dass er Jude war. Lang schon hatte er die Stelle nicht mehr inne, lang schon war es herausgekommen, lang schon wollte man sie nicht mehr. Weder Matthias als Lehrer christlicher Schüler, noch, so empfand es Babette, die ganze Familie Thannberg. Der jüdische Textilhändler Levi hatte Matthias eine Anstellung in seinem Geschäft gegeben, und Matthias, der einstige Schuldirektor, bediente die ehemaligen Eltern seiner Schüler hocherhobenen Hauptes und mit allem Stolz, den er an den Tag zu legen vermochte. Doch es war immer schwerer geworden. Schilder, auf denen stand:

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