Schwarzer Tag - E.R. Kästner - E-Book

Schwarzer Tag E-Book

E.R. Kästner

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Beschreibung

Fünf Horror-Häppchen für den Grusel-Snack zwischendurch!   1. GIER Anna und ihr Bruder Arthur freuen sich über ein unerwartetes Erbe. Nicht ahnend, dass sie schnell wünschen werden, das Testament niemals gesehen zu haben ...   2. GESCHWISTERLIEBE Der Umzug in ein einsames Dorf macht einer jungen Familie schwer zu schaffen. Der kleine Marvin ist so einsam, dass er sich einen Freund einbildet. Seine Eltern sorgen sich um ihn und müssen erfahren, dass alles noch viel schlimmer ist, als es scheint ...   3. VERLOREN Marco und Steffen erkunden einen Lost-Place und hoffen auf interessante Motive für ihre Socials. Doch was sie dort vorfinden, haben sie sich nicht in ihren schlimmsten Albträumen ausgemalt ...   4. POST SPECULUM Ein altes Haus. Eine tote alte Dame und ein Spiegel, in dem eine unheimliche Macht zu hausen scheint ...   5. BAUCHGEFÜHL Denise und Michael erwarten ihr erstes Kind, als ein junges Mädchen auf ihrem Grundstück auftaucht. Mit ihr hält der Schrecken Einzug in die Idylle der werdenden Eltern ...  

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E.R. Kästner

Schwarzer Tag

Gruselige Kurzgeschichten

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

I. Gier

Schwarzer Tag

Kurzgeschichten von E.R.Kästner

 

 

 

I. GIER

 

Die fahle Wintersonne lässt den Staub vor ihren Augen tanzen. Wie Goldpartikel flirrt er bei jeder Bewegung durch den rohen Dachstuhl und legt sich nach einer gewissen Zeit wieder nieder.

Es ist bitterkalt, kaum über Null. Der große Raum ist nicht isoliert, bloße Dachbalken stützen Schieferschindeln. Eine runde Luke am der Stirnseite des Gebäudes spendet zwar Licht, lässt den Wind aber durch einen Sprung im Glas jaulen.

Draußen erschallen, sehr weit entfernt, fröhlich jauchzende Kinderstimmen, eine Schneeballschlacht ist im vollen Gange. Kein Wunder, dass es alle nach draußen drängt, nach den Weihnachtsfeiertagen voller Völlerei und mangelnder Bewegung. Jetzt, mit dreißig Zentimetern Neuschnee, eisigen Böen, aber gleißendem Sonnenschein hält es kein Kind mehr in engen Räumen.

Anna seufzt.

„Nur Gerümpel. Eigentlich sollten wir einen Container kommen lassen und alles einfach entsorgen.“

Mit einer fließenden Bewegung streicht sich das braune, hüftlange Haar auf den Rücken und fasst es mit einem Gummiband zusammen. Vor ihrem Gesicht bildet sich eine Atemwolke.

„Ach komm, das macht doch Spaß, deshalb haben wir uns doch extra frei genommen. Vielleicht finden wir was wertvolles.“

Arthur hebt einen Mundwinkel zu seinem jungenhaften Grinsen, dass er sich bis in die Vierziger bewahren konnte. Anna sieht ihren Bruder an, seufzt erneut und zuckt resigniert die Schultern.

„Mir kommt das wie ... Leichenfledderei vor.“

Jetzt lacht Arthur laut auf: „Unsinn, Schwesterherz, Tante Margot ist doch gar nicht hier. Die staubt in ihrer Urne, da kann man nichts mehr fleddern.“

Anna runzelt die Stirn, greift aufs Geratewohl in eine der unzähligen Kisten und Kartons und schmeißt ein Buch nach Arthur. Ein Regen aus Staub, Spinnweben und toten Kellerasseln ergießt sich über Arthurs Hosenbeine und Schuhe, als ihn das vergilbte Papier an der Brust trifft.

„Manchmal kannst du echt ein Ekel sein!“, ruft Anna und schüttelt sich in einem Hustenanfall, der rasch ebenfalls in Lachen übergeht. Arthur hat ja recht: Sie kannten Mutters ältere Stiefschwester kaum. Nur einmal, vor fast dreißig Jahren, hatten sie sie wohl auf der Beerdigung ihrer Großmutter gesehen. Arthur war zwölf Jahre alt gewesen, Anna gerade mal fünf. Beide können sich überhaupt nicht an eine Tante Margot erinnern.

„Hattest du Mama eigentlich erreicht?“, fragt Anna und sieht von einem alten Fotoalbum auf.

„Nö. Die scheint mit ihrem neuen Lover beschäftigt zu sein.“ Wieder das schiefe Grinsen und eine gehobene Augenbraue. Anna lächelt und wendet sich wieder dem Album zu.

Mit klammen Fingern blättert sie die Seiten um. Das Seidenpapier zwischen den Fotos ist stellenweise so verrottet, dass es zwischen ihren vorsichtigen Fingerspitzen zerbröselt. Geistesabwesend schaut sie auf Schwarzweiß-Fotografien ihr völlig unbekannter Personen.

Da müssen doch meine Großeltern sein, und Mama und Papa? Doch sie findet kein bekanntes Gesicht. Merkwürdig.

„Ich denke, die beiden haben sich über die Feiertage in einem lauschigen Liebesnest verschanzt und frönen heißem Seniorensex.“, schiebt Arthur hinterher.

„Du Spinner.“ Ihre neunundsiebzigjährige Mutter und Sex. Lächerlich. Seit dem Tode ihres Vaters vor fast sechs Jahren hatte sie mehr und mehr Zeit in ihrer Sommerfinca auf Fuerteventura verbracht und im letzten Jahr Deutschland ganz den Rücken gekehrt. Seit letztem Sommer hatte sie dort sogar einen neuen Partner gefunden, ein solventer spanischer Rentner namens Pablo. Auf Bildern sah er schlank, wettergegerbt und verschmitzt aus. Anna freute sich für das späte Glück ihrer Mutter. Sie hätte sie auch gerne nach Tante Margot gefragt. Aber die Finca liegt tief im Hinterland der Insel und in fast jedem Winter war ihrer Mutter aufgrund der Stürme wochenlang nicht zu erreichen. Das Festnetz wurde gestört und die Insulaner brauchten ewig, alles wieder in Stand zu setzen. Ein Mobiltelefon besaß ihre Mutter nicht.

„Ihhh. Saß die Alte im Rollstuhl?“

„Was?“

Anna dreht sich zu Arthur um. Er ist in einer düsteren Ecke verschwunden, sie sieht nur noch schemenhaft die Spitzen seiner grauen Haare über eine abgedeckte Kommode ragen. Sie erhebt sich mit steifen Knien aus ihrer hockenden Position und stößt dabei an die einzelne Glühbirne, die den Dachboden spärlich erhellt. Die Birne schwankt und lässt seltsame Schatten über die niedrigen Wände und das Dach tanzen. Anna greift nach oben und bringt die Lichtquelle zur Ruhe.

„Buh!“

Mit einem Aufschrei springt Anna zurück, kann aber nicht verhindern, dass ihr etwas metallisches schmerzhaft gegen das linke Schienbein stösst. Sie landet rücklings auf dem Hintern. Direkt vor ihren Füßen steht ein alter Rollstuhl, den Arthur ihr in den Weg geschoben hat. Die Reifen sind platt, das graue Stahlrohrgestell von Fliegenkot gesprenkelt. Der Sitz besteht nur noch aus Fetzen. Wahrscheinlich hat sich eine Ratte ein Nest mit dem gummiartigen Kunststoff gebaut.

Arthur biegt sich vor Lachen und läßt sich in die Rudimente des Rollstuhl plumpsen. Der gibt mit einem Knirschen nach, die letzten Gummistränge des Sitzes reißen und Arthurs Po sackt bis zu den knarrenden Dielen durch.

Anna wird, bevor sie sich über Arthurs kindischen Scherz aufregen kann, bei seinem Anblick von einem Lachkrampf geschüttelt. Nachdem sich beide beruhigt haben und nur noch mit roten Köpfen keuchen, hilft Anna Arthur aus seiner misslichen Position wieder auf die Beine.

Plötzlich ist ihr flau beim Anblick des Rollstuhls.

„Wir sollten uns echt nicht wie die Zehnjährigen benehmen. Was sollen die Nachbarn denken, wenn wir hier so laut lachen?!“

„Nachbarn? Welche Nachbarn? Das nächste Haus ist doch mindestens dreihundert Meter entfernt.“

Stimmt, Tante Margot hatte offenbar die Einsamkeit geschätzt. Anna selbst würde es keine drei Tage in so einem gottverlassenes Dörfchen im Harz aushalten.

„Jaja, schon gut. Aber was wir hier machen ist echt pietätlos.“

Beschwichtigend nimmt Arthur Annas Hand. „Ok, wir sollten es nicht übertreiben. Obwohl sich meine Trauer echt in Grenzen hält über jemanden, den ich gar nicht kannte.“

„Lass‘ uns einfach weiter machen und dann zusehen, dass wir hier weg kommen. Mir ist verflucht kalt und ich hab‘ eigentlich gar keinen Bock mehr im Müll zu wühlen.“ Anna war die der Aktion vorangegangene neugierige Goldgräberstimmung beim Anblick des Rollstuhls gründlich vergangen.

„So machen wir es. Noch ein Stündchen und dann ab ins Hotel. Aber vorher musst du dir noch ansehen, was da hinten ekelhaftes steht.“

Anna verdreht die Augen und schüttelt vehement den Kopf. „Ich schaue die Kisten hier vorne noch durch. Sag’s mir einfach.“

„Spielverderberin, komm‘ mit!“

Mit einem Ruck zieht Arthur Anna hinter die Kommode und zeigt auf einen Stuhl mit hoher Lehne. Dunkles, schweres Holz.

„Na und?“

„Schau her!“

Arthur hebt stolz den Sitz hoch und offenbart ein rundes Loch. Anna tritt vor und schaut hindurch, Darunter steht, im Dunkeln kaum zu erkennen, ein alter Zinkeimer. Ratlos schaut Anna Arthur an, dann dämmert es ihr.

„Ist das widerlich, das ist ein Toilettenstuhl, oder?“

„Aber Hallo. Der bringt bestimmt einiges an Kohle bei einem Antiquitätenhändler.“

Anna hebt zweifelnd die Brauen.

„Prima, kannst ihn gerne haben.“

Mit diesen Worten dreht sie sich um, bläst einmal in ihre Hände, um diese zu wärmen und marschiert zurück in den vorderen Teil des Dachbodens.

Vorbei an dem nun völlig kaputten Rollstuhl. Kurz stutzt sie: Hatte dieser eben nicht noch anders herum gestanden, mit der Sitzfläche zur Eingangsluke im Boden gezeigt?

„Meinst du, den kriegen wir ins Auto?“, reißt sie Arthurs Stimme aus ihren Gedanken.

„Redest du etwa von dem Klostuhl?! Falls ja, lautet die Antwort nein!“

Arthur lacht und rumpelt weiter in seiner Ecke herum. Er scheint immer noch Spaß an dem Unterfangen zu haben.

Als vor zehn Tagen das Schreiben sie erreicht hatte, dass sie und ihr Bruder Alleinerben des Hauses und Besitzes von Tante Margot waren, war sie vor Freude fast ausgeflippt. In den schillerndsten Farben hatten sie und Arthur sich ausgemalt, was sie mit dem Geld alles anstellen könnten. Anna wäre ihre Schulden los und Arthur könnte sich endlich mit einem dicken Geldpolster selbstständig machen. Der Brief sah offiziell aus und hatte die Adresse und den Schlüssel zu dem Haus enthalten.

Die Freude wurde trüber, als sie schließlich vor dem windschiefen Fachwerkgebäude, mitten im Nirgendwo, standen. Auch das Innere des Hauses war nicht nur ein Sanierungsfall, sondern auch gefüllt mit Sperrmüll.

„Wir hätte das Erbe lieber ausschlagen sollen. Jetzt sind wir für die Bude verantwortlich. Die ist doch in der Gegend in diesem Zustand völlig unverkäuflich.“, hatte Anna nach der ersten groben Durchsicht des Gebäudes festgestellt.

„Ach komm, wir durchsuchen alles gründlich. Bestimmt finden wir noch alten Schmuck oder ... Goldbarren?“ Ihr Bruder war einfach unverbesserlich optimistisch.

Und jetzt, fast vier Stunden später, sah er immer noch nicht ein, dass er hier nichts gab, was nicht auf die Müllkippe gehörte.

Doch die Gier stirbt zuletzt, besonders bei Arthur. Seinen Traum zu verwirklichen, eine eigene Kanzlei zu eröffnen, ließ ihn unermüdlich wühlen, rücken, blättern und begutachten.

Was wird die Bude wert sein? Immerhin sind es fast dreitausend Quadratmeter Grund, überlegt Anna still, ihre Finger gleiten durch eine alte Holzkiste. Vorsichtig, denn sie will sich keinen Splitter zuziehen. Vielleicht Fünfzig - oder Sechzigtausend? Die Immobilie muss abgerissen werden, sie mindert eher den Wert. Verdammtes Pech. Dieses Grundstück im Berliner Speckgürtel, wo sie momentan wohnte, wäre mindestens eine Million wert. Ätzend.

Annas Laune sinkt bei diesen Gedanken noch mehr. Gerade will sie Arthur zurufen, dass es ihr jetzt reicht und sie ins Hotel zurück will. Dort gibt es eine Badewanne. Ein Genuss, den ihre winzige Wohnung nicht bieten kann. Die sechzig Euro für die Übernachtung sollen sich wenigstens lohnen. Von den Spritkosten gar nicht zu reden.

In diesem Moment stoßen ihre Fingerspitzen an etwas hartes aus Kunststoff. Unter einem Wust alter Papiere - offenbar Gebrauchsanleitungen für längst nicht mehr existente Elektrogeräte - zieht sie ein dunkelgraues, fast rechteckiges Ding hervor. Eine Ecke ist leicht gesplittert, aber sonst scheint es intakt.

Eine Polaroidkamera.

Anna feixt. Wie du mir, so ich dir, denkt sie sich und schleicht sich von hinten an Arthur heran. Im Laufen drückt sie den Einschaltknopf des Geräts, mit einem Surren fährt sich das Blitzlicht aus. Das Geräusch wird von den knarrenden Dielen verschluckt. Arthur steht nichtsahnend mit dem Rücken zu ihr über einen Karton mit der Aufschrift „Kozwloski GmbH - Ihr Umzugsprofi seit 1971“ gebeugt.

„Bitte recht freundlich!“, schreit Anna, absichtlich viel zu laut.

Erschrocken fährt Arthur herum, die Augen riesig aufgerissen, der Mund ein erstauntes Oval, bevor er sich im gleißenden Blitzlicht schützend die Arme vor das Gesicht reißt.

So grell die Kamera aufleuchtete, so schnell ist es wieder dämmerig im Raum. Jetzt ist es an Anna zu lachen, während die Polaroid seltsame Geräusche von sich gibt. Arthur tritt vor und nimmt ihr das Gerät aus der Hand:

„Cool. So ein Ding hatten wir in den Achtzigern, weißt du noch? Ob da ein Film drin ... Hoppla!“ Gerade noch kann er das Polaroidfoto auffangen, dass aus dem Gehäuse gespuckt wird.

Die Geschwister starren gebannt auf das sich entwickelnde Bild. Die schwarze Oberfläche wechselt zu dunkelgrau, dann milchig weiß. Erste Konturen schälen sich heraus, Arthurs blauer Mantel ist erkennen, ein Dachbalken.

„Ist hinüber.“

Arthur wedelt mit dem Bild, gibt es dann Anna in die Hand. Sie betrachtet es kritisch.

Eigentlich zeigt es alles, was es soll. Nur Arthurs Gesicht ist völlig verwaschen, als hätte man die Farbe aufgelöst und mit dem Daumen darüber gewischt. Wahrscheinlich, weil er sich im Moment der Aufnahme bewegt hat.

„Nee, bleibt mal still stehen. Die funktioniert!“

Arthur verdreht die Augen: „Was willste denn mit dem Mist? Das ist nun wirklich nichts wert!“

„Ja, aber daran habe ich nun mal jetzt Spaß. Mach schon, steh‘ mal still!“

Seiner Schwester zuliebe wirft Arthur sich in Pose. Neckisch stemmt er eine Hand in die Hüfte, stellt einen Fuß nach vorne. Sein dicker Winterstiefel hinterläßt einen schwarzen Streifen aus dem Holzboden. Jetzt lächelt er seinen Millionen-Dollar-Lächeln, das jede Frau in die Knie zwingt.

Anna drückt den Auslöser. Grell erhellt das Blitzlicht die Szenerie.

Arthur tritt neben Anna, gespannt warten beide auf die Entwicklung.

Surrr, pfffrrzzz, schniiiiirt: Das Foto fällt aus dem Schlitz. Diesmal hält Anna es fest.

„Sag ich doch: Hinüber.“

Nach einem raschen Blick auf das erneut verwischte Foto läßt Arthur es einfach fallen und tritt an einen mannshohen Schrank. Mit einem schauerlichen Quietschen öffnet er eine der Türen. Er ist mit vergilbter Wäsche gefüllt.

Anna hebt das Foto auf.

Das Gehäuse hat einen Sprung, es fällt irgendwo Licht ein. Deshalb sind die Fotos so komisch, beruhigt sie sich selbst, kann aber nicht verhindern, dass ihre Hand, die das Foto hält, leicht zittert. Irgendwas an der Art der Polaroids, die Schärfe der Aufnahme, unterbrochen von dem verwischten Gesicht, läßt sie erschauern. Wenn man intensiv hinsieht, schaut es fast aus, als läge ein anderes Gesicht über dem ihres Bruders.

„Arthur?“, Anna dreht sich zu ihrem Bruder, dessen Oberkörper im Schrank verschwunden ist. Alte Laken und Tischdecken flattern wie Flügel über den Boden.

„Ja?“, tönt es dumpf. Ein Klopfen ertönt, offenbar untersucht Arthur das Schrankinnere nach geheimen Verstecken im Holz.

Anna will ihrem Bruder ihr Unbehagen mitteilen, will ihm begreiflich machen, dass hier ... etwas nicht stimmt. Sie tritt hinter ihn, will ihn an der Schulter fassen und aus dem Schrank ziehen.

Ein lautes Rums! ertönt an der Außenwand des Gebäudes, die Geschwister fahren dermaßen zusammen, dass Arthur sich den Kopf an einem Brett stößt und fluchend, die Haare voller Staub und Schmutz, sich die Stirn reibend aus dem Schrank auftaucht. Anna steht wie erstarrt, das Polaroid in der Hand.

„Was war das?“, ihre Stimme ist nur ein ängstlicher Hauch.

Arthur hingegen ist kein bisschen beunruhigt.

„Rate mal: Schneeball an Hauswand? Freche Kinder?“

Anna schüttelt langsam den Kopf.

„Die Kinder sind doch viel zu weit weg. Was sollten sie hier?“

Arthur verdreht die Augen und seufzt:

„Du warst schon immer eine Schissbuchse, Schwesterherz.“

Mit diesen Worten klopft er sich die Kleidung ab, fährt sich durch die Haare, was einen Niesreiz bei beiden auslöst, und begibt sich an die Fensterluke. Auf Zehenspitzen versucht er, hindurch zu sehen. Doch das Fenster ist zu hoch, außerdem wird es draußen dunkel. Anna angelt ihr Smartphone aus der Tasche ihrer Jeans. 16.49 Uhr.

„Sehe nix. Aber das war definitiv ein Schneeball. Alternativ bricht die Bude jetzt zusammen. Wäre mir auch egal.“

In Arthurs Stimme hat sich Resignation geschlichen. Langsam sickert die Erkenntnis, dass hier nichts zu holen ist, auch in sein Bewußtsein.

„Gehen wir?“, fragt Anna hoffnungsvoll. Arthur nickt:

„Lass uns diesen Notar im neuen Jahr kontaktieren. Wir verkaufen das Haus und hoffen das Beste.“

„Dann los, ich erfriere gleich.“

Anna zieht sich Schal und Mütze an, die sie beim Betreten des Dachbodens auf einen freien Stuhl gelegt hatte. Arthur nimmt seinen ledernen Aktenkoffer an sich. Schal und Mütze würde er niemals tragen. Lieber cool sein und frieren. Dazu passten auch seine Wildleder-Stiefeletten.

„Hast du die Luke zu gemacht?“

Arthur bückt sich und zieht an dem Ring an der im Boden eingelassenen Eingangstür.

„Nein? Wieso sollte ich?“

Anna macht einen Schritt auf Arthur zu, der am Boden kniet und weiterhin an dem verrosteten Eisenring zieht. Nichts regt sich.

„Ich kriege das Mistding nicht auf!“, flucht er. Anna kniet sich ebenfalls hin. Mit vereinten Kräften ziehen sie, doch die Luke bleibt verschlossen.

„Das kann ja wohl nicht wahr sein! Wie ist die denn zu gegangen?!“

Anna weiß keine Antwort. Ihr ist flau im Magen, aber nach der Anstrengung des Ziehens wenigstens nicht mehr kalt. Im Gegenteil: Der Schweiß bricht ihr unter den Achseln aus.

„Was machen wir jetzt?“, fragt sie und fühlt sich wieder hilflos wie früher, wenn sie Rat bei ihrem großen, klugen Bruder suchte. Statt einer Antwort sieht sich Arthur um.

„Das Teil ist sicher völlig verzogen. Wir brauchen was, um es aufzustemmen.“

Die Glühbirne flackert. Erlischt und lässt die Geschwister in totaler Schwärze zurück. Anna entfährt ein Schluchzen.

„Verdammte Scheiße, das auch noch, wo ...“, ereifert sich Arthur, doch in diesem Moment erwacht die Birne mit einem Flackern wieder zum Leben.

Anna sieht Arthur mit tellergroßen Augen panisch an. Er lacht:

„Entspann‘ dich mal. Zur Not habe ich eine Taschenlampe im Smartphone.“

Er beginnt, systematisch den Raum abzugehen und kommt nach wenigen Sekunden mit einem langen Holzstiel wieder. An dessen oberen Ende ist ein Metallhaken befestigt.

„Was ist das?“, fragt Anna, Arthur zuckt die Schultern:

„Keine Ahnung, egal, Aber das sollte funktionieren.“

Er schiebt den Haken in den Spalt zwischen Luke und Bodendielen, wackelt etwas hin und her, bis er meint, genug Halt zu haben und drückt dann den Stiel nach unten. Er biegt sich gefährlich durch, morsches Holz knackt. Anna sieht das Unglück kommen, kann aber nicht einschreiten - es geht zu schnell:

Der Stiel bricht mit einem garstigen Splittern, Arthur taumelt zurück und schreit vor Schmerz auf. Scharf zieht er die Luft durch die Zähne, versucht sich zu beruhigen und drückt gleichzeitig mit der Hand den Riss in seinem Ärmel und die darunter klaffende Wunde an seinem Arm ab. Blut quillt durch seine Finger, tropft auf den Boden.

„Oh Gott,“, Anna springt zu ihrem Bruder, „lass‘ mal sehen!“

Behutsam windet sie Arthurs Finger von seinem Unterarm und schiebt den Ärmel nach oben. Als Altenpflegerin kann sie Wunden ganz gut einschätzen. Aus ihrer Handtasche fischt sie eine frische Packung Taschentücher und wischt das Blut weg, so gut es geht. Ein hässlicher, tiefer Schnitt kommt zum Vorschein. Der zum Glück die Pulsadern knapp verfehlt.

„Das muss genäht werden.“ Anna drückt vier Tempos auf die Wunde und legt Arthurs Hand wieder fest darüber.

„Drück drauf, ich hole jetzt die Polizei oder Feuerwehr!“

Arthur nickt. Er ist blass, aber gefasst. Man sieht ihm den Schock und die Schmerzen an. Anna wirft einen letzten Blick auf die Dachbodenluke, zieht noch einmal prüfend an dem Metallring. Nichts. Sie sitzt genauso fest wie vorher.

Sie zückt ihr Smartphone. Vier Anrufe in Abwesenheit.

„Mama hat zurück gerufen“, teilt sie ihrem Bruder mit. „Sie ist wohl wieder erreichbar.“

In diesem Moment vibriert Annas Smartphone.

„Das ist sie nochmal“, sagt sie und nimmt das Gespräch an.

„Mama? Hallo?“

Die Leitung rauscht und knackt, Anna nimmt das Telefon kurz vom Ohr und checkt den Empfang. Ein einzelner Balken. Das stand in dieser Einöde zu erwarten.

„Mama? Hörst du mich?“

„Anna! ... geht’s .. meine Süße?“

Abgehackt, aber erkennbar fit und fröhlich erklingt die Stimme ihrer Mutter aus dem Handy. Sofort wird Anna etwas wohler.

„Mama, ich höre dich ganz schlecht, warte mal kurz ...“

Anna steht auf und bewegt sich auf das runde Fenster zu. Sie checkt dem Empfang, immerhin zwei Balken. Sie stellt auf Lautsprecher.

„Hörst du mich jetzt besser?“

„Ja, klar und deutlich! Wo steckst du denn?“, will ihre Mutter wissen, „Wir hatten hier wieder kein Telefon. Aber das sind wir ja gewohnt.“ Ihr ansteckendes Lachen erklingt aus tausenden Kilometern Entfernung.

„Mama, wir sind im Haus von Tante Margot. Also Arthur und ich.“

Verwirrtes Schweigen, dann erneut ein Störgeräusch.

„Tante ... Wer?“

„Tante Margot, Mama. Sie ist gestorben, weißt du das nicht?“ Anna wirft einen Blick auf Arthur, er kauert immer noch am Boden, sieht sie aber wach an. Er will spöttisch eine Augenbraue heben, doch seine Miene kann seinen Schmerz nicht verbergen.

Jetzt hört sich das Schweigen am anderen Ende der Leitung konsterniert an. Annas Blick gleitet von Arthur weg, hinaus zu dem Fensterchen. Draußen ist es jetzt dunkel, einzelne Schneegriesel wehen gegen das Glas. Anna zittert, am Fenster ungeschützt der kalten Luft ausgesetzt. Sie macht einen Schritt ins Dachbodeninnere, sofort wird der Empfang wieder schlechter, das Rauschen lauter.

„Kind, du verwirrst mich. Wo seid ihr genau?“

„Mama, wir sind im Harz, in Tante Margots altem Haus.“, ruft Arthur. Er ist sichtbar genervt, scheint wirklich fiese Schmerzen zu haben.

Ich sollte mich kurz fassen, denkt Anna, da spricht ihre Mutter weiter:

„Im Harz? Tante Margot? ... Ach, jetzt verstehe ich: Ich beiden Schlitzohren veräppelt eine arme alte Frau mal wieder.“ Wieder das warme Lachen.

„Mach Schluss, sie rafft das jetzt nicht und mein Arm tut verflucht weh“, sagt Arthur, an Anna gewandt.

„Mama, ich muss jetzt Schluss machen, Arthur hat sich verletzt und wir sitzen hier auf ihrem Dachboden fest.“

„Verletzt? ... gar ... lustig, Liebes. Was ... denn das? Ich kenne keine Tante Margot.“

Die Schneegriesel trommeln jetzt gegen das Fenster, dennoch tritt Anna wieder näher heran, um die Verbindung zu ihrer Mutter nicht zu verlieren. Dabei stolpert sie über die am Boden liegende Polaroidkamera. Ihr Stiefel scheint den Auslöser getroffen zu haben, das Blitzlicht erhellt den Raum, der Auswurfschacht surrt. Anna schenkt dem keine Beachtung.

„Mama? Hörst du mich noch?“

Nichts, nicht mal mehr das Rauschen. Kein Knacken, Stille.

„Mama?“

Resigniert drückt Anna das Gespräch weg.

„Der Empfang ist zu schlecht.“

Arthur nickt. „Trotzdem merkwürdig, wieso wußte sie nicht, von wem wir sprechen?“

Anna sieht ihm in die Augen, glaubt jetzt auch einen Funken Beunruhigung zu sehen.

„Ich kann mir das nicht erklären. Egal, ich rufe jetzt Hilfe.“

Das Smartphone zeigt kein Netz, nur ein Notruf ist möglich. Anna drückt den Knopf und lauscht.

Nichts.

„Das kann doch nicht sein. Das muss doch immer funktionieren?!“ Sie kann nicht verhindern, dass sich Panik in ihre Stimme schleicht.

„Probier‘ es nochmal.“, bittet Arthur, schließt die Augen und schluckt krampfhaft. Seine provisorische Binde ist blutgetränkt. Anna wendet sich zu ihrer Handtasche und holt das letzte Päckchen Tempos hervor. Dabei greift sie nach dem Polaroidbild, das die Kamera auf den Boden gespuckt hat. Beim Anblick des Bildes vergisst sie die Taschentücher in ihrer Hand und ihr Vorhaben, ihren Bruder neu zu verbinden.

„Was ist denn?“, fragt Arthur, seine Stimme klingt matt.

Anna öffnet den Mund, weiß aber nicht recht, was sie sagen soll. Hektisch dreht sie sich in plötzlicher Erkenntnis um, schaut hinter Arthur in den Raum. Außer den Schatten der Möbel und Kisten ist dort nichts.

Sie gibt Arthur das Foto.