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Beschreibung

Jahrzehnte der Folter und des Terrors im Namen der Medizin. Eine verlassene Psychiatrie mitten im Nirgendwo. Ein unseliger Ort ... Was wäre, wenn es Dich an einen Platz verschlagen würde, in dessen Mauern sich das Leid unzähliger Seelen eingebrannt hat? Ein riesiges Anwesen, in dem die Schatten seiner schwarzen Vergangenheit noch immer lebendig sind. Du kannst sie sehen - aber sie sehen Dich auch. Doch es ist nicht nur das Echo längst vergangener Gräueltaten, das Dir das Blut in den Ader gefrieren lässt. Der Horror ist real und passiert in diesem Moment. Hier, vor Deinen Augen. Wirst Du vor Angst sterben oder Dich Deinen schlimmsten Albträumen stellen? Entscheide Dich, denn eines ist sicher: Das Haus wird Dich nicht gehen lassen.   Das Buch ›Ein unseliger Ort‹ ist die chronologische Fortsetzung des ersten Werks ›Das Dornröschen-Dorf‹ von E.R.Kästner. Beide Bücher können aber autark in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.

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E.R. Kästner

Ein unseliger Ort

Der Tod ist keine Erlösung

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

PROLOG

PROLOG

 

Die dunkelsten Kapitel der Menschheit schreiben wir selbst.

Vielleicht wird man in vielen Jahrzehnten die heutigen Methoden zur Bekämpfung von Geisteskrankheiten als

unmenschlich betrachten. In den letzten Jahrhunderten waren sie es definitiv.

Basierend auf der Annahme der damaligen Mediziner, Verhaltensstörungen seien eine Erkrankung der Seele, ausgelöst durch begangene Sünden und moralische Verfehlungen, therapierte man diese mit brutalsten Methoden:

Die Seele musste zutiefst erschüttert werden, um sie zu reinigen und dann genesen zu lassen.

Verhaltensauffällige Menschen wurden in Tollhäuser gesperrt, in Ketten gelegt und gefoltert.

Nicht selten endete die Behandlung mit dem Tod.

 

 

Kapitel 1: Düstere Legenden

Kapitel 1: Düstere Legenden

 

8.Dezember 1993

 

„Du musst das ›Vaterunser‹ rückwärts aufsagen, dann kommt sie.“

Das ›Vaterunser‹ kennt Martin. Das beten sie im Kindergottesdienst jeden Sonntag bei Pfarrerin Kuhla. Aber er möchte das jetzt nicht aufsagen, denn ihm ist eiskalt und er will nach Hause. Doch sein großer Bruder Ronny steht unerbittlich vor ihm und hält ihn am Arm fest.

Martins Hände stecken in den warmen Fäustlingen, die Mama ihm gestrickt hat. Seine Finger in den Handschuhen schwitzen, aber sein Kopf ist fast taub vor Kälte, denn er hat seine Mütze zuhause vergessen.

„Komm, wir gehen ins Gruselhaus, ich zeig’ dir was!“, hatte Ronny vorhin gesagt.

Mama würde erst in ein paar Stunden von der Arbeit nach Hause kommen. Bis dahin sollte der zwölfjährige Ronny auf seinen kleinen Bruder aufpassen, wie jeden Nachmittag.

Martin liebt es, wenn Ronny etwas mit ihm unternimmt und nicht nur Zuhause hockt und fernsieht. Aber dieser Ausflug heute ist ihm nicht geheuer. Man darf nicht ins ›Gruselhaus‹ gehen, das weiß jedes Kind. Dort spukt es nämlich. Das ist gefährlich, gerade für kleine Jungs.

„Können wir nach Hause gehen, bitte?“, piepst Martin.

Ronny geht gar nicht auf seine Bitte ein - wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann nutzt keine Widerrede, das weiß Martin.

„Ronny, mir ist so kalt ...“, schiebt der kleine Junge mit den semmelblonden Haaren hinterher. Vielleicht hilft das. Mama wird bestimmt böse auf Ronny, wenn er sich hier draußen erkältet.

„Wir gehen erst, wenn du das ›Vaterunser‹ aufgesagt hast.“

Durch dreißig Zentimeter dicken Schnee waren die beiden Jungs zu der düsteren Villa gelaufen, Martin hatte schon auf dem Hinweg keine Lust mehr.

„Sind wir bald da?“, nörgelte er. Ronny schwieg dazu und schubste ihn einfach weiter des Weges. Ein eiskalter Wind schlug ihnen entgegen, die Temperaturen lagen weit unter dem Gefrierpunkt. Bald würde es auch noch dunkel werden. Drohend ragte das alte Gebäude vor ihnen auf. Ronny schien das nichts auszumachen, er ging schnurstracks zu einem Fenster an der Seite und drückte es auf. Mittels einer Räuberleiter hatte er seinen kleinen Bruder durch das Fenster bugsiert und war dann geschmeidig hinterher geklettert.

Nun standen sie in einem leeren, gekachelten Raum, voll mit Schutt. Das Dach musste undicht sein, denn hier und da lag Schnee auf dem alten Eichenparkett.

„Was machen wir hier?“, wollte Martin kleinlaut wissen. Ronny bückte sich ein Stück zu ihm runter. Auf Augenhöhe erklärte er:

„Wir suchen die Ofen-Oma.“

Martin machte große Augen:

„Die Ofen-Oma? Wer ist das?“

„Eine alte Frau, die hier Patientin war. Vor ganz langer Zeit. Sie war geisteskrank.“

So richtig weiß Martin nicht, was ›geisteskrank‹ bedeutet. Aber er weiß sehr wohl, dass sein Bruder ihm gerne Angst einjagt.

„Und was wollen wir von der ... Oma?“

„Nichts! Ich will sie nur sehen und mich vergewissern, dass es sie wirklich gibt ...“, antwortete Ronny.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Morgen in der Schule will er seine Freunde damit beeindrucken, dass er persönlich in der alten Irrenanstalt war und die ›Ofen-Oma‹ gesucht hat. Das nur er sich so was traut. Er wird der Held sein und alle werden ihn bewundern. Hoffentlich auch Hanna, seine Mitschülerin, in die Ronny total verschossen ist. Es hat ihm gar nicht gefallen, wie sie an Holgers Lippen gehangen hat, als der heute morgen auf dem Schulhof die Legende der ›Ofen-Oma‹ mit wichtigtuerischer Miene erzählt hatte.

„So ein Blödsinn, es gibt keine Geister!“, hatte Ronny dazwischen gerufen.

„Ach nein?“, konterte Holger mit einem schiefen Grinsen, „Dann geh doch mal hin und schau nach - traust du dich doch nie, du Hasenfurz!“ Alle hatten über das Schimpfwort gelacht und Ronny war knallrot geworden. Er spürte Hannas Blick auf sich ruhen. Er ballte die Hände zu Fäusten:

„Ihr werdet schon sehen, was ich mich alles traue - ich gehe nachher hin“, hatte er großspurig verkündet. Wieder allgemeines Gelächter. Das Schrillen der Schulglocke hatte der Konversation ein Ende gesetzt.

 

Jetzt stehen die beiden Jungs im ehemaligen Versorgungstrakt der alten Villa. Eine riesige Küche, deren einstige Einbauten und Armaturen nur noch rudimentär vorhanden sind. Unter ihren Sohlen knirschen die Bruchstücke dunkelblauer Mosaike, überall liegen Glas und Schuttreste. Die Fenster zum Wald sind mit Steinen eingeworfen worden und haben faustgroße Löcher, der eisige Wind faucht in den Ecken des Raums.

Alles, was man noch benutzen konnte, war entweder gestohlen oder demoliert worden. Aber etwas ist noch scheinbar intakt und funktionsfähig: Der mannshohe Ofen in der Wand, verschlossen mit einer pechschwarzen, gusseisernen Klappe, so groß wie eine Autotür.

 

Eigentlich kennt in dieser Gegend jeder die Legende der ›Ofen-Oma‹. Schon oft hatte Ronnys Mutter ihm gedroht, wenn er nicht folgen wollte:

„Iss auf, sonst holt dich die Ofen-Oma!“

Details hatte ihm seine Mutter nie dazu verraten, aber ›Ofen-Oma‹ klang schon so grässlich, dass er lieber schnell seinen Teller leerte. Er hatte sich unter diesem Schreckgespenst immer eine Art Hexe vorgestellt, die kleine Kinder frisst ... Umso genauer hatte er in der Pause Holger zugehört, der die exakte Geschichte zu kennen schien:

„...doch, das ist wohl wahr!“, hatte dieser im Brustton der Überzeugung in die skeptischen Gesichter seiner Klassenkameraden gerufen. „Das war nämlich die Ur-Oma von einer Freundin von meiner Mutter. Und es stimmt echt, was sie getan hat.“

Angeblich spukt ein Gespenst in der alten Nervenklinik ein paar Kilometer von ihrem winzigen Dörfchen entfernt. Die Legende besagt, dass es sich um eine alte Frau handelt, die einst Insassin dieser Anstalt gewesen ist. Unter Erwachsenen galt sie als harmlos, deshalb ließen die Aufseher sie ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen: Tag ein-, Tag aus saß sie vor dem mächtigen Ofen in der Großküche der Klinik und schürte das Feuer. Damit es niemals ausgehen möge. Doch der Grund, warum sie bis an ihr Lebensende in der Klinik würde bleiben müssen, war alles andere als harmlos: Die liebe Oma hatte ihr erstes Enkelkind, ein kleines Mädchen, in ihrem eigenen Ofen zuhause bei lebendigem Leibe verbrannt. Sie wäre „ungezogen gewesen“ war alles, was sie zu dieser unfassbaren Tat zu sagen hatte.

Als Erwachsener hatte man von diesem Geist nichts zu befürchten, aber wehe, man hörte als Kind nicht auf seine Eltern: Dann kam die ›Ofen-Oma‹, mit einem glühenden Schürhaken in der Hand, und stopfte einen in den Ofen ...

 

„Wenn man in ihrem Feuer brennt, dann stirbt man nie. Du brätst in den Flammen bis in alle Ewigkeit ...“, schloss Holger mit einem zufriedenen Lächeln aufgrund der ängstlichen Augen seiner Mitschüler seine kleine Horror-Story.

„Ach komm, hör doch auf, wer glaubt denn so was?! Bist du noch ein Baby oder was?!“, war Ronny der einzige gewesen, der sich traute, Holgers Geschichte in Frage zu stellen. Doch der hatte sich nicht aus dem Konzept bringen lassen:

„Du kannst sie sogar herbeirufen - du musst nur das ›Vaterunser‹ rückwärts aufsagen ...“

 

„Nun mach schon!“, fordert Ronny seinen Bruder auf, „Wir gehen erst, wenn du das Vaterunser aufgesagt hast - rückwärts.“

„Das kann ich nicht ...“ Der kleine Junge ist nun den Tränen nahe, seine Unterlippe zittert gefährlich und seine Stimme ist noch höher als sonst.

Das scheint Ronny zu denken zu geben, sein Bruder ist ja wirklich gerade mal vier Jahre alt.

„Ist ja gut, jetzt heul’ nicht gleich, dann mache ich es eben.“

Zugegeben: Wohl ist ihm nicht dabei. Er könnte ja auch ... jetzt gehen und einfach behaupten, dass er das Gebet andersrum aufgesagt hat. Aber nein, so einer ist er nicht! Lügen kommt nicht in Frage, das ist Ehrensache unter Männern. Er muss sich sehr konzentrieren, um das Gebet rückwärts zu formulieren. Mit stockender Stimme beginnt er:

 

„Himmel im unser Vater.

Name dein werde geheiligt.

Komme Reich dein.

Geschehe Wille dein ...“

 

Martin laufen jetzt dicke Tränen die leicht pausbäckigen Wangen herab.

„Hör auf damit, ich hab’ Angst!“, bittet er mit brüchiger Stimme. Aber Ronny lässt sich nicht erweichen. Mit unbewegter Miene fährt er fort:

 

„Himmel im wie,

Erden auf so,

Heute uns gib’ Bro ...“

 

Ein schauerliches Quietschen lässt die beiden zusammenfahren. Der kleine Martin springt mit einem gellenden Aufschrei einen Meter in die Höhe, Ronny ist zu keiner Bewegung fähig. Wie vom Donner gerührt starren die Jungs auf die Klappe des Ofens. Eine der beiden, bestimmt fünf Zentimeter dicken, eisernen Türflügel hat sich ein Stück aufgeschoben. Keuchend atmet Ronny aus:

„Hast dich ganz schön erschrocken, was, Kleiner? Mach’ dir nicht in die Hose! Das war nur der Wind durch den Schornstein“, gibt Ronny sich betont cool und ist stolz darauf, dass er eine Erklärung gefunden hat, die überhaupt nichts mit Geistern zu tun hat. Dass sein Herz vor Schreck einen Schlag ausgesetzt hat, will er nicht mal vor sich selbst zugeben. Martin wischt sich mit dem Jackenärmel einmal über das ganze Gesicht und schnieft vernehmlich. Seine Augen sind geschwollen vom Weinen, seine Wangen glühen nun wie zwei überreife Äpfel.

Ronny weiß, dass er ihn möglichst schnell nach Hause bringen muss, es ist viel zu kalt und zugig hier. Aber er wird jetzt nicht auf halber Strecke schlapp machen. Mit forscher, fester Stimme stimmt er den Rest des Gebets an. Martin zittert vor ihm wie Espenlaub und stampft von einem Bein auf’s andere. Sein Blick ist glasig, er scheint fast ein bisschen weggetreten zu sein. Ronny beeilt sich und endet mit:

 

„Herrlichkeit die und Kraft die,

Amen Ewigkeit in“

 

Stille. Selbst der Wind hat aufgehört um das verlassene Gebäude zu tosen. Ronny hört nur das Dröhnen seines eigenen Herzschlags in den Ohren. Er atmet aus - erleichtert, dass offensichtlich gar nichts passiert ist. Keine böse Oma ist erschienen und hat sie beide geholt. Holger ist wirklich zu dämlich, und das wird er ihm morgen ins Gesicht sagen.

Gerade will er Martin an der Schulter rütteln und ihn zum Heimgehen auffordern, als mit einem lauten Fauchen und einem Schwall Hitze der Ofen sich selbst entzündet.

Entsetzt weicht Ronny zurück, sein kleiner Bruder aber steht vollkommen reglos und bewegt sich keinen Millimeter. Mit immer noch glasigem Blick starrt er auf die Flügel der Ofenklappe, die sich nun öffnen und freie Sicht auf eine auflodernde Feuersbrunst frei geben. Die Hitze ist sofort unerträglich.

„ZURÜCK!“, brüllt Ronny mit überschnappender Stimme Martin an, er will vortreten und seinen Bruder außer Reichweite der Flammen reißen, doch es ist zu spät:

Der Ärmel von Martins dunkelblauem Anorak mit der Lammfell-Kapuze fängt Feuer. Nur ein kleiner Funken frisst sich blitzschnell durch das Polyester der Jacke. Es dauert keine fünf Sekunden, und das Kleidungsstück brennt lichterloh. Ronny kreischt wie am Spieß, aber Martin ist still. Er bleibt unbewegt und starrt blicklos in die Flammen. Seine Wimpern und die Augenbrauen werden versengt und kräuseln sich. Kein Schreien, keine Regung.

Jetzt fangen seine Haare Feuer. Das reißt Ronny aus seiner Schockstarre und lässt ihn trotz der enormen Hitze vorschnellen.

In diesem Moment schießt ein dünner, verkohlter Arm aus dem Ofen. Die Haut ist schwarz und rissig. In den offenen Brandwunden blitzt helles, rohes Fleisch. Die Finger, die nur noch aus schwärenden Stummeln des ersten Fingergliedes bestehen, finden zielsicher ihren Weg in Martins Haarschopf und reißen ihn in die Höhe.

„Neeeiiiinnnnn!“, schreit Ronny gellend und packt seinen Bruder am Arm. Dass er sich dabei die Finger verbrennt und seine Haut sofort Blasen schlägt, merkt er nicht mal. Obwohl er so fest zugreift wie er nur kann, hat er keine Chance: Mit einem Ruck befördert der Arm seinen Bruder ins Innere der Flammenhölle. Mit einem lauten Krachen fallen die Flügel der Ofenklappe wieder zu.

Kapitel 2: Ankunft

Kapitel 2: Ankunft

 

Gegenwart

 

Ich stehe im kühlen Schatten einer baulichen Monstrosität des 19.Jahrhunderts. Einer überdimensionalen, zweiflügeligen Villa. Sieht aus wie Jugendstil, ist aber keiner, wie mich unsere ›Fremdenführerin‹ in Gestalt der persönlichen Sekretärin des Eigentümers aufklärt.

Das rosa Chanel-Kostümchen und die beige Louis-Vuitton-Handtasche an ihrem Arm entlarve ich aufgrund ihrer unsauberen Nähte beide sofort als Fake. Hätte mich auch sehr gewundert, wenn diese ansonsten sehr billig anmutende Dame mit der platinblonden, auftoupierten Föhnfrisur und dem viel zu starken Augen-Makeup Kleidung und Accessoires im Wert von mindestens 3.000 Euro am Leib tragen würde.

„Unser Haus ist eine ehemalige Heilstätte und Verwahrungsort für Geisteskranke und Schwachsinnige, so hat man das damals genannt. 300 Betten für Frauen, Männer und Kinder. Schon in den ersten zwanzig Jahren sind über 25.000 Patienten durchgeschleust worden“, erklärt sie weiter in niederlausitzer Mundart. Es klingt ein bisschen wie Berlinerisch, aber nicht ganz. Irgendwie eine Art schlampiges Deutsch, sie verschluckt ganze Buchstaben und sagt zum Beispiel ›een‹ statt ›ein‹. Ich muss mir ein Grinsen verkneifen und bin schwer geneigt, sie nachzuäffen und mit einem „Wolln’ wah mah eene rooochen?“, meine Bereitschaft zu einer Zigarettenpause zu signalisieren. Eigentlich wollte ich mir direkt eine anzünden, sobald wir den Wagen verlassen hatten, aber Fräulein Mandy Gollasch (so hat sie sich ernsthaft vorgestellt) hatte uns schon geflissentlich vor dem Hauptgebäude erwartet.

Nach viereinhalb Stunden Autofahrt vorbei an Berlin und Frankfurt an der Oder sind wir in der brandenburgischen Niederlausitz angekommen. Nun sind wir hier: ›JWD - janz weit draußen‹, irgendwo diesseits der polnische Grenze.

Die ersten Eindrücke, die ich in dieser Einöde hatte, bestanden aus schwüler Hitze und Stille von einer Intensität, die selbst ein Dorfmensch wie ich nicht gewohnt ist. Nicht mal Vögel zwitscherten in den Baumwipfeln. Die Ruhe war so tief, dass ich eigentlich nur das Rauschen meines eigenen Blutes in meinen Ohren hören konnte.

Wir erfahren, dass der gigantische Gebäudekomplex 1897 nach 25 Jahren Bautätigkeit seine Pforten öffnete. Umgeben von 120 Hektar Kiefernwald, mitten im Nirgendwo. Ein paar Kilometer weiter soll es noch ein Dorf geben, dessen Einwohnerzahl aber mittlerweile gegen Null tendiert. Im ersten Weltkrieg wurde die Nervenheilanstalt als Lazarett genutzt.

Heute sind Haupthaus, wie auch die zahlreichen Nebengelasse wie die Bäckerei-, und Wäscherei-Gebäude sowie Wohnhäuser für die Bediensteten und die Ärzteschaft, verlassen und verwahrlosen. Momentan sehe ich nur das Hauptgebäude, die anderen Bauten scheinen sich in den nahen Kiefernwäldern zu verstecken.

Doch der Anblick des düsteren Hauses reicht mir, um mir einen eisigen Schauer den Rücken runter zu jagen. Wir haben fast dreißig Grad, aber im Schatten des Hauses ist es empfindlich kalt. Ich fühle mich von diesem steinernen Ungetüm regelrecht erschlagen: Insgesamt sind es 12.000 Quadratmeter Nutzfläche.

Ich blende Fräulein Gollaschs Erklärungen für einen kurzen Moment aus und lasse meinen Blick über das Haus schweifen: Das Zentralhaus ist zwei Stockwerke hoch, das Eingangsportal mit einer zweiflügeligen, grünen Holztür wird von einem runden Balkon im ersten Stock überschattet. Dieser wird von drei Säulen gestützt. Rechts und links befinden sich die vorgelagerten Ost-, und Westflügel. Sie schließen beide mit großen, runden Fensterfronten ab. Links das Badehaus, rechts der große Speisesaal, wie Fräulein Gollasch erklärt hatte.

Das Gebäude besteht primär aus rotem Backstein, der teilweise unter dem beigen, abblätternden Naturputz hervorblitzt. Von dem Putz setzt sich ehemals grünes Holzfachwerk ab, dass jetzt braun wirkt. Viele Dachpfannen sind schadhaft, man sieht aber noch, dass sie einst dunkelblau glasiert waren. Doch was am meisten ins Auge fällt, sind die dekorativen Bauteile: Erker, Giebel, Treppentürme, verspielte Dachlaternen, vorgeblendetes Fachwerk, einst weiße, hölzerne Klappläden an jedem Fenster. Dieser Zierrat erschlägt einen regelrecht. Dieser Prunkbau hätte jedem durchgeknallten Großindustriellen alle Ehre gemacht. In genau diesen Gedankengang höre ich Fräulein Gollasch reinreden:

„Die Architekten seinerzeit wollten sowohl eine Verschmelzung des Gebäudes mit der Natur erreichen, aber auch dem damals geltenden Repräsentationsanspruch genügen. Und natürlich musste das Haus zweckmäßig sein. Deshalb sind die weniger schönen Elemente auch hinten, wo die Insassen untergebracht waren. Dort befinden sich unter anderem die Liegehallen ... “

„Weniger schönen Elemente? Was meinen Sie damit?“, hake ich interessiert nach.

„Nun ja, Sie werden sehen, dass die hintere Hauswand über weit weniger Fenster verfügt. Und die wenigen, die vorhanden sind, sind vergittert.“

Mir fällt auf, dass die Außenmauern der Villa nicht, wie sonst bei verlassenen Gebäuden üblich, durch Graffiti verunziert sind. Auch sind die meisten Scheiben noch intakt. Das wundert mich, und ich frage nach. Frau Gollasch winkt ab:

„Ach, diese Horror-Touristen und ›Urban Explorers‹ - davon sind wir Gott sei Dank bis dato verschont geblieben. Wir liegen wohl zu weit abseits von allem, hier verirrt sich keiner hin, nicht mal Vandalen ...“

„Nu’, wolln wah reingehen?“, fragt Fräulein Gollasch jetzt betont munter und kramt tatsächlich ein uraltes, rostiges Schlüsselbund mit geschätzt zehn schweren Eisenschlüsseln aus ihrem zierlichen Handtäschchen.

 

...

 

„Ähm, ok, das kriegen wir hin, wir sprechen uns!“, höre ich Max zum Abschluss eines fast zweistündigen Telefongesprächs resigniert in den Hörer sagen. Er sitzt an seinem Schreibtisch unter dem Dach in unserem Haus in einem kleinen Dorf in Norddeutschland. Jetzt knallt er den Hörer auf die Gabel und wischt sich die verschwitzte Hand an seinem Hosenbein ab.

„Puuuhhh, das wird anstrengend!“, bläst er die Backen auf und verdreht die Augen zur Decke. Sein Zeigefinger findet den Weg in seine Ohrmuschel und pult konzentriert ein Stück Ohrenschmalz hervor, dass er von seinem Finger auf den Parkettfußboden krümelt.

„Igitt, lass’ das!“, herrsche ich ihn an, muss aber grinsen. Jeder hat doch die ein oder andere ekelhafte Angewohnheit. Max ist mein Mann, er ist selbstständig und bietet Dienstleistungen rund um die Medienbranche an. Das können zum Beispiel Produktionen für das Fernsehen oder einen Internet-Channel sein. Ich bin als Grafikerin mit an Bord. Max Team mit Kameraleuten, Cuttern, Beleuchtern, Redakteuren und Grafikern sitzt in der Hauptstadt. Ich erledige meine Arbeit von zuhause aus und kümmere mich nebenbei um den Haushalt, den Garten und unsere heißgeliebte Bulldogge. Wir sind seit fast zwanzig Jahren ein Paar und haben keine Kinder.

„Und? Was ist nun?“, frage ich ihn gespannt.

„Also, es sieht wie folgt aus: Hannes hat tatsächlich die Kohle für den Film zusammen bekommen. Frag’ mich nicht, wie er das geschafft hat. Die Dreharbeiten werden hauptsächlich im Studio stattfinden. Los gehen soll es im November.“

Hannes Kalmer ist ein loser Kontakt von Max, den er zufällig vor Jahren auf einem Medienevent in München kennengelernt hat. Kalmer sieht aus wie ein windiges Frettchen und ist auch eines: Mit knapp 170 Zentimetern Körpergröße, beginnender Glatze, die er durch seitliches Legen der letzten, mausgrauen Haarsträhnen zu kaschieren versucht, schmächtigen Schultern und wieselflinken Augen, ist er das Symbolbild eines unseriösen und erfolglosen Geschäftsmanns. Seine größte Passion gilt Filmen, insbesondere dem Horrorgenre. Und er schwallt seit Jahren jedem das Ohr blutig, dass er bald den Horrorfilm schlechthin drehen wird. Je betrunkener er wird, desto mehr bauscht er seine Vorstellung auf und endet meist - kurz vor dem Exitus mit drei Promille - mit erhobenem Zeigefinger und schwerer Zunge:

„Ich werde das Genre revolutionieren!“ Hicks, rülps, umgekippt.

„Und du willst echt mit dem zusammenarbeiten? Der zahlt unsere Arbeit doch nie ...!“, sehe ich schwarz, doch Max wiegelt ab.

„Vorkasse - sonst geht gar nichts. Ich bin ja nicht mit dem Klammerbeutel gepudert ...“

„Was sollen wir überhaupt machen? Ich spiele nicht das erste Schlacht-Opfer!“, wehre ich mit theatralisch erhobenen Händen ab. Max kichert.

„Nee, wir sollen Footage-Material drehen. Gruselige Szenen, die er als Schnittmaterial hinterher in den Film einfügen kann. Dafür müssen wir eine Location finden, abdrehen und das Material sendefähig liefern. Sollte nicht zu schwer sein ...“

„Was für eine Location soll es denn sein?“, will ich wissen, neugierig geworden.

„Hannes faselte was von einer alten Fabrik, oder einem verlassenen Krankenhaus oder so was ... Sollte er zahlen, werde ich Franzi mal auf die Recherche ansetzen. Gerade im Osten sollte es doch entsprechend verfallene, große Gebäude geben, die man mieten kann ...“

Franzi ist Max’ persönliche Assistentin in Berlin. Eine nette, fleißige und vernünftige Brünette mit grünen Augen und wilden Naturlocken.

„Wenn wir die Location haben, düsen wir mit Mo und Leon hin, drei vier Tage, dann noch ‘ne Woche Schnitt. Also insgesamt vielleicht fünfzehn bis zwanzig Mann-Tage, die Hannes berappen muss.“

Mo ist einer der durchgeknallten Kameramänner. Gerade mal 23 Jahre jung, konsumiert er gerne die ein oder andere weiche Droge in wilden Berliner Partynächten und ist auch sonst nicht besonders zuverlässig. Allerdings beherrscht er sein Handwerk meisterlich und hat einen wahrhaft bitterbösen Sinn für Humor.

Leon, der Cutter, ist das komplette Gegenteil: Bodenständig, still und langweilig. Er ist gerade Vater eines kleinen Mädchens geworden und baut in seiner Freizeit Panzer-Modelle. Eigentlich kenne ich Leon nur reglos vor seinem Avid-Schnittrechner sitzend und in seinen grauen T-Shirts mit der Wand verschwimmend. Mir ist nicht bekannt, ob er überhaupt sprechen kann.

„Na gut, dann wollen wir sehen, was Hannes zu deinem Angebot sagt“, beende ich das Thema. Sind ja alles noch ungelegte Eier.

Vier Wochen später allerdings konkretisierte sich das Ganze und wurde dann auch noch plötzlich zu meinem Problem:

„Er hat tatsächlich das Angebot akzeptiert und schon gezahlt“, frohlockt Max und reckt den Daumen in die Höhe. Dabei gerät der Kaffeebecher in seiner anderen Hand in gefährliche Schieflage.

„Wer, was wie?“, frage ich dümmlich. Keine Ahnung, wovon er spricht.

„Na, Hannes! Nächste Woche geht’s los. Franzi hat schon ‘ne Location klar gemacht. ‘Ne ehemalige Irrenanstalt. Pack schon mal dein Köfferchen!“

„Waaaas?“, bringe ich nach einem Überraschungsmoment heraus, „Wieso denn ich? Was soll ich denn da ...?“

„Mir Beistand leisten - ich verbringe doch keine drei Tage in der Einöde mit den drei Knallchargen ...!“, lacht Max.

Oh Mann, da habe ich ja gar keinen Bock drauf. Schnell versuche ich Ausreden zu finden:

„Nee, da muss ich ja voll viel packen ...“ Ich merke selbst, dass diese Argumentation etwas dünn ist. Zum Glück fällt mir was besseres ein:

„Und wohin überhaupt mit Bully?“ Bully ist schon dreizehn Jahre alt. Zwar noch sehr fit, aber eine Reise will ich ihm nicht zumuten. Schon gar nicht bei dieser Hitze.

Doch beides entkräftet Max sofort:

„Ach was, viel einpacken brauchst du gar nicht. ‘Ne Wendeunterhose langt bei den Temperaturen. Und Bully macht Urlaub bei Sir Harry.“

Er macht es sich mal wieder einfach. Andererseits muss ich mir eingestehen, dass ich nicht immer zuhause hocken kann. Und Bully wäre bei meiner Freundin Lydia mit ihrem kleinen Terrier Sir Harry wirklich gut aufgehoben. Ein weiterer Bonus wäre, Franzi endlich mal wieder zu sehen. Wir verstehen uns prächtig.

Widerwillig stimme ich zu. Aber ich bin mir dennoch sicher, dass eine ehemalige Irrenanstalt nicht der richtige Aufenthaltsort für mich ist.

 

...

 

Dass einen die Schönheit von Architektur überwältigen kann, habe ich persönlich noch nie erlebt. Aber genau das geschah jetzt, ich stand und staunte mit offenem Mund, als wir das Foyer der Heilstätte betraten.

„Nach Ende 1945 ist das Haus verfallen. Im Erdgeschoss wurde alles geklaut, was man irgendwie brauchen oder zu Geld machen konnte, der Rest wurde zertrümmert. Aber im ersten Stockwerk ist noch fast alles im Originalzustand. Aber natürlich nicht saniert ...“, erklärt Fräulein Gollasch.

Warum, kann ich mir denken: Ein solches Gebäude zu sanieren oder auch nur einigermaßen in Stand zu halten, würde Unsummen verschlingen. Wahrscheinlich leidet der neue Eigentümer unter chronischem Geldmangel, sonst würde er nicht unseren Dreharbeiten für ein paar Kröten Miete zustimmen.

„Wem gehört das Anwesen?“, höre ich Max fragen, nachdem er sich einmal um sich selbst gedreht und die Sprache wiedergefunden hatte.

„Bartosz von Abulewicz. Er ist ein Nachfahre von Karol von Abulewicz, polnischer Adel.“ Sie betont den Namen derart, als wäre er weltbekannt. Klar, die Hohenzollern, die Habsburger und die Abulewicz nennt man ja quasi immer in einem Atemzug. Ich kenne dieses Adelsgeschlecht nicht, ziehe aber ein wissendes Gesicht. Max popelt gerade prüfend mit dem Daumennagel an der Wand herum.

„Das ist also ihr Chef?“, klinke ich mich nun doch in das Gespräch ein. Es interessiert mich schon brennend, wem dieser so faszinierende wie gespenstische Kasten gehört.

„Richtig. Er ist aber nur selten hier. Seine Geschäfte führt er von Cottbus und Berlin aus.“

Unsere Mandy lässt sich nun jedes Wort aus der Nase ziehen.

„Geschäfte? Was macht er denn?“

„Er handelt mit Kunst und Antiquitäten. Sehr erfolgreich, wie ich anmerken möchte.“ Ihre geschraubte Ausdrucksweise hört sich in ihrem Dialekt wirklich köstlich an. Jetzt bloß nicht lachen.

„Was hat er denn mit dem Anwesen vor? Gibt es da einen Plan? Ich meine, dass kann doch hier nicht immer mehr und mehr herunterkommen ...?“

An Fräulein Gollaschs gerunzelter Stirn erkenne ich, dass mich diese Fragen überhaupt nichts angehen.

„Das weiß ich leider nicht. In seine privaten Pläne weiht mich Herr von Abulewicz nicht ein.“

Sie weicht meinem Blick aus, was mir einiges verrät: Ich wette, dass sie heimlich in den Knaben verknallt ist und hofft, dass er sie in den Stand seiner angesehenen Gattin erhebt. Dazu scheint er aber keine Anstalten zu machen. Pech für Mandy.

„So, gehen wir weiter?“ Mandy scheucht uns mit einem flinken Winken den Gang zur linken hinunter. Kurz zögere ich und lasse den ersten Eindruck nochmal auf mich wirken:

Drei riesige Torbögen empfangen uns. Über dem tiefsten Teil der Decke zwischen den Bögen prangen Steinornamente, Lilien, bestehend aus drei stilisierten Blüten, die von einem Band zusammengefasst werden.

Der mittlere der Bögen wird von zwei jonischen Säulen gestützt und überspannt eine breite Treppe mit fünf Stufen, die auf einen ungefähr anderthalb Meter höheren Flur führen. Die Treppe besteht aus Stein mit abgetretenen Holzstufen und wird von einem formvollendet geschmiedeten Geländer eingefasst, an dem der Rost nagt. Durch den rechten Torbogen führt eine Treppe nach oben in das nächste Stockwerk. Von dieser sieht man natürlich nur den Rücken, der einmal weiß verputzt war, nun aber voller dunkler Flecken ist. Der gesamte Putz ist im Begriff abzuplatzen.

Würde man die fünf Stufen erklimmen, ginge es geradeaus durch eine doppelflügelige Tür, die von einem runden Glasbogen überspannt wird, in einen weiteren großen Raum. Dieser liegt im Zwielicht, wird aber am anderen Ende von einem großen, fast blinden Fenster leicht erhellt. Die Sonne zeichnet ein gelbes Rechteck auf den schmuddeligen Boden, sieht aus wie Eichenparkett. In den Sonnenstrahlen tanzen Staubflocken. Links der Stufen befindet sich eine ähnliche Tür aus weißem, morsch wirkendem Holz, mit zwei Flügeln und ebenfalls einem gläsernen Rundbogen. Dieser wird aber durch dünne Holzstreben zu kleinen Butzenfenstern durchbrochen. Wertvolle Schnitzereien zieren die Türrahmen, Meisterwerke früherer Handwerkskunst.

Wir stehen nun in einem großzügigen Gang, bestimmt sechs Meter breit. Der Boden besteht, wie auch in der Eingangshalle, aus weißen Kacheln, abgesetzt durch dunkelblaue Mosaiksteine. Leider sind auch diese schadhaft: Jede zweite Kachel ist zerbrochen und knirscht unter unseren Sohlen. Hier und da blitzt etwas auf - Glasscherben.

„Denken Sie bitte daran: Sie befinden sich hier auf eigenes Risiko. Das ist in unserem Vertrag so festgehalten. Ich habe ihre Assistentin Frau Rübmann schon darauf aufmerksam gemacht, dass der Aufenthalt hier gefährlich ist.

Das Gebäude ist teilweise einsturzgefährdet. Die Keller und das Tunnelsystem zu den Versorgungshäusern stehen unter Wasser. Vor drei Jahren gab es ein Unwetter, bei dem der Keller voll Wasser gelaufen ist. Bitte meiden Sie also den Kellerbereich und seien Sie allgemein vorsichtig. Herr von Abulewicz wird keinerlei Verantwortung für eventuelle Unfälle übernehmen“, mahnt Mandy mit ernstem Blick. Fehlt nur noch, dass sie drohend den Finger hebt. Max nickt zustimmend.

Nun klackert Mandy auf ihren Pfennigabsätzen weiter den Gang hinab. Auf mageren Beinen stakst sie wie ein Storch.

›Wie kann man sich nur so unpassendes Schuhwerk für eine solche Begehung aussuchen. Wer schön sein will, muss leiden‹, muss ich an einen beliebten Spruch meiner Mutter denken. Ich persönlich bin froh, meine bequemen Wildleder-Stiefelletten im Biker-Stil zu tragen. Damit werde ich mir garantiert nicht den Knöchel brechen.

Mandy führt uns an einer gewaltigen Großküche vorbei, in der man bequem eine Armee satt bekommen hätte. Weiter an diversen großen und kleinen Zimmern (Klinikverwaltung, Behandlungsräume, Aufenthaltsräume ), die wir aber nicht betreten, sondern nur durch angelehnte oder offen stehende Türen kurz begutachten. Alle sind verwahrlost und bis auf ein paar Möbelstücke, die auf den Sperrmüll gehören, leer.

Zuletzt, es kommt mir vor wie nach Stunden, in denen ich in verwaiste Räume gestarrt habe, öffnet Fräulein Gollasch die nächste große Doppeltür am Ende des Ganges mit einem ohrenbetäubenden Jaulen. Die Tür scheint zu klemmen, Fräulein Gollasch muss sie mit der Spitze ihrer Pumps regelrecht aufstemmen, bevor Max ihr zur Hilfe eilt und sie mit ihr gemeinsam keuchend aufdrückt. Es kommt mir vor, als würde die Tür nicht wollen, dass wir die Räumlichkeiten dahinter betreten.

Auf einmal ist mir flau im Magen. Ich schaue nach rechts: Auf einem angelaufenen Messingschild steht neben dem Türrahmen ›Bad‹ zu lesen. Bis jetzt habe ich keinerlei negative Energien in dem Haus gespürt. Nun ja, zumindest keine starken. Aber jetzt würde ich am liebsten auf dem Absatz umkehren und gehen. Ich unterdrücke diesen Reflex natürlich.

„Wir kommen in den Bad-Bereich“, verkündet Mandy, als könnten wir nicht lesen, was auf dem Schild steht. Auch sie sieht plötzlich anders aus. Ein ängstlicher Ausdruck liegt in ihren Augen.

„Können wir uns etwas beeilen?“, drängelt sie, als Max und ich einfach stehen bleiben und sie ansehen.

„Ich würde gerne vor Einbruch der Dunkel ... Ich meine, ich habe noch einen Termin. Wir müssen uns ein wenig sputen, wenn ich Ihnen auch noch das obere Stockwerk zeigen soll.“

Ich hoffe doch, mich verhört zu haben. Hat sie eben wirklich gesagt, sie will noch vor Einbruch der Dunkelheit hier verschwunden sein? Ich will gerade los blöken und fragen, was das heißen soll, aber ich sehe Max, der abwinkt. Sein Blick signalisiert mir klar, dass er hier jetzt keine Spukgeschichtchen hören will, sondern unseren Rundgang zu Ende bringen. Ganz der Profi.

Ich bleibe also still und gehe langsam Frau Gollasch und Max hinterher. Die schwere Tür drücke ich nicht hinter mir ins Schloss. Am Ende geht sie nie wieder auf und ... Ich wische diesen absurden Gedanken beiseite und beeile mich, zu den beiden aufzuschließen.

Während es im Gang eigentlich nur nach Staub, etwas Schimmel und allgemeinem Verfall roch, weht mich hier ein sanfter Hauch von Chlor an. Nur ganz leicht, fast nicht wahrzunehmen, mischt sich darunter eine faule Nuance. Ich schnüffele laut und ziehe angewidert die Nase kraus. Mandy und Max ignorieren mich entweder oder hören meine Schnaufgeräusche nicht. Jetzt öffnet sich zur rechten Seite dieses etwas schmaleren Gangs wieder ein Torbogen und führt in einen geräumigen Saal.

Meine Nackenhaare stellen sich auf. Vier riesige Badewannen auf Klauenfüßen stehen mitten im Raum. Dieser wird von einer bestimmt zehn Meter hohen Gewölbedecke überspannt. Das Kopfende des Raums ist ebenfalls rund und komplett verglast. Es ist eindeutig das ›Badehaus,‹ welches sich im Westflügel befindet. Um den Raum herum verläuft auf etwa fünf Metern Höhe eine Galerie. Die Fliesen, die bis zur Galerie heraufreichen, werden einmal eine helle, türkise Farbe gehabt haben. Jetzt sind sie bis auf halbe Höhe mit getrocknetem Schlamm verschmutzt. Genauso wie der Boden, dessen Farbe ich überhaupt nicht mehr erahnen kann, so dick ist die eklige, hellbraune Schlammschicht, die diesen abstoßenden Geruch verbreitet. Von der weißen Keramik der Badewannen ist nichts mehr zu sehen, sie sind schwarz vor Dreck.

„Bei dem Unwetter ist nicht nur der Keller voll gelaufen. Das Grundwasser wurde durch die Abflüsse nach oben gedrückt. Das Ergebnis sehen Sie hier“, rechtfertigt Mandy den widerlichen Zustand des Badbereichs.

„Sind das nicht ein bisschen wenig Waschmöglichkeiten für so viele Patienten?“, fragt Max recht naiv. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Wannen der allgemeinen Hygiene dienten. Und ich habe Recht. Mandy räuspert sich geziert in ihre Faust, bevor sie antwortet:

„Diese Wannen dienten einem anderen Zweck. Sie wurden für so genannte ›Dauerbäder‹ genutzt.“

„Dauerbäder?“, wiederholt Max verständnislos. Ich weiß, dass er sich in die Materie der Psychiatrie der letzten Jahrhunderte eingelesen hat, aber diese Behandlung scheint ihm nicht unter gekommen zu sein.

„Eine damals gängige Therapiemethode: Der Patient musste Stunden in eiskaltem Wasser ausharren. Für die Wannen gab es sogar noch hölzerne Deckel, mit denen sie während der Behandlungen verschlossen werden konnten. Die sind aber schon lange verschwunden - wahrscheinlich hat sie irgendwer verheizt ...“

Max ist ein bisschen grün im Gesicht. Ich deute auf ein vielleicht anderthalb Meter breites, rundes Loch im Boden der rechten Saalecke, ebenfalls gekachelt. Nachdem ich näher getreten bin sehe ich, dass eine schmale Metallleiter gut drei Meter nach unten führt. So etwas ähnliches haben unsere Nachbarn in ihrer Sauna: Dieser enge ›Pool‹ wird mit kaltem Wasser gefüllt, in das man nach dem Saunagang steigen soll, um den Kreislauf anzuregen. Über dem Pool befindet sich ein völlig verrosteter Duschkopf, ungefähr so ausladend wie ein Pizzateller.

„Was ist hiermit?“ Dass dieses Ding nicht für eine Abkühlung nach der Sauna gedacht war, kann ich mir an zwei Fingern abzählen.

„Sturzbäder. Der Patient wurde von oben mit eiskaltem Wasser begossen. Das diente als Schockkur.“

Grausam, einfach grausam. Ich bin wirklich dankbar, dass solche Methoden heutzutage völlig absurd sind. Wir Drei starren immer noch auf die tiefe ›Schockkur‹-Dusche, als plötzlich ein leises Scharren vor dem Torbogen hinter uns ertönt. Sicherlich Ratten. Das denkt wohl auch Fräulein Gollasch, dreht sich um und geht in Richtung des Ganges. Mit fünf Schritten ist sie im Flur.

Max und ich sehen uns an und warten auf ein hohes Kreischen, wenn Mandy auf eine fette Ratte trifft. Aber es bleibt still und so wenden auch Max und ich uns in Richtung Flur. Mandy steht ungefähr drei Meter rechts des Torbogens mit dem Rücken zu uns. Ihr Körper verdeckt etwas.

„Fräulein Gollasch?“, spricht Max Mandy an. Keine Reaktion.

Wir gehen näher an Mandy heran und bleiben - Max links, ich rechts von ihr - stehen.

Nun sehen wir ebenfalls, worauf Mandy stumm starrt: ein antiker Rollstuhl.

Bestehend aus einem Korbstuhl, wie man sie heute als Terrassenmöbel verwendet. Die Korbstreben sind teilweise löchrig oder gerissen und stehen ab. Die beiden großen Metallräder sind schwarz angelaufen, das kleine Stützrad hinten steht schief und wirkt, als würde es gleich unter der Last des Korbsitzes abbrechen.

Ich finde als erstes meine Stimme wieder:

„Der stand aber eben noch nicht da“, spreche ich aus, was wir alle denken. Meine Stimme ist etwas zittrig. Einen Moment lang will ich meine Finger ausstrecken und den alten Rollstuhl berühren, aber dann ziehe ich die Hand wieder zurück. Mandy schweigt weiterhin, doch Max hat sich jetzt wieder gefangen:

„Klar wird der da gestanden haben, den haben wir nur übersehen. Der Flur ist ja nicht gerade hell.“

Zustimmung heischend schaut er erst mich, dann Fräulein Gollasch an. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass dieses entsetzliche Ding vorhin nicht dort gestanden hat. Ich bin doch nicht blind und hätte das niemals übersehen. Aber ich schweige.

„Gut, dann nehmen wir jetzt mal so hin, dass es hier spukt. Perfekt! Wir brauchen ja gruuuuuseliges Material ...!“, nimmt Max dann doch noch Augen rollend und Fratzen ziehend den Gruselfaden von vorhin wieder auf. Vielleicht nur, um die Situation aufzulockern.

Bevor Mandy oder ich etwas antworten können, hupt es draußen vor dem großen runden Fenster drei Mal lang und vernehmlich. Die Kavallerie ist eingetroffen.

Kapitel 3: Erster Stock

Kapitel 3: Erster Stock

 

„Krasser Kasten!“

Mo schält sich aus dem gemieteten schwarzen Mercedes Vito und schiebt sich mit einer eindeutig einstudierten Bewegung die Ray Ban Clubmaster auf die Stirn. Das ist sicher eine Geste, die bei seinen flott wechselnden weiblichen Bekanntschaften mächtig Eindruck macht.

Neben der coolen Sonnenbrille trägt er ein schwarzes, enges T-Shirt und knielange Cargo-Hosen, ebenfalls schwarz. Des T-Shirts wird er sich über kurz oder lang entledigen, um seinen vermeintlich geilen Oberkörper jedem weiblichen Wesen zu präsentieren. Vor ein paar Monaten hat er ein paar Kilo abgenommen. Jetzt ist nur noch leicht schwabbelig, mit eingefallener Brust und vielen, dunklen Haaren bis über den Bauchnabel. Für die Jahreszeit ist er dazu noch kalkweiß. Allerdings scheint er ein anderes Bild von sich im Spiegel zu sehen, er hält sich für eine Art Dwayne ›The Rock‹ Johnson. Mit diesem Herren verbindet ihn allerdings nur die Glatze und die vollen Lippen. Wobei seine Unterlippe ziemlich tief herunterhängt und ihm einen leicht motzigen Gesichtsausdruck verleiht.

Mo ist das lebende Beispiel dafür, dass Selbstbewusstsein sexy macht: Die Frauen fahren voll auf ihn ab. Nun ja, eine bestimmte Art von Frauen zumindest.

Nachdem er sein Statement zum grandiosen Anblick des Gebäudes abgelassen hat, konsultiert er auch direkt sein Smartphone. Wahrscheinlich will er sofort via Tinder checken, ob sich Single-Frauen in der Nähe befinden. Aber das würde wohl an ein Wunder grenzen. Außer vielleicht Hirschkühen gibt es hier weit und breit nichts.

„Kein Netz!“ Seine Unterlippe rutscht noch einen Zentimeter tiefer.

„Ey, Chef, gibt’s hier WLAN?“, wendet er sich an Max, ohne uns auch nur erst mal zu begrüßen. Typisch Mo.

„Moin erst mal! Nee, hier gibt’s nix, wirst mal drei Tage ohne Internet auskommen müssen!“, verkündet Max und schüttelt erst Mo, dann Leon die Hand.

Ach, der ist also auch angekommen. Wie immer ist er kein Freund großer Worte, sondern beginnt direkt den Vito auszuladen. Immerhin einer, der auch mal was arbeitet. Mo macht sich erst mal eine Kippe an und begutachtet nun wieder interessiert die Heilstätte, während Leon schwere Metallkisten aus dem Transporter buckelt.

Ich stelle mich neben Mo und schaue mir ebenfalls die beeindruckende Fassade an.

„Wie war die Fahrt?“, frage ich ihn, Zeit für ein bisschen Small Talk.

„Heiß, staubig und lang. Aber um dich zu sehen, ist mir kein Weg zu weit!“ Unser Mo - mit Frauen kann er gar nicht anders als charmant. Er richtet den Blick aus seinen leicht schräg stehenden Hundeaugen auf mich. Mit diesem Augenaufschlag fühlt er sich wie Humphrey Bogart („Schau mir in die Augen, Kleines“), sieht aber leider aus wie Jim Carrey in ›Dumm und Dümmer‹. Zumal ihm auch noch eine Ecke des rechten Schneidezahn abgebrochen ist.

Ich muss immer grinsen, wenn er seine Flirtversuche an mir ausprobiert. Mo nimmt es nicht übel. Eine Abfuhr lässt ihn stets kalt. Und außerdem würde er es nie wagen, mich wirklich anzubaggern, weil Max ihm den Kopf abreißen würde.

„Wo steckt Franzi?“, will ich wissen, höre aber die Antwort nicht, weil meine Aufmerksamkeit von etwas anderem im Anspruch genommen wird. Für einen Augenblick dachte ich, dass ich in einem der Fenster unter einer Gaube im Dach ein Gesicht gesehen hätte. Ein heller Fleck, der sofort weg gezuckt ist. Könnte auch ein Lichtreflex gewesen sein.

“... kommt also erst morgen oder so“, dringt Mos Stimme wieder in mein Bewusstsein.

„Bitte?“

„Ich sagte, sie kann aus Berlin noch nicht weg und kommt wahrscheinlich erst morgen nach“, wiederholt Mo und folgt meinem Blick stirnrunzelnd aufs Dach.

„Könnten wir bitte weiter machen?“, schaltet sich plötzlich Fräulein Gollasch ein. Max dreht sich zu ihr um:

„Sofort! Jungs, räumt schon mal den Wagen aus. Wir sind im ersten Stock, Fräulein Gollasch zeigt uns die restlichen Zimmer. Schleppt bitte alles hoch, wir sehen uns dann.“

Beim Wort ›Fräulein‹ schießen Mos Augen zu Mandy und er bedenkt sie mit einem lüsternen Blick auf ihre Beine. Mandy sieht das nicht, denn sie hat sich schon umgedreht und marschiert wieder in Richtung Eingang. Max und ich folgen ihr wie treue Hündchen.

 

...

 

Im ersten Stock ist es mit Prunk und Protz vorbei. Hier steht nun eindeutig die Zweckmäßigkeit der Räume im Vordergrund. Der Gang ist eng und fensterlos. Zu meinem Erstaunen brennt aber Licht. In unregelmäßigen Abständen befinden sich Leuchter an der rechten Mauer. Das wenige Licht reicht immerhin aus, um keine Taschenlampe benutzen zu müssen. Auch hier rieselt und blättert der Putz, stellenweise haben sich große, feuchte Flecken gebildet. Im Knick zwischen Decke und Wänden blühen ganze Schimmel-Kolonien. Gut, dass ich kein Asthma habe, sonst würde ich hier wahrscheinlich blau anlaufen. Unter dem Putz kommen rohe Ziegelsteine zum Vorschein.

Wir passieren sechs oder sieben geschlossene Stahltüren, die mit einem winzigen, vergitterten Fensterchen auf Augenhöhe versehen sind. An ihnen befindet sich eine Vorrichtung, um auch diese zu schließen.

„Das sind ›Tobezellen‹“, klärt uns Fräulein Gollasch auf. „Patienten mit Tobsuchtanfällen wurden dort eingesperrt. Oft tage-, oder sogar wochenlang. Dort konnten die Irren brüllen, wie sie wollten, sie sind absolut schalldicht.“

Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und versuche, etwas in einem offen stehenden Fensterchen zu erspähen. Natürlich sehe ich nur schwarz.

„Moment, ich glaube, ich habe einen Schlüssel dafür ...“

Mandy zückt klimpernd das große Schlüsselbund und findet schon nach dem zweiten Versuch den richtigen Schlüssel. Mit einem knarzenden Schleif-Geräusch, als wäre diese Tür seit Jahrtausenden verschlossen, öffnet sie sich. So muss es sein, wenn man eine Gruft öffnet. Aus der Zelle dringt ein ekliger Geruch nach Schimmel und Rattenkot. Jetzt, wo das Flurlicht in die Zelle fällt wird mir klar, was es bedeutet haben muss, dort eingesperrt zu sein.

Das Raum misst keine drei Quadratmeter. Nackter Betonboden, die Wände waren wohl einmal mit dicken, schwarzen Stoffpolstern gedämmt, welche in Fetzen von der Wand hängen. Das Füllmaterial ist über den gesamten Boden verstreut. Dazwischen die obligatorischen Mäuse-, oder Rattenköttel.

In dieser beklemmenden Enge, in vollkommener Dunkelheit und absoluter Stille gefangen: ein Albtraum. Ich würde schon nach einer Minute an Platzangst sterben. Das Wort ›Patient‹ kommt aus dem lateinischen ›patiens‹, was ›geduldig, aushaltend, ertragend‹ bedeutet. Was anderes bleibt einem in diesem schauerlichen Loch wohl auch nicht übrig ...

Aus heiterem Himmel habe ich entsetzliche Zahnschmerzen. Es fühlt sich an, als hätte man mir alle Zähne auf einmal ohne Betäubung gezogen. Ich schmeckte den eisernen Geschmack von Blut. Doch gerade, als ich aufstöhnen und ausspucken will, verschwindet der Eindruck so schnell, wie er gekommen war.

Nachdem Max und ich einen letzten Blick in die Zelle geworfen haben, schließt Fräulein Gollasch sorgfältig wieder ab.

„Noch ein Hinweis: Sie können alle Räumlichkeiten, die offen stehen, für Ihre Aufnahmen nutzen. Sollten Sie abgeschlossene Bereiche finden, dann akzeptieren Sie diesen Umstand bitte. Herr von Abulewicz hat nicht alles zur freien Verfügung gestellt.“

So, so - was erwartet Mandy denn von uns? Dass wir abgeschlossene Türen eintreten?

Weiter geht die Führung: Noch mehr Türen, abzweigende Gänge, Treppenfluchten ohne Ende. Alles ist eng, verwinkelt und beklemmend.

Eines weiß ich jetzt schon: Hier werde ich mich heillos verlaufen, wenn ich nicht aufpasse. Max scheint das selbe zu denken:

„Sagen Sie, gibt es einen Grundriss von den einzelnen Stockwerken? Damit man sich orientieren kann?“

„Leider nein. Aber Sie werden sich schon daran gewöhnen, in die meisten Bereiche müssen Sie ja sicher nicht.“

Woher will sie wissen, wo und was wir drehen wollen? Aber Max sagt nichts dazu, und ich werde meine Zunge hüten. Ich spiele hier doch nicht den Advocatus Diaboli. Ist mir doch völlig egal, wie das Material hinterher ausfällt. Je mehr ich von unserem provisorischen ›Zuhause‹ für die nächsten Tage zu sehen bekomme, desto dringender will ich SOFORT abreisen.

Wir erreichen nun das Ende des Hauptgangs und sehen eine alte, verwitterte Wendeltreppe mit gebrochenem Handlauf. Sie führt in steilem Winkel nach oben. Der gesamte Aufgang ist rund, wir scheinen uns in einem der unzähligen Treppentürme zu befinden.

„Das ist einer der Zugänge zum Dachgeschoss. Wie Sie sehen, kann man dieses nicht betreten. Es ist komplett einsturzgefährdet.“

Ich trete einen Schritt nach vorne und spähe die Treppe hinauf. Was ich sehe, macht mich stutzig. Obwohl ich das Ende der Treppe im düsteren Restlicht des Flurs kaum sehen kann, habe ich doch den Eindruck, dass sich an ihrem Ende keine Tür, sondern eine Mauer befindet.

„Ist der Aufgang zugemauert?“, richte ich mich an Mandy.

„Ähm, ja. Korrekt.“

„Warum?“

„Nun, des Ungeziefers wegen. Das gesamte Dachgeschoss war voll mit Ratten und Fledermäusen. Das Dach ist sehr schadhaft. Man befand es für sicherer, diesen Bereich zuzumauern.“ Merkwürdig. Als wären hier nicht überall Ratten und Mäuse am Werk.

„Ich zeige Ihnen nun Ihre Unterkunft“, drückt Mandy wieder auf’s Tempo und geht vorweg auf den Flur zurück und biegt in den nächsten Gang nach rechts ab. Nach gefühlt fünfundzwanzig Abzweigungen und vorbei an diversen Türen, stehen wir wieder vor einer großen, hölzernen Doppeltür, wie sie auch schon im Erdgeschoss vorzufinden waren. Wir betreten einen Saal von gigantischen Ausmaßen.

„Das war früher der Liegesaal.“ Mandy macht eine umarmende Geste in den Raum, als würde sie uns ein besonderes Geschenk präsentieren.

„Hier waren die Patienten untergebracht, die keiner speziellen Betreuung bedurften und als harmlos eingestuft waren. Sie konnten sich nach eigenem Gutdünken bewegen.“

Bestimmt fünfzig altersschwache Betten aus einfachem Rohrgestell stehen in mehreren Reihen in dem Raum. Viele sind mit ledernen Fußfesseln und Fixierhandschuhen an rostigen Ketten versehen. So viel zum Thema Bewegen, wie es einem beliebt. Links ist ein großer Platz freigeräumt worden. Mandy zeigt dorthin.

„Wir dachten, hier könnten Sie Ihre Ausrüstung aufstellen.“

„Das passt ganz wunderbar“, lobt Max. Ich bin weniger enthusiastisch.

„Wo gibt es Strom?“

„Wir haben den Generator im Keller angeworfen. Das gesamte erste Stockwerk hat Strom. An der Wand dort drüben befinden sich Buchsen.“

„Entschuldigen Sie, aber wo werden wir schlafen?“, melde ich mich zu Wort. Mandy und auch Max bedenken mich mit einem mitleidigen Blick. Max antwortet:

„Hier stehen doch genug Betten, oder?“

Ich schaue zu den Schlafgelegenheiten und sehe nun, dass fünf Betten in einigem Abstand zueinander mit neuen, dünnen Matratzen ausgestattet sind. Kissen und Schlafsäcke haben wir von Zuhause mitgebracht. Ich seufze. Gut, es ist nicht das Ritz, aber für höchstens drei Nächte wird es schon gehen ...

„Und Duschen und Toiletten?“

„Gleich rechts den Gang runter - können Sie gar nicht verfehlen.“

Da es nichts nutzt, mit der Situation zu hadern, dass wir zusammen wie auf Klassenfahrt AlleMann in einem Schlafsaal pennen sollen, versuche ich die guten Seiten der Räumlichkeiten in den Fokus zu rücken.

Vorteil Nr 1: Die große Fensterfront geht nach vorne raus und offenbart einen grandiosen Ausblick über den Vorplatz und die angrenzenden Kiefernwälder. Er ist schön hell und lichtdurchflutet. Zumindest am Tag ...

Vorteil Nr. 2: Der Saal ist zwar riesig, aber sehr übersichtlich. Hier kann sich also nichts verstecken, was dann des Nachts plötzlich hervorspringen könnte und uns alle ... ›Stop!‹ schiebe ich mental einen Riegel vor meine Horrorfantasien.

Ein eindeutiger Nachteil ist allerdings, dass ich von hier aus nie wieder nach draußen finde. Ich trete nochmals an die Fensterfront. Erster Stock - im Notfall kann ich springen ...

„Hallllllllllllloooooohooooo. Wo steckt ihr denn?“, schallt Mos Stimme in diesem Augenblick irgendwo aus den Tiefen des Gebäudes.

„Brauchen Sie noch etwas oder haben Sie noch Fragen? Ansonsten würde ich Sie jetzt gerne verlassen“, will Mandy ihre Führung beenden. Max überlegt kurz:

„Nein, ich denke, wir kommen klar. Ansonsten haben wir ja Ihre Mobilnummer.“

„Richtig, rufen Sie mich jederzeit an. Denken Sie aber daran, dass Sie erst an der Wegkreuzung im Wald Netzempfang haben.“ Sprach’s, reichte uns beiden eine kühle Hand mit roten Fingernägeln und verschwand mit den Worten:

„Alles Gute, ich gehe Ihren Kollegen entgegen und schicke sie in Ihre Richtung.“ Ein letztes Klappern ihrer Stilettos, Abgang Mandy.

„Hat sie uns eben alles Gute gewünscht?! Was soll das denn heißen? Die rechnet wohl damit, dass sie uns nicht lebend wieder sieht?“, frage ich Max und kann kaum verhindern, dass meine Stimme etwas zu hoch klingt. Max lacht:

„Ach je, leg’ doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage.“

„Aber du hast vorhin schon gehört, dass sie beinah gesagt hätte, sie möchte vor Einbruch der Dunkelheit hier weg sein, oder?“ Auch das vertreibt Max’ Lachen nicht:

„Das gehört doch zum Spiel. Die wollen bestimmt eine Schauerlegende etablieren um Touris anzulocken oder so. Denk doch mal nach, der Eigentümer braucht dringend Kohle ...“

Sein Wort in Gottes Gehörgang. Mein dumpfes Gefühl im Bauch wird durch seine Worte leider nicht vertrieben. Apropos dumpfes Gefühl im Magen: Ich muss dringend auf die Toilette. Deshalb überlasse ich es Max, sich um unsere Koffer zu kümmern, trete hinaus in den Gang und wende mich nach rechts. Von links höre ich in diesem Moment Schritte und Stimmen: Mo und Leon kommen, beladen wie die Packesel und aus dem letzten Loch keuchend, den Gang herunter.

„Verdammt nochmal, was hast du denn in diesen Koffern?! Das ist doch nicht meine Sony PMW, die hundert Kilo wiegt?!“

„Backsteine“, kommt es lakonisch von Leon.

Mehr höre ich nicht, denn ich habe eine Tür gefunden, die irgendwie nach Toilette aussieht. Kurz bleibe ich stehen und drücke die Daumen, dass Fräulein Gollasch sich vor unserer Ankunft um einen Putztrupp bemüht hat. Oder meinetwegen die Klos auch selbst auf Knien geschrubbt hat. Aus Gewohnheit atme ich durch den Mund, das empfiehlt sich immer, wenn man öffentliche Toiletten betritt, besonders auf Bahnhöfen und Rastplätzen. Was ich sowieso so gut es geht vermeide. Nichts finde ich ekelhafter als dreckige Klos. Als ich die Tür aufstoße, bin ich vom Anblick, der sich mir bietet, überrascht:

Der Raum misst sicher fünfzig Quadratmeter und ist hell gefliest. Bis auf ein paar Stellen sind die Fliesen intakt. An der Wand links enden sie auf meiner Kopfhöhe, darüber der obligatorische blätternde Putz, ein paar Wasserflecken und in den Ecken der unvermeidliche Schimmel. Davor befinden sich zehn uralte Wasserklosetts mit der Spülung hoch über dem Kopf, fast unter der Zimmerdecke und einer Kette zum Abziehen. Die Klobrillen sind aus hellem Holz. Gegenüber gibt es die gleiche Anzahl altertümlicher Duschköpfe, die aus den Wänden ragen und mit einem dicken Rohr verbunden sind.

Du meine Güte: Privatsphäre adé! Ich beschließe, mich vorerst nicht zu waschen und möglichst draußen meine Fäkalangelegenheiten zu erledigen. Probeweise nehme ich einen leichten Atemzug durch die Nase und befinde, dass die Luft gar nicht so schlecht ist. Ich blicke am Kopfende des Raums auf eine Reihe rechteckiger Fenster, die mit Milchglas versehen sind und so hoch in die Wand eingelassen, dass man sie nicht ohne eine Leiter öffnen oder schließen kann. Zwei davon stehen offen und lassen Frischluft herein. Natürlich stinkt es untergründig nach Abwasser aus den steinalten Rohren und auch der Geruch von Pisse aus bald 150 Jahren und unzähligen Blasen hat eine Nuance hinterlassen. Aber es ist auszuhalten. Glücklicherweise haben die Toiletten keine Deckel und so muss ich nichts anfassen, wenn ich meine Notdurft erledigen will. Ich wähle aus einer Laune heraus das dritte Klo, öffne meine Hose und bücke mich über die Klobrille. Natürlich setze ich mich nicht, ich habe keine Lust auf jahrhundertealte Bakterien. Mein Urin trifft plätschernd auf die Emaille. Das ist mir normalerweise peinlich, wenn man mich laut pinkeln hört und ich versuche stets, das zu vermeiden. Aber hier hört mich nun wirklich keiner und ich will so schnell wie möglich verschwinden und zurück zu Max und den anderen. Also strullere ich los wie ein Pferd.

Dabei spähe ich automatisch zwischen meine Beine. Die Toilettenschüssel weist dunkelbraune Ränder auf. Das ist sicher Scheiße, die sich im Lauf der Jahrzehnte regelrecht eingefressen hat ...

Schnell schaue ich wieder geradeaus und zucke zusammen. Da ich nun frontal zu der Wand mit den Duschköpfen stehe, beziehungsweise gebückt hocke, fällt mein Blick auf ein großes Graffiti.

Mit schwarzer Farbe wurden zwei lebensgroße Figuren auf die Fliesen gesprüht: Eine Person, aufrecht, seitlich zum Betrachter stehend, mit einer Kutte bekleidet. Die Kapuze der Kutte bedeckt den Totenschädel nicht ganz. Die rot glühenden Augenhöhlen sind der einzige Farbfleck in diesem abstoßenden Werk. In der Hand hält er eine Sense. Vor ihm kniet auf allen Vieren eine weibliche Gestalt. Ihr Kopf hängt zwischen ihren Armen nach unten, das dunkle Haar fällt ihr wie ein Vorhang über das Gesicht. Auf ihrem Rücken liegt eine Art ... Platte? Auf dieser steht, in seiner Belanglosigkeit geradezu obszön wirkend, ein Strauß Blumen in einer Vase.

Mit dieser Symbolik - sollte es denn eine sein und nicht nur reine Fantasie - kann ich nichts anfangen. Trotzdem macht mich dieses Bild merkwürdig nervös. Es sieht aus wie das Werk eines unbegabten Armamputierten. Dennoch verfehlt es seine drohende Wirkung nicht. Ich ziehe rasch meine Unterhose und die Jeans hoch und sehe zu, dass ich Land gewinne. Auf halbem Weg zur Tür halte ich jedoch inne, renne regelrecht zurück und ziehe die Spülkette. Ein Geräusch, als würden sich die Niagarafälle ihren Weg durch die Rohre bahnen, erklingt und spült meine Hinterlassenschaft hinfort. Jetzt aber flott zurück in sichere Gesellschaft.

„Wir müssen uns ein System ausdenken, wer wann pinkeln oder duschen geht. Das ist alles ein großer Raum mit ...“ Ich verstumme. Der Liegesaal ist leer.

Stimmt, Max ist die Koffer holen gegangen und Mo und Leon müssen sicher auch noch einiges hochbringen. Nun gut: Dann will ich mal versuchen, den Weg ins Freie zu finden. Was bleibt mir auch anderes übrig?