Dornröschens kaltes Grab - E.R. Kästner - E-Book

Dornröschens kaltes Grab E-Book

E.R. Kästner

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Beschreibung

Ein bestialischer Mord an einer jungen Frau erschüttert eine kleine Gemeinde im norddeutschen Flachland. Die Gerüchte über einen satanischen Hintergrund mehren sich. Teufelsanbeter inmitten der Dorf-Idylle?! Eine lächerliche Vorstellung, findet Isabelle Zander. Doch schnell zwingen gefährliche Ereignisse sie, den Tatsachen ins Auge zu blicken: Wer verfolgt sie und woher kommen die blutigen Warnungen? Isa muss handeln und kommt einem menschenverachtenden Verbrechen auf die Spur, welches seinen Ursprung in ferner Vergangenheit hat ...   Das Buch ›Dornröschens kaltes Grab‹ ist die chronologische Fortsetzung der Bestseller ›Das Dornröschen-Dorf‹, ›Ein unseliger Ort‹ und ›Die Stunde der toten Träume‹ von E.R.Kästner. Alle Bücher können autark in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.  

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E.R. Kästner

Dornröschens kaltes Grab

Töte, was du liebst. Dann liebt er dich.

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

PROLOG

PROLOG

 

8.Juli 1996

 

 

„Nich’ lang schnacken, Kopp innen Nacken!“

Je später der Abend, desto besoffener die Gäste. Lodernde Fackeln erhellen den penibel gepflegten Rasen. Aus dem reetgedeckten Haus schallen fröhliche Stimmen in den dunklen Garten, die Laune ist dank Wein, Bier und Tequila auf dem Höhepunkt. Wie immer ist die Wohnküche der Mittelpunkt der Party. Die Terrassentür steht offen, man versteht jedes Wort. Nicht nur im Garten, sondern mittlerweile im ganzen Dorf.

„Zur Mitte, zur Titte, zum Sack - zack zack!“

Miriam schließt angeekelt die Augen. Wildes Lachen flutet in die nächtliche Stille, gemischt mit einem hohen Kreischen, das eindeutig von Katrin kommt. Wenn sie sternhagelvoll ist, ähnelt ihre Stimme der eines Makaken, ihre Gesichtsfarbe ebenfalls. Dazu passend steht in diesem Moment sicher der feiste Steffen neben ihr und versucht, klebrigen Schnaps aus ihrem Dekolletee zu lecken. Nicht, dass Steffen ihr Ehemann wäre. Dieser steht wahrscheinlich verhuscht irgendwo in der Menge, nestelt ab und zu an seiner Buchhalter-Brille und grinst debil. Betrunken ist er auch, eskaliert aber eher nach Innen und muss hilflos zusehen, wie Katrin sich von allen willigen Männern der Nachbarschaft angeifern lässt und es genießt.

Miriam zieht seufzend den weißen Kaschmir-Poncho enger um ihre Schultern. Obwohl es eine hochsommerliche Nacht ist, wird es ihr langsam zu kühl hier draußen. Die Gartenfackeln erhellen ihren Sitzplatz in einer mit Natursteinen gepflasterten Ecke des Gartens kaum, von dem rauchenden Feuerkorb ist sie abgerückt. Davon bekommt sie furchtbare Kopfschmerzen. Die roten Peeptoes hat sie von den Füßen geschmissen, sie liegen achtlos im Rasen. Nachdem sie drei Mal ungeschickt auf den steilen Pfennigabsätzen im Rasen umgeknickt war, hatte sie sich ihrer entledigt. Ihr ist langweilig. Diese öden Partys nehmen immer den selben Verlauf: Zunächst steifer Smalltalk über Themen, die sie nicht die Bohne interessieren, dann lockern sich die Zungen nach und nach, die Gespräche werden intimer, aber weiß Gott nicht tiefgründiger, bis irgendwann nur noch gelallt, gelacht und gebrüllt wird.

Genervt versucht sie in der Dunkelheit die Ziffern ihrer zierlichen Armbanduhr zu erkennen. Halb eins oder halb zwei? So genau kann sie das nicht sagen, gefühlt hockt sie seit zehn Stunden hier. Und kein Ende abzusehen. Wenn man nicht raucht und wenig trinkt, dann ist man auf Dorffesten auf verlorenem Posten. Zum hundertsten Mal überlegt sie, einfach ohne Jörg nach Hause zu gehen. Der amüsiert sich natürlich prächtig drinnen. Mit einer fetten Zigarre im Mund und die Augen ganz sicher auf Katrins aufgepumpte Titten geheftet. Vierhundert Gramm Silikon auf jeder Seite, wie sie jeder Frau, die es nicht hören will, mit einem plump vertraulichen Zwinkern verrät.

›Lieber hätte sie sich den Hintern absaugen lassen sollen, als ihren Busen aufplustern‹, denkt Miriam und wackelt mit den rot lackierten Zehen. Ihre Füße frieren langsam ein, aber ins Haus zu der munteren Menge will sie auf keinen Fall gehen. Im Feuerkorb platzt mit lautem Getöse ein Ast, aus dem Haus wird die Musik von einem Chor überschnappend plärrender Stimmen übertönt: „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben, na na na na na!“, als sich unvermittelt ein dunkler Schemen über Miriam beugt:

„Auch keine Lust auf die Party?“

Eine Zigarette glüht auf und erhellt die sanft geschwungenen Lippen eines Mannes mit dunklem Dreitagebart. Erkennen kann Miriam sonst nichts, auch die Stimme kann sie nicht einordnen. Seltsam, eigentlich kennt man sich hier im Ort. Der Zigarettenrauch mischt sich mit der herben Moschusnote eines teuren Aftershaves.

„Darf ich?“, fragt der Schatten und setzt sich, ohne eine Antwort abzuwarten, auf den Teakholz-Stuhl Miriam gegenüber. Blöd, dass die Windlichter auf dem Gartentisch längst herunter gebrannt sind. Sie würde schon gerne sehen, wer ihre Gesellschaft sucht. Mit einem dumpfen Geräusch wird einer der Waterford-Tumbler ihrer Gastgeber auf den Tisch zwischen ihnen abgestellt. Miriam riecht das torfige Aroma eines teuren Whiskeys. Scheint ein besonderer Gast zu sein, Elisabeth und Martin schenken bei ihren Sommerfesten eigentlich keine solchen luxuriösen Köstlichkeiten aus - und schon gar nicht in ihren edelsten Gläsern. Die Hand mit der glimmenden Zigarette liegt jetzt locker auf dem Tisch, der Ärmel des weißen Hemdes ist einmal umgekrempelt und entblößt einen gebräunten Unterarm mit dichter schwarzer Behaarung und einer klobigen, goldenen Uhr, gehalten von einem Lederarmband mit Kroko-Prägung. Miriam öffnet gerade die Lippen um den Schatten zu fragen, wer er überhaupt ist, als dieser erneut spricht:

„Eine wunderschöne Nacht.“

Irgendwas im sonoren Timbre der Stimme bringt ihren Körper zum Schwingen. Ihr Magen vibriert leicht, nicht unangenehm. Miriam befeuchtet ihre Lippen. Sie hat keine Ahnung, was sie erwidern soll. Und so krächzt sie einfach nur: „Ja“, was dem Unbekannten ein leises Lachen entlockt.

›Der muss mich für vollkommen bescheuert halten‹, denkt Miriam. Mitten in diesen Gedankengang platzt erneut Katrins affenartiges Lachen, sie erscheint in der Terrassentür, ungefähr zwanzig Meter von Miriam und dem Mann entfernt und sieht sich um. Ihr weißes, viel zu enges Minikleid leuchtet in der Dunkelheit. Als sie sicher ist, dass ihr Flirt ihr folgt, flitzt sie betrunken kichernd in den Garten hinaus, zum Glück in entgegengesetzter Richtung zu Miriams Sitzplatz. Ein hochgewachsener Mann folgt ihr. Miriam kann nicht genau erkennen, wer da auf verbotenen Freiersfüßen wandelt und sich Hoffnung auf ein schnelles Stelldichein mit der Dorfmatratze macht. Immerhin ist es nicht Jörg, so viel meint Miriam sehen zu können. Ihren eigenen Ehemann würde sie wohl erkennen.

Laub raschelt auf der Suche nach einem verschwiegenen Plätzchen, Katrins Kichern wird leiser, der Mann grunzt irgendwas, was Miriam beim besten Willen nicht verstehen kann. Was für eine peinliche Szene. Hoffentlich blieben ihnen weitere verräterische Geräusche erspart. ›Das fehlt mir gerade noch, dass ich hier mit diesem Fremden anhören muss, was die beiden da im Gebüsch treiben‹, schießt es Miriam durch den Kopf, ›Jetzt ist exakt der richtige Zeitpunkt, zu gehen.‹ Doch bevor sie ihren Vorsatz wahr machen kann, entschärft der Fremde die Situation:

„Kaninchen sind nichts dagegen.“ Ein Schmunzeln liegt in seiner Stimme. Auch Miriam muss nun lächeln und entschließt sich, den Mann nun doch etwas näher kennen zu lernen. Sie hat ja auch wirklich nichts besseres vor. Kurz schielt sie in das hell erleuchtete Wohnzimmer, in der Menge aus tanzenden und feiernden Leibern in chicer Garderobe kann sie Jens nicht sehen.

„Entschuldigen Sie, aber kennen wir uns?“, fragt sie den Fremden. Dieser nimmt müßig einen Schluck des goldenen Getränks aus seinem Tumbler. Miriam hört ihn schlucken und dann anerkennend mit der Zunge schnalzen, bevor er ihr ruhig antwortet:

„Natürlich kennen wir uns, Miriam.“

„Aber ... woher? Sorry, bei mir klingelt nichts ... Wie war Ihr Name?“ Miriam wundert sich. Sie kennt diesen Mann auf keinen Fall. Diese Stimme, diese Aura - die hätte sie garantiert nicht einfach so vergessen. Bevor der Unbekannte antworten kann, ertönt erneut ein schriller Schrei aus den dunklen Gebüschen. Miriams Oberkörper zuckt erschrocken nach vorne: Das war kein wollüstiger Schrei vor Geilheit. Es klang wie ein Mensch in höchster Not. Oder in Todesangst.

„Was war das?!“

Miriam späht angestrengt in die Büsche, kann aber außer wogenden Schatten im Blattwerk nichts erkennen. Der Fremde sagt nichts, auch er scheint in die Dunkelheit zu starren. Sie hört ihn stoßweise ausatmen, als sich aus der tiefen Schwärze ein heller Umriss löst. Katrin in ihren hellen Kleid. Miriam kneift die Augen zusammen. Warum torkelt sie so komisch? Ist sie so sturzbetrunken oder ... hat ihr Verehrer ihr irgendwie weh getan? ›Wundern würde mich das nicht. So, wie sie sich jedem an den Hals wirft, musste sie ja irgendwann an den falschen geraten‹. Sie steht auf, um sich um Katrin zu kümmern. Die Gestalt kommt nun schwankend, auf unsicheren Beinen näher.

Das ist nicht Katrin.

Es ist eine Frau. Oder vielmehr ein Mädchen. Zart gebaut, kleine Brüste. Der Schädel glänzt haarlos. Das Mädchen scheint nackt zu sein und ... blutüberströmt. Hilfesuchend streckt sie die Hand aus, doch Miriam ist aufgrund des entsetzlichen Anblicks wie gelähmt. Den Fremden ihr gegenüber hat sie vollkommen vergessen.

Jetzt sinkt die blutende Gestalt auf die Knie, an ihren Armen, dem Bauch und den Oberschenkeln schlackert etwas. Sie kriecht wimmernd näher. Miriam läuft es eiskalt den Rücken herunter als sie sieht, was für Fetzen vom knabenhaften Körper der jungen Frau herunter hängen. Zunächst dachte sie an Reste von Kleidung, doch es ist Haut. Jemand hat versucht, dem Mädchen großflächig die Haut abzuziehen. Miriam hat das Atmen eingestellt, sie hört nur noch ihr Herz in ihren Ohren dröhnen und nimmt ausschließlich diesen lebenden Kadaver war, der sich mühsam auf allen Vieren auf sie zu schleppt. Auch am Schädeldach klafft eine blutende Wunde, darunter Reste rohen Fleisches und das Aufblitzen blanken Knochens. In Miriams Kehle bahnt sich ein Schrei seinen Weg über ihre Lippen.

Jetzt befindet sich das Mädchen direkt vor ihnen. Sie hebt den Kopf. Ihr Gesicht ist blasser, als ein Lebender es sein kann. Ihre Augen riesig und strahlend blau, die Lippen grotesk geschwollen. Blutige Finger greifen nach dem Hosenbein des Fremden, Miriam nimmt nur den hellen Schemen des knochendürren Arms wahr. Das letzte, was sie hört, bevor ihre Sinne sie endgültig verlassen, sind zwei gehauchte Silben, getragen auf den Schwingen des Todes, kaum wahrnehmbar, einer nun endgültig brechenden Stimme: „Sisam ... nes... “. Dann wird es schwarz um sie.

 

 

Kapitel 1: Breaking News

Kapitel 1: Breaking News

 

Gegenwart

 

Tag ein, Tag aus fegt sie den Bordstein. Es ist irrelevant, zu welcher Tageszeit ich den alten Hof passiere. Sie ist immer da. Stämmige, blau geäderte Beine enden in grünen Gummistiefeln, darüber eine geblümte Kittelschürze, gelbe Strickweste mit dicken, weißen Knöpfen, lila Kopftuch. Ob Sommer oder Winter, das ist ihr tägliches Outfit. Ich bin jedes Mal geneigt, anzuhalten und zu fragen, von welcher Marke die Gummistiefel sind. Die Qualität ist wahrhaft erstaunlich, denn seit fast zehn Jahren trägt sie das selbe Paar, während meine stets nach drei Monaten brüchig werden und meine Füße klatschnass. Oder zumindest beobachte ich das seit zehn Jahren, die wir hier nun wohnen. Doch das Nachfragen lasse ich lieber, am Ende hetzt sie noch einen der räudigen Hofhunde auf mich oder zieht mir ihren Besen über die Birne. Dieser Besen, tatsächlich bestehend aus einem Holzstiel und gebündeltem Reisig, schabt offenbar seit Jahrzehnten über das brüchige Pflaster. Ihr Kopf ist immer dem Gehsteig zugeneigt, ich habe ihr Gesicht noch nie gesehen. Ich gebe Gas, obwohl auf der schlaglochträchtigen Holperpiste nur 30 km/h erlaubt sind. Im Rückspiegel sehe ich noch, dass ein gelber Transporter neben der Alten hält. Der Höhepunkt des Tages auf dem Dorf naht: die Post.

Mit einem milden Lächeln auf den Lippen setze ich meinen Weg fort und rumpele ein paar hundert Meter weiter unelegant über die Bordsteinkante auf einen der Parkplätze vor dem Bäcker. Dort erstehe ich, wie jeden Tag, ein lecker fettiges Schokoladencroissant und eine Laugenstange mit Kürbiskernen. Die gleicht quasi das ungesunde Gebäckstück wieder aus. Während die freundliche Fachkraft meine Order eintütet, schweift mein Blick über den Tresen der aktuell leeren Bäckerei und bleibt an der aktuellen Ausgabe der großen Boulevard-Zeitung hängen, die grundsätzlich zuerst mit der Leiche gesprochen hat. Normalerweise grinse ich nur kurz über die Headlines dieses Pamphlets, aber heute traue ich meinen Augen kaum, denn ich kenne das abgebildete Haus. Es ist eines der prächtigen Fachwerkanwesen unseres Dörfchens. Man sieht ein gutes Stück des hellen Reetdaches, einen Teil der Veranda und - und daran erkenne ich das Haus - die Hälfte der verglasten Rückseite, die einen wunderbaren Ausblick auf die rückwärtigen Wiesen bietet. Dort wohnt ein Ehepaar mittleren Alters, das ich nicht näher kenne. Man grüßt sich, wenn ich an ihrem Garten mit meiner Bulldogge vorbeizockele, das war’s, ganz nach Art der Norddeutschen. Ich meine mal gehört zu haben, dass er Martin heißt und Steuerberater in der nahen Hansestadt ist. Doch das Bild zeigt nicht nur den Teil des Hauses, sondern auch ein Stück eines rot-weißen Absperrbandes und, vor allem, drei Personen in weißen Anzügen, wie man sie aus Krimis aus dem Fernsehen kennt, wenn die Spurensicherung anrückt. Diese müssen sich direkt am hinteren Zaun des Hauses aufhalten. Die Szene wird durch starke Scheinwerfer erhellt, einer davon steht im Hintergrund. An dieser Stelle bin ich schon gefühlte tausend Mal mit Bully über die Wiesen zu einem murmelnden Flüsschen spaziert. Mir wird ein bisschen heiß als ich die riesige Überschrift des Artikels lese:

›Ausgeweidete Frauenleiche am Feldrand!‹.

Das ist ja ungeheuerlich: Da hätte ich drüber stolpern können! Automatisch grapschen meine Finger nach der Zeitung und ich lege klimpernd ein paar Centstücke zusätzlich auf den Geldteller. Drei Sekunden später sitze ich im Auto, stopfe gedankenverloren das Croissant in mich rein, bereue kurz, keinen Kaffee dazu genommen zu haben und lese den Artikel. Ich kann nicht bis zuhause warten, ich platze vor Neugierde.

 

Ein grausiger Fund in der Feldmark erschüttert den Landkreis: Eine Spaziergängerin hatte in der vergangenen Nacht gegen 23.30 Uhr ihren Hund zu einer nächtlichen Gassirunde am Feldrand abgeleint. Als das Tier auch nach wiederholtem Rufen nicht zu seinem Frauchen zurückkehrte, fand die 51jährige ihren Terrier in der Dunkelheit beim Fressen an einem undefinierbaren Stück Fleisch.

„Ich habe zunächst gar nicht begriffen, was ich da vor mir hatte!“, erklärte die Dame, die darum bat, anonym zu bleiben. „Der Körper war von Zweigen und Blättern verdeckt, das Mondlicht war nicht hell genug. Ich habe dann eine Stiftlampe, die ich an meinem Schlüsselbund trage, hervorgeholt. Dann musste ich mich übergeben.“

Der Anblick, der sich der Spaziergängerin bot, hätte auch hartgesottene Mägen außer Gefecht gesetzt: Die unbekleidete Leiche einer jungen Frau, zwischen 15 und 20 Jahren alt, deren Bauchhöhle aufgeschlitzt worden war. Die Organe und Gedärme befanden sich außerhalb des Bauchraumes. Ob der Zustand der Wunde von Tieren oder dem Täter herbeigeführt wurde, ist zum aktuellen Zeitpunkt nicht bekannt. Die Identität des Opfers gibt ebenfalls Rätsel auf.

„Aussehen und Alter stimmen mit keiner aktuellen Vermisstenanzeige im norddeutschen Großraum überein“, informiert Hauptkommissar Björn Zimmermann, „Da es sich um eine junge Frau handelt, ist eine sexuelle Motivation dieser furchtbaren Tat nicht ausgeschlossen. Wir müssen die Ergebnisse der Obduktion abwarten.“

Die Polizei sucht nun dringend Zeugen, die ...

 

Ich lasse die überdimensionierten Zeitungsseiten sinken. Krass. Gestern Nacht, gegen ein Uhr morgens, hatten mich tatsächlich Polizeisirenen geweckt, aber ich hatte mir natürlich nichts weiter dabei gedacht. Hier leben viele ältere Herrschaften, da sind Herzinfarkte und Schlaganfälle keine Seltenheit. Doch das hier ist ja wohl richtig gruselig. Den Bauch aufgeschlitzt und die Organe heraus genommen? Wie in einem Horrorfilm, fehlte nur noch der Irre mit der Eishockey-Maske und der Axt in der Hand. Und das in unserem niedlichen Dörfchen, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen und dessen größte Aufreger verpasste Müllabfuhrtermine, der fiese Geruch nach Gülle und dröhnende Motorsägen zur Mittagszeit sind. Ich wische mir die Croissant-Krümel von der Hose, lege die Zeitung auf den Beifahrersitz und starte den Motor. An der Straße, die zu dem besagten Feldweg führt, recke ich den Hals, sehe aber nichts von den Geschehnissen der letzten Nacht. Dafür bräuchte ich auch Röntgenaugen, denn das Haus des Steuerberaters behindert die Sicht. Keine fünf Sekunden später biege ich mit Karacho in unsere verkehrsberuhigte Wohnstraße ein und entgehe um ein Haar einem Zusammenstoß mit einem Streifenwagen, der verkehrswidrig mit der Motorhaube in Fahrtrichtung am rechten Straßenrand parkt. Direkt auf dem mit der Nagelschere getrimmten Rasenstück der Nachbarn, die werden sich freuen. Wäre ich Chuck Norris, würde ich den Polizisten zumindest eine mündliche Verwarnung für dieses Parkverhalten erteilen.

Etwa fünfzig Meter weiter erspähe ich zwei dunkel gekleidete Gestalten an einer Haustür klingeln, drei Häuser von meiner entfernt. Das sieht mir ganz nach einer ›Haus zu Haus‹-Befragung aus, kenne ich aus dem sonntäglichen Tatort. Ob die auch bei uns klingeln werden?

In Schrittgeschwindigkeit rolle ich an den Streifenpolizisten vorbei. Gerade wird die Haustür geöffnet und die Witwe Claasen, wie immer tadellos in einem marineblauen Blazer gekleidet und mit pechschwarzem Haarknoten, öffnet mit gespanntem Gesicht die Tür. Die Gute wird den Polizisten garantiert mehr Informationen entlocken, als sie ihnen geben kann und sie dabei mit in einem Feinkostladen erstandenen Plätzchen für 6,99 Euro pro 50 Gramm mästen. Ich höre ihren aufgeregten Malteser Nico noch aufkreischen, dann rolle ich grinsend in unsere Garage, neben den Wagen meines Mannes Max. Ich raffe meine Handtasche, die Brötchentüte und die Zeitung an mich, öffne den Wagenschlag und latsche in Richtung Haustür.

„Hast du es schon gehört?!“

Ich zucke zusammen, die Lorbeerhecke spricht mit mir. Aus den Blättern schält sich eine der Klatschbasen des Dorfes, Cornelia, mit ihrem kleinen schwarzen Mischling Karlchen an der Leine. Oh Mann, sie muss regelrecht auf meine Ankunft gelauert haben.

„Nee, wasn?“, stelle ich mich doof und begrüße sie erst mal mit einem Küsschen rechts und links. Karlchen drückt seine Begeisterung mit einem unmotivierten Jaulgeräusch aus und zieht es dann vor, an einen der weißen Pötte mit Buchsbaumkugeln neben meiner Eingangstür zu pinkeln.

„Die haben hier eine Leiche gefunden! Hinten am Feld! Hast du die Polizei nicht gesehen?!“

Polizei? Nein, ich bin blind mit meiner Schlafmaske im Gesicht Auto gefahren. Cornelias stechender Blick taxiert mich. Sie hat sich vor einer Woche die Tränensäcke unterspritzen lassen, ihre Wangenpartie ist merkwürdig geschwollen, ihre Augen rot gerändert, was ihr einen traurig-flehenden Dackelblick verleiht. Ihre dunkelroten langen Haare fallen ihr lockig ins Gesicht - aber jede Locke liegt an ihrem Platz. Der Dackelblick erfasst jetzt die Zeitung in meinen Händen.

„Da! Da steht es doch!“

Cornelia reißt mir die Titelseite aus der Hand und hält sie mir so dicht vor das Gesicht, dass ich die Druckerschwärze rieche. Ich wische sie sanft beiseite, damit ich Cornelia wieder sehen kann und will gerade Luft holen, um ihr zu antworten, als sie auch schon weiter spricht. Man merkt deutlich, dass sie eher ihre Gedankengänge loswerden möchte, als meine zu diesem Ereignis zu hören:

„Die lag direkt hinter dem Haus von Jörgens, am Zaun - da, wo wir immer unsere Feldrunde drehen ... Meinst du, wir müssen jetzt Angst haben? Das klingt doch nach einem Wahnsinnigen, oder?“

Ok, Martin Jörgens scheint der Steuerberater mit dem schicken verglasten Fachwerkhaus zu heißen. Ich speichere diese Info ab und antworte, absichtlich deeskalierend, sonst werde ich Cornelia nie wieder los, wenn ich jetzt noch in selbiges Horn blase:

„Ach quatsch! Diese Zeitung bauscht doch alles auf. Wahrscheinlich war das ein schräger Unfall oder so ...“

Cornelia durchschaut leider meinen billigen Versuch, sie zu beruhigen: „Eine nackte Frauenleiche?! Mit herausgerissenen Organen?! Was soll das denn für ein Unfall sein?!“, japst sie und zieht Karlchen an der Leine näher zu sich. Wahrscheinlich, um ihn vor vorbeistrolchenden Serienkillern zu schützen.

„Was weiß ich ... Aber wer sagt denn, das sie hier ermordet wurde? Ich meine, der Fundort muss ja nicht der Tatort sein?“

Stolz auf meine Argumentation lehne ich mich lässig an unseren brüchigen Jäger-Zaun, der sofort nachgibt und mich ungelenk nach hinten stolpern lässt. Cornelia zieht mich reflexartig am Aufschlag meine cocgnacfarbenen Lederjacke zurück, geht aber nicht auf meinen Slapstickeinlage ein:

„Stimmt, da könntest du recht haben. Trotzdem ... Ich habe ein ungutes Gefühl. Also ich gehe lieber nicht mehr alleine mit Karlchen spazieren. Schon gar nicht nachts ... Sag mal, wer könnte denn die Spaziergängerin sein, die die Leiche gefunden hat? Wir kennen doch eigentlich alle mit Hund hier, oder?“ Die letzten Worte ihrer Fragen werden von einem lauten, scharrenden Geräusch an meiner Haustür und wütenden ›Öff Öff‹-Geräuschen fast übertönt. Unsere Bulldogge hat genau gehört, dass mein Wagen in die Garage gefahren ist und tut ihren Unmut kund, dass ihr morgendliches Stückchen Leberwurstbrötchen noch nicht in ihrem Rachen angekommen ist. Ich drehe mich kurz zur Haustür um und sage dann:

„Keine Ahnung, ich ...“,. will ich Cornelia erklären, dass auch diese Person nicht zwingend aus unserem Dorf sein muss. Doch das ist schlicht Blödsinn, niemand fährt nachts mit seinem Hund zum Gassi. Den lässt man entweder in den Garten oder streift nochmal durch die eigene Straße. Mit gerunzelter Stirn nehme ich mir noch einmal den Zeitungsartikel vor. Frau, 51 Jahre alt, Terrier. Das kann nur eine sein. Ich habe allerdings nicht vor, Cornelia darüber aufzuklären, dass ich mir relativ sicher bin, die Hundehalterin zu kennen. In diesem Moment vibriert es in meiner Handtasche, ich krame mein Smartphone hervor.

›Komm bitte mal schnell rüber. Muss reden!‹ Diese Nachricht bestätigt meinen Verdacht. Cornelia versucht ihren Kopf unauffällig so zu drehen, dass sie auf mein Display schielen kann, doch ich lasse das Handy wieder in die Tasche gleiten, ohne die Nachricht zu beantworten. In diesem Moment fährt mit ohrenbetäubendem Tuckern ein Trecker mit einem Anhänger voller Heuballen vorbei, die Räder größer als ich selbst, wir beide winken dem am Steuer sitzenden grinsenden Bauernlümmel zu, der mir keinen Tag älter als zwölf zu sein scheint. Er lässt uns hustend in einer bläulichen Abgaswolke zurück. Dieser kurze Zwischenfall stellt einen mir sehr willkommen Break in unserer Konversation dar, den ich schleunigst nutze:

„Du, sorry, ich muss jetzt mal rein, wir sehen uns!“, wimmele ich Cornelia ab und lasse sie einfach an der Lorbeerhecke stehen.

 

...

 

„Komm rein, mir geht’s scheiße.“

Lydias Aussehen spiegelt ihre Aussage wider. Ich habe meine Freundin noch nie in einem solch desolaten Zustand gesehen: Ihre kurvenreiche Figur mit der Wespentaille, die jeden Rubensfan sabbern lassen würde, werden von einem schlampigen XXL-T-Shirt in verwaschenem Grau verhüllt. Ihre nackten Füße, die meist in verführerischen High-Heels mit mörderischem Absatz stecken, in grauen UGG-Boots. Nervös spielen ihre Finger mit einer Strähne ihres langen, platinblonden Haares. Alleine das ist ungewöhnlich, denn Lydias Haare sind in der Regel sorgfältig geföhnt und frisiert und fallen nicht in so etwas schnödem wie ›Strähnen‹ über ihre Schultern. Ganz im Gegensatz zu dem Unkraut auf meinem Kopf, das zwar auch blond ist, aber entweder wie ein Helm platt anliegt oder alternativ wie ein explodierter Handbesen absteht. Da hilft nur meine Alltagsfrisur, ein strenger Pferdeschwanz.

Ich dackele hinter Lydia her, in ihrer offenen Küche erklimme ich einen der lederbezogenen Barhocker. Bully hat sich schon an der Haustür an mir vorbei gedrängt, um über Lydias kleinen Terrier-Mix Sir Harry herzufallen. Der ist das gewohnt und hat sich auf der Couch in Sicherheit gebracht, bevor ihn fünfzehn Kilo Bulldogge vor Freude überrollen.

Lydia überrascht mich, in dem sie sich spontan an mich drückt und zu meinem Entsetzen in Tränen ausbricht. Ich traue es mich kaum zu sagen, aber Lydia riecht ... nun ja ... ungeduscht. So etwas kommt bei ihr nie vor. Sie duftet immer, als hätte sie in einer Wanne mit Must de Cartier gebadet. Wenn Lydia ihre Körperpflege vernachlässigt, dann ist sie seelisch vollkommen aus dem Gleichgewicht.

Ich drücke sie ein Stück von mir weg und sehe ihr ins Gesicht. Ich glaube, ich habe sie noch nie bewusst ungeschminkt gesehen. Trotz der verquollenen Augen und der Rotznase sieht sie gut aus, jünger als mit der üblichen Tonne Make-Up.

„Du hast die Leiche gefunden, oder?“, rede ich gar nicht erst um den heißen Brei. Lydia schlägt kurz die Hände vor die Augen und nickt. Jetzt lässt sie die Finger sinken, ihre aufgerissenen blauen Augen schwimmen immer noch in Tränen. Die Hände fallen nun ganz herab, ihre Lippen sind zu Strichen zugekniffen, sie schüttelt langsam den Kopf und starrt ins Leere, als müsste sie sich sammeln oder einen Anblick vor ihrem geistigen Auge verdrängen. Von der Couch aus lässt Sir Harry ein leises Winseln ertönen, er würde sein Frauchen gerne trösten, traut sich wegen Bully aber nicht von der Couch. Dieser ist völlig unempfindlich gegen menschliche Stimmungen und zerreißt gerade unter wildem Kopfschütteln eines von Sir Harrys Plüsch-Spielzeugen. Es sieht aus wie Miss Piggy in schwarzen Strapsen.

„Das war so ... so ...“, wispert Lydia jetzt, bricht ab und sieht mich hilfesuchend an. Erschreckend? Traurig? Grausig?

“... ekelhaft!“, beendet sie ihren Satz.

„Was meinst du damit? Den Geruch oder was?“

Ich persönlich habe noch nie eine Leiche in der Realität gesehen, schon gar nicht eine so dermaßen geschundene. Aber aus Büchern weiß ich, dass abhängig vom Grad der Verwesung der Geruch überwältigend widerlich sein muss. Laut Zeitungsartikel musste Lydia kotzen - das wäre mir bestimmt auch passiert.

„Nein, gerochen habe ich zunächst gar nichts. Aber ... Sir Harry hatte sich an etwas verbissen. Kennst ihn ja, wenn er nicht loslassen will. Ich habe dann zugegriffen und versucht, es ihm aus der Schnauze zu ziehen. Und dabei geschimpft wie ein Rohrspatz. Es war leicht schleimig und glitschig. Ich dachte an ein altes Tau oder einen maroden Gartenschlauch und habe mich gewundert, warum er diesen Fund so vehement verteidigt. Und als ich dann meine kleine Lampe rausgeholt habe um zu sehen, was er im Mund hat, da ... habe ich mir selbst auf die Füße gekotzt. Und auf Sir Harry, den musste ich danach baden ...“

Unglücklich verzieht Lydia den Mund. Immerhin scheint sie sich etwas zu fangen, denn sie geht ihrer üblichen Tätigkeit nach, wenn wir uns treffen: Kaffee kochen. Wobei man das im Zeitalter der Kaffeevollautomaten ja nicht mehr als kochen bezeichnen kann. Lydia kehrt mir den Rücken zu, leert den Auffangbehälter für die zu runden Klumpen gepressten Bohnenreste und füllt frisches Wasser in die Maschine.

„Das war aber kein Tau, oder?“, hake ich nach. Lydia hält inne, ihre Hand mit dem Milchbehälter schwebt in der Luft und zittert leicht. An ihrem Hinterkopf hat sie eine plattgelegene Stelle, durch die ihre Kopfhaut schimmert. Sie dreht sich zu mir herum:

„Nein, verdammt. Im Licht habe ich gesehen, dass das so eine Art grauer Schlauch war. Ich habe daran gezogen, er hing fest. Sir Harry hat gekläfft wie ein Irrer und dann plötzlich, nach einem kräftigen Ruck, rutschte dieser ganze ... Körper ein Stück aus dem Gebüsch. Da habe ich es dann erst gerochen und dann gerafft ...“ Mir schwant übles, auch ich kann Eins und Eins zusammenzählen. Lydia fährt fort:

„Das war der Darm. Eine Darmschlinge oder so etwas, keine Ahnung, ich bin kein Arzt. Es roch auf einmal furchtbar nach ... einer Mischung aus Erbrochenem und Exkrementen, ganz widerlich ... Mit dieser blöden kleinen Lampe habe ich dann den offenen Bauch gesehen, und in dem Gestrüpp drum herum waren noch andere ... Teile verteilt. Also, keine Körperteile, sondern Organe. Was braunes, glitzerndes was auf einen Ast gespießt war und ...“

Wieder senkt Lydia den Kopf, ihr Kinn fällt auf die Brust, ihre runden Schultern zucken. Sie schluchzt. Bully hält dieses Geräusch irrtümlich für eine Spielaufforderung, kommt angetrabt und drückt Lydia einen angesabberten Fetzen von Miss Piggy ans Knie. Automatisch bückt sie sich und streichelt seinen Quadratschädel.

„Ach du scheiße!“, bringe ich es eloquent auf den Punkt, „Da hätte ich auch gekübelt ... Hast du sonst noch was gesehen, ich meine, was war das für eine Frau?“

Lydia schüttelt den Kopf: „Ich habe sonst gar nichts gesehen, nicht mal, dass das eine Frau war. Nachdem ich gekotzt hatte, habe ich mir Harry unter den Arm geklemmt und bin gerannt. Vorne, bei Jörgens an der Gartentür, bin ich dann hingefallen, war ja stockfinster um diese Zeit“, sie zeigt mir ihre aufgeschürfte Handfläche, „Zuhause habe ich die Polizei geholt, die waren innerhalb einer Viertelstunde hier. Ich habe denen aber nur gesagt, wo die Leiche liegt und bin nicht mehr mitgegangen. Um keinen Preis wollte ich diesen Anblick vertiefen ... Alles, was ich darüber weiß, habe ich heute morgen online auf den lokalen Nachrichtenseiten gelesen.“

Ich nicke und sage ihr, dass auch ich einen Zeitungsartikel gelesen habe, meine Worte werden vom gurgelnden Zischen des Kaffeevollautomaten übertönt, Lydia stellt einen perfekt geschichteten Latte Macchiato vor mir auf das dunkle Holz des Tresens. Dann stützt sie die Ellenbogen auf, legt die Wangen in ihre Handflächen und sieht mich an.

„Du keinen Kaffee?“, frage ich.

„Nee, ich kriege gar nichts runter, nicht mal ein Käffchen ...“

Eine Gesprächspause entsteht, in der wir beide unseren Gedanken nachhängen. Ich schlürfe den Latte in mich rein und verbrühe mir leicht den Gaumen. Aus dem Augenwinkel schiele ich nach Keksen, das Croissant in meinem Magen fordert Gesellschaft. Danach zu fragen verkneife ich mir und Lydias gastgeberische Qualitäten leiden verständlicherweise unter ihrer Stimmung.

„Hat sich denn die Polizei nochmal bei dir gemeldet?“, will ich wissen.

„Nee, natürlich nicht. Ich habe heute morgen bei denen angerufen und hatte dann nach Ewigkeiten in der Warteschleife einen Typen namens Zimmermann dran. Der wollte mir aber keine Infos geben, er dachte wohl, dass mir noch etwas eingefallen wäre, was weiter hilft. Da war er ziemlich enttäuscht und hat mir noch zwischen den Zeilen zu verstehen gegeben, dass ich den Fundort der Leiche kontaminiert hätte“, Lydia zieht eine Augenbraue hoch, ich muss grinsen, „So hat er sich echt ausgedrückt, wie bei CSI. Am besten arbeite ich intensiv an Sir Harrys Gehorsam. Dann apportiert er gefundene Gedärme vielleicht brav anstatt sie zu zerbeißen ...“ Jetzt lachen wir beide, Lydias Stimmung hellt sich deutlich auf, das Reden tut ihr gut.

„Ich bin so froh, dass du da bist. Jens ist immer noch in Kassel bei dieser Tagung, er kommt erst morgen Mittag wieder“, informiert sie mich. Ihr Mann Jens arbeitet im Außendienst bei einer großen Versicherung und ist viel unterwegs. Lydias Sohn wird bald Dreißig und lebt und arbeitet in der nahen Hansestadt. Bei Thema ›Arbeiten‹ fällt mir ein, dass auch ich noch etwas erledigen muss. Ich arbeite als Grafikerin vom Zuhause aus. Verstohlen schaue ich auf die Uhr, ich muss ein bisschen aufs Tempo drücken:

„Wie sieht’s aus, wollen wir noch eine schnelle Runde mit den Hunden drehen? Frische Luft wäre doch genau das richtige für dich!“

Lydia nickt: „Gib’ mir zehn Minuten, so kann ich nicht vor die Tür.“

 

...

 

 

Ohne Absprache haben uns unsere Schritte unbewusst an den Ort des Geschehens gelenkt. Von Lydias Haustür aus sind es keine zwei Minuten zu Fuß. Als wir Jörgens’ Gartentür passieren, setzt Sir Harry zu seinem großen Geschäft an, Lydia zückt eine schwarze Poop-Tüte.

„Meinst du, dass Jörgens damit was zu tun haben?“, frage ich sie, während sie Sir Harrys Hinterlassenschaften aufklaubt. Die unbefestigte Straße, die nach fünfzig Metern an einem Feldweg endet, wird von alten Eichen flankiert, deren Laub im lauen Frühlingswind flüstert. Lydias teure Wildlederstiefeletten sind denkbar ungeeignetes Schuhwerk, denn die Straße ist matschig und voller Pfützen, es hatte letzte Nacht ein paar starke Schauer gegeben. Jetzt ist der Himmel blank geputzt und strahlt blau, dennoch bin ich für meinen grellgelben Gummistiefel dankbar.

„Nee, das kann ich mir nicht vorstellen“, antwortet Lydia in gedämpftem Tonfall. Wir wollen ja nicht vor Jörgens Haustür laut ausdiskutieren, ob er eventuell eine Frau ausgeschlachtet hat.

„Ich kenne die beiden zwar nicht gut, aber sie machen einen netten Eindruck. Leben halt bisschen zurückgezogen ...“ Lydia verknotet die Tüte, dennoch haut mich ein Schwall Scheiße-Geruch fast aus den Socken. Wir zockeln zum Feldrand weiter. Unbewusst erwarte ich die Szene aus der Zeitung: Wuselnde Beamte der Spurensicherung in weißen Overalls, rauchende Kommissare mit wichtigem Blick, Polizeiautos, Sanitäter, einen Leichenwagen ... Aber natürlich ist kein Mensch mehr dort, als wir um Jörgens Zaun biegen. Linker Hand befinden sich Pferdekoppeln, geradeaus stoppelige Felder bis an eine weit entfernte Baumreihe am Horizont, rechts an Jörgens Grundstück entlang fängt der Feldweg an. Ein sauer-fauliger Geruch mischt sich mit der frischen Frühlings-Luft. Auf den Feldern scheint etwas vor sich hin zu gären. Lydia bleibt stehen.

„Da“, sie zeigt mit weinrot lackiertem Zeigefinger ungefähr auf die Mitte von Jörgens Zaun, „Genau dort lag sie ...“ Langsam gehen wir weiter, ich schaue genauer hin: Hohes Gras, Unkraut, das sich um die Bretter des Zauns rankt, dichte Gebüsche. Nun alles plattgedrückt von unzähligen Füßen. Als wir fast am Fundort stehen sehe ich, dass einiges an Geäst der Gebüsche beschnitten wurde. Ich muss trocken schlucken als mir klar wird, dass an diesen Ästen wahrscheinlich die Organe hingen ... Bully und Sir Harry schnuppern höchst interessiert an jedem Grashalm und werfen sich in ihre Halsbänder, wir haben sie beide wohlweislich nicht von der Leine gelassen. Der Gedanke, dass sie an einem Ort schnüffeln, an dem vor wenigen Stunden noch eine gefolterte Leiche gelegen hat, behagt uns beiden kein bisschen. Teile des Grases werden von bräunlichen Flecken verunziert.

„Das ist Blut, oder?“, flüstert Lydia. Sie ist so blass, dass ihr rot geschminkter Mund wie ein Stoppschild in ihrem Gesicht leuchtet. Zwar ist sie jetzt, frisiert und mit einem eleganten Burberry-Trenchcoat angetan, wieder meine alte Lydia, dennoch steht sie immer noch unter Schock. Ich zucke die Achseln, bemüht, cool zu wirken, um sie nicht noch mehr aufzuregen:

„Keine Ahnung, könnte alles mögliche sein ...“

Lydia schweigt, ich will sie gerade unterhaken und zum Weitergehen bewegen, als sie mich plötzlich ganz merkwürdig ansieht.

„Was?!“, frage ich sie.

„Nun ich ... ich frage mich ... spürst du nichts?“

Ich halte erschrocken den Atem an und schnaufe nach wenigen Sekunden wieder aus. Lydias Blick fixiert mein Gesicht. Ihre Frage spielt auf etwas an, dass ich verdränge. Ich habe eine Gabe, auf die ich gerne verzichten würde. Ich spüre Dinge, die anderen Menschen entgehen. Nicht, dass ich ein Medium oder eine Hellseherin wäre, Gott bewahre. Aber ich habe sehr feine Antennen, die manchmal von ... Geistern genutzt werden, um mit mir in Kontakt zu treten. Und ja, ich weiß, wie sich das anhört - und genau aus diesem Grund wissen auch nur meine engsten Vertrauten davon, sprich mein Mann Max und Lydia. Allerdings habe ich noch nie darüber nachgedacht, diese Fähigkeit am Schauplatz eines Verbrechens bewusst einzusetzen. Was ich - streng genommen - auch gar nicht kann. Ich habe keinerlei Kontrolle über die Zeichen oder Heimsuchungen, die ich erhalte oder die mich quälen.

Kurz fühle ich in mich, schließe die Augen und konzentriere mich. Leider habe ich selbst keine Ahnung, was ich hier tue oder gar worauf ich mich konzentrieren sollte. Ich mache einfach das, was man in Filmen sieht, wenn Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten agieren. Der Erfolg ist geradezu bemerkenswert: Es passiert rein gar nichts. Ich öffne ernüchtert die Augen.

„Nein, überhaupt nichts. Und da bin ich sehr froh drüber.“ Mit einem Gesichtsausdruck, der eine Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung widerspiegelt, nickt Lydia und wir setzen unseren Spaziergang fort.

Kapitel 2: Befreiung

Kapitel 2: Befreiung

 

 

Gedämpft plätschert eine klassische Klaviermelodie aus den unsichtbar angebrachten Lautsprechern des geräumigen Zimmers mit der großen Fensterfront. Melancholische Töne, passend zu seiner Stimmung. Tränen vergießt er nicht, er ist nicht der Typ, der flennt. Das hatte ihm sein verstorbener Vater schon in jüngsten Jahren mit dem Gürtel ausgetrieben. Seine dunkelbraunen Augen sind trocken, der Mund verkniffen. Tiefe Kerben ziehen sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Regelrechte Krater, die eher in das Antlitz eines Neunzigjährigen passen würden, nicht in das eines Mannes von Mitte Sechzig.

Die Scham nagt an ihm, seine Rückgratlosigkeit, das Unrecht, das er nie wieder gut machen kann. Jede wache Sekunde seines Daseins. Früher nur in seinem Hinterkopf, seit ihrem brutalen Tod dauernd präsent.

Sein Blick gleitet, wie so oft, auf den marmornen Kaminsims. Neben der bronzenen Statue zweier Jagdhunde steht die schwarze Dose. Wer es nicht besser weiß, könnte sie für eine Vase mit einem Deckel halten. Was in den USA Gang und Gebe ist, ist in Deutschland nicht erlaubt. Doch mit Geld ist auch hier alles möglich, und Geld hat er wahrhaftig genug. Trotz seiner hervorragenden Ausbildung, gekrönt von einem Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften und Betriebsführung, hat er nie ernsthaft arbeiten müssen. Das Erbe seiner Familie, wohlhabend durch eine Porzellanmanufaktur, ermöglichte ihm stets ein sorgenfreies Leben. Der Name ›Falkner‹ stand nach wie vor für legendäres Kunsthandwerk und hochwertige Qualität und würde noch seine Enkel ernähren können. Enkel, die er nie haben würde.

Wieder gleitet sein Blick gequält zum Kaminsims. Die elegante Couch aus weißem Büffel-Leder knarzt dezent, als er sein Gewicht verlagert. Ein Blitz zuckt vor der schwarzen Fensterfront in den weitläufigen Garten und erhellt kurzfristig die Rattan-Sitzgruppe auf der Terrasse. Er hat vergessen, die Polster in der Teaktruhe zu verstauen. Sie würden nass werden, was ihm völlig gleichgültig ist.

Der dumpfe Gong der Türklingel lässt ihn zusammenzucken. Ein schneller Blick auf seine Vacheron Constantin Overseas am Handgelenk. Schon spät, die Haushälterin ist längst nach Hause gegangen. Mühsam seufzend wie ein uralter Mann erhebt er sich und geht durch den holzgetäfelten Flur der ehrwürdigen Villa in die Eingangshalle. Vorbei an den tadelnden Blicken der Ahnengalerie seiner männlichen Vorfahren. Alles Männer mit nichtssagenden Gesichtern und ausdruckslosen Augen von verwaschenem Blau. Ein leicht fliehendes Kinn, gedrungener Körperbau mit Neigung zu O-Beinen. Ein Haaransatz, der schon in jungen Jahren stark zurückwich und später nur noch einen Kranz fransiger, flachsblonder Haare über den Ohren zurückließ. Nein, ein schöner Menschenschlag waren die Falkners wirklich nicht. Dafür aber allesamt mit einem Geschäftssinn gesegnet, der seines Gleichen suchte.

Seine Beine fühlen sich etwas wackelig an, das alte Parkett scheint unter seinen Schritten zu schwanken wie die Bohlen eines Fischkutters im Sturm. Er trinkt zu viel Cognac. Wie viele Gläser waren es heute Abend? Zwei, drei? Er weiß es nicht. Erneut schellt es an der Tür, der Regen rinnt nun in Sturzbächen an den Fenstern herunter.

„Schon gut, ich komme ja ...“, murmelt er und riecht seinen eigenen, alkoholschwangeren Atem. Sauer stößt er auf, als er die schwarze Eichentür öffnet. Das Sodbrennen ist in letzter Zeit wirklich teuflisch geworden. Unbewusst zieht er die Oberlippe nach oben und entblößt gelbliche Mausezähnchen. Diese leicht dümmliche Mimik zeigt er immer, wenn er verwundert ist. Die Zahnhälse staken sichtbar im gereizten Zahnfleisch. Er hat Angst vor dem Zahnarzt und schiebt die dringend nötigen Besuche so weit auf, wie es nur geht.

„Du?!“, ruft er überrascht aus, als er im Licht der Eingangshalle den späten Besucher erkennt.

„Ja, ich!“, erwidert die groß gewachsene Gestalt lakonisch und drängt sich unaufgefordert an ihm vorbei in die Eingangshalle.

„Was führt dich her, um diese Zeit?“ Stirnrunzelnd schaut er wieder auf seine Uhr und mustert dann seinen alten Freund und ehemaligen Studienkollegen Kai Julius. Wie immer, wenn sie sich sehen, wird er sich schmerzlich bewusst, dass Kai alles verkörpert, was er an sich vermisst: Drahtige 1,90 Meter, dunkle Locken, an den Schläfen schiefergrau. Der verwegene Bartschatten schenkte ihm die unergründliche Aura des geheimnisvollen Fremden, gepaart mit seinen teichgrünen Augen, musste er sich die Frauen schon immer mit der Brechstange vom Leib halten. Genau wie sein Vater war Kai niemals ein Kind von Traurigkeit. Gewohnt, sich zu nehmen, was ihm zusteht und niemals zurückstecken zu müssen, sah er das Leben als großes Abenteuer und Spiel an, bei dem er stets auf der Gewinnerseite stand. Genau wie er stammte Kai aus einer vermögenden Familie. Doch im Gegensatz zum biederen Image der Falkners haftete der Julius-Dynastie schon immer etwas dunkles, unseriöses an. Womit der Urgroßvater einst sein Vermögen angehäuft hatte, wusste niemand so recht. Heute waren die Julius’ in diverse multinationale Konzerne investiert und betrieben nebenbei nebulöse Börsengeschäfte, mit großem Erfolg.

Obwohl die beiden Männer in unmittelbarer Nachbarschaft aufgewachsen waren, hatten Privatschulen im Ausland das Kennenlernen in jungen Jahren verhindert. Erst auf der Universität in Oxford hatten sie sich vor Jahrzehnten angefreundet und lachend festgestellt, dass sie aus dem selben Dörfchen in Norddeutschland stammten. Seitdem waren sie ungleiche Freunde, er profitierte von Kais Charme, der auch ihm, dem verklemmten und wenig attraktiven jungen Mann, die ein oder andere Frau für’s Bett bescherte, Kai von seinem Verstand. Nicht selten hatte er Kai vor Dummheiten bewahrt oder seinen Übermut ausgebügelt, wenn dieser sich einmal mehr in schwierige Situationen manövriert hatte. Wie damals zum Beispiel, als Kai betrunken und zugekokst ein GoGo-Girl in einem Stripclub geohrfeigt hatte, die sich nicht von ihm begrabschen lassen wollte. Die Türsteher hätten Hackfleisch aus Kai gemacht, hätte er nicht mit einem Batzen Hunderter deeskaliert und seinen immer noch wild pöbelnden Freund in ein Taxi geschubst.

„Helmut, hast du was zu trinken für mich, oder wollen wir hier im Zug stehen bleiben?“, reißt Kai ihn aus seinen Erinnerungen und hebt die buschigen Augenbrauen. Helmut schließt hastig die Tür, schneidet so den für die Jahreszeit zu kalten Luftzug ab und sieht in einem herab zuckenden Blitz Kais nagelneuen, mitternachtsblauen BMW M6 in der gekiesten Auffahrt stehen. Zusätzlich hatte Kai den Wagen tunen lassen, sodass nun kaum ein Zentimeter Platz zwischen Fahrwerk und Straße war. Die Reifen standen deutlich über die Radkästen hinaus. Im Herzen war Kai schon immer ein geschmackloser Prolet gewesen. Helmut dreht sich zu seinem Freund um:

„Gehen wir in die Bibliothek.“

Er wendet sich nach rechts und betritt durch eine Doppeltür die Bibliothek. Honigfarbene Dielen werden von teuren Perserbrücken fast gänzlich verdeckt, die Schritte der beiden Männer geschluckt. Helmut deutet auf einen der vier klobigen Sessel, Kai setzt sich und lässt sich - wie immer - von Helmut bedienen. Dieser macht sich an der Hausbar, untergebracht in einem dunklen Sekretär, zu schaffen und richtet die Getränke an.

„Was führt dich her?“, fragt er erneut, dreht sich aber nicht zu Kai um. Sie treffen sich ab und zu, im Golfclub, im Segelverein oder einfach nur zu einem guten Essen. Aber sie führen keine so enge Freundschaft, dass es normal wäre, dass Kai um diese Zeit seine Nähe sucht.

„Ich konnte nicht schlafen. Brauche jemanden zum reden ...“

Helmut gibt je einen Eiswürfel in den schottischen Single-Malt und dreht sich nun doch um. Kais Tonfall kommt ihm merkwürdig vor.

„Ist was passiert?“, argwöhnt er und nimmt ebenfalls in einem der dunkelbraunen Sessel gegenüber Platz. Dieser hat lässig die Beine übereinander geschlagen, die weiße Leinen-Hose ist ein Stück hochgerutscht und entblößt einen braungebrannten Knöchel über Prada-Slippern. Kai nimmt sein Glas ohne ein Wort des Dankes entgegen.

„Könnte man sagen. Marlene hat sich umgebracht.“

Stille. Nur das Trommeln des Regens an den Fenstern, ein Knarzen des Dachstuhls im böigen Wind. Helmut glaubt, sich verhört zu haben. Der Whiskey brennt wie Feuer in seiner Kehle, er muss husten.

„Bitte, was?“, krächzt er und hebt würgend eine Hand an den Hals. Seine Augen tränen. Prustend nestelt er ein Taschentuch aus der Hose seine Anzugs und schnäuzt sich.

„Du hast schon richtig gehört. Den ganzen Tag war Polizei im Haus.“

Helmut sieht in Kais Gesicht. Wie kann er das so lapidar erzählen, als handele es sich um eine leichte Anekdote, erzählt auf einem Cocktailempfang? Und dieser ... Blick. Was ist das da in seinen Augen? Sensationsgier? Wollust? Das kann nicht sein. Kai hat zwar nicht den feinsten Charakter, aber so ist er nicht.

„Im Haus, bei dir? Wieso ...?“, stammelt er heraus. Der Eiswürfel in seinem Glas klirrt, so sehr zittert seine Hand. Gierig nimmt er noch einen großen Schluck und stellt den schweren Tumbler krachend auf dem kniehohen Glastisch ab. Die Regalreihen, vollgepfropft mit Büchern, scheinen immer näher zu rücken.

„Erhängt. In einem der Gästezimmer. Ich habe sie heute morgen gegen zehn gefunden, da war ich auf dem Weg ins Bad ... Die Polizei sagt, dass kein Fremdverschulden vorliegt. Sie hat sich an einem Bettlaken aufgeknüpft.“ Wieder liegt dieses abstoßende Glitzern in Kais Augen. Helmut lässt den Kopf sinken und starrt auf seine Füße in schwarzen Kniestrümpfen.

In einem Gästezimmer erhängt. In dem Gästezimmer erhängt. Plötzlich wird ihm heiß und kalt.

„Gab es einen Abschiedsbrief?“

„Nö, da war nichts. Ich denke, sie hat es aus Kummer getan. Leider ausgerechnet in meinem Haus, sehr unangenehm.“

Unangenehm. Was für eine unangemessene Bemerkung.

„Kummer ... Du meinst, wegen Evita?“

„Was sonst?! Es ist ja kaum ein Jahr her, dass sie ermordet wurde. Was würdest du denn tun, wenn dein einziges Kind einem solchen Verbrechen zum Opfer fiele? Das kann einen schon mal in den Selbstmord treiben ... “ Kais nüchterne, fast süffisante Worte treffen ihn wie Peitschenhiebe. Die Geschehnisse scheinen ihn nicht die Bohne zu jucken. Im Gegenteil: Er wirkt fast amüsiert.

Die Mutter. Die Tochter. Das einzige Kind.

Kai mustert ihn nun von oben bis unten, er schürzt die Lippen. Kurz meint er, ein leichtes Lächeln Kais Mundwinkel umspielen zu sehen.

„Du hattest immer eine Schwäche für sie, oder? Dein kleiner Hang zum Personal ...“

Plötzlich wird es ihm klar: Kai war gekommen, um sich an seiner Reaktion zu weiden, nicht aufgrund dessen, dass ihm dieses Ereignis den Schlaf rauben würde. Er weicht Kais Blick aus.

„Du solltest jetzt gehen, es ist spät.“ Kai soll verschwinden, jetzt. Er muss alleine sein. Glücklicherweise sperrt sich Kai nicht, sondern steht auf.

„Kopf hoch, alter Junge. Sie war nur eine Angestellte. Ok, ich gebe zu: Eine heiße Angestellte.“

Helmuts Hände ballen sich zu Fäusten. Wäre nur ein Fünkchen mehr Mann in ihm, würde er Kai jetzt die Zähne einschlagen. Die schneeweißen Veneers für 30.000 Euro in tausend Teile zersplittern lassen. Ein einzelner Tropfen rinnt ihm die Schläfe hinab und versickert im Kragen seines Hemdes. Er riecht seinen eigenen klebrigen Schweiß.

„Schlaf gut, ich finde alleine raus.“ Mit einem gönnerhaften Schulterklopfen verschwindet Kai in die verregnete Nacht, ein paar Sekunden später röhrt der M6 auf.

Helmut hockt auf dem Sessel und starrt vor sich hin.

Marlene. Evita ...

Ein lauter Donnerschlag lässt ihn aus seinen Gedanken fahren, gefolgt von einem polternden Klirren, irgendwo im hinteren Teil des Hauses. Alarmiert springt er auf. Was war das? Ein zersprungenes Fenster?

Flotten Schrittes setzt er sich in Bewegung, schwankt durch die Eingangshalle, den dunklen Flur hinab. Dort trifft ihn ein eisiger Windstoß, der den Schweiß auf seiner Stirn trocknen lässt. Irgendwo muss tatsächlich ein Fenster zu Bruch gegangen sein. Wahrscheinlich durch einen vom Sturm herab gerissenen Ast. Seine Socken verursachen kein Geräusch auf dem Parkett, als er den Türrahmen des Wohnzimmers erreicht. Wie angenagelt bleibt er stehen. Hier ist es so kalt wie in einem Kühlschrank. Doch keines der bodentiefen Fenster steht offen oder ist gar zerbrochen. Dennoch sieht Helmut sofort, was das splitternde Poltern verursacht hat.

Auf dem Parkett vor dem Kamin liegen die scharfkantigen Scherben des schwarzen Behältnisses, welches auf dem Sims stand.

Er tritt näher, sein ganzer Körper zittert nun vor Kälte, er kann kaum seine Beine kontrollieren, fast schlagen die Knie gegeneinander. Ein raues Schluchzen entringt sich seiner Kehle, dann ein leises Wimmern. Zaghaft nähert er sich den Scherben, die über und über mit einem gräulich weißen Puder bestäubt sind, welches sich in kleinen Häufchen und feinen Wellen großflächig auf dem Fußboden verteilt hat.

Seine stämmigen Beine geben nach und er bricht mit einem klagenden Wehgeschrei inmitten der Asche zusammen.

 

...

 

„Schau mal, die Fotos sind da!“

Max kommt in den Garten und schwenkt einen großen weißen Umschlag, den er gerade aus unserem Briefkasten gefischt hat. Das macht er jeden Abend, wenn er aus seinem Büro in der nahen Hansestadt nach Hause kommt. Ich vergesse grundsätzlich, den Briefkasten zu kontrollieren, er enthält eigentlich immer nur Schreiben, die ich hasse: Entweder Werbung für Sachen, die ich nicht brauche (Adresszeile: An alle Haushalte, die sparen wollen!) oder Briefe von Leuten, die nur mein bestes wollen, sprich mein Geld. Heute bildet der Umschlag eine seltene Ausnahme, ich reiße ihn Max direkt aus der Hand:

„Cool, das ging ja schnell!“, freue ich mich und lasse mich auf einen der Korbstühle auf unserer Terrasse fallen. Bully sieht kurz auf, konstatiert, dass ich nichts fressbares in der Hand habe, und lässt seufzend das Kinn auf die Pfoten sinken. Der Frühlingsabend ist lau und sehr mild, fast wie im Spätsommer. Frisch geduscht belästigen mich zu dieser Jahreszeit nicht mal Mücken. Meine nackten Füße in Flip-Flops parke ich auf unserem Korbtischchen.

Ich fummele den Umschlag auf, schneide mich obligatorisch am Papier und ziehe leise fluchend einen dicken Packen Bilder von Max, Bully und mir hervor. Im Zeitalter digitaler Bilder ist es herrlich oldschool, mal wieder echte Fotos in der Hand zu haben. Max verschwindet im Haus und kehrt mit einem eiskalten RedBull und einer Zitronen-Fassbrause für mich zurück. Bully erhält dankend einen getrockneten Hühnerhals, der sogar hier draußen fürchterlich stinkt.

„Und, wie sind sie geworden?“, fragt Max, stößt seine Dose zum Prosit gegen meine Flasche und nimmt einen tiefen Schluck.