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Nach dem Welterfolg von »James« der neue Roman von Pulitzer-Preisträger Percival Everett – ein satirischer Seitenhieb auf die USA und ihre seltsamen Milliardäre Ein brillantes Kabinettstück mit Schurken à la James Bond: Dr. No ist ein renommierter Professor für Mathematik an der Brown University, Experte für das Nichts. Das macht ihn zum perfekten Berater für den Schwarzen Milliardär John Sill. Dieser will einen in Fort Knox bewahrten Schuhkarton knacken, in dem sich angeblich »nichts« befindet. Denn wer das Nichts kontrolliert, soll die Weltherrschaft an sich reißen können – und Sill sinnt wegen der jahrhundertelangen Ungerechtigkeit der Weißen auf Rache. Percival Everett hat einen hinreißenden Spionageroman und einen satirischen Seitenhieb auf Ethnie und Macht in den USA geschrieben.
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Nach dem Welterfolg von »James« ein neuer Roman von Percival Everett — ein brillantes Kabinettstück mit Schurken à la James Bond: Dr. No ist ein renommierter Professor für Mathematik an der Brown University, Experte für das Nichts. Das macht ihn zum perfekten Berater für den Schwarzen Milliardär John Sill. Dieser will einen in Fort Knox bewahrten Schuhkarton knacken, in dem sich angeblich »nichts« befindet. Denn wer das Nichts kontrolliert, soll die Weltherrschaft an sich reißen können — und Sill sinnt wegen der jahrhundertelangen Ungerechtigkeit der Weißen auf Rache. Percival Everett hat einen hinreißenden Spionageroman und einen satirischen Seitenhieb auf Ethnie und Macht in den USA geschrieben.
Percival Everett
Dr No
Roman
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Hanser
Für meine Lektorin, Komplizin und liebe Freundin Fiona.
Danke für unsere zwanzig gemeinsamen Jahre.
Lauf nicht herum und behaupte, die Welt schulde dir einen Lebensunterhalt. Die Welt schuldet dir gar nichts. Sie war zuerst da.
Mark Twain
Ich entsinne mich, äußerst vergesslich zu sein. Jedenfalls glaube ich das. Ich denke, ich weiß, dass ich vergesslich bin. Ich erinnere mich zwar, vergessen zu haben, aber ich kann mich nicht entsinnen, was ich vergessen habe oder wie sich das Vergessen anfühlt. Als ich ein Kind war, versuchte meine Mutter, mich von meiner Vergesslichkeit zu überzeugen, indem sie fragte: »Weißt du noch, wie du deinen eigenen Geburtstag vergessen hast?« Ich glaube, ich erwiderte: »Wie könnte ich?« Aber es war eine Fangfrage. Ja zu sagen wäre ein Eingeständnis meiner Vergesslichkeit, nein, ein Beispiel dafür gewesen. »Das Gehirn tut, was es kann«, sagte ich zu ihr. Würden wir uns an alles erinnern, hätten wir keine Sprache für das Erinnern und Vergessen. Außerdem wäre nichts wichtig. Tatsächlich ist nichts wichtig. Die Wichtigkeit von nichts besteht darin, dass es der Maßstab dessen ist, was nicht nichts ist. Ist nichts dasselbe wie das Nichts? Studenten lieben es, über dergleichen zu tüfteln. Tatsächlich gibt es kein Nichts. Das vereinfachende Argument für diese Behauptung lautet, dass die Beobachtung von nichts einen Beobachter erfordert, und das Vorhandensein eines Betrachters wiederum negiert, was reines Nichtvorhandensein, ja in der Tat nichts hätte sein können. Wenn nichts in einem Wald vorfällt und es ist niemand da, der es beobachtet, handelt sich dann um ein Nullum? Das bessere Argument — eines, das das simple und jedes andere in sich schließt — lautet, dass man nichts buchstabieren kann. Parmenides mag sich schäbig gekleidet haben, aber er hatte nicht ganz unrecht. Was die Existenz Gottes angeht, ist das ontologische Argument vielleicht nicht stichhaltig gewesen, aber was die Existenz von nichts angeht, ist es unwiderlegbar. Ei mitään, rien, nada, nichts, nic, dim byd, ikke noget, ingenting, waxba, tidak ada, boten. Apa-apa, kitn, nihil und nenio. So was wie ein ontologisches Argument für die Existenz von nichts.
Ich heiße Wala Kitu. Wala ist Tagalog für nichts, allerdings bin ich kein Filipino. Kitu ist Swahili für nichts, allerdings stammen meine Eltern nicht aus Tansania. Meine Eltern, beide Mathematiker, wussten, dass minus mal minus plus ergibt, deshalb trage ich diesen Namen. Ich bin Wala Kitu. Das ist alles Quatsch mit Soße. Ich heiße Ralph Townsend. Meine Mutter war Künstlerin, mein Vater ein Anglist, ein Professor, der als Taxifahrer endete. Tatsächlich bin ich so etwas wie ein Mathematiker. Aber ich benutze den Namen Wala Kitu. Ich studiere nichts.
Ich nehme mein Forschungsgebiet ernst. Ich bin ordentlicher Professor für Mathematik an der Brown University, obwohl ich mich seit Jahrzehnten nicht mehr mit Arithmetik, Analysis, Matrices, Theoremen, Hausdorff-Räumen, Darstellungen endlicher Gitter oder sonst etwas beschäftige, was mit Werten, Zahlen, Darstellungen von Werten oder Zahlen oder sonst irgendeinem Etwas zu tun hat, ob es nun Substanz hat oder nicht. Ich habe meine Karriere in meinem kleinen Büro in der George Street in Providence damit zugebracht, über nichts nachzudenken und danach zu suchen. Ich habe es nicht gefunden. Es ist traurig für mich, dass schon die Thematisierung meines Interessengebiets meine Forschung zwangsläufig zunichtemacht. Ich arbeite sehr hart und wünschte, ich könnte sagen, dass ich nichts dafür vorzuweisen habe.
Meine Expertise in nichts — nicht absolut nichts, sondern eindeutig nichts — führte dazu, dass ich mit einem oder vielmehr für einen gewissen John Milton Bradley Sill arbeitete, einen Selfmade-Milliardär mit einem einzigen Ziel, einem Ziel, das manchen faszinierend, den meisten verwirrend und schräg und allen idiotisch erscheinen mochte, sich aber zumindest leicht in Worte fassen ließ. John Milton Bradley Sill strebte danach, ein Bond-Schurke zu werden, und zwar ungeachtet der Fiktionalität von James Bond. Er formulierte es folgendermaßen: »Ich möchte ein Bond-Schurke sein.« Ganz einfach.
Wir saßen in einem Café in der Thayer Street. Es war acht Uhr an einem Montagmorgen im November, und das Semester neigte sich dem Ende zu, sodass die Studenten, die sich hier hereinschleppten, geradezu schlafwandelten. Mir ging es ganz ähnlich wie ihnen. Ich hatte erst kürzlich herausgefunden, dass ich volle zwölf Stunden Schlaf brauchte, um richtig zu funktionieren, war jedoch vergangene Nacht lange aufgeblieben und hatte über das Treffen mit Sill nachgedacht. Ich konnte mich kaum je an meine Träume erinnern, was mir nur recht und billig erschien, da ich mich im Schlaf ja auch selten meines Wachlebens entsann.
»Was meinen Sie mit Bond-Schurke?«
Sill hielt einen Löffel wie eine Zigarette. »Sie wissen schon, die Art von Übeltäter, die den Premierminister veranlassen könnte, einen Doppelnull-Spion loszuschicken, um mir das Handwerk zu legen. Sie wissen schon, Böses um des Bösen willen.«
»Eine Art modernistischer Schurke«, sagte ich.
»Genau.«
Ich starrte ihn an und rührte in meinem Tee. Ich wollte ihn nicht ansehen, aber ich tat es, und während ich ihn in den Blick nahm, wurde mir klar, dass er durchgeknallt war. Aber fröhlich. Er war ein angenehm aussehender Mensch, ethnisch nicht recht einzuordnen, mit einem Pferdegesicht und krausem Haar. Er war schmächtig. »Für einen Schurken wirken Sie viel zu nett«, sagte ich.
»Danke schön«, sagte er. »Aber der Schein trügt.«
»Haben Sie denn schon einmal eine Übeltat begangen?«
»Was denn, zum Beispiel?«
»Haben Sie schon einmal jemanden umgebracht?«, fragte ich. »Bond-Schurken bringen wahllos Leute um.« Ich redete ins Blaue hinein. Ich hatte keinen blassen Schimmer von Bond-Schurken.
»Manche ja, manche nein.« Sill stocherte mit seinem Löffel in der Luft. »Haben Sie mal Goldfinger gesehen?«
»Ich glaube schon. Sagen wir, nein.«
»Goldfinger raubt Fort Knox aus.«
»Wo sie das Gold aufbewahren«, sagte ich.
»Wo sie das Gold aufbewahren.« John Sill blickte sich um, musterte jeden im Raum. »Wissen Sie, was in Wirklichkeit im Tresorraum von Fort Knox ist?«
»Nein.«
Er beugte sich vor, stützte wirklich und wahrhaftig das Kinn auf den Handteller wie ein Liebhaber oder zumindest wie jemand, der mich schon länger als eine Viertelstunde kannte, und sagte: »Nichts.«
»Sie meinen, da ist kein Gold.«
»Ich meine, da ist nichts.«
»Nichts«, sagte ich.
»Genau das. Ich sage Ihnen nicht, dass da kein Gold ist. Ich sage Ihnen, dass da nichts ist. Wonach Sie schon so lange suchen.«
Die Haare in meinem Nacken stellten sich auf. Trotzdem war ich überzeugt, dass er meinte, der Tresorraum sei leer.
»Ich sage Ihnen, dass der Tresorraum nicht leer ist.« Als könnte er meine Gedanken lesen.
»Und?«
»Sie, mein Freund, werden mir dabei helfen, es zu stehlen. Ich habe gründlich recherchiert. Sie wissen mehr über nichts als irgendwer sonst. Wie viel Macht muss jemand besitzen, der nichts in seinen Besitz bringen kann.«
»Hören Sie, ich fühle mich geschmeichelt«, sagte ich, »aber —«
Er brachte mich zum Schweigen, indem er die Hand von meiner nahm und sie auf ominöse Weise zwischen uns in der Luft hielt. »Sie müssen nicht das Geringste tun. Alles, was ich von Ihnen will, ist ständige Beratung. Antworten auf ein paar Fragen. Zum Beispiel: Wenn ich den Tresorraum öffne, und das werde ich, woher weiß ich dann, dass nichts da ist? Der Tresorraum ist groß. Wenn er voller nichts ist, wie bewege ich es dann von der Stelle? Wie transportiert man so etwas? Muss es bei minus 273 Grad Fahrenheit gekühlt werden?«
»Sie meinen es ernst«, sagte ich. »Was gar nicht so viel anders ist als ›Sie sind verrückt‹.«
»Ganz recht«, sagte John Sill. Ein weiterer Blick in die Runde, und er schob mir einen gelben Zettel zu.
Es war ein Scheck. Ein Scheck mit vielen Nullen vor dem bedeutungslosen Dezimalpunkt. Es war ein Bankscheck, ausgestellt von der Bank of America.
»Der ist echt«, stellte ich fest, doch in Wirklichkeit war es eine Frage.
Sill nickte. »Alles, was Sie zu tun haben, ist, meine Fragen über nichts zu beantworten, und zwar nicht mit irgendwelchem Scheiß aus der Lamäng, den Sie für höhere Semester und Diskussionsrunden parat haben. Solchen Scheiß kann ich von jedem kriegen. Zum Beispiel aus jeder Menge Bücher. Ich will Ihre reine, ehrliche Verwirrung.«
»Sonst noch was?«
»Das Ganze muss natürlich vertraulich bleiben. Ich meine, wirklich vertraulich, wirklich, wirklich vertraulich.« Er fing meinen Blick auf und sah für einen Sekundenbruchteil wie der Bond-Schurke aus, der zu sein er sich zum Ziel gesetzt hatte. Einen ganz kurzen Moment lang machte er mir Angst. »Okay? Zwinker, zwinker. Und fertig ist die Laube.«
»Verstanden.«
»Sie sind also mit im Boot?«
»Ist der hier für mich?« Ich schüttelte den Scheck, wie um festzustellen, ob sich vielleicht die Schrift ablöste.
»Da steht Ihr Name drauf.«
Allerdings. Richtig geschrieben und alles. In schwarzer Tinte. Was konnte ich anderes sagen als: »Okay.«
Ich verließ das Café drei Millionen Dollar schwerer und außerdem mit der Überzeugung, dass John Sill, obwohl verrückt, vielleicht recht hatte, was den militärischen Besitz von nichts anging. Es gab eine glaubwürdige Fraktion des militärischen Apparats, die genau wie ich der Überzeugung war, dass nichts die Lösung für alles war. Mein Begriff von Lösung war heuristisch, derjenige der Generäle dagegen gladiatorenhaft, kriegerisch, nicht schön. Keiner von uns wusste, was nichts eigentlich war, aber seine Möglichkeiten waren grenzenlos, das war ein zwingender logischer Schluss und daher wahr. Ich entsann mich, dass ich einige Jahre zuvor von zwei Generälen der Army angesprochen worden war, deren Namen ich vielleicht erfahren, mir allerdings nicht gemerkt hatte. Ich erinnerte mich allerdings noch, dass sie einander erschreckend ähnlich sahen, obwohl einer eine Frau und der andere ein Mann war. Sie klopften — für Kriegstreiber recht zaghaft, wie ich fand — an meine Bürotür.
Wir redeten knapp über zwei Stunden lang etwas schwammig, aber durchaus ehrlich über nichts. Sie wollten mir nicht sagen, wofür sie es haben wollten, und ich konnte ihnen nicht sagen, was es war oder wo es sich finden ließ.
»Was meinen Sie denn, was Sie mit nichts anfangen können, wenn Sie es finden?«
»Genau deshalb unterhalten wir uns mit Ihnen«, sagte General Er. »Weil wir das gern wüssten, wissen Sie?«
»Sie kennen sich mit nichts aus«, von General Sie. »Darüber herrscht weithin Einigkeit. Wir brauchen Ihre Hilfe. Wollen Sie nicht Ihrem Land dienen?«
»Ich habe diesem Land mein Leben lang nichts gegeben. Ich habe nicht vor, das jetzt zu ändern.«
»Wie meinen Sie das?«, von Sie.
»Ich meine damit nicht irgendetwas«, sagte ich. »Nicht irgendetwas ist nicht gleichbedeutend mit nichts. Das verstehen Sie, oder?«
»Nichts könnte den alles entscheidenden Unterschied machen, so viel wissen wir«, sagte General Er.
Ich schüttelte den Kopf. »Niemand kann nichts besitzen.«
Die Generäle wechselten einen Blick, den ich nicht verstand, ja ihr Blickwechsel wurde mir erst an diesem Tag bewusst, als ich von meinem Treffen mit John Sill nach Hause ging. Vielleicht konnte jemand nichts finden und sich zunutze machen. Mir war ein bisschen schlecht, bang und leicht schwindelig vor Erregung.
Es wird postuliert, dass die primordialen Bestandselemente vor dem sogenannten Urknall (wie so viele stelle ich mir vor, dass es sich eher um ein Winseln handelte) Dinge wie Helium-4, Helium-3, Deuterium und Protium waren. Die überhebliche, gleichwohl aber verzwickte Frage lautet: Wo ist dieses Zeug hergekommen? Und wohinein, wohindurch und woraufhin expandiert das Universum eigentlich? Es ist entweder nichts oder ein Etwas, das wir nichts nennen, und nicht dieser Dunkle-Materie-Quatsch, an den so viele glauben. Das war nicht meine Theorie, sondern die eines ziemlich gerissenen, spekulativen französischen Physikers namens Jean Luc Retàrd, jawohl, der die Vorstellung von Riesz-Räumen und die Idee, die Ordnungseigenschaften zu abstrahieren, dazu verwendete, kontinuierliche Funktionen von den Einzelheiten irgendwelcher bestimmter Räume zu befreien, was zu dem Gedanken führte, dass, wenn nichts tatsächlich in Kontakt mit etwas oder nicht-nichts kommt, dieses Etwas zu existieren aufhört. Es braucht nicht viel Vorstellungskraft, um die Parabellum-Implikationen zu erkennen. Die meisten glauben, zu Unrecht, dass nichts lediglich die Leere zwischen subatomaren Teilchen sei. Nichts ist ebenso wenig Leere, wie es die Abwesenheit von etwas, irgendeinem Ding, irgendwelchen Dingen oder Substanz ist. Der eigentliche Urknall steht noch bevor, denn das, woraus das Universum entstand, holt gegenüber dem, was es werden wird, ständig auf. Die Macht von nichts zu erleben hieße, alles zu verstehen; sich die Macht von nichts zunutze zu machen hieße, alles, was ist, zu negieren, und der traurige, unheimliche, entscheidende Gedanke dabei ist, dass dies durchaus eine Unterscheidung ohne Unterschied sein könnte.
Mein Hund empfing mich an der Tür. Ihm blieb gar nichts anderes übrig. Dort hatte ich ihn nämlich zurückgelassen. Er heißt Trigo und hat nur noch ein Bein. Er ist eine kräftige, gedrungene Bulldogge, angesichts seiner fehlenden Beine umso gedrungener. Trigo bezeichnet seine drei fehlenden Gliedmaßen als seine Nichtse. Ich habe ihn gerettet, so der Sprachgebrauch des Tierheims, »gerettet«, obwohl ich eher von »mich mit ihm angefreundet« reden würde. Die Leute im Tierheim wollten ihn »einschläfern«, ihr Euphemismus für Mord. Ich fragte, ob sie einen Menschen ohne Beine auch umbringen würden, und sie sagten natürlich nein. Ich brachte den Hund mit seinem verbliebenen Bein weg von diesem Ort. Zweimal am Tag, wenn ihm danach ist, erledigt er sein Geschäft, und ich säubere ihn post faecem. Er hat ein Rollwägelchen, das er nicht besonders mag, aber vormittags ungefähr eine Viertelstunde lang durch die Gegend zieht, um sich ein bisschen Bewegung zu verschaffen. Wenn ich ihn zum Luftschnappen mit nach draußen nehme, sitzt er in einer Babytrage, die man als Björn bezeichnet, an meiner Brust. Er ist ein überaus freundlicher, wenn auch anspruchsvoller, sehr gesprächiger Hund mit ausgeprägten Hängebacken. Er redet mit jedem.
Trigo und ich gingen den Hügel hinunter ins Zentrum von Providence und zur Bank of America, wo ich mich am Schalter anstellte, um den Scheck von John Sill einzuzahlen.
Der verblüffte Kassierer starrte eine volle Minute lang die Vorderseite des Schecks an. »Der sieht echt aus«, sagte er.
»Das liegt vermutlich daran, dass er es ist«, sagte ich.
»Warten Sie hier«, sagte er.
»Gibt es ein Problem?«
»Ich muss das von meiner Vorgesetzten absegnen lassen.«
»Klingt vernünftig«, sagte ich.
Er hieß Theodore, wie ich seinem Namensschild, schwarz mit Messingbuchstaben, entnahm. Er entfernte sich ein paar Schritte und sprach mit einer klüger wirkenden jungen Frau. Er zeigte ihr den Scheck. Sie schaute an ihrem Kollegen vorbei auf mich, dann wieder auf das Papier, hielt es ans Licht. Beide kamen zu mir zurück.
»Gibt es ein Problem?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht«, sagte die Frau.
»Wie heißen Sie?«, fragte ich.
»Stephanie Mayer«, sagte sie.
»Ich heiße Wala Kitu. Das steht hier auf der Vorderseite des Schecks. Es steht außerdem hier in meinem amtlich ausgestellten Pass, ferner hier in meinem Fakultätsausweis und auch hier über meiner Adresse auf dem Einzahlungsschein, den ich fein säuberlich aus meinem Bank-of-America-Scheckheft herausgetrennt habe. Das hier ist Trigo. Er kann sich nicht ausweisen.«
Trigo bellte.
Inzwischen starrten Leute in den benachbarten Warteschlangen zu uns her. Der schlaksige Hausmeister hatte aufgehört, den Boden zu wischen, und sah ebenfalls her. Stephanie Mayer versah den Scheck mit ihren Initialen und gab Theodore grünes Licht. Ich nahm meinen Einzahlungsbeleg entgegen und prüfte ihn eingehend, zählte die Nullen, nickte, erwog, Stephanie Mayer um die Erlaubnis zu ersuchen, gehen zu dürfen, tat es jedoch nicht.
Draußen lief ich einer meiner Kolleginnen in die Arme, einer sehr jungen Mathematikerin namens Eigen Vector. Ihr Spezialgebiet war die Topologie, was sonst? Wie die meisten Mathematiker, mich eingeschlossen, litt sie an einer Autismus-Spektrum-Störung, und man musste jederzeit damit rechnen, dass sie die abwegigsten Sachen sagte. So auch jetzt.
»Heute passen meine Schuhe zusammen«, sagte sie zur Begrüßung.
Ich betrachtete ihre Nike-Sneakers. »Alle beide«, sagte ich.
»Hallo, Trigo«, sagte sie.
Trigo gab Laut.
Eigen versuchte sich selbst an einem Bellen.
»Schöner Tag«, sagte ich, und dabei fiel mir auf, dass der Himmel bedeckt und alles grau war.
»Ist es wohl«, sagte sie. »Warum bist du so glücklich? Ich frage, weil du glücklich wirkst. Ich würde auch gern Glück erleben.«
»Ich glaube nicht, dass ich jemals glücklich bin, um ehrlich zu sein«, sagte ich. »Eigentlich auch nie richtig traurig, aber glücklich auch nicht.«
»Na, jedenfalls wirkst du so.«
»Wer weiß, vielleicht bin ich’s ja«, sagte ich. »Ich wüsste gar nicht, wie sich das anfühlt. Trigo dagegen, der ist glücklich.«
Trigo gab Laut.
Eigen Vector streichelte mit dem Handrücken sein fettes, flaches Gesicht. »Weich. So ungemein weich. Fettgesicht.«
»Er ist glücklich, weil er immer noch ein Bein hat.«
»Ich fände es schön, wenn mein Leben symmetrisch wäre«, sagte Eigen. »Aber irgendwie kriege ich es nicht hin, dass es seiner eigenen Transponierten entspricht.«
»War das ein Versuch, witzig zu sein, Professor Vector?«
»Was meinst du?«
»Ganz hübsch.«
»Nett von dir, dass du das sagst. Aber du wirkst tatsächlich sehr erfreut über irgendetwas.«
Ich nickte. »Man muss hier unterscheiden, da hast du recht, zwischen erfreut sein und glücklich sein. Eins davon ist existentiell, ich weiß allerdings nicht, welches.« Wir schwiegen kurz. »Ich habe gerade eine Förderung bekommen, von der ich hoffe, dass sie zu nichts führt.«
»Förderungen sind gut.«
Ich nickte zustimmend.
»Es regnet, weißt du«, sagte sie.
»Ja, ich weiß.«
»Isst du eigentlich jemals zu Mittag?«, fragte sie.
»Ja«, sagte ich.
»Ich auch. Fast jeden Tag. Jeden Tag ungefähr um dieselbe Zeit.« Erneut kraulte sie Trigos Gesicht. »So weich. Fett.«
Vorhin habe ich die primordialen Elemente erwähnt — jedenfalls glaube ich, sie erwähnt zu haben —, die Samen von allem; jedoch läuft dies alles wiederum auf eine sogenannte Petitio principii hinaus. Die Petitio principii ist eine argumentative Figur, die in der Kultur an Einfluss verloren hat. Halbgebildete Nachrichtensprecher, Sportreporter und Politiker — man verzeihe mir die dreifache Redundanz — verwenden die englische Entsprechung, »begging the question«, mittlerweile im Sinne von »eine Frage aufwerfen«. Die altehrwürdige Bezeichnung der Argumentationsfigur durch das deskriptive »Voraussetzung der Schlussfolgerung« zu ersetzen heißt, den Wert des rhetorischen Mittels zu schmälern und sich zugleich einer allgemeinen und tiefreichenden Schwächung kultureller Intelligenz zu ergeben. Man verzeihe mir meine kurze Abschweifung. Im Grunde kommt sie von nirgendwoher, von nichts. Zurück zur Petitio cosmologici principii. Die Vorstellung ist, dass der Ururknall aus Quantenfluktuationen resultierte, während das Universum »entstand«, wie wir das nennen: aus einem Nichts, über das wir nichts wissen. So schön ein mathematischer Beweis auch ist, so bezaubernd ein logischer Schluss sich auch ausnehmen mag, sind doch beide bloß Ideen, Äther, Dunst. Mein Verständnis von nichts erfordert als Erstes, anzuerkennen, dass die Akzeptanz von nichts mehr ist als eine philosophische und mathematische Übernahme der sehr nützlichen Zahl Null. Die Heisenbergsche Unschärferelation beschäftigt sich nicht so sehr mit dem Ort von Elektronen, sondern mit dem Verbleib von nichts, jenen Lücken, wo die Elektronen nicht sind. Und mit der Vorstellung von jenem leeren Raum als einem metastabilen Vakuum — Hawking und Kaku wollten schon immer auf zwei Hochzeiten tanzen —, die nicht einmal mehr eine Petitio principii, sondern einen Fall von terminalem Regress darstellt. Ich will nicht auf zwei Hochzeiten tanzen; nichts ist nicht etwas, ist nicht das Nichtvorhandensein von etwas, sondern ist nichts. Null mag gelegentlich als numerischer Platzhalter dienen, aber nichts tut das nicht. Obwohl nichts, tautologisch, nicht irgendetwas sein könnte, ist es zugleich nicht »nicht irgendetwas«. Man nimmt an, dass nichts von nichts kommt, was so viel heißt wie dass nichts ergibt, was nichts ergibt, was nicht irgendetwas, sondern nichts ergibt, bla, bla, quassel. Die Unendlichkeit mag langweilig sein, aber sie ist zutiefst unentrinnbar und, erstaunlicherweise, primitiv. Ich erspare Ihnen und mir jede ausführliche Erörterung von Null, da Null angesichts von nichts tatsächlich nichts, im Übrigen aber nicht zu verachten ist.
Wer hätte gedacht, dass Euklid nur im All zutrifft, ungeachtet der Tatsache, dass irdische Anwendungen durchweg euklidisch sind. Aufgrund der Flachheit des Alls lässt sich nichts schwer darin verstecken, zumal das All bis an seinen flachen Rand voll vom Rest des Universums ist. Gibt es da draußen anderes Leben? Keine Ahnung. Mir egal. Gibt es andere Dimensionen? Nein. Irgendwie wollen wir uns ständig Dimensionen vorstellen, von denen wir behaupten, dass wir sie unmöglich wahrnehmen können, fraglos der gleiche Drang, der uns die Vorstellung von Gottheiten beschert hat, aber vielleicht gibt es im All nur zwei Dimensionen, und machen wir uns nichts vor, die Zeit ist wohl kaum eine Dimension, genauso wenig wie Liebe, Entsetzen oder Schwindelgefühl. Und unsere drei Dimensionen, diejenigen, die wir für Tische, Hocker und andere Leute verwenden — Höhe, Breite und Tiefe —, sind, denke ich, alle von gleicher Wichtigkeit oder Bedeutungslosigkeit und alle inadäquat benannt. Was die Zeit und ihre Nicht-Dimensionalität angeht: Logiker, Mathematiker und Naturwissenschaftler sorgen sich allesamt, dass die von ihnen formulierten Theorien einen Widerspruch, den Sargnagel rationalen Denkens, ergeben, aber sollten sie deswegen eher Theologen oder Firmen- und Steueranwälten nacheifern? Dass eines unserer Axiome falsch ist, wird mit »Ja, habe ich doch gemeint« quittiert. Es reicht nicht zu zeigen, dass eine Aussage falsch ist, sondern man muss auch beweisen, dass ihre Widerlegung sich nicht aus der Summe unseres Verständnisses von der Welt herleiten lässt. Warum verschwende ich damit Zeit? Man kann die Zeit, wie nichts, in gewisser Weise nicht sehen (gesehen zu werden ist nicht das Gleiche, wie beobachtet zu werden), und obwohl wir Uhren, unglaublich präzise Uhren besitzen, lässt sich die Zeit nicht messen, da man irgendeine Abstraktion, Konvention, nicht messen kann. Ohne Menschen gäbe es keine Zeit, so wie es vor den Menschen keine Zeit gab und nach ihnen keine geben wird. Nichts andererseits ist nicht abstrakt, sondern das Konkreteste der konkreten Welt, und es geht nicht nur Menschen, Steinen, Lava und Gasen voraus, sondern wird den Untergang der Konvention Zeit fortführen, wenn nicht gar verursachen, die Implosion von Galaxien und die Verflüchtigung von Radiosignalen, die von großäugigen Optimisten wie John Milton Bradley Sills in die Tiefen des Alls gesendet werden.
Von meinem Verständnis und — in Ermangelung eines besseren Wortes — meiner Theorie von nichts hatte es, wie von Hilbert, geheißen: Das ist nicht Mathematik, das ist Theologie. Axiome, Postulate, Theoreme und Beweise langweilten mich zu Tode. Mein jüngeres, unreifes Selbst hätte endlos mit meinem jetzigen Standpunkt gehadert, aber als junger Mensch war ich meiner bescheidenen Meinung nach natürlich auch klüger. Trigo lag schlafend auf dem Tisch in meinem Labor, und ich betrachtete meine Behälter unterschiedlichster Formen, Größen und Materialien voller nichts. Ich konnte keinen davon öffnen, denn einen zu öffnen hieße, alle zu leeren. Ich wurde häufig aufgefordert, genau das zu tun, um meine Behauptung zu beweisen. Ein solcher anschaulicher Beweis jedoch hätte gezeigt, dass ich zugleich recht und außerdem zwangsläufig unrecht hatte. Eine Box mit nichts zu leeren hätte bedeutet, nichts zu verlieren und nichts, was man dafür vorweisen konnte, übrig zu behalten. Also: nichts zu machen.
Trigo und ich gingen nach Hause. Ich machte uns etwas zu essen, Menschen- und Hundefutter, und wir setzten uns ins Speisezimmer und sahen den Studenten beim Vorbeischlendern und -radeln zu. Ich erzählte Trigo noch einmal von dem neu gewonnenen Geld. Er war nicht leicht zu beeindrucken, räumte jedoch ein, dass wir zu einer ansehnlichen Summe gekommen waren, und gab dann zu bedenken, dass wir vielleicht ein Auto gebrauchen könnten. Er sagte mir, dass unser neuer Job bei Sill zweifellos einiges an Reisen erfordern würde, und da er sich weigerte zu fliegen, erschien ein Auto vernünftig. Ich konnte nicht mit ihm streiten, schließlich ist er ein Hund, also pflichtete ich bei, wies jedoch darauf hin, dass ich noch nie ein Automobil gefahren hatte. Wie das denn sein könne, bellte er, und fügte dann hinzu, dass ich einen Führerschein bräuchte.
Wie sich herausstellte, braucht man ein Auto, um die Fahrprüfung abzulegen. Wie sich außerdem herausstellte, braucht man einen Führerschein, um ein Auto zu mieten. Also beschloss ich, eins zu kaufen. Es gibt kein Gesetz, das vorschreibt, dass man zum Kauf eines Autos einen Führerschein haben muss; dann allerdings vom Autohaus damit wegzufahren ruft Stirnrunzeln hervor. Deshalb suchte ich nach einem Gebrauchtwagen von einem Privatverkäufer. In der Zeitung waren zum Verkauf angebotene Autos alphabetisch nach Marken geordnet, und ich fand mich in einer Einfahrt in Cranston wieder, wo ich einen 1970er Alfa Romeo GTV betrachtete. Nichts davon bedeutete mir irgendetwas, wohl aber offensichtlich dem fünfzigjährigen WASP im Polohemd, dem sehr daran lag, einen, wie er es formulierte, fairen Preis zu bekommen, einen fairen Preis für ein Fahrzeug, das er am Telefon als sein Baby bezeichnet hatte.
»Ich weiß, es ist eine sehr auffällige Farbe«, sagte der Besitzer. »Es ist chartreusegrün.«
»Eigentlich eher giftgrün, vielleicht auch peridotgrün.«
»Okay«, sagte er.
Er hieß Kenneth Peterman und trug gelbgrüne Hosen und das bereits erwähnte, zu enge taubenblaue Polohemd mit hochgeschlagenem Kragen. Er lächelte gern und unaufhörlich. »Hier, setzen Sie sich mal hinters Steuer. Spüren Sie das Leder. Steigen Sie mal einen Moment aus, dann lasse ich sie für Sie an.« Er warf sich hinters Steuer, startete den Motor und gab selbst einen Laut von sich, während der Wagen ansprang. »Hören Sie mal.«
»Es gibt da ein —«
»Nein, hören Sie mal kurz zu.«
Ich nickte, hörte zu.
»Die reinste Musik.«
»Wie viel?«, fragte ich.
Peterman machte ein Gesicht, als hätte ich ihn gekränkt.
»Hat sie auch einen Namen?«, fragte ich.
Die Frage entspannte ihn. »Ich nenne sie Audrey. Meine Frau hasst sie.« Peterman starrte durch die Windschutzscheibe. »Sie hasst sie, aber sie will sie haben. Jeder will Audrey.«
Ich ließ meine unausgesprochene Frage in der Luft schweben.
»Scheidung«, sagte er. »Versuchen Sie sie nach Möglichkeit zu vermeiden.«
»Ich bin nicht verheiratet.«
»Ein sehr guter erster Schritt.«
Ich wusste seine rudimentäre Logik zu würdigen, wollte aber immer noch wissen, was er für den Wagen erwartete.
»Ist es zu fassen, dass sie sie aus reiner Gehässigkeit fahren würde? Die Giftnudel.«
»Nein, ist es nicht«, sagte ich. »Wie groß wäre denn die Gehässigkeit? In Dollar, meine ich.«
»Sie wird sie nicht mal fahren. Sie wird sie nicht mal verkaufen. Sie wird sie als Schrott verschenken, an irgendeine dämliche wohltätige Einrichtung, die armen Kindern hilft, und dann wird sie’s steuerlich geltend machen. Sie haben die verdammten Kinder im Radio singen hören. Wahnsinnig nervig.«
»Die Kinder?«
»Nein, meine scheiß Frau, fast schon Exfrau, die ist wahnsinnig nervig. Mann, ich kann’s kaum erwarten, das zu sagen, Exfrau.«
»Wie nervig ist sie denn?«, fragte ich. »In Dollar, meine ich.«
Er hielt inne und betrachtete mich wie zum ersten Mal. »Was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Professor an der Brown.«
Peterman nickte. »Da habe ich mich auch mal beworben, aber ich hatte nicht die richtigen Beziehungen. Ich war an der U. R. I.«
»Gute Uni.«
»Ja, stimmt. Wo haben Sie studiert?«
»Am Pasadena Community College«, sagte ich.
Das brachte ihn zum Lächeln. »Das ist auch eine gute Uni, habe ich gehört«, sagte er beinahe grinsend. »Soll einen schönen Campus haben.«
»Ich weiß nicht. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern. Ich bin mit fünf von dort weg- und nach Princeton gegangen. Wie viel wollen Sie für Audrey?«
»Dreißigtausend.«
»Barzahlung okay?«
»Was?«
»Nehmen Sie Bargeld?«
»Na klar.« Peterman strahlte. Er dachte zweifellos an seine Frau.
»Da ist nur eins«, sagte ich.
»Und das wäre?«, fragte er argwöhnisch.
»Ich kann nicht fahren. Ich hätte gern, dass Sie es mir beibringen.«
»Wollen Sie mich veräppeln? Hat meine Frau Sie hergeschickt, damit Sie mich verarschen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich zahle Ihnen Fünfunddreißigtausend, wenn Sie mir außerdem beibringen, wie man die Maschine bedient. Abgemacht?«
»Echt jetzt? Maschine? Fünfunddreißigtausend Dollar. Die Jungs im Club haben Sie angeheuert, damit Sie hierherkommen. Die Arschlöcher.«
»Nein, nein, echt jetzt«, sagte ich, seinen Ausdruck aufgreifend. »Morgen komme ich mit dem Geld.«
»Ganz bestimmt.«
Er glaubte mir nicht.
»Um welche Zeit soll ich hier sein? Die Bank öffnet um neun, und ich kann um halb zehn hier sein. Wäre Ihnen das recht?«
»Wie Sie meinen«, sagte er. Er senkte den Kopf und ging zurück zu seiner Haustür. »Arschlöcher.«
Peterman kam nicht wieder heraus, während ich noch eine Zeitlang dastand und die limettengrüne Audrey betrachtete.
An jenem Abend studierte ich die Funktionsweise des Verbrennungsmotors sowie diverse Getriebearten und las die für Rhode Island geltenden Straßenverkehrsvorschriften. Sie hießen zwar nicht so, aber genau das waren sie. Das braune Schild mit dem weißen Schriftzug des Roger Williams Park and Zoo ging mir nicht aus dem Kopf, und eine Stunde lang war das alles, was ich vor mir sah.
Ich träumte von leeren Mengen. Ich hatte sozusagen zwei Nullmengen vor mir. Eine Menge enthielt reale Äpfel, die keine Früchte waren, die andere enthielt verheiratete Junggesellen. Trigo argumentierte auf seine gewohnt ruhige Weise, dass die Mengen gleich seien, indem er die offensichtliche Wahrheit anführte, dass sie beide keine Elemente und daher die gleiche Anzahl von Elementen enthielten. Ich argumentierte, dass die Mengen unmöglich gleich sein konnten, weil das, was der einen fehlte, nicht das Gleiche war wie das, was der anderen fehlte.
»Behauptest du etwa, mein lieber Hund Trigo, dass ein verheirateter Junggeselle einem Apfel, der keine Frucht ist, entspricht?«
»Ja, genau«, sagte Trigo.
»Dann erlaube mir folgende Frage: Ist ein Junggeselle ein Mann oder eine Frau?«, fragte ich.
»Ein Mann«, sagte er.
»Okay, ist ein Apfel ein Mann?«
»Nein.«
»Wie kann der Apfel dann ein Junggeselle sein?«
»Aber einen verheirateten Junggesellen gibt es nicht«, bellte Trigo.
»Und?«
»Genauso wenig wie deinen lächerlichen Nichtfrucht-Apfel. Nichts ist nichts. Nichts ist gleich nichts.«
»Streck deine Pfote aus«, forderte ich ihn auf. Ich streckte meine leere Hand gleichfalls aus. »Was hast du in der Pfote?«
»Nichts.«
»Was habe ich in der Hand?«
»Nichts.«
Ich nickte. »Also würdest du sagen, dass sowohl meine Hand als auch deine Pfote voller nichts sind. Würdest du dem zustimmen?«
Trigo nickte.
»Ist meine Hand größer als deine Pfote?«
»Ja.«
»Dann hält meine Hand mehr nichts als deine Pfote. Wenn meine Hand mehr hält, wie kann dann das, was du hältst, gleich dem sein, was ich halte?«
Trigo biss mich.
Wenn auch beargwöhnt, fand ich mich wie versprochen am nächsten Morgen um halb zehn bei Petermans riesigem Terrassenhaus ein. Anders als zuvor wartete er nicht in der Einfahrt, also klingelte ich an der Haustür. Die künftige Exfrau öffnete.
Sie sah Peterman auf bedenkliche Weise ähnlich. Sie trug weiße Tenniskleidung, und ihr platinblondes Haar war gefährlich stramm zurückgekämmt und zusammengebunden, was ihre letzte, nicht aber finale Gesichtsstraffung zusätzlich unter Spannung setzte. »Was wollen Sie?«, fragte sie.
»Ist Mr. Peterman da?«, fragte ich.
»Wieso?«
»Ich bin hier, um sein Auto zu kaufen.«
»Ach nein, tatsächlich?«
»Vielleicht sollte ich später wiederkommen.«
Sie blickte sich verstohlen um, dann sah sie wieder mich an und lächelte. »Nein, vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.«
»Das glaube ich nicht. Ihr Mann hat mir erzählt, dass Sie den Wagen nicht ausstehen können, dass Sie beide sich scheiden lassen und dass Sie sehr gehässig sind.«
»So, hat er das? Wie ist das denn zur Sprache gekommen?«
»Er dachte, Sie hätten mich geschickt, um ihn wegen des Autos zu verarschen, wie er das genannt hat, obwohl ich nicht recht weiß, was das heißen soll. Dann hat er gesagt, Sie seien gehässig, und mir zugeredet, Scheidung und Ehe zu vermeiden. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.«
»Wie viel verlangt er?«
»Er hat Sie als Giftnudel bezeichnet. Obwohl ich da keine Ähnlichkeit sehe. Ich sollte später wiederkommen«, sagte ich.
»Seien Sie nicht albern, Mister —«
»Kitu.«
»Mr. Kitu, der Wagen gehört zur Hälfte mir. Was will er dafür haben.«
»Ich habe fünfunddreißigtausend Dollar bei mir.«
»Sie haben was?«
Ich sagte es noch einmal und sah zu, wie ihr Gesicht noch männlicher geriet. Aus irgendeinem Grund fiel mir der Witz von dem Pferd ein, das in die Kneipe kommt, worauf der Barmann fragt: Warum das lange Gesicht? Ich musste lachen.
»Was ist so lustig?«, fragte sie.
»Er soll mir auch das Fahren beibringen«, sagte ich.
»Was?«
»Ich kann nicht Auto fahren. Ich habe ihm zusätzlich fünftausend dafür geboten, dass er es mir beibringt.«
Mrs. Peterman fing an zu lachen und nickte dabei, als würde sie etwas verstehen. »Sehr lustig. Wie aus einem dieser Witze über Doppelagenten. Der Scheißkerl hat Sie dazu angestiftet, stimmt’s?«
»Hören Sie, ich brauche einfach ein Auto. Ich weiß, wie Autos funktionieren, das heißt technisch, aber ich habe keine Ahnung, wie man eins bedient. Vom Prinzipiellen mal abgesehen. Ihr Mann hat mich nicht dazu angestiftet. Ich gehe jetzt.«
»Zeigen Sie mir das Geld«, sagte sie.
Ich zeigte ihr meine Star-Market-Plastiktüte voller Hundertdollarscheine. Sie schien einen Orgasmus zu haben, aber ich war mir nicht sicher. »Ich meine es ernst mit dem Autokauf, wenn Sie also Ihren Mann bitten würden, mich anzurufen.« Ich gab ihr meine Karte.
Sie warf einen Blick darauf. »Professor Kitu.«
»Da steht meine Festnetznummer. Ein Handy habe ich nicht.«
Mrs. Peterman sah mich schief an. »Kein Handy?«
»Richtig.«
»Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der kein Handy hat.« Wieder warf sie einen Blick auf meine Karte. »Sie sind Mathematikprofessor?«
»So was Ähnliches. Ich gehöre zur mathematischen Fakultät.«
»Da müssen Sie ja sehr schlau sein.«
»Ich weiß nicht, wie man ein Kraftfahrzeug bedient, so schlau also auch wieder nicht.«
»Und Sie wollen einen Alfa Romeo, ja? Stehen Sie auf Oldtimer?«, fragte sie und schaute erneut nach hinten ins Haus.
»Nicht unbedingt«, sagte ich zu ihr. »Es war nur zufällig die erste Anzeige, die ich in der Zeitung gesehen habe. Ich will einfach nur ein funktionierendes Auto. Ich könnte einen Alfa Romeo nicht von einem … einem … einem …« Ich kannte keine andere Marke.
»Wissen Sie, das Ding hat ein Handschaltgetriebe. Und vom ersten in den zweiten zu schalten ist richtig hakelig. Die Kupplung macht ein Geräusch. Hat mein Mann Ihnen das gesagt? Ich wette, das hat er nicht. Er ist ein Gauner.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Natürlich hat er das nicht gesagt. Er ist unehrlich. Deswegen lasse ich mich auch von dem Scheißkerl scheiden. Ihnen ist also egal, was für ein Auto das ist?«
»Ja.«
»Das da ist mein BMW.« Sie zeigte auf ein kleines dunkelblaues Cabrio, das neben der auffallend grünen Audrey stand. »Er hat ein Automatikgetriebe. Er ist viel leichter zu fahren, und er ist erst zehn Jahre alt, im Gegensatz zu diesem vierzig Jahre alten italienischen Schrotthaufen. Er hat einen niedrigen Tachostand. Ich fahre damit zum Büro und zurück. Mehr nicht, nach Pawtucket und zurück. Ich bin wie die kleine alte Lady aus Pasadena. Und wie mein GIPGIP-Ehemann. Der ist nie aus Rhode Island rausgekommen, war noch nicht mal in Boston.«
»GIPGIP?«
»Geboren in Providence, gestorben in Providence. Sogar unsere Flitterwochen haben wir in Newport verbracht. Ich hasse ihn bis aufs Blut.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Ich verkaufe Ihnen mein Auto für fünfundzwanzig und gebe Ihnen gratis eine Fahrstunde.«
»Okay. Ich brauche ein Auto.«
»Wie sind Sie hierhergekommen?«, fragte sie, als wäre ihr das plötzlich eingefallen.
»Mit dem Bus.«
»Wir haben Busse?« Erneut warf sie einen Blick zurück ins Haus, lauschte auf Bewegungen. »Gehen Sie schon mal rüber zu meinem Wagen. Ich bin gleich wieder da. Oder setzen Sie sich rein. Die Sitze werden Sie begeistern.«
Ich tat wie geheißen. Ich wusste nicht, welchen Anforderungen ein Autositz genügen musste, um als bequem zu gelten, aber ich saß nicht unbequem. Ich hielt die Füße von den Pedalen fern. Mrs. Peterman war wenig später wieder draußen bei mir. Sie hielt die Fahrertür auf und trat einen Schritt zurück.
»Sie müssen aussteigen und auf die andere Seite gehen«, sagte sie, und ich stieg aus. Während ich auf der gegenüberliegenden Seite wieder einstieg, sagte sie: »Hier können wir schlecht eine Fahrstunde veranstalten, oder? Ich weiß genau den richtigen Ort.«
Sie ließ den Wagen an. Der Motor war viel weniger laut als der von Audrey, und ich fragte mich, ob das gut war. Sie zischte viel schneller, als es die Verkehrsvorschriften meiner Kenntnis nach empfahlen oder zuließen, aus der Einfahrt und die Vorstadtstraße entlang. Nach ein paar Abzweigungen und wenigen Kilometern ließ sie den Wagen auf den unebenen, von Pfützen übersäten Parkplatz eines stillgelegten Einkaufszentrums rollen. Ganz am anderen Ende hatte noch ein einziges Geschäft geöffnet; davor waren schräg drei, vier Autos und ein Pick-up geparkt.
»Haben Sie schon mal versucht zu fahren?«, fragte sie.
»Nein, nie.«
»Wie ist das möglich?«
Ich zuckte die Schultern.
