Downfall - David Baldacci - E-Book

Downfall E-Book

David Baldacci

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Beschreibung

In dieser Stadt ist niemand sicher

Etwas ist faul in Baronville, Pennsylvania. Die alte Industriestadt scheint dem Untergang geweiht: Die Zahl der Drogentoten steigt beängstigend schnell und eine bizarre Mordserie stellt FBI-Sonderermittler Amos Decker und seine Kollegin Alex Jamison vor Rätsel. Eigentlich kann sich Decker, der nach einem Unfall vor vielen Jahren nichts vergisst, auf seine einzigartigen Fähigkeiten verlassen. Doch bei diesem Fall stößt der Memory Man an seine Grenzen. Jemand will nicht nur Decker, sondern auch die Menschen, die ihm nahestehen, aus dem Weg räumen. Denn die brutalen Morde ziehen weite Kreise—und in dieser Stadt ist nichts, wie es scheint.

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Seitenzahl: 578

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Das Buch

Der Memory Man Amos Decker soll endlich Urlaub machen. Als er sich bereit erklärt, die Familie seiner FBI-Kollegin Alex Jamison im tiefsten Pennsylvania zu besuchen, ahnt er nicht, was für ein Alptraum ihn erwartet. Jamisons Schwester Amber lebt mit Mann und Tochter in Baronville, einer sterbenden Industriestadt, die von der Opioid-Krise hart getroffen wurde: Läden und Häuser stehen leer, das Geschäft mit Schmerzmitteln und Drogen boomt. Die Einwohner richten ihren Hass auf die ehemals reichste Familie und auf deren letzten Spross, John Baron, dessen Großvater sich auf Kosten der Stadt bereichert hatte. Schon am ersten Abend überschlagen sich die Ereignisse: Im Nachbarhaus entdeckt Decker zwei bizarr drapierte Leichen – die neuesten Opfer in einer Reihe von Doppelmorden. Auf den ersten Blick haben die Mordopfer nichts gemeinsam. Was für ein Geheimnis verbirgt sich hinter der Fassade dieser Kleinstadt? Und welche Rolle spielt die Familie Baron? Dann wird Jamisons Familie plötzlich auf tragische Weise in den Fall verwickelt. Decker, der nach einem Anschlag sein unfehlbares Gedächtnis verliert, steht vor einer sehr persönlichen und scheinbar unlösbaren Aufgabe.

Der Autor

David Baldacci, geboren 1960 in Virginia, arbeitete lange Jahre als Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist in Washington, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sämtliche Thriller von ihm landeten auf der »New York Times«-Bestsellerliste. Mit über 150 Millionen verkauften Büchern in 80 Ländern zählt er zu den beliebtesten Autoren weltweit. »Downfall« ist nach »Memory Man«, »Last Mile« und »Exekution« der vierte Band seiner Bestsellerserie.

DAVID BALDACCI

DOWNFALL

THRILLER

Ins Deutsche übertragen von Uwe Anton

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Fallen bei Grand Central

Publishing/Hachette Book Group Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2018 by Columbus Rose, Ltd.

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Wolfgang Neuhaus

Herstellung: Mariam En Nazer

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-24489-7V002

www.heyne.de

Für Cindi und John Harkes

Wir können uns glücklich schätzen, euch als Freunde zu haben.

VERTRAULICH

FBI: AGENTENPROFIL

Name: Amos Decker

Alter: Anfang vierzig, auch wenn er gut und gerne zehn Jahre älter aussieht (und sich mindestens hundert Jahre älter fühlt)

Geburtsort: Burlington, Ohio

Familienstand: Verwitwet, nachdem Frau und Tochter auf bestialische Weise ermordet wurden

Äußere Merkmale: Eins fünfundneunzig groß. Gewicht drei bis dreieinhalb Zentner – je nach den Mengen, die er in sich hineinstopft. Footballverteidiger in seiner College-Auswahlmannschaft, dann kurze Profikarriere in der NFL, wo ein verheerender Zusammenprall mit einem Gegenspieler Deckers Gehirn physisch so stark veränderte, dass er seit dieser Zeit ein nahezu perfektes Erinnerungsvermögen besitzt.

Angehörige: Cassandra Decker (Ehefrau), Molly Decker (Tochter), Johnny Sacks (Schwager). Decker fand alle drei ermordet in seinem Haus vor.

Beruflicher Werdegang: Footballstar auf dem College, anschließend Verteidiger bei den Cleveland Browns in der NFL, wo er seine spätere Frau Cassie kennenlernte. Strebte eine Karriere als Footballprofi an, musste sie aber wegen des schweren Unfalls, der zu dem dauerhaften Hirnschaden führte, nach kurzer Zeit beenden. Stattdessen arbeitete Decker als Polizist, später als Privatdetektiv. Derzeit ist er Special Agent beim FBI.

Besondere Fähigkeiten: Aufgrund der Sportverletzung verfügt Decker über außergewöhnliche geistige Fähigkeiten. Offenbar wurden bei dem Zusammenprall Bereiche in Deckers Gehirn aktiviert, über die zwar jeder Mensch verfügt, die aber kaum genutzt werden, weil sie den allermeisten verschlossen bleiben. Vereinfacht gesagt, kam es durch den Zusammenprall zur gewaltsamen Verschmelzung sensorischer Nervenbahnen in Deckers Gehirn mit dem Ergebnis, dass er seitdem über ein fotografisches Gedächtnis verfügt – eine Gabe, die als »Hyperthymesie« bekannt ist. Darüber hinaus besitzt er die Fähigkeit, bestimmte Farben mit Zahlen, Orten, Gegenständen und Emotionen in Verbindung zu bringen – ein Phänomen, das man als »Synästhesie« bezeichnet. Zudem verfügt er über außergewöhnliche Schnelligkeit und Kondition für einen Mann seiner Körpergröße.

Lieblingsfilm:Die üblichen Verdächtigen. (Dank seiner außergewöhnlichen Geistesgaben wusste Decker nach kürzester Zeit, wer sich hinter dem Namen Keyser Söze verbirgt.)

Lieblingslied: »I Will Remember You« von Sarah McLachlan, dicht gefolgt von »Thanks for the Memory« von Frank Sinatra.

Abneigungen: Er mag es nicht, angefasst zu werden. Er steht nicht auf Witze, weil er seit dem Unfall Schwierigkeiten hat, die Pointe zu begreifen. Außerdem hasst er Leute, die seine Zeit verschwenden – wozu offenbar die meisten Menschen gehören, denen er begegnet. Und wegen der Gefahr von Kopfverletzungen steht er nicht mehr auf Sport.

Vorlieben: Die Wahrheit. Riesenportionen auf dem Teller. Beinfreiheit in Fahrzeugen.

1

Wer hat euch getötet?

Oder vielmehr, wer hat euch ermordet?

Das war schließlich ein gravierender Unterschied.

Amos Decker stand auf der Veranda des Hauses, in dem er und seine FBI-Kollegin Alex Jamison während des Besuchs bei Alex’ Schwester wohnten. Mit zwei Fingern hielt er den Hals seiner dritten Flasche Bier an diesem Abend fest, während er über die Frage nachgrübelte, wo Totschlag aufhört und Mord anfängt – ein Problem, mit dem sich die meisten Menschen kaum beschäftigten, weil sie keinen Grund dazu hatten. Bei Decker jedoch standen präzise Antworten auf diese Fragen im Mittelpunkt seines Berufslebens, dem so ziemlich einzigen Leben, das ihm noch geblieben war.

Er wusste, dass es um winzige Nuancen ging, was die Sache komplizierter machte, als manche Leute glaubten, denn juristisch gesehen konnte man einen Menschen umbringen, ohne einen Mord zu begehen.

Der Unfalltod, zum Beispiel, ist so ein Fall: Zwei Autos stoßen zusammen, ohne dass einer der Fahrer beabsichtigt, den anderen zu töten. Oder jemand lässt eine Waffe fallen, wobei sich ein Schuss löst, der einen Unbeteiligten ins Jenseits befördert.

Ähnlich ist es bei der Sterbehilfe: Ein Todkranker, der leidet, will seinem Leben ein Ende setzen, und jemand hilft ihm dabei. Zwar ist dieser Tod beabsichtigt, aber da es der Wille des Verstorbenen war, sein Leben zu beenden, liegt auch hier juristisch gesehen kein Mord vor. Gleiches gilt bei einem eindeutigen Fall von Notwehr: Selbst wenn der Angegriffene die Absicht hat, seinem Angreifer körperlichen Schaden zuzufügen, besagt das Gesetz, dass jeder das Recht hat, sich zu verteidigen.

Was uns zeigt, überlegte Decker und trank einen weiteren Schluck Bier, wie schwierig die Abgrenzung ist.

Aus juristischer Sicht gab es verschiedene Abstufungen von Mord. Deshalb wurde im amerikanischen Rechtssystem zwischen Mord ersten Grades, Mord zweiten Grades und Totschlag unterschieden.

Als Totschlag gilt eine Tötung im Affekt, wenn dem Täter bewusst ist, dass seine Handlung den Tod des Opfers nach sich ziehen kann, ohne dass er auf eine Tötung abzielt.

Mord zweiten Grades, ein naher Verwandter des Totschlags im Affekt, ist juristisch gesehen zwar ein »vollwertiger« Mord und wird mit entsprechend hohen Strafen belegt, jedoch liegen in der Regel keine Heimtücke, besondere Grausamkeit oder böswillige Absicht des Täters vor.

Ganz anders bei Mord ersten Grades. Hier sind Vorsatz und böswillige Absicht im Spiel. Der Täter will sein Opfer tot sehen. Meist schmiedet er vor der Tat einen Plan – gewissenlos und heimtückisch. Folglich hat ein Mord ersten Grades die schwerwiegendsten juristischen Konsequenzen.

Decker hatte fast sein gesamtes Berufsleben damit verbracht, gewissenlose Mörder zu jagen.

Die Jagd auf Killer, überlegte er und trank einen weiteren Schluck Bier, ist so ziemlich das Einzige, auf das ich mich ganz gut verstehe.

Er blickte in den Nachthimmel über Baronville, Ort im nordwestlichen Pennsylvania an der Grenze zu Ohio. Einst war Baronville eine blühende Bergbaustadt gewesen, die ihren Namen – und ihre Existenz – den Barons verdankte, den Gründern der Minen und Fabriken. Aber diese Wirtschaftsmotoren gab es schon lange nicht mehr, und die Überreste waren wenig beeindruckend. Dennoch schienen die Leute in Baronville zurechtzukommen, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg.

Drinnen im Haus trank Alex Jamison ein Glas Weißwein mit ihrer älteren Schwester Amber und unterhielt sich mit ihrer Nichte Zoe, einem aufgeweckten Mädchen, das bald seinen sechsten Geburtstag feiern würde.

Decker nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und starrte auf seine Füße, die in Schuhen der Größe achtundvierzig steckten.

Er und Alex Jamison hatten ein paar Tage Urlaub von ihrer FBI-Sondereinheit in Washington. Decker hatte seine Kollegin eigentlich nicht begleiten wollen, doch ihr Boss, Special Agent Bogart, hatte darauf bestanden, dass Decker ein paar Tage ausspannte. Als Jamison ihm den Vorschlag gemacht hatte, sie beim Besuch ihrer Schwester zu begleiten, zögerte er nicht lange.

Klar, warum nicht. Ich habe eh nichts Besseres vor.

Und nun war er hier.

Bei ihrer Ankunft hatte Jamison ihm Amber und Zoe vorgestellt; man hatte sich umarmt, Nettigkeiten ausgetauscht und dann die Taschen ausgepackt. Alex hatte ihrer Schwester und der kleinen Nichte Geschenke zum Einzug überreicht, denn die Familie war erst kürzlich hierhergezogen. Im Grunde war es ein angenehmes Arrangement, doch schon beim Abendessen hatte Decker nicht mehr gewusst, was er sagen sollte oder welche Themen für die anderen interessant gewesen wären. Alex, die Decker vermutlich besser kannte als sonst jemand, hatte ihm diskret vorgeschlagen, er solle sein Bier und sein Unbehagen mit nach draußen nehmen, damit sie und ihre Schwester sich in Ruhe unterhalten konnten, zumal es Dinge zu bereden gab, die nur die Frauen etwas angingen.

Decker verzog sich. Er wusste auch so, dass er sich in Gesellschaft anderer oft unbeholfen aufführte, seitdem die Hirnverletzung einen Eigenbrötler aus ihm gemacht hatte. In früheren Zeiten hatte es ganz anders ausgesehen. Damals war der Ex-Footballprofi ein gutmütiger Riese gewesen, gesellig, humorvoll, vielleicht sogar ein bisschen albern – ein Mann, der das Leben liebte.

Bis der Unfall passiert war und Decker auf dem Footballplatz einen unvorhersehbaren, brutalen Schlag gegen den Kopf abbekommen hatte, der sein Leben und seine Persönlichkeit für alle Zeiten veränderte. Die Hirnverletzung hätte ihn beinahe umgebracht. Zwar war er mit dem Leben davongekommen, doch sein Gehirn hatte sich auf dramatische Weise verändert. Die Wucht des Aufpralls hatte Myriaden von Nervenbahnen auf gewaltsame Weise neu verknüpft und Decker die Gabe der »Hyperthymesie« beschert, was nichts anderes bedeutete als ein perfektes Gedächtnis. In Deckers Fall war es so, als hätte ihm jemand eine Minikamera mit unbegrenzter Aufnahmekapazität in den Schädel implantiert. Er wurde zum Memory Man, der nichts und niemanden vergessen konnte. Ein zweischneidiges Schwert, wie Decker rasch erkennen musste.

Eine ebenso tief greifende Veränderung war die Synästhesie, ein Phänomen, das sich darin äußert, dass der Betroffene Zahlen, Personen, Ereignisse, sogar Empfindungen mit bestimmten Farben verknüpft. Das Sterben und den Tod beispielsweise nahm Decker in einem metallischen Blaugrün wahr, stets verbunden mit einem Gefühl der Panik und heftiger Übelkeit.

Der schreckliche Sportunfall hatte Deckers Persönlichkeit grundlegend verändert. Der gesellige Mann von einst war für immer verschwunden. An seiner Stelle gab es nun …

Mich.

Natürlich war es auch mit Deckers Footballkarriere vorbei gewesen. Er war in seiner Heimatstadt Burlington, Ohio, zur Polizei gegangen, hatte zuerst als Cop, dann als Detective der Mordkommission gearbeitet und eine Familie gegründet. Voller Wehmut dachte er an Cassandra – »Cassie«, wie er sie genannt hatte –, seine wundervolle Frau, und ihrer beider Tochter Molly, damals neun Jahre alt, voller Leben und Liebe.

Tot. Beide. Auf brutale Weise abgeschlachtet.

Deckers Augen brannten.

Wer hat euch getötet?

Wer hat euch ermordet?

Decker hatte damals herausgefunden, wer ihm die Familie geraubt hatte. Der Betreffende hatte den höchsten Preis dafür gezahlt.

Aber das war nichts im Vergleich zu dem Preis, den Decker zahlen musste und bis zu seinem letzten Atemzug zahlen würde.

»Tante Alex sagte, du hast ein Gedächtnis wie ein Elefant.«

Decker riss sich aus seinen düsteren Gedanken los und konzentrierte sich auf die Person, die zu ihm gesprochen hatte.

Zoe Mitchell stand auf der Holzveranda an der Rückseite des Hauses und musterte ihn neugierig. Das Mädchen mit den blonden Zöpfen trug eine pinkfarbene Bluse mit langen Ärmeln und Blumenmuster. Die weißen Shorts enthüllten die Grübchen an den Knien.

»Na ja«, sagte Decker. »Mein Gedächtnis ist ganz gut.«

Zoe hielt ein Blatt Papier in die Höhe, auf dem ein Dutzend lange Zahlenreihen standen, und drückte es Decker in die Hand.

»Kannst du dir die Zahlen merken?«, fragte sie erwartungsvoll.

Decker warf einen kurzen Blick auf die Zahlenreihen und gab dem Mädchen den Zettel zurück.

»Das bedeutet wohl, du kannst es nicht.« Die Enttäuschung war auf Zoes sommersprossigem Gesicht deutlich abzulesen.

»Im Gegenteil. Es bedeutet, dass ich es mir bereits gemerkt habe.« Decker, der die Zahlenkolonnen so klar und deutlich vor dem inneren Auge sah, als hätte er ein Foto vor sich, rasselte die Zahlen in exakt der Reihenfolge hinunter, wie sie auf dem Zettel standen.

»Wow.« Das Mädchen strahlte. »Cool!«

»Findest du?«

Zoes hellblaue Augen weiteten sich. »Du nicht?«

Decker stützte sich auf die Brüstung und trank sein Bier, während das Mädchen ihn betrachtete.

»Tante Alex sagt, du fängst böse Leute.«

Decker nickte. »Ja. Wir beide zusammen. Deine Tante hat einen guten Instinkt.«

Seine Antwort schien Zoe zu verwirren.

Er erklärte es ihr. »Sie versteht es sehr gut, fremde Leute zu beurteilen. Und sie sieht Dinge, die andere übersehen.«

»Sie ist meine Lieblingstante.«

»Wie viele Tanten hast du denn?«

Zoe seufzte. »Eine Menge. Aber keine von denen ist so cool wie Tante Alex.« Ihre Miene hellte sich auf. »Sie ist gekommen, weil ich bald Geburtstag habe. Ich werde sechs.«

»Ich weiß. Alex hat mir erzählt, dass wir dann alle zusammen essen gehen.«

Decker ließ unbehaglich den Blick schweifen, während Zoe ihn aufmerksam musterte.

»Du bist unheimlich groß«, bemerkte sie.

»Das höre ich nicht zum ersten Mal.«

»Du lässt nicht zu, dass die bösen Leute Tante Alex etwas tun, oder?« Plötzlich klang sie besorgt.

Decker hatte einen weiteren Schluck nehmen wollen; nun setzte er die Flasche langsam ab. »Ich verspreche es dir. Ich werde alles tun, dass es nie so weit kommt«, fügte er ein wenig lahm hinzu.

In der Ferne grollte leiser Donner.

»Ein Unwetter zieht auf«, bemerkte Decker, der dringend das Thema wechseln wollte.

Zoes unschuldiger Blick ruhte noch immer auf ihm.

Decker schaute weg, während der nächste Donnerschlag über den Himmel rollte. Es war eines jener heftigen Gewitter, die den Übergang zum Herbst begleiteten. Der Sommer war endgültig vorbei.

»Es kommt näher«, sagte Decker leise, mehr zu sich selbst als zu Zoe.

Er blickte zum Hinterhof des Nachbarhauses. Alles sah fast genauso aus wie hier. Die gleiche Aufteilung, die gleiche Holzveranda auf der Rückseite, der gleiche Hof. Der gleiche Ahornbaum mitten im verdorrten Gras.

Einen Unterschied aber gab es.

Das Licht im Haus flackerte plötzlich. Es flammte auf, erlosch wieder. An, aus. Und noch einmal.

Decker schaute zum Himmel. Trotz des Donnergrollens waren noch keine Blitze zu sehen. Zumindest entdeckte er keine. Außerdem war die Temperatur gefallen, sodass sich Nebel bildete, der den Himmel und die düsteren Wolken noch mehr verhüllte.

Einen Augenblick später sah er hoch über sich den Widerschein von ein paar roten Lichtern, die dicht unter den Wolken dahinjagten. Das Flugzeug konnte er nicht ausmachen, aber zweifellos versuchte der Pilot, dem aufziehenden Unwetter zu entkommen.

Decker richtete den Blick wieder auf das Haus gegenüber. Erneut sah er, wie die Lichter erloschen, um sofort wieder aufzuflammen, beinahe wie ein Morsecode. Möglicherweise lag es an der hohen Luftfeuchtigkeit. Feuchte Leitungen konnten ein solches Flackern zur Folge haben.

Irgendwo ertönte ein Geräusch. Dann noch einmal. Und noch einmal. Jedes Mal war es der gleiche Laut, der sich ständig wiederholte. Es hörte sich an wie ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem schleifenden Geräusch.

Dann sprang ein Automotor an. Das Fahrzeug musste auf der Straße vor dem Nachbarhaus stehen. Wie es aussah, würde der Wagen direkt in das heraufziehende Unwetter fahren.

Augenblicke später zuckte der erste Blitz über den Himmel – so nah, dass es den Eindruck erweckte, er würde unmittelbar zu Deckers Füßen einschlagen. Wieder ein Donnerschlag, diesmal viel lauter als zuvor. Der Himmel wurde immer dunkler und bedrohlicher. Der Wind frischte auf, jagte die Gewitterfront jetzt vor sich her.

»Wir sollten lieber reingehen«, meinte Zoe unruhig. »Mommy sagt, dass mehr Leute vom Blitz getroffen werden, als man glaubt.«

»Wer wohnt in dem Haus da drüben?« Decker zeigte auf das Nachbargrundstück.

Das Mädchen hatte bereits die Hand am Türknauf. »Weiß ich nicht.«

Decker nickte bloß, schaute weiterhin auf das Haus gegenüber.

In diesem Moment glühte hinter einem der Fenster ein Lichtfunke auf. Decker vermochte nicht zu sagen, ob es eine Lampe gewesen war, deren Schein sich auf der Fensterscheibe gespiegelt hatte, oder ob die Ursache nicht so harmlos war und möglicherweise eine Gefahr darstellte.

Er musste es herausfinden.

Decker stellte die Bierflasche ab und eilte von der Veranda.

»Wo gehst du hin?«, rief Zoe ihm nach. In ihrer Stimme lag ein Hauch von Panik.

»Geh rein, Zoe«, rief Decker über die Schulter. »Ich will nur was nachsehen.«

Dem nächsten Blitz folgte ein so ohrenbetäubender Donner, dass Zoe erschrocken ins Haus flüchtete, während Decker in die andere Richtung rannte und auf das Nachbargebäude zuhielt. Als er den Zaun erreichte, der die beiden Grundstücke trennte, schwang er sich behände darüber, ließ sich in den anderen Hof fallen und rannte über den Rasen zum Gebäude. Dabei fühlte er, wie die Temperatur rasant fiel, als das Unwetter sie endgültig erreicht hatte. Der Sturm wurde immer wütender, drosch wie mit unsichtbaren Fäusten auf Decker ein. Doch er war im Mittleren Westen aufgewachsen und kannte die gefährlichen Wetterumschwünge, die sich im Ohio Valley austobten und alles verschlingende Tornados heraufbeschworen. Deshalb wusste er, dass als Nächstes ein Wolkenbruch kommen würde.

Er erreichte die Veranda und rannte die Stufen hinauf. Die ganze Zeit hatte er keinen Blick zurück zu Ambers Haus geworfen, deshalb bemerkte er nicht, dass Alex auf die Veranda trat und nach ihm Ausschau hielt.

Decker erreichte das Fenster, an dem er die Lichtspiegelung gesehen hatte.

In diesem Moment stieg ihm der Gestank verschmorten Kabels in die Nase.

Decker sah seinen Verdacht bestätigt. Irgendwo im Innern des Hauses waren elektrische Leitungen mit Flüssigkeit in Berührung gekommen. Er hatte mehr als einen Mordfall untersucht, bei dem Brandstiftung im Spiel gewesen war. Der Geruch war unverkennbar.

Im Haus brannte es.

Er drückte die Nase gegen die Scheibe und spähte ins Zimmer dahinter. Elektrobrände breiteten sich oft mit rasender Geschwindigkeit aus, meist hinter den Wänden, wo sie schnell und unbemerkt große Flächen erfassten, bis es zu spät war.

Sekunden später sah Decker seine Befürchtungen bestätigt. Im Innern des Hauses flackerten Flammen. Rauch stieg auf.

Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel, der die gesamte Umgebung aus der Düsternis riss – genau in dem Moment, als Decker nach rechts schaute.

Was er im flackernden Licht des Blitzes sah, ließ ihn erstarren. Im nächsten Augenblick schüttelte er die Lähmung ab und rannte zur Hintertür. Ohne zu zögern, warf er sich mit der Schulter dagegen, wie er es bei vielen Footballmatches getan hatte, um den gegnerischen Block zu durchbrechen. Die morsche Tür gab beim Ansturm von mehr als drei Zentnern nach und flog krachend nach innen.

Mittlerweile tobte das Unwetter genau über den Häusern. Deshalb konnte Decker nicht hören, dass Jamison von der Veranda aus nach ihm rief. Obwohl sie keine Schuhe trug, rannte sie kurz entschlossen zu ihm, wobei die Regenmassen, die der Sturm vor sich her peitschte, sie bis auf die Haut durchnässten. Das Unwetter ließ eine wahre Sintflut über den westlichen Rand des Keystone State niedergehen. Jamison war klatschnass, bevor sie die Hälfte des Weges zum Zaun zurückgelegt hatte.

Decker, der nichts davon bemerkte, drang in die Küche ein und wandte sich nach rechts, die Beretta schussbereit. Jetzt wünschte er sich, nicht so viel Bier getrunken zu haben. Möglicherweise würde er bessere feinmotorische Fähigkeiten brauchen, als er momentan besaß.

Schnell bewegte er sich durch den dunklen Korridor – zu schnell. Er stieß gegen die Wand, und irgendetwas fiel polternd zu Boden.

Ein Bild.

Decker fluchte lautlos, weil er soeben einen möglichen Tatort verunreinigt hatte. Wäre das jemand anderem passiert – er hätte ihn zur Schnecke gemacht, aber jetzt ließ sich nichts mehr daran ändern. Decker hatte ohnehin nicht die leiseste Ahnung, was hier vor sich ging. Vielleicht hatte er nur die Spitze des Eisbergs gesehen.

Vorsichtig drang Decker tiefer ins Haus vor, die Waffe schussbereit. Er gelangte an das Ende des Korridors und spähte um die Ecke, die Pistole im Anschlag.

In diesem Moment wusste er, was das Feuer verursacht hatte.

Das flackernde Licht, das er gesehen hatte.

Deckers Verdacht war richtig gewesen. Offen liegende Leitungen waren mit Flüssigkeit in Berührung gekommen.

Nur dass es kein Wasser gewesen war.

Es war Blut.

2

»Amos?«

Decker drehte sich um und blickte auf seine zitternde, barfüßige Partnerin, die am anderen Ende des Flures stand, den er soeben durchquert hatte.

»Hast du deine Waffe, Alex?«, fragte er und schwankte leicht, als plötzlich eine Woge aus dem stahlblauen Licht des Todes über ihm zusammenschlug. Ihm wurde speiübel.

»Was ist mit dir?«, fragte Jamison besorgt.

Decker winkte sie zu sich.

Jamison bog um die Ecke und sah, was Decker bereits entdeckt hatte.

Abrupt blieb sie stehen. »Himmel!«

Decker nickte. Es passte zu dem, womit sie beide konfrontiert wurden.

Schließlich hing der Tote von der Decke.

Ein Seil war durch einen Haken gezogen, der einst die Lampe gehalten hatte, die nun am Boden lag. Die Schlinge lag um den Hals des Mannes.

So weit fügte sich alles ins Bild.

Nur dass der Tod durch Erhängen in der Regel keinen Blutverlust hervorrief.

Decker ließ den Blick über den Holzfußboden schweifen. Das Blut hatte sich zuerst in einer Pfütze gesammelt und war dann in Richtung Wand geflossen, wo es auf die zerfransten Kupferdrähte einer Stehlampe getroffen war und den Kurzschluss ausgelöst hatte.

Bevor Jamison aufgetaucht war, hatte Decker die Funken ausgetreten, nachdem er den Stecker aus der Steckdose gezogen hatte. Dennoch hatten der Teppich und eine herabhängende Tapetenbahn Feuer gefangen. Mit seiner regennassen Jacke hatte Decker die Flammen an der Wand ausgeschlagen; dann hatte er den Teppich zusammengerollt, um auch die letzte Glut zu ersticken. Augenblicke später hatte Jamison nach ihm gerufen.

Decker musterte den Körper des Mannes von oben bis unten, suchte nach einer Wunde, die das viele Blut erklären konnte. Doch es gab keine.

Egal, sagte er sich. Im Augenblick konnte er es ohnehin nicht überprüfen. Das musste später die Polizei erledigen. Aber etwas anderes konnte nicht warten.

Es war Jamison, die Deckers Gedanken aussprach: »Glaubst du, es ist noch jemand im Haus?«

»Genau das müssen wir herausfinden«, erwiderte Decker leise. »Hast du dein Handy dabei?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Und ich habe hier auch nirgendwo eins gesehen. Okay, geh zurück ins Haus deiner Schwester und ruf die Cops. Ich durchsuche inzwischen die Bude hier.«

»Du musst auf die Cops warten, Decker. Du hast keine Rückendeckung.«

»Jemand hier könnte verletzt sein. Oder der Mörder ist noch im Haus.«

»Besonders die zweite Möglichkeit bereitet mir Sorgen«, meinte Jamison. »Warte auf die Polizei.«

»Ich bin die Polizei«, erwiderte Decker. »Ich bin für so etwas ausgebildet, und ich bin bewaffnet. Und die Chancen stehen gut, dass der Mörder kleiner ist als ich, falls er tatsächlich noch hier ist. Jetzt geh.«

Jamison drehte sich um, lief durch den Korridor zurück zum Ausgang und verschwand draußen im Regen.

Decker durchsuchte das Erdgeschoss. Das Haus verfügte über ein weiteres Stockwerk. Falls es tatsächlich eine exakte Kopie des Hauses von Alex’ Schwester war, gab es hier auch einen Keller.

Decker tastete sich zurück durch den Flur bis zu der Treppe, die nach oben führte. Schwungvoll nahm er zwei Stufen auf einmal. Bei jedem seiner Schritte spürte er, wie sich die Oberschenkelmuskeln spannten. Bevor er damals in Ohio Detective geworden war, hatte er zehn Jahre lang die Uniform eines Cops getragen. Er hatte zahllose Häuser betreten, in denen Menschen gestorben waren. Dabei gab es Vorgehensweisen, an die man sich hielt, um keine Spuren zu verwischen, und sie alle hatten sich Decker ins Hirn gebrannt. Trotzdem war es nicht so, als würde man einfach wieder auf ein Fahrrad steigen – aus einem sehr überzeugenden Grund.

Fahrräder schossen nicht auf einen.

Im Obergeschoss gab es zwei kleine Schlafzimmer mit Wandschränken, getrennt von einem dazwischenliegenden Badezimmer. Decker überprüfte alles, fand aber nichts. Das Haus machte einen verlassenen Eindruck. Vielleicht gab es hier außer dem Toten, der im Erdgeschoss von der Decke baumelte, nichts zu finden.

Decker ging wieder nach unten und machte sich auf die Suche nach der Kellertür.

Oben am Kopf der Treppe war ein Lichtschalter, doch er ließ ihn unangetastet: Im Augenblick war die Dunkelheit sein Freund. Außerdem wusste er nicht, ob der Kurzschluss das Licht im ganzen Haus außer Gefecht gesetzt hatte. Decker setzte sich in Bewegung und belastete kurz jede Stufe, bevor er ihr sein volles Gewicht anvertraute. Trotzdem knarrte es immer wieder, was ihn jedes Mal zusammenzucken ließ. Doch er erreichte den Fuß der Treppe, ohne angegriffen worden zu sein.

Er schaute sich um. Es war ziemlich dunkel; er konnte kaum etwas sehen, aber wie es schien, war der Raum nicht völlig ausgebaut worden. In der Luft hing dieser nasse, modrige Geruch, den man mit Kellern im Rohbau assoziierte.

Vorsichtig bewegte er sich weiter und wäre um ein Haar gestürzt, fing sich aber und zog sich schnell zurück. Decker sah ein, dass er keine Wahl hatte: Es musste das Risiko eingehen, das Licht einzuschalten. Rückwärts stieg er die Treppe hinauf und betätigte den Schalter. Eine Lampe leuchtete auf. Mit ausgestrecktem Arm, die Pistole im Anschlag, bewegte Decker sich langsam wieder zum Keller hinunter, bis er entdeckte, worüber er gestolpert war.

Das stahlblaue, Übelkeit erregende Pulsieren schlug wieder über Decker zusammen, als er in das Gesicht des Toten blickte, dessen leere Augen zu ihm hochstarrten.

Es war ein Mann, dem ersten Anschein nach Ende dreißig. Dunkles Haar, blasse Haut, mittlere Statur. Anscheinend war er um die eins achtzig groß, obwohl sich das nicht genau sagen ließ, da er auf dem Boden lag.

Als ehemaliger Cop traf Decker diese Feststellungen ganz von selbst. Doch sie waren angesichts der einzig wichtigen Beobachtung eher nebensächlich.

Der Mann trug Polizeiuniform.

Decker ließ sich neben dem Toten auf ein Knie nieder und tastete am Hals nach dem Puls.

Es gab keinen, und die Haut des Mannes war kalt. Decker tastete nach den Gliedmaßen. Sie waren steif – ein Hinweis darauf, dass die Leichenstarre eingesetzt hatte. Deckers Erfahrung als Mordermittler ließ ihn ganz von allein über die Todesursache und den Todeszeitpunkt nachdenken. Gab es Hinweise?

Er betrachtete die Leiche, suchte nach Wunden, fand aber keine. Er war versucht, genauer nachzusehen, wollte die Leiche aber nicht berühren. Er hatte diesen Tatort schon genug verunreinigt.

Der Mund des Mannes erregte seine Aufmerksamkeit. Dort klebten Reste von Schaum – ein Hinweis darauf, wie er gestorben sein könnte.

Ein Anfall.

Oder Gift.

Okay, die Todesursache ist nicht offensichtlich. Und der Zeitpunkt?

Er sah sich die Nasenlöcher an. Schmeißfliegen. Weibchen. Sie hatten bereits Eier gelegt, allerdings war der Befall minimal. Schmeißfliegen konnten totes Fleisch meilenweit riechen und waren der beste Freund des Polizisten, denn sobald die biologische Todesuhr sich in Bewegung gesetzt hatte, halfen die invasiven Insekten, den Todeszeitpunkt zu bestimmen.

Als Decker alle forensischen Elemente in Betracht zog, schlug in seinem Innern eine Alarmglocke an. Irgendetwas ergab hier keinen Sinn.

Steife Gliedmaßen bedeuteten, dass der Verstorbene schon eine ganze Weile tot war. Tatsächlich konnte der Körper bereits dabei sein, die Leichenstarre abzulegen und von den großen Muskelgruppen in die kleineren zu verlagern – und dies wiederum bedeutete, dass das Opfer schon lange Zeit nicht mehr lebte. Das passte zwar zur Kälte des Körpers, stimmte aber definitiv nicht mit Deckers anderen Beobachtungen überein.

Das Heulen sich nähernder Sirenen unterbrach seine Gedanken.

Decker eilte die Treppe hinauf, schob die Waffe ins Holster, trat hinaus auf die Veranda und wartete.

Fünfzehn Sekunden später bremste ein Streifenwagen vor dem Haus.

Mittlerweile war das Unwetter abgeschwächt, obwohl es noch immer donnerte und Blitze über den Himmel zuckten. Aber wenigstens goss es nicht mehr wie aus Kübeln.

Als die Polizisten aus dem Wagen stiegen, machte sich Decker mit einem Ruf bemerkbar und hielt seinen FBI-Ausweis in die Höhe. Beide Cops zogen die Waffen. Einer von ihnen richtete seine schwere Taschenlampe auf Decker.

»Halten Sie die Hände so, dass wir sie sehen können«, rief er. Der Mann sah jung und nervös aus.

Da Decker bereits beide Hände erhoben hatte, sodass sie deutlich genug zu sehen waren, erwiderte er: »Ich bin Bundesbeamter. Meine Partnerin hat den Vorfall gemeldet.«

Die Cops blieben an der Treppe stehen. Der Ältere, der einen sauber gestutzten, ergrauenden Schnurrbart trug und in den Vierzigern zu sein schien, steckte die Waffe weg, nahm den Ausweis entgegen und studierte ihn. Dann leuchtete er Decker mit der Taschenlampe ins Gesicht.

»Was ist hier los?«, wollte er wissen.

»Im Haus gibt es zwei Tote. Einer hängt im Wohnzimmer von der Decke, der andere liegt im Keller.« Decker warf einen Blick auf die Uniform des Mannes. »Ich weiß nicht, ob der Tote im Keller ein Cop war oder nicht, aber er trägt die gleiche Uniform wie Sie.«

»Was sagen Sie da?«, stieß der Cop hervor.

»Er ist tot?«, fragte sein jüngerer Kollege, die Pistole noch immer auf Decker gerichtet.

»Mausetot.« Decker nickte. »Und könnten Sie mit der Waffe anderswo hinzielen?«

Der junge Cop blickte fragend zu seinem Partner. Der nickte, wobei er Decker den Ausweis zurückgab. »Zeigen Sie es uns«, verlangte er.

In diesem Augenblick kam Jamison um die Hausecke geeilt.

Der junge Cop riss die Waffe herum und nahm sie ins Visier.

»Nein!«, brüllte Decker, machte einen langen Satz nach vorn und schlug genau in dem Moment gegen den Arm des Mannes, als dieser abdrückte. Die Kugel verfehlte Jamisons Kopf um dreißig Zentimeter. Sie warf sich ins Gras.

Der Cop stolperte zurück und richtete die Waffe auf Decker.

Decker fuhr ihn an: »Das ist meine Partnerin, verdammt! Sie hat Sie angerufen.« Er schaute zu Jamison. »Ist dir was passiert, Alex?«

Mühsam rappelte Jamison sich auf und kam mit müden Schritten näher. Sie holte tief Luft, schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.« Doch sie sah aus, als müsse sie sich jeden Augenblick übergeben.

Der ältere Cop warf seinem Partner einen scharfen Blick zu, ehe er Jamison um ihren Ausweis bat. Nachdem er ihn studiert hatte, wandte er sich erneut seinem Kollegen zu.

»Um ein Haar hättest du eine Bundesbeamtin erschossen, Donny«, sagte er ernst. »Jetzt wirst du einen Berg Formulare ausfüllen müssen, während dein Hintern an einen Schreibtisch gefesselt ist. Und die Innenrevision wird sich auf dich stürzen. Gratuliere.«

Der junge Mann steckte die Waffe weg, schaute finster drein und schwieg.

»Zeigen Sie es uns«, wiederholte der ältere Cop, an Decker gewandt.

»Hier entlang«, sagte Decker.

3

»Ich kenne ihn nicht«, sagte der ältere Cop, der sich Decker und Jamison als Officer Will Curry vorgestellt hatte. Auch sein Kollege schüttelte den Kopf. Sie betrachteten die Leiche des Mannes in Uniform auf dem Kellerboden. Den Toten im Erdgeschoss hatten sie bereits gesehen. Der Mann war den Cops ebenfalls unbekannt.

Curry zeigte auf die Brust des Mannes. »Kein Namensschild. Wir alle tragen eins.«

»Würden Sie denn wissen, wer er ist, wenn er ein Namensschild trüge?«, fragte Decker. »Ist die für diese Gegend zuständige Polizeitruppe so klein?«

Curry dachte kurz darüber nach. »Ich kenne nicht jeden Uniformierten hier, aber eine ganze Menge.«

»In seinem Holster ist keine Pistole«, stellte Decker fest.

Curry nickte. »Das habe ich gesehen. Da ist auch kein Funkgerät. Hören Sie, ich muss das melden. Die Mordkommission wird übernehmen.« Er blickte zu seinem Kollegen. »Donny, wir müssen den Tatort absperren. Und lass niemanden in die Nähe.«

Donny nickte und ging los, während Curry sein Handy zückte, in die andere Ecke des Kellers ging und den Anruf machte.

Decker ging auf die Knie und untersuchte die Leiche.

Jamison schaute ihm über die breite Schulter. »Wie ist er gestorben?«

»Keine offensichtlichen Verletzungen, genau wie bei dem Opfer oben. Allerdings gibt es bei dem Erhängten das viele Blut, während wir bei diesem Mann hier die Schaumspuren im Mundwinkel haben.«

Curry kam wieder zu ihnen. »Ich brauche noch Ihre Aussagen«, sagte er. »Aber vorher muss ich Sie bitten, das Haus zu verlassen. Wenn die Detectives Sie hier finden, kostet mich das den Kopf.«

Sie gingen nach oben und verließen das Haus durch den Hinterausgang. Dabei fiel Curry die zertrümmerte Tür auf. »Wie ist das passiert?«

»Das war ich«, erwiderte Decker. »Ich erklär’s Ihnen nachher.«

Das Unwetter war inzwischen weitergezogen. Der Himmel hatte sich so weit aufgehellt, dass ein paar Sterne zwischen den Wolkenbergen funkelten.

Draußen angelangt, zückte Curry sein Notizbuch. »Dann lassen Sie mal hören.«

Decker und Jamison machten ihre Aussagen. Sie waren gerade fertig, als jemand rief: »Alex? Alles in Ordnung?«

Amber und Zoe standen an dem Zaun, der die beiden Grundstücke trennte.

»Geht wieder rein. Ich bin in ein paar Minuten bei euch«, rief Jamison zurück und wandte sich wieder Curry zu, während ihre Schwester und ihre Nichte im Haus verschwanden.

»Meine Schwester Amber und ihre Tochter Zoe«, erklärte Jamison, als sie den fragenden Blick Currys bemerkte. »Wir besuchen sie zurzeit.«

»Sie wohnen bei ihr?«, fragte Curry.

»Ja.«

»Wir werden mit den beiden reden müssen. Vielleicht haben sie irgendetwas gesehen, das erklären könnte, was hier passiert ist.«

»Klar, das verstehe ich«, meinte Jamison.

»Was machen Sie beide eigentlich beim FBI?«, wollte Curry wissen.

»Wir spüren Leute auf, die andere Leute getötet haben«, sagte Decker. »So wie in diesem Haus.«

Curry schien zu ahnen, in welche Richtung Decker dachte. »Das ist kein Fall für die Bundesbehörden.«

»Schon seltsam, wie die Dinge manchmal das eine zu sein scheinen und sich dann in etwas anderes verwandeln«, gab Decker zurück. »Vielleicht können wir ja helfen.«

»Decker«, stieß Jamison hervor. »Wir sind im Urlaub. Wir sind hier, um mal von allem wegzukommen.«

»Du vielleicht«, entgegnete Decker. »Ich selbst hatte keinen Grund, mal von allem wegzukommen, wie du es ausdrückst.«

»Es ist nicht mein Bier, über die Frage Ihrer Mitwirkung an den Ermittlungen zu entscheiden«, erklärte Curry ungeduldig. »Klären Sie das mit der Mordkommission.«

»Das werde ich«, sagte Decker.

Curry klappte sein Notizbuch zusammen. »Aber da Sie nun mal hier sind – was halten Sie von der Sache?«

Decker schürzte die Lippen. »Jemanden aufzuhängen ist etwas sehr Persönliches. Da geht es um Kontrolle. Eine schreckliche Todesart, weil das Opfer qualvoll erstickt wird. Vielleicht bricht ihm am Ende das Genick. Aber beides dauert eine Weile. Und dann stellt sich natürlich die Frage, woher das viele Blut kommt. Es wäre ein Riesenaufwand, wäre der Mann an einem anderen Ort ausgeblutet, und jemand hätte das Blut aufgefangen und hier auf dem Boden verteilt.«

»Und der Tote im Keller?«

»Bei dem stellt sich als Erstes die Frage, ob er Polizist ist oder nicht. Wenn nicht, warum trug er dann eine Uniform? Und wie ist er gestorben? Ich konnte keine offensichtlichen Verletzungen entdecken, aber er hatte Spuren von Schaum am Mund, also könnte es Gift gewesen sein. Und noch etwas: Wem gehört das Haus? Den beiden Männern? Oder gibt es einen anderen Besitzer?«

Curry hatte sein Notizbuch wieder aufgeschlagen und machte sich Notizen. »Sonst noch etwas?«

»Ja. Ich glaube, Ihr Gerichtsmediziner wird Probleme haben, die genaue Todeszeit zu bestimmen.«

»Wieso?«

»Weil das, was ich heute Abend gesehen habe, aus forensischer Sicht so gut wie unmöglich ist.«

4

Amber hatte die widerstrebende Zoe ins Bett gebracht und saß jetzt zusammen mit ihrer Schwester und Decker im Wohnzimmer.

»Zwei Männer?« Ambers Stimme zitterte. »Ermordet? Drüben im Haus? Das kann ich nicht glauben. O Gott!«

»Irgendwann wird die Polizei mit dir reden wollen«, sagte Alex.

»Warum?«, fragte Amber nervös. »Wir wissen doch gar nichts darüber.«

»Keine Bange, das ist reine Routine«, beruhigte Decker sie. »Wegen der Nähe zum Tatort. Kein Grund, nervös zu sein.«

»Hast du schon Frank angerufen?«, fragte Alex und strich ihrer Schwester über die Schulter.

Frank Mitchell war Ambers Ehemann.

»Ich hab’s versucht, aber er geht nicht ran. Im Büro sagte man mir, er sei in einer Besprechung. In dem neuen Job muss er zu gottlosen Zeiten arbeiten.«

»Wo ist er beschäftigt?«, fragte Decker.

»Er ist Abteilungsleiter in einem Logistikzentrum. Sie liefern Online-Bestellungen für alle möglichen Firmen aus. Deshalb sind wir hergezogen … weil Frank diesen Job bekam. Er hatte für dieselbe Firma in Kentucky gearbeitet, aber die Stelle hier ist für ihn ein Schritt nach oben.«

Alex nickte. »Diese riesigen Versandlager schaffen viele neue Arbeitsplätze. Die Bezahlung ist okay, über dem Mindestlohn, mit Sozialleistungen. Aber man hat jede Menge Stress, nicht wahr?«

»Da sagst du was«, erwiderte Amber. »In Kentucky hat Frank als Picker gearbeitet. Er musste ständig in Bewegung sein. Sie haben genau Buch geführt, wie viele Pakete er bearbeitet hat. Gott sei Dank ist er ins Management aufgestiegen. Frank ist Mitte dreißig und gut in Form, aber das Tempo damals hat ihn zermürbt. Ständig hat ihm etwas wehgetan.«

Amber schaute zu dem Fenster mit Blick auf den Hof und das Nachbarhaus, in dem man zwei Menschen tot aufgefunden hatte. »Ich dachte, es wäre ein Neuanfang für uns. Und jetzt? Jetzt wohnen wir direkt neben einem Haus, in dem zwei Morde verübt wurden …«

»Es muss nichts mit der Gegend hier zu tun haben oder mit irgendwelchen Nachbarn«, meinte Alex. »Die beiden Männer könnten von auswärts kommen.«

Amber wirkte nicht überzeugt. »Was soll ich Zoe sagen? Sie ist sensibel, und ihr entgeht nichts. Sie wird unzählige Fragen stellen.«

»Wenn du möchtest, kann ich mit ihr sprechen. Oder Amos.«

Decker hob erstaunt den Blick. »Ich halte es für besser, du sprichst mit ihr, Alex.«

»Aber du hast dich doch auf der Veranda mit ihr unterhalten.«

»Deshalb halte ich es ja für besser, dass du mit Zoe sprichst.«

Alex wandte sich wieder ihrer Schwester zu. »Mach dir keine Gedanken, Amber. Das wird alles wieder.«

»Nein. Du verstehst nicht.«

»Was versteht sie nicht?«, fragte Decker.

»Das sind nicht die einzigen Morde, die in letzter Zeit in Baronville passiert sind. Ich habe es im Fernsehen gesehen.«

»Was für Morde?«, fragte Decker verwirrt.

In diesem Moment klopfte es an der Tür.

Als Amber öffnete, standen ein Mann und eine Frau vor ihr. Ihre Mienen waren ernst.

Der Mann war in den Fünfzigern und hatte volles graues Haar. Er trug einen zerknitterten Anzug. Der Kragen des weißen Hemdes wies einen schwarzen Fleck auf, und die Krawatte hing schief. Der Fremde war ungefähr eins achtzig groß, mit schmaler Brust und kleinem Bierbauch, der ihm über dem Gürtel hing. Seine unregelmäßigen Zähne hatten Nikotinflecken. Die Frau war in den Dreißigern, zierlich, ungefähr eins sechzig groß. Sie hatte schulterlanges blondes Haar, strahlend weiße Zähne und war recht hübsch. Sie trug einen eleganten schwarzen Hosenanzug mit makelloser weißer Bluse, dazu Schuhe mit hohen Absätzen, die sie fünf Zentimeter größer machten.

Beide hielten Dienstmarken in die Höhe und baten, eintreten zu dürfen.

»Detectives Marty Green und Donna Lassiter, Mordkommission«, sagte der Mann. »Wohnen Sie hier?«

Amber nickte. »Ja. Ich bin Amber Mitchell.«

Green musterte Decker und Jamison. »Dann müssen Sie die beiden Personen sein, die als Erste am Tatort waren. Und Sie sind beim FBI? Können Sie sich ausweisen?«

Decker und seine Partnerin zückten ihre Dienstausweise. Green warf nur einen flüchtigen Blick darauf, Lassiter jedoch überprüfte sie genau.

»Wir haben Ihre Aussagen gelesen«, sagte Green. »Jetzt würden wir die Geschichte gern aus Ihrem Mund hören.«

Amber bat die Detectives herein, und sie nahmen im Wohnzimmer Platz. Die Frau, Lassiter, wandte sich an Amber. »Ma’am, darf ich Sie bitten, im Nebenzimmer zu warten, während wir die Sache durchgehen? Natürlich möchten wir später auch mit Ihnen sprechen.«

Amber erhob sich ohne Widerspruch, warf ihrer Schwester einen nervösen Blick zu und ging.

Die beiden Detectives richteten ihre Aufmerksamkeit nun auf Decker und Jamison. »Ihren Ausweisen zufolge sind Sie keine Special Agents«, begann Lassiter.

»Sind wir auch nicht«, antwortete Jamison. »Wir sind Zivilisten, die für eine Sondereinheit des FBI arbeiten.«

»Zivilisten?« Green schaute Decker an. »Ich bin schon lange bei der Polizei. Meine Nase sagt mir, dass Sie ebenfalls Cop sind.«

»Burlington, Ohio. Zehn Jahre auf Streife, dann noch einmal zehn Jahre als Detective, bevor ich zum Bureau wechselte.«

Green räusperte sich, schlug sein Notizbuch auf und zückte einen Kugelschreiber. »Okay, gehen wir durch, was heute Abend geschehen ist.«

Decker machte den Anfang. Anschließend berichtete Jamison von ihren Beobachtungen.

Green schrieb methodisch alles mit. Auch Lassiter machte sich Notizen. Allerdings benutzte sie ein schmales Notebook; ihre Finger huschten nur so über die Tasten.

Nachdem Jamison geendet hatte, fragte Decker: »Haben Sie schon die Todesursache feststellen können? Oder die Opfer identifiziert?«

Green wollte etwas erwidern, doch Lassiter kam ihm zuvor. »Tut mir leid, aber es ist unsere Aufgabe, die Fragen zu stellen, und Ihre, sie zu beantworten.«

Decker schien sie nicht gehört zu haben. Er richtete den Blick auf Green. »Also kennen Sie weder die Todesursache, noch wissen Sie, wer die beiden Männer sind?«

»Wir arbeiten daran«, sagte Green. »Vor allem das viele Blut bei dem Erhängten macht uns zu schaffen.«

»Kann ich mir vorstellen. Ich habe keine Verletzungen bei ihm entdeckt. Sie werden nachprüfen müssen, ob es sein Blut ist. Man könnte den Mann getötet, das Blut entnommen und den Leichnam dann aufgehängt haben.«

Green verzog das Gesicht. »Das klingt ja fast nach einer kultischen Tötung. Als wäre der Mann so etwas wie ein Opfer.«

»Und wenn es nicht das Blut des Toten ist?«, fragte Lassiter.

»Dann muss es zwangläufig von jemand anderem sein, der vielleicht in irgendeiner Datenbank verzeichnet ist.« Decker hielt inne. »Es sei denn, es ist kein menschliches Blut.«

Lassiter und Green musterten ihn verblüfft.

»Wie kommen Sie darauf, dass es sich nicht um Menschenblut handelt?«, fragte Green.

Decker hob die Hand. »Moment. Ich behaupte nicht, dass es so ist. Ich will nur andeuten, dass es entschieden weniger problematisch ist, ein Tier zu töten und dessen Blut aufzufangen. Auf dem Weg hierher sind wir an einigen Farmen mit Kühen, Ziegen und Schweinen vorbeigekommen. Es wäre eine Möglichkeit. Mehr will ich damit gar nicht sagen. Kommen wir zu dem Mann im Keller. War er einer von Ihnen?«

Lassiter wollte etwas antworten, aber diesmal kam Green ihr zuvor. »Nein. Aber die Uniform, die er trug, ist echt. Woher also stammt sie? Das ist die große Frage. Auch der Besitzer des Hauses ist noch nicht ermittelt. Und was die Identität der Toten angeht – keiner der beiden Männer hatte einen Ausweis dabei.«

Während der Unterhaltung starrte Lassiter ihren Partner mit unverhohlener Verärgerung an. Sie beugte sich zu ihm, sprach aber so laut, dass Decker und Jamison sie deutlich hören konnten. »Marty, wir haben die beiden noch nicht als Verdächtige ausgeschlossen.«

Greens Miene wurde unsicher. »Wir müssen Ihren Aufenthaltsort während der fraglichen Zeit überprüfen«, sagte er dann zu Decker.

»Klar.« Decker nickte. »Wir sind erst gegen sechs in der Stadt angekommen. Kurz vorher haben wir getankt. Die Kreditkartenabrechnung und die Überwachungskamera der Tankstelle können es bestätigen. Nach dem Abendessen hier im Haus bin ich auf die Veranda gegangen. Es wurde bereits dunkel. Ein paar Minuten später kam Zoe zu mir, Alex’ Nichte. Alex hat sich drinnen mit ihrer Schwester unterhalten. Gegen zwanzig Uhr fünfzehn sah ich das flackernde Licht im Fenster des Nachbarhauses, lief dorthin und entdeckte die Leichen. Ein paar Minuten später hat Alex die Polizei gerufen. Kurz darauf trafen Ihre Leute ein.« Er hielt inne. »Ich habe den Puls des Mannes im Keller überprüft, um mich zu vergewissern, dass er tot ist. Bei dem Erhängten war das unnötig. Die Leiche im Keller war sehr kalt, die Gliedmaßen steif, obwohl es dort unten nicht besonders kühl ist. Außerdem hatten sich Schmeißfliegen an ihm zu schaffen gemacht, aber der Befall war noch minimal.« Erneut hielt er inne und wartete auf die Reaktion der beiden Detectives.

»Okay, wenn sich Ihre Alibis bestätigen, können wir Sie als Verdächtige ausschließen«, sagte Green. Er warf seiner Partnerin einen Blick zu, bevor er fortfuhr. »Wie viele Mordermittlungen haben Sie bearbeitet, Agent Decker?«

»Hunderte. In Ohio und später beim FBI. Hören Sie, Detective, technisch gesehen bin ich im Urlaub, aber wenn Sie ein zusätzliches Paar Augen brauchen, stehe ich zur Verfügung …«

»Moment mal, Decker«, fiel Jamison ihm ins Wort. »Was soll das für ein Urlaub sein, wenn du einen Fall bearbeitest?«

»Das kommt sowieso nicht infrage«, stellte Lassiter fest.

Decker blickte zu ihr. »Ich biete meine Hilfe nur an, weil ich gehört habe, dass es nicht die einzigen Morde sind, die in letzter Zeit in Baronville verübt worden sind.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?«, fragte Lassiter scharf.

»Stimmt es denn?«

Green warf seiner Partnerin einen Blick zu und nickte. »Leider.«

5

Mit einem dumpfen Schlag schlossen sich die Türen des Leichenwagens, und die beiden noch immer nicht identifizierten Toten wurden abtransportiert.

Decker und Jamison standen auf dem Bürgersteig und sahen zu, wie das Fahrzeug an ihnen vorbeirollte, gefolgt von einem Streifenwagen.

Ein Absperrband der Polizei flatterte im frischen Wind, der im Gefolge des Sturms zurückgeblieben war.

Detective Green gesellte sich zu Decker und Jamison, während Lassiter zurück ins Haus ging.

»Wir überprüfen die Fingerabdrücke der Toten. Vielleicht sind sie erfasst.«

»Na dann, viel Glück«, sagte Jamison. »Die meisten Leute sind in keiner Datenbank zu finden.«

Green wickelte einen Kaugummi aus und schob ihn sich in den Mund. Das Papier knüllte er zusammen und steckte es in die Tasche.

»In Ohio hatte ich eine Partnerin, die hat ständig Kaugummi gekaut«, sagte Decker. »Sie wollte vom Rauchen loskommen.«

»Ich habe mir die Sargnägel vor zwei Jahren abgewöhnt«, entgegnete Green. »Dafür habe ich mir inzwischen die Zähne abgekaut.«

»Reden wir über Ihre Bemerkung von vorhin«, sagte Decker. »Über die anderen Morde in dieser Stadt. Welche Morde meinen Sie?«

Green verzog das Gesicht. »Wir haben hier einen Haufen Probleme. Geschäfte stehen leer. Häuser werden zwangsversteigert. Viele Menschen sind arbeitslos und haben keine Aussicht auf einen Job. Die Schmerzmittelabhängigkeit hat ungeahnte Ausmaße angenommen.«

»Das ist nicht nur hier so«, warf Jamison ein, »sondern überall in den USA.«

»Als ich ein kleiner Junge war«, fuhr Green fort, »waren die Minen und die Fabriken hier noch in Betrieb. Die Leute hatten Geld. Die Väter arbeiteten, die Mütter blieben zu Hause und zogen die Kinder groß. Sonntags ging man zur Kirche, und die Innenstadt war voller Leben. Dann machten die Minen und Fabriken bankrott. Alles ging den Bach runter. Die ganze Stadt war vom Bergbau und der Industrie abhängig. Sie waren der einzige Grund, dass es überhaupt eine Stadt gegeben hatte.«

»Die Stadt der Barons«, sagte Jamison. »Meine Schwester hat mir die Geschichte erzählt.«

Green kaute seinen Kaugummi und nickte. »Vor langer Zeit kam John Baron senior in diese Gegend und entdeckte Kohlevorkommen. Er holte Minenarbeiter her, und so entstand nach und nach diese Stadt. Baron machte ein Vermögen. Er ließ Kokereien bauen, Textilfabriken und später eine Papiermühle. Dann fanden seine Prospektoren Erdgas, und Baron scheffelte noch mehr Geld. Mein Großvater hat mir mal erzählt, dass der alte Baron in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Rückschlag erleiden musste. Sein Textilunternehmen schwächelte, und er wollte es verkaufen, starb aber vorher. Ansonsten war der Mann vom Erfolg verwöhnt. Er ließ sich ein prunkvolles Herrenhaus bauen und lebte wie ein König. Nach seinem Tod aber ging es bergab. Die Unternehmen kriselten und wurden verkauft. Als damals in den Siebzigern die Wirtschaft abstürzte und die Fertigungsindustrie ins Ausland verlagert wurde, gingen nach und nach alle Firmen pleite. Die Party war zu Ende, und die braven Leute von Baronville wurden eiskalt erwischt. Plötzlich gab es für sie keinen Stuhl mehr, auf dem sie Platz nehmen konnten. Das hat sich seitdem nicht geändert.«

Decker sagte ungeduldig: »Wollen Sie uns über die Morde informieren oder die Geschichte von Baronville erzählen?«

Green spuckte den Kaugummi aus. »Vier Opfer an zwei verschiedenen Tatorten. Beide Morde wurden innerhalb von vierzehn Tagen verübt, der letzte vor kaum einer Woche.«

»Ähnlichkeiten? Muster?«, fragte Decker.

»Nur insofern, als jeder Mord … seltsam war.« Green verzog angewidert das Gesicht.

»Keine Spuren?«, fragte Jamison.

»Keine, die man hätte weiterverfolgen können. Und Sie wissen ja, je mehr Zeit vergeht, umso schneller schwinden die Chancen, einen Fall zu lösen.«

»Erzählen Sie mir von den Einzelheiten«, verlangte Decker.

In diesem Augenblick trat Lassiter aus der Haustür und winkte Green zu sich. »Marty, kommst du mal und siehst dir das an?«

Green schaute zu ihr hinüber. »Was denn?«

Lassiter blickte auf Decker. »Das möchte ich vor diesem Mann nicht sagen. Er ist nicht autorisiert.«

»Na gut.« Green wandte sich Decker und Jamison zu. »Ich bin morgen früh im Revier am Baron Boulevard, falls Sie vorbeikommen möchten.«

»Schon wieder Baron«, bemerkte Decker.

»Wenn Sie lange genug hier sind, wird Ihnen der Name Baron aus den Ohren rauskommen.«

»Gibt es hier eigentlich noch Barons?«, fragte Jamison.

»Einen.« Green stapfte über das feuchte Gras zu Lassiter.

Jamison schaute zu Decker. »Verrückt, dass du schon wieder mit einer Mordermittlung zu tun hast. In D.C. warst du Augenzeuge eines Mordes auf der Pennsylvania Avenue. Und jetzt findest du zwei Leichen im Bundesstaat Pennsylvania.«

»Und da ich nun schon hier bin, kann ich zumindest versuchen, den Mörder zu finden.«

»Wirst du es niemals leid?«, fragte Jamison müde.

»Es ist mein Job. Und bis auf den Job habe ich nicht mehr viel.«

»Könnten doch nur mehr Menschen durch Mord ihr Glück finden«, spöttelte Jamison.

»Bist du sauer, Alex?«

»Ja, ich bin sauer. Na ja, wenigstens sieht es nicht danach aus, dass sie dich an dem Fall mitarbeiten lassen. Du hast diese Lassiter gehört.«

»Und ich habe auch ihren Partner gehört. Er will Hilfe, selbst wenn Lassiter es nicht will.«

»Trotzdem wird man uns nicht an den Ermittlungen beteiligen«, machte Jamison ihm klar.

»Wenn sie hier mehrere Morde haben, brauchen sie jede Hilfe, die sie bekommen können.«

»Denkst du etwa daran, Bogart anzurufen und ihn zu bitten, in der Angelegenheit zu intervenieren?«

Decker musterte sie. »Nein. Weil du ihn anrufst.«

»O nein. Du ziehst mich da nicht mit rein.«

»Alex, es gab in kürzester Zeit sechs ungeklärte Morde in Baronville.«

Sie errötete. »Das weiß ich.«

»Und deine Schwester und ihre Familie leben hier. Genau genommen wohnen sie direkt neben dem jüngsten Tatort.«

Jamison riss den Mund auf. »Ich kann nicht glauben, dass du mir auf diese Tour kommst.«

»Menschen sind gestorben, Alex.«

»Ja. Und die Polizei kann den Täter finden.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.«

»Warum?«

»Weil den Detectives Green und Lassiter eine offensichtliche Unstimmigkeit am Tatort entgangen ist. Ich habe ihnen Gelegenheit gegeben, sich dazu zu äußern, aber sie haben nicht angebissen.«

»Welche Unstimmigkeit?«

»Vertrau mir.«

»Worauf willst du eigentlich hinaus?«

»Ich bin mir nicht sicher, dass die beiden der Aufgabe gewachsen sind.«

Jamison wollte etwas erwidern, ließ es dann aber und blickte zu dem Haus, in dem Decker die beiden Toten gefunden hatte. Dann schaute sie zum Haus ihrer Schwester und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Okay«, sagte sie kläglich. »Okay.«

»Du musst nichts tun. Genieße deinen Urlaub und deine Schwester mitsamt Familie und lass mich den Fall bearbeiten.«

Jamisons Gesicht verfärbte sich. »Als würde ich dich jemals im Stich lassen! Wie kannst du auch nur daran denken?«

Decker druckste herum. »In gewisser Weise liegt es an Zoe.«

»Was ist mit ihr?«

»Ich habe ihr versprochen, dich vor bösen Leuten zu beschützen.«

»Das ist wirklich nett von dir, Amos, aber ich bin ein großes Mädchen, falls es dir noch nicht aufgefallen ist. Ich wurde beim FBI ausgebildet, bin topfit und kann mit Waffen umgehen. Und ich bin bereit, meinen Job zu tun.«

Decker lächelte.

»Was ist?«, fragte Jamison.

»Ich würde auch gern von mir behaupten können, topfit zu sein.«

»Hey, du hast mal in der NFL gespielt. Ich bezweifle allerdings, dass du jemals wieder so fit sein wirst wie damals. Aber mach dir keine Sorgen.«

»Wie meinst du das?«

Jetzt war es an ihr zu lächeln. »Ich werde auf dich aufpassen.«

6

»Das ist verrückt«, sagte Frank Mitchell.

Er saß zusammen mit Amber, Alex und Decker im Wohnzimmer. Es war nach Mitternacht; Frank war erst ein paar Minuten zuvor nach Hause gekommen. Auf dem Heimweg hatte er Amber zurückgerufen und von den Morden erfahren.

Frank Mitchell war eins fünfundachtzig, schlank und kräftig. Sein blondes Haar war lockig, und er trug lange Koteletten. Der Kragen seines weißen Hemdes stand offen, die Krawatte war gelockert. Er trug dunkle Hosen. Die Socken waren ein Stück heruntergerutscht; die Spitzen der schwarzen Schuhe waren abgestoßen. Er hatte den Arm schützend um Amber gelegt, die neben ihm saß.

»Als ich den Fernsehbericht über die Morde gesehen habe, war ich schockiert«, sagte Amber. »So etwas sollte in Kleinstädten wie dieser nicht passieren. Ich wünschte, wir wären nie hierhergezogen.«

Frank blickte sie ungläubig an. »Man hat mich hierherversetzt, Am. Mir blieb gar keine Wahl.«

»Was können Sie uns über diese anderen Morde erzählen, Amber?«, fragte Decker. »Sie haben einen Fernsehbericht gesehen?«

Amber zuckte mit den Schultern. »Ein Bericht in den Lokalnachrichten. Ich habe den Einzelheiten keine große Beachtung geschenkt. Ein paar Leute sind ermordet worden, und die Polizei ermittelt. Dann habe ich den Fernseher ausgemacht, weil Zoe ins Zimmer kam.«

Frank zog die Krawatte ab, warf sie auf den Wohnzimmertisch und rieb sich den Nacken. Er lächelte schuldbewusst. »Ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt, mich für die Arbeit fein zu machen.« Er lehnte sich zurück. »Wie ich bereits sagte, ich hatte die Wahl, diesen Job hier anzunehmen oder in Kentucky weiterhin im Lager zu schuften.« Er sah Decker an. »Ich habe das College nicht abgeschlossen. Bevor ich im Logistikzentrum anfing, habe ich im Einzelhandel gearbeitet. Aber die Einkaufszentren gehen pleite, weil alle nur noch online shoppen. Tja, hier bin ich.«

»Deine Mom wurde krank, und du bist von der Schule abgegangen, um zu Hause zu helfen, Liebling. Außerdem schuftest du schwer und wirst deinen Weg in der Firma machen«, sagte Amber aufmunternd.

Frank lächelte schmal und tätschelte ihren Arm. »Wie dem auch sei, jetzt sind wir hier in Baronville, zumindest für die nächste Zeit. Ich verdiene fast doppelt so viel wie zuvor, und die Sozialleistungen sind viel besser. Außerdem sind die Lebenshaltungskosten hier niedrig. Deshalb werden so wenige Logistikzentren in großen Städten oder deren Umkreis angesiedelt. Die Grundstücke und alles andere sind zu teuer. In Gegenden wie dieser hier sieht die Sache anders aus, und man kann jeden neuen Arbeitsplatz gebrauchen. Dafür gibt es hier das Problem, dass wir nicht alle Stellen besetzen können.«

»Warum nicht?«, fragte Jamison. »Man sollte doch meinen, dass die Leute euch die Tür einrennen, um einen Job zu bekommen.«

»Das tun sie auch. Aber sie bestehen den Drogentest nicht. Deshalb schreiben wir in letzter Zeit die Stellen in anderen Teilen Pennsylvanias aus, sogar auf der anderen Seite der Grenze in Ohio.«

»Wir sollten lieber zu Bett gehen«, meinte Amber. »Frank hat den ganzen Tag gearbeitet und wird erschöpft sein. Hast du wenigstens etwas essen können, Schatz?«

»Wir hatten uns Pizza bestellt. Alles gut.« Er lächelte Decker und Jamison schüchtern an. »Schön, dich wiederzusehen, Alex. Und es freut mich, Sie kennenzulernen, Amos. Ich wünschte nur, Ihr Besuch hätte nichts mit dieser schrecklichen Sache zu tun.«

Decker nickte. »Sagen Sie, Frank, haben Sie nebenan jemals irgendwelche Leute gesehen?«

Frank dachte nach. »Nein, eigentlich nicht. Ich bin ein paar Monate vor Amber und Zoe eingezogen, um mich zu akklimatisieren, meinen Job zu lernen und das Haus vorzubereiten. Ich fahre in aller Frühe los und komme ziemlich spät wieder nach Hause. Das wird noch eine Weile so gehen. Der Job fordert mir viel ab. Ich muss Überstunden machen.«

»Sie haben nie jemanden auf dem Hinterhof gesehen? Oder am Fenster? An der Hintertür?«

Frank schüttelte den Kopf.

Decker schaute auf Amber. »Und Sie?«

»Ich bin kaum einmal im Hof gewesen«, antwortete sie. »Hier drinnen gibt es einfach noch zu viel zu tun. Ich packe noch immer Umzugskisten aus. Das habe ich auch der Polizei gesagt.«

»Wie sind diese Leute gestorben?«, fragte Frank.

»Die Polizei weiß noch nichts Genaues«, sagte Decker.

»Aber Sie haben doch die Leichen gefunden, Amos«, warf Amber ein. »Sie müssen zumindest eine Vorstellung haben, wie die Männer gestorben sind.«

»Die habe ich auch. Aber ich kann es Ihnen nicht sagen.«

Als Amber ihn verwirrt musterte, sagte Alex hastig: »Möglicherweise helfen wir den Cops bei den Ermittlungen, Amber. Deshalb können wir nicht darüber reden.«

»Bei den Ermittlungen helfen? Ihr habt doch Urlaub!«

Bevor Alex antwortete, warf sie Decker einen scharfen Blick zu. »Das dachte ich auch. Aber Mord hält sich nun mal an keinen Terminplan. Jedenfalls nicht an meinen.«

Unwillkürlich fröstelte Amber. »Mein Gott. Ich kann es noch immer nicht glauben. Ein Mord auf unserem Hinterhof.« Sie sah Decker an. »Sie sind vermutlich an solche Dinge gewöhnt.«

Decker erwiderte ihren Blick. »Da irren Sie sich.« Er wandte sich an Jamison. »Lust auf einen kurzen Ausflug, Alex?«

»Wohin?«, fragte sie verwundert.

»Na komm schon.«

Jamison nickte resigniert.

*

Ihr Fahrzeug war ein gemieteter SUV, weil Alex privat einen Kleinwagen fuhr, in den der hünenhafte Decker kaum hineinpasste, was bei einer langen Fahrt wie der, die hinter ihnen lag, keine willkommene Aussicht gewesen wäre. Ein Yukon bot bedeutend mehr Beinfreiheit und Platz.

»Ein kurzer Ausflug, hast du gesagt?«, fragte Jamison. »Lass mich raten, wohin es geht.«

»Fahr bis zur nächsten Straße, Alex.«

»Darf ich wenigstens nach dem Grund fragen, da wir bereits auf der nächsten Straße sind?«

»Ich will mir etwas ansehen.«

Wie sich zeigte, war die Polizei noch immer mit dem Tatort beschäftigt. Ein Officer warf ihnen einen flüchtigen Blick zu, als sie vorbeifuhren. Doch bevor der Mann reagieren konnte, war Jamison am Haus vorbei. Sie erreichte das Ende der Straße, wendete und parkte den SUV am Bordstein vor einem halben Dutzend Häusern, die ein Stück vom Ort des Verbrechens entfernt standen. Sie schaltete die Scheinwerfer aus.

In diesem Moment traten Green und Lassiter aus dem Haus. Im Licht der Lampe über dem Eingang schienen die beiden Detectives in eine angeregte Unterhaltung vertieft zu sein.

Jamison gähnte. »Wolltest du dir das hier ansehen?«

Decker schüttelte stumm den Kopf. Er wollte sich die Straße und die hier geparkten Autos anschauen. Keines der Häuser verfügte über eine Garage; es gab nur Stellplätze, oder man musste am Straßenrand parken.

Doch abgesehen von den Streifenwagen und ihrem SUV standen hier keine Fahrzeuge, auch nicht in der Umgebung des Tatorts. Decker ließ den Blick über die Häuser an der Straße schweifen. Nirgendwo brannte Licht, aber das konnte an der späten Stunde liegen.

»Die meisten Häuser sehen unbewohnt aus«, murmelte Decker.

»Nun ja, Baronville ist nicht gerade eine brodelnde Metropole, wie wir inzwischen wissen.«

Decker nickte. »Und daraus folgt, dass es kaum jemanden gibt, der uns helfen könnte, das Geschehen zu rekonstruieren.«

»Hier an der Straße, meinst du?«

»Ja. Der Täter musste die beiden Männer ja ins Haus schaffen, ob sie nun tot waren oder noch lebten. Es gibt hier keine Garage, also wäre er irgendwann zu sehen gewesen.«

»Die beiden Männer hätten das Haus auch von allein betreten können, um irgendwann später ermordet zu werden.«

Decker schloss die Augen, konzentrierte sich.

Was hast du gehört, bevor im Nachbarhaus das Licht wegen des Kurzschlusses geflackert hat?

Nach und nach erklangen verschiedene Geräusche tief aus dem Dunkel seiner Erinnerung.

Ein leises Dröhnen, als über ihm ein Flugzeug vorüberzog, auf der Flucht vor der Gewitterfront.

Das Flugzeug? Nein, da gab es keine Verbindung.

Deckers phänomenales Gedächtnis rief ihm nach und nach weitere Geräusche in Erinnerung.

Eine Mischung seltsamer Laute, wieder und wieder: dumpfes Pochen, dann eine Art Schleifgeräusch.

Ein Automotor sprang an.

Ist es das? Ein Wagen, der weggefahren ist, nachdem die Toten hier abgeladen wurden?

Decker kniff die Augen fester zusammen und versuchte, die zeitliche Abfolge der Geräusche zu rekonstruieren.

»Was machst du?«, fragte Jamison.

Decker verzog verärgert das Gesicht, als ihre Stimme in seine Gedanken drang.

»Es ist fast ein Uhr morgens, Decker, und ich bin ziemlich kaputt. Wir sind über sechs Stunden gefahren, um in diese Stadt zu kommen. Genauer gesagt, ich bin über sechs Stunden gefahren.«

Decker entspannte sich. »Schon gut. Sollten wir je meine Schwestern besuchen, fahre ich.«

»Deine beiden Schwestern leben in Kalifornien und Alaska. Du willst doch nicht mit dem Auto bis an den Arsch der Welt fahren?«

»Okay, dann eben nicht.«

Jamison seufzte, lehnte sich im Sitz zurück und spielte am Blinkerhebel am Lenkrad herum. »Warum interessiert dich das alles so? Es geht um Mord, ich weiß, und es ist schrecklich. Aber du kannst nicht jeden Mord untersuchen, der dir über den Weg läuft.«

»Warum nicht, verdammt?«, fragte er schroff.

»Du meine Güte. Weil das nicht geht!«

Decker schüttelte den Kopf. »Einigen wir uns darauf, dass wir uns nicht einigen können.«

Sie schwiegen eine Zeit lang. »Du hast die Mörder von Cassie und Molly gefunden, Amos«, sagte Jamison schließlich in die Stille hinein. »Sie haben ihre Strafe bekommen. Aber du kannst nicht jeden Mord aufklären, auf den du zufällig stößt. Das ist unmöglich. Damit bewirkst du nur, dass du irgendwann scheitern musst.«