Erschütterung - Percival Everett - E-Book

Erschütterung E-Book

Percival Everett

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Beschreibung

„Ein zartes, gewaltiges Kunststück.“ (The New York Times) – Percival Everetts großer Roman über Verlust und Erlösung

Der Paläontologe Zach Wells hat sich in seiner selbstironischen Abgeklärtheit bequem eingerichtet: Idealen misstraut er, ob an der Universität, wo er, selbst Afroamerikaner, sich nicht für Gleichberechtigung einsetzt, oder zu Hause in der erkalteten Beziehung zu seiner Frau. Einziges Licht in seinem Leben ist die zwölfjährige Tochter Sarah. Als diese ihr Sehvermögen verliert und eine erschütternde Diagnose folgt, flieht Zach in die Wüste New Mexicos. Dort geht er einem mysteriösen Hilferuf nach, den er in einer Second-Hand-Jacke gefunden hatte. Ebenso mitreißend wie psychologisch feinsinnig erzählt der Pulitzer-Preis-Finalist eine große Geschichte über Verlust und Erlösung.

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Über das Buch

Der Paläontologe Zach Wells hat sich in seiner selbstironischen Abgeklärtheit bequem eingerichtet: Idealen misstraut er, ob an der Universität, wo er, selbst Afroamerikaner, sich nicht für Gleichberechtigung einsetzt, oder zu Hause in der erkalteten Beziehung zu seiner Frau. Einziges Licht in seinem Leben ist die zwölfjährige Tochter Sarah. Als diese ihr Sehvermögen verliert und eine erschütternde Diagnose folgt, flieht Zach in die Wüste New Mexicos. Dort geht er einem mysteriösen Hilferuf nach, den er in einer Second-Hand-Jacke gefunden hatte. Ebenso mitreißend wie psychologisch feinsinnig erzählt der Pulitzer-Preis-Finalist eine große Geschichte über Verlust und Erlösung.

Percival Everett

Erschütterung

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Hanser

Für Henry und Miles

Ja, ich sehe es ein, zweierlei ist möglich, man kann entweder dieses thun oder jenes; meine aufrichtige Meinung und mein freundschaftlicher Rat ist der: thu es oder thu es nicht, beides wird dich verdrießen.

Søren Kierkegaard

ENTE, ENTE, GANS

1

Die Leute, und damit meine ich die, sind nie auf Wahrheit, sondern immer nur auf Befriedigung aus. Ungeachtet gewisser schmerzhafter und tödlicher Krankheiten gibt es nichts Schlimmeres als eine unbefriedigende, jämmerliche Wahrheit, wohingegen es nur allzu leichtfällt, eine befriedigende Lüge zu akzeptieren oder gar zu übernehmen und sich behaglich damit einzurichten. Wie Gedanken, die eine zusätzliche Dimension damit einhergehender Gedanken besitzen, so werden auch Handlungen von damit einhergehenden Handlungen mit unabsehbaren, willkürlichen Absichten und Folgen, guten wie schlechten, begleitet, und Dingen, Dingen selbst, haften damit einhergehende Dinge in ungeahnten Perspektiven und Dimensionen an. Eine unbefriedigende Wahrheit? Wie Banquos Geist setzen sich solche Gedanken auf des Königs Platz — literarische Anspielungen sind schließlich schwer in Mode. Solche Gedanken. Es ist die Sklaverei, die den Weg zur Freiheit eröffnet.

hic et nunc?

Ich bin Zach Wells. Wells ist ein guter Name für einen Geologen-Schrägstrich-Paläobiologen, und so wurde ich einer. Ich wusste eine Menge über Fossilien und Höhlen, besonders über die vor langer, langer Zeit übriggebliebenen Knochen von Lebewesen. Ich pflegte meiner Tochter zu sagen, dass wir auf unsere Knochen achten müssten, weil sie letztlich alles seien, was von uns übrigbleiben würde, übrigbleiben und unsere Geschichte erzählen. Ich wusste wahnsinnig viel über eine spezielle Höhle namens Naught’s Cave im Grand Canyon und die Vogelwelt, die einst darin heimisch war. Wie obskur ist das? Nun ja, ich wusste mehr als die meisten Leute. Der Vollständigkeit halber sollte ich darauf hinweisen, dass die meisten Leute über fast alle anderen Dinge mehr wussten als ich. Dies alles war und ist von geringer Bedeutung, oder vielleicht Transzendenz, außer dass es Sie über meine tiefe, gähnende Langweiligkeit ins Bild setzt. Es informiert Sie darüber, dass ich endlose Stunden mit Knochen, Steinen und Sedimenten zubringen konnte, und zwar namentlich in einer sehr speziellen Höhle in einer sehr speziellen roten Felswand vierundvierzig Meter über dem Colorado River, an einer Stelle, die außer per Hubschrauber — oder, früher einmal, per robustem Boot — für niemanden zugänglich ist. Das sagt vermutlich einiges über mich, falls es überhaupt viel über mich zu sagen gibt. Ein Freund von mir kam bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben, als er zu dieser speziellen Höhle zu gelangen versuchte. Arschloch, das ich bin, habe ich die Höhle seither immer wieder aufgesucht und dabei jedes Mal nur kurz an ihn gedacht. Auch das verrät Ihnen etwas, wenn es auch nichts allzu Schmeichelhaftes ist.

Vor dem Studium war ich bei den Marines. Das war ein Fehler, den ich nie bereuen musste. Ich diente in keinem Krieg und hielt nach meiner Entlassung keine Beziehung zum Marine Corps aufrecht. Ich gewann dort gute Freunde, die ich nie wiedersah. Ich ließ mich nie tätowieren.

Ich wohnte in einer Stadt namens Altadena in Kalifornien. Sie liegt nördlich einer Stadt namens Pasadena. Altadena bedeutet »höhere Dena«, wie in Pasadena. Was Pasadena bedeutet, weiß ich nicht. Offenbar weiß das keiner. Es gibt viele Dinge, die keiner weiß, was bis zu einem gewissen Grad tröstlich ist. Zu der Zeit, da ich dies schreibe, weiß ich nicht, ob ich noch viel länger leben werde, und Sie wissen nicht, wovon ich rede. An diesen Punkt gelangt bin ich durch eine schlichte Notiz, Zeichen auf einem alten Fetzen Papier, Worte, die womöglich gar nichts bedeuteten, die ich nichts hätte bedeuten lassen können. Aber das ist im Grunde nicht möglich, oder?

sicut in spelunca

Aechmorphorus occidentalis. Zwei in Buschrattenbauen gefundene Fragmente. Die Stücke waren zu klein, um Messungen und die Bestimmung der Subspezies zu ermöglichen. Der Lappentaucher ist ein häufiger Zuggast und Winterstandvogel.

Ich hatte eine Familie, Frau und Tochter, Meg und Sarah. Ich versuchte, meiner Tochter, solange sie es noch verstehen konnte, begreiflich zu machen, dass Frauen in dieser Welt Freiwild sind. Und zwar, ohne es ihr direkt zu sagen, ohne es tatsächlich auszusprechen. Ich wollte nicht, dass sie sich im Leben fürchtet. Das tat sie letztlich auch nicht, aber nur, weil sie es nicht besser wusste. Das war traurig, aber gut.

Die lange und sehr alte Stanton Street Bridge verbindet El Paso, Texas, mit einer gar nicht so kleinen mexikanischen Stadt namens Ciudad Juárez. Friendship Bridge, Puente Rio Bravo, Puente Ciudad Juárez-Stanton El Paso. Hunderte von Frauen waren dort, auf der anderen Seite der Brücke, Freiwild, sind verfolgt, vergewaltigt, inhaftiert, gefoltert und getötet worden. Sie waren größtenteils dunkelhaarig und von schlankem Körperbau, genau wie meine schöne Sarah. Ob Sie es glauben oder nicht, aber diese Vorkommnisse sind, auf vage, unbestimmte Weise, Teil dieser Geschichte.

Manche sagten, in rund zwanzig Jahren seien zweihundert junge Frauen umgebracht worden oder verschwunden. Andere sagten, die Zahl liege eher bei siebenhundert Verschwundenen. So sind die Leute, was Zahlen angeht. Es seien nicht siebenhundert, werden sie sagen, sondern nur dreihundert oder zweihundert, als wären einhundert nicht auch wahrhaft entsetzlich, fünfzig, fünfundzwanzig. Niemand wusste, wer diese Menschen entführte und umbrachte. Vielleicht Drogenkartelle, sagten manche. Vielleicht umherziehende Gangs sexueller Gewalttäter. Teufelsanbeter. Vielleicht Außerirdische. Männer. Es waren Männer. Es waren immer Männer. Immer Männer.

Die Zahlen waren sehr hoch, obszön, schockierend. Olga Perez. Hunderte von Frauen haben keinen Namen. Edith Longoria. Hunderte von Frauen haben kein Gesicht. Guadalupe de la Rosa. Namen. Name. Maria Najera. Es war so unkompliziert, ungefährlich, einfach, in El Paso, einer anderen Welt, über Zahlen zu reden. Niemand vermisst fünfhundert Menschen. Niemand vermisst einhundert Menschen. In Juárez war es einer. Eine Tochter. Eine Freundin. Ein Gesicht. Ein Name. Jemand vermisst einen Menschen.

Manche Menschen können einfach nicht glücklich sein. Und mit manchen Menschen meine ich mich. Es ist nicht so, dass ich mir verloren vorkam oder dass man sich nicht elend fühlen dürfte oder dass ich deprimiert oder trübsinnig sein wollte, sondern ich war nicht wirklich zufrieden, was auch immer »zufrieden« hieß, heißt. Dass ich im Leben keine Zufriedenheit fand, war merkwürdig, da ich doch eigentlich vieles hatte, wovon man meinen würde, dass es glücklich macht. Ich hatte eine kluge, unbeschwerte Partnerin, in die ich zwar nicht innig verliebt war, die ich jedoch schätzte und mit der ich mir gern die alltäglichen, profanen Angelegenheiten des Lebens teilte. Mir war durchaus bewusst, dass ich sie hätte innig lieben sollen, aber da ich nun mal der unglückliche Mensch bin, der ich bin … Ich hatte ein wunderschönes Kind, das ich innig liebte, und das jeden Tag mehr. Trotzdem durchzog mich jene spürbare Schwade von Melancholie, die ich einfach nicht loswerden konnte. Unser Haus war warm, bequem und, wenn auch nicht groß, so doch groß genug. Ich hatte einen Job, bei dem ich in einem Fachgebiet meiner Wahl, so dröge es auch war, forschte, und ich arbeitete mit mehr oder weniger interessanten und anständigen Leuten zusammen, so dröge sie auch waren. In meiner Arbeit war ich tüchtig, fand bei Gelegenheit auch Anerkennung dafür, konnte mir nicht vorstellen, irgendetwas anderes zu machen. Und dennoch kam ich hin und wieder nach Hause, blieb in meiner Einfahrt im Wagen sitzen und erwog in aller Ruhe, ermaß in aller Kaltschnäuzigkeit die denkbar selbstsüchtigste aller Handlungen, den Selbstmord. Die Schuldgefühle, die diese Selbstmordgedanken bei mir hervorriefen, führten allein schon dazu, dass ich mich umbringen wollte. Wein’ nicht um mich, Argentinien. Wenn ich diese egozentrischen, idiotischen, gleichgültigen Gedanken hatte, waren die Morgen danach jedes Mal überaus heiter, oder zumindest ich war es oder versuchte, es zu sein, wollte unbedingt jede Spur meiner Verzweiflung und meines Selbstekels kaschieren, eine Maskerade für die Familie, für meine Tochter. Ich zog in Betracht, dass ich vielleicht unter einer klinischen Depression litt, und begriff rein rational, dass ich mich dessen, wenn es so wäre, nicht schämen musste, dass es ein medizinisches Problem, eine Frage der Gehirnchemie war, doch zuletzt dachte ich dann doch: na und? Dann war ich eben nicht glücklich, na und? Mein Glück war überschätzt. Meine Tochter war glücklich. Meine Frau war unbesorgt. Aber ich bewegte mich mit Vorsicht durchs Leben, und für wahres Glück gibt es nichts Fataleres als Vorsicht in der Liebe.

Teratornis merriami. Drei Exemplare dieses Riesen-Teratornis wurden entdeckt: ein partieller rechter Humerus und zwei Kranien. Die Kranien wurden im Hauptraum in der 25—50-cm-Gesteinsschicht gewonnen, die dem späten Pleistozän entspricht. Nach der Anfertigung von Abdrücken wurde der Humerus zwecks Radiokohlenstoffdatierung dem Institut für Geowissenschaften an der USC übergeben. Das Alter liegt vermutlich bei 14.000 vor unserer Zeit.

Es war ein unvorsichtiger, nicht einmal leichtsinniger, sondern schlicht unbedachter Zug, der ihr überhaupt nicht ähnlichsah. Sie war in ihrem Spiel niemals unbedacht. Ich musterte das Gesicht meiner Tochter, beobachtete den konzentrierten Ausdruck ihrer braunen Augen, deren Intensität, die ich schon so viele Male gesehen und bewundert hatte. Ihr Blick war strahlend, golden, durchdringend, und doch schien dieser unachtsame Zug irgendwie bedeutsam. Zweifellos, offensichtlich ein Flüchtigkeitsfehler, wie ich ihn immer wieder machte, aber für sie war er so untypisch, dass ich sie tatsächlich fragte, ob sie sich, was diesen Zug anging, auch sicher sei. Es war schon ein paar Jahre her, dass ich ihr eine solche Frage gestellt hatte, und sie war darüber verdutzt oder zumindest leicht ungehalten. Sie sah zu, wie ich ihren Springer mit einem schwerlich zu übersehenden Läufer schlug.

»Das habe ich nicht gesehen«, sagte sie.

»Offensichtlich.« Ich behielt den geschlagenen Springer in der Hand, denn ich wollte dem Vorgang nicht noch größeres Gewicht verleihen, indem ich die Figur auf den Tisch stellte. »Sieht dir eigentlich gar nicht ähnlich.« Sie spielte seit einem Jahr besser, viel besser Schach als ich. »Aber jeder kann mal was übersehen. Nimm zum Beispiel mich, ich setze solche Torheit als Taktik ein.«

Sie blickte nicht vom Brett auf.

»Alles gut bei dir?«

»Glaub schon«, sagte sie. Sie sah mich flüchtig an, bedachte das Brett mit einem weiteren festen Blick, dann gab sie auf und nahm ihren König herunter, anstatt ihn umzustoßen, wie es ihrer Gewohnheit entsprach. »Was zum Teufel ist Torheit?«

»Habe ich extra für dich gesagt.«

»Hübsches Wort.«

»Schön, dass es dir gefällt.«

»Seid ihr beide bald so weit?«, fragte meine Frau, während sie durchs Zimmer ging — was bei ihr hieß, dass jemand anfangen sollte, Essen zu machen.

»Das ist mein Stichwort«, sagte ich.

Sarah folgte mir in die Küche. »Wie konnte ich nur diesen Läufer übersehen?«, fragte sie, eher sich selbst als mich.

»Das kommt vor. Wir alle übersehen irgendwas. Du hast wahrscheinlich noch gar nicht bemerkt, wie gut ich heute aussehe. Das liegt daran, dass ich vergessen habe, mich zu rasieren.«

»Ja, ich auch.«

Ich öffnete den Kühlschrank. »Also, was haben wir für Möglichkeiten? Soll es Lamm geben, oder darf es lieber Lamm sein?« Ich griff nach dem in Papier eingewickelten Karree.

»Alles, bloß kein Lamm«, sagte Sarah.

»Dann also Lamm. Ans Haltbarkeitsdatum sollte man sich halten.« Ich schnupperte an dem Päckchen, dann hielt ich es ihr hin. »Was meinst du?«

Sie wich zurück. »Ich hasse den Geruch von Lamm.«

»Ich finde, es riecht gerade so schlecht, dass man es essen kann. Brokkoli und Reis dazu?«

»Klar. Wir können ruhig auf den Putz hauen. Ich mache einen Salat.«

Ich legte das Lammkarree auf das schwere Schneidebrett, das wir während des Urlaubs in New Mexico gekauft hatten, dann drehte ich mich um und holte einen Topf für den Reis. »Das Lamm wird gut«, sagte ich. »Nicht versalzen und verkocht, so wie es manche Leute machen.«

»Ich verrate ihr nicht, dass du das gesagt hast.« Sarah öffnete die Hintertür und rief Basil. Der große Mischling kam schwanzwedelnd herein. »Wer ist ein Braver?« Sie knuddelte ihn und griff im Schrank nach einem Leckerli.

»Nur was Kleines«, sagte ich und wies mit dem Kinn auf den Hund. »Der gute Basil kriegt allmählich einen Rettungsring.«

»Er folgt bloß dem Beispiel seines Herrn.«

»Hey, das trifft den Nagel auf den Bauch«, scherzte ich.

Basil wedelte mit dem Schwanz und wartete. Sarah bedeutete ihm, für sein Leckerli Sitz zu machen, dann gab sie es ihm. »Ein Rathbone für Basil.« Ein Familienscherz, der nie ganz so lustig war, wie er sich anhörte, aber er war unverwüstlich.

Meg kam zu uns in die Küche. »Das ist schon besser.« Sie setzte sich an den Tisch und sah uns zu. »Sag, süßer Sarah-Schatz, wie war der Sozialkundetest? Meine Güte, das waren aber viele S’ in einem Satz.«

»Pillepalle.«

»Ich erinnere mich noch an die achte Klasse«, sagte Meg.

»O nein«, sagte Sarah.

»Ich fand die achte Klasse schrecklich«, fuhr Meg fort.

»Wieso denn?« Sarah schälte eine Karotte.

»Wegen Mrs. Oliphant. Wir fanden Mrs. Oliphant schrecklich. Wir haben sie Madame Elefant genannt, aber so komisch war das gar nicht, sie war nämlich spindeldürr.«

»Und warum fandet ihr sie schrecklich?«, fragte Sarah.

»Also, wenn du dich bloß über mich lustig machen willst …«

»Nein, wirklich, ich will es wissen.«

»Ich auch«, sagte ich. »Bitte erzähl uns von Madame Elefant.«

»Ich finde euch beide schrecklich. Ich werde einfach hier sitzen und meinen Tee genießen.«

»Du hast doch gar keinen Tee.«

»Eben.«

»Ich setze Wasser auf«, sagte ich.

»Danke.«

Wie es der Zufall wollte, lag mir gerade so etwas wie Dieses Messer ist richtig scharf auf der Zunge, als Sarah sich in den Finger schnitt. Man konnte leicht vergessen, dass sie erst zwölf war, bis es zu solchen Augenblicken kam, in denen der Schmerz in Wirklichkeit Angst war. Sie hielt sich den Finger vors Gesicht und starrte ihn an, als könnte sie es nicht fassen, während ihr Tränen in die Augen stiegen.

»Komm hier rüber, wir spülen es ab. Mal sehen, womit wir es hier zu tun haben«, sagte Meg.

Ich hielt mich zurück und überließ ihr das Ganze. Aufs Bemuttern verstand sie sich.

»Ach, das ist bloß ein Kratzer. Ab und zu mal ein bisschen zu bluten ist ganz gut, das befördert das schädliche Zeug aus unserem Körper.«

»Es tut weh«, sagte Sarah.

»Na ja, ein bisschen wehtun wird es schon. Ein leichter Schmerz ist nicht so schlimm. Tut schon weniger weh, stimmt’s?«

»Glaub schon. Ja.«

»Ich hole ein Pflaster«, sagte ich, drehte mich um und zog die Medizinschublade auf.

»Erst noch ein bisschen Druck, dann das Hansaplast«, sagte Meg.

»Ein Hansaplast ist es nur, wenn es auch von Hansaplast hergestellt wird«, sagte Sarah. »Unsere sind von Curad, also sind es keine Hansaplast, sondern bloß Pflaster.«

»Probt ihr dieses Zeug eigentlich, du und dein Vater?«

»Ihr Pflaster, Mademoiselle.« Ich zog das Papier ab.

»Merci, Monsieur.«

»Darf ich?«, fragte ich.

»S’il te plaît.«

»Très bien«, sagte ich. Ich klebte ihr den Streifen um den Finger.

Meg übernahm die Zubereitung des Salats.

Cathartes aura. Mindestens fünf Individuen wurden aufgefunden, darunter ein Jungvogel. Cathartes scheint gegen Ende des Pleistozäns zunehmend verbreitet zu sein, vielleicht aufgrund des Aussterbens großer aasfressender Vögel wie Gymnogyps und Teratornis.

So oft beginnen Geschichten an ihren Enden. In Wahrheit wusste ich weder, welches Ende der Anfang war, noch, ob die Mitte genau in der Mitte oder näher an jenem oder dem anderen Ende lag, wobei eines — aber welches? — der Anfang und das andere das Ende war, noch, ob die Enden miteinander verbunden waren wie bei einer Schlange, die ihren Schwanz frisst. Nun habe ich also mit meiner Tochter, meiner Familie begonnen, einem sinnvollen Ausgangspunkt, logisch und in jeder Hinsicht das Zentrum. Obwohl mein Ende hier liegt, dort lag, entfaltet sich meine Erzählung hier. Ganz ähnlich wie die Vogellaute im Dunkeln vor meinem Zelt, wenn ich allein bei meiner Höhle bin, verstummt meine Geschichte niemals. Ich pflegte in meinem Schlafsack zu liegen und ihren Gesängen zu folgen, von einem zum nächsten, Eulen, Wachtelkönige, Nachtfalken und Winternachtschwalben.

ergibt sich aus einer autosomalen Vererbung von Mutationen des Gens CLN3

Ich sah zu, wie meine Frau ihr allabendliches Yogaprogramm absolvierte. Mein Programm war das Zusehen.

»Irgendwas stimmt nicht«, sagte Meg.

»Was?«

»Ich habe ein ungutes Gefühl.«

»Während des herabschauenden Hundes kann ich nicht mit dir reden.«

»Sorry.« Sie ging geschmeidig zur Kriegerstellung über. Etwas besser. »Irgendwas liegt in der Luft.«

Ich nickte. Eine solche Äußerung hätte nicht viel zu bedeuten gehabt, wenn ich nicht das Gleiche empfunden hätte. Das sagte ich Meg allerdings nicht. Sie war bereits besorgt.

»Bist du für deinen Kurs morgen bereit?«, fragte Meg.

»Habe ich schon erwähnt, dass ich diesen Kurs schrecklich finde?«

»Wieso?«

»Ich habe es satt, Gesteinsformationen zu beschreiben und mit Leuten durchzunehmen, die im Grunde selbst Steine sind.«

»Du bist Geologe.«

»Soll heißen?«

»Warum gibst du dieses Karst-Seminar nicht im nächsten Semester?«

»Vielleicht. Bist du bald fertig damit, mich anzumachen?«

»Ja, ich bin fertig. Aber ich habe meinen Unterricht noch nicht vorbereitet.«

»Na gut, lies du deine Gedichte und Pseudogedichte, ich liege so lange hier und mache mir Gedanken über das metamorphe Gestein meines Penis. Vielleicht ist es Hornfels oder Marmor. Nein, ich habe Novaculit im Schritt. Der Reim ist für dich.«

»Sehr hübsch. Ich bin dann im Arbeitszimmer.«

»Gneis, genau, das ist es. Gneis ist heiß. Mein Plagioklas sprengt jedes Maß.«

»Gute Nacht.«

»Zu spät für meinen Spat.«

»Gute Nacht, Zach.«

»Genieß deine Jamben.«

Im Einschlafen wusste ich, dass ich träumen würde, und zuerst träumte ich, dass ich wusste, warum ich träumte, warum Menschen träumen. Wir träumen schlicht und einfach, damit wir wissen, dass wir nicht tot sind. Schiere Leere, tiefe, regungslose Dunkelheit wäre so entsetzlich, so lähmend, dass wir niemals aufwachen würden. Die Träume waren für mich keine Unterhaltung, sondern eine Art Leuchtturm. Während ich wegdämmerte, wusste ich irgendwie, dass ich von meiner Tochter träumen würde, und das tat ich dann auch. Wie nur Stunden zuvor im Wachleben spielten wir Schach, aber die Figuren waren zu groß für das Quadrat des Bretts, und alle zweiunddreißig hatten die gleiche Farbe, insofern sie alle ständig die Farbe wechselten, von Rot zu Blau, Weiß, Schwarz, alle zusammen zur gleichen Zeit, und trotzdem spielten wir weiter. Sarah, das dichte, immer dichter werdende schwarze Haar hinten zusammengebunden, ließ die Hand über dem gleichen Springer schweben, der im Wachleben ein so schmähliches Ende gefunden hatte.

»Siehst du denn meinen Läufer nicht?«, fragte ich, ehe sie die Pferdemähne berührte, die jetzt grün, rosa, braun war.

»Welchen Läufer? Ich sehe keinen Läufer.« Sie starrte mich an. Ihr Blick fixierte sich, aber nicht auf mich, sondern durch mich hindurch.

»Sarah. Sarah. Sarah.«

Sie wollte nicht antworten. Sie konnte nicht antworten.

»Siehst du den Läufer?«, fragte ich.

Aber ich war gar nicht da in ihren Augen. Und in jenem Traum fragte ich mich, ob sie mich sah, ob sie die Grenzen des Sehvermögens erkannte, realisierte, wenigstens in Erwägung zog: dass wir, sie und ich, Lichtwellen sehen konnten, die nur einen Bruchteil des Gesamtspektrums ausmachten. Ich dachte an den blinden Fleck meines Auges, jenen nur allzu menschlichen blinden Fleck, wo der Sehnerv mit der Retina verbunden ist, den Fleck, den das andere Auge zu kompensieren versucht, jenes Loch, ein Loch, in dem Dinge verschwinden, sich verstecken oder einfach nur sitzen können. War ich in den Löchern beider Augen meiner Tochter? Ihre Augen waren offen, sie machte von ihrem Sehvermögen Gebrauch, aber sie sah mich nicht.

»Sarah. Sarah.«

Ich schreckte aus dem Schlaf auf. Das tat ich, um nicht zu sterben.

Falco mexicanus. Vier Knochen dieser Spezies deuten auf mindestens drei Individuen hin: ein adultes, ein immatures von Männchengröße und ein immatures von Weibchengröße. Es bleibt festzuhalten, dass von den größeren Falken diese Spezies, die auf Felsen nistet, am häufigsten an archäologischen Fundstätten im Südwesten anzutreffen ist. Manche halten den Präriefalken für einen im ganzen Staat vorkommenden Standvogel, der früher verbreiteter war.

Meg schlief im Bett neben mir. Ich legte die Hand auf ihr Kreuz. Sie war warm. Es war schwer zu entscheiden, ob ihre Anwesenheit oder ihre Wärme mich tröstete. In Wahrheit wurde ich überhaupt nicht getröstet. Ich erinnerte mich daran, wie meine Tochter jede Nacht in unser Schlafzimmer gekommen und auf meiner Seite ins Bett geklettert war. Ich bestärkte sie nie darin, hielt sie allerdings auch nicht davon ab. Ich wusste, es würde irgendwann aufhören, und das tat es auch, ganz abrupt. Sie war noch keine dreizehn. Mich störte, dass es mich gruseln würde, wenn sie jetzt hereinkäme. Trotzdem wollte ich immer, dass sie zu mir kam; ich wollte dieses Kind wiederhaben.

das Gen CLN3 liegt im Abschnitt p12.1 des Chromosoms 16 und enthält mindestens 15 Exons, die 15 Kilobasen umfassen

Ich stand vor meinem Seminarraum. Es war noch früh im Semester, weshalb ich im Begriff war, zum fünfzigsten Mal meinen Vortrag darüber zu halten, wie Eratosthenes den Erdumfang berechnet hatte. Ich machte mich darauf gefasst, dass die Augen im Saal glasig werden würden, sobald Mathematik in das Thema einfloss.

»Professor Wells?«

Ich drehte mich um und sah mich der jungen Frau gegenüber, die in meiner Veranstaltung stets genau vor mir saß. Sie wollte ein A, so viel war klar. Ich würde ihr zweifellos eins geben, weil sie in der vordersten Reihe saß und es wollte; es war ihr wichtig. »Miss …« Ich versuchte, auf ihren Namen zu kommen.

»Charles. Rachel Charles.«

»Miss Charles. Haben Sie eine Frage?«

»Glauben Sie, dass Eratosthenes tatsächlich den Obelisken in Alexandria verwendet hat, oder hat er einen Säulenschaft benutzt?«

Sie hielt es für schlau, mich wissen zu lassen, dass sie die Pflichtlektüre gelesen hatte. Dass sie sie gelesen hatte, war erfreulich, aber das Faktum an sich interessierte mich nicht sonderlich.

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass mir die Veranstaltung richtig gut gefällt.«

»Vielen Dank, Miss Charles.«

»Würde es Ihnen was ausmachen, mich Rachel zu nennen? Ich mag meinen Nachnamen nicht.«

Ich musterte ihr verblüffend durchschnittliches Gesicht. »Warum denn? Charles klingt nach einem guten, soliden Namen.«

»Es ist der Name meines Vaters, und er war kein so toller Vater. Ist kein so toller Vater. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht?«

»Tut mir leid, das zu hören. Okay, Rachel.« Ich sah auf meine Uhr. »Gleich geht es los, und ich muss noch einiges an die Tafel zeichnen.«

»Okay.« Sie schaute den Flur entlang. »Ich hole mir noch schnell einen Kaffee. Soll ich Ihnen einen mitbringen?«

»Nein, danke.«

Sie wandte sich zum Gehen.

»Rachel.«

»Ja?«

»Danke, dass Sie gefragt haben.«

Ich hatte ihren Namen bloß gesagt, um zu zeigen, dass ich ihn mir gemerkt hatte.

Ich spürte, wie meine Schultern herabsanken, als ich den Seminarraum betrat. Ich wusste, das Einzige, woran sich die meisten Studenten Jahre später erinnern würden, wäre das Wortspiel »Splitt happens«. Doch »Subduktion führt zu Orogenese« würde kein Einziger auch nur mitkriegen.

Centrocercus urophasianus. Ein linkes Coracoid und eine linke Scapula aus der oberen Schicht von Vorkammer 1 lassen sich auf ein und dasselbe Individuum zurückführen. Beide liegen im weiblichen Größenbereich, genau wie der aus der obersten Schicht stammende Humerus, über den bei einer früheren Ausgrabung berichtet wurde. Ein weiteres gut erhaltenes rechtes Femur wurde in einem Buschrattenbau am oberen Ende von Vorkammer 1 gefunden. Seine Mindestaxiallänge beträgt 68, die Maximallänge 73 mm, womit er ebenfalls in den Größenbereich eines weiblichen Beifußhuhns fällt.

Zu Hause fand ich ein Paket vor, das der Postbote dagelassen hatte. Es war an mich adressiert, was mich jedes Mal in freudige Erregung versetzte. Ich kaufte selten etwas online, doch ich hatte auf eBay eine Tin-Cloth-Jacke von Filson bestellt, und da war sie. Ich legte sie beiseite und begrüßte Basil ausführlich, dann ließ ich ihn hinten hinaus in den Garten. Ich war allein zu Hause und ließ mich aufs Sofa plumpsen, um die Stille zu genießen. Ich brachte mich selbst zum Einschlafen, indem ich mir meine Vorlesung ins Gedächtnis rief. Das Letzte, woran ich meiner Erinnerung nach dachte, war die übertriebene Begeisterung, mit der ich verkündet hatte, die Griechen hätten schon 200 vor Christus gewusst, dass die Erde rund ist und ihr Umfang ungefähr 40.000 Kilometer beträgt. Als ich fünf Minuten später aufwachte, war mein Karton immer noch da. Ich öffnete ihn und probierte die Jacke an. Sie passte perfekt, war perfekt strapazierfähig, war perfekt altmodisch. Meg und Sarah würden sie perfekt langweilig finden. Sie war perfekt.

Ich legte mich auf dem Sofa zurück und schaute durch das große Fenster auf die Berge. Am eierschalenblauen Nachmittagshimmel stand kein Wölkchen. Von unserem Haus aus konnten wir die Wanderwege in den Ausläufern der San Gabriel Mountains sehen. Ich spielte mit dem Gedanken, mit Basil einen langen Spaziergang den Berg hinauf zu machen, aber die Santa-Ana-Winde bliesen kräftig, und ich hatte die Hitze satt. Im Haus war es kühl und gemütlich. Ich würde einfach daliegen und dick werden, wie mein Hund.

Meine Frau und ich liebten unsere Tochter, und deshalb waren wir zusammen. Ich bezweifle, dass wir ein Paar geblieben wären, wenn Sarah nicht gewesen wäre. Wir mochten einander durchaus, und ich war ein treuer, treusorgender Ehemann, aber ich langweilte mich, und ich bin mir ziemlich sicher, dass es ihr ebenso ging. Aber das war okay. Es war nicht meine Familie, die mich langweilte, und auch nicht mein Kind. Ich war nicht unglücklich mit Meg. Ich war auch nicht unglücklich mit meinem Job, der mich im Übrigen die meiste Zeit langweilte. Ich liebte, um es noch einmal zu sagen, schlicht und einfach meine Tochter, das Vatersein.

Accipiter striatus. Ein einziger Knochen, ein Tibiotarsus im Größenbereich eines Weibchens. Mittlerweile ist diese Spezies in der Gegend selten. Buteo jamaicensis. In diesem Gebiet recht häufig, ist diese Spezies mit einem kompletten Tarsometatarsus vertreten. Ein verbrannter und zerbrochener Beckenknochen eines Buteo. Ein Coracoid im Größenbereich von mindestens drei Buteoninae-Arten.

Die Dinge entwickelten sich, wie sie es so an sich haben, und wenn wir von einer solchen Entwicklung sprechen, bedeutet »Dinge« meistens schlechte Dinge. Und genauso war es.

Eine schlechte Note im Sozialkundetest veranlasste Sarah zu dem Geständnis, dass sie nicht besonders gut sah. Sie nahm das Whiteboard nur verschwommen wahr. Ebenso Buchseiten. Das war ein leicht zu behebendes und leicht zu akzeptierendes Problem. Meine Frau trug seit ihrer frühen Kindheit eine Brille, es war also nicht verwunderlich, dass Sarah ihre Augen hatte.

Der Termin bei der Optikerin war an einem Mittwoch. Mittwochs hatte ich keine Veranstaltungen, also ging ich mit ihr hin. Die Optikerin war eine sympathische junge Frau, die viel, und im weiteren Verlauf der Untersuchung immer mehr, summte. Ich fragte sie, warum sie summe. Sie gab keine Antwort. Sie ließ meine Tochter ein entferntes Farmhaus anschauen.

»Ist das besser oder schlechter?«

»Schlechter.«

»Besser oder schlechter?«

»Genauso.«

»Und jetzt?«

»Genauso.«

»Und wie ist es jetzt?«

»Genauso.«

Meine Tochter musste sich anders hinsetzen, dann besah sich die Optikerin durch den Phoropter erneut ihre Augen. Zu mir sagte sie: »Ich kann keine Brille verschreiben, weil ich mir einfach nicht erklären kann, was los ist. Sie scheint sowohl kurz- als auch weitsichtig und weder das eine noch das andere zu sein.«

»Was wollen Sie mir damit sagen?«

»Nichts. Ich kann Ihnen nichts sagen. Ich glaube, sie muss zu einem Augenarzt. Ich kann an ihren Augen nichts feststellen.«

Das war, um es milde zu sagen, beunruhigend. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen, es hatte zur Folge, dass ich innerlich die Wände hochging wie eine durchgedrehte Grille. Ich berichtete meiner Frau von dem mageren Ergebnis des Termins bei der Optikerin, und wir brachten den Rest der Nacht damit zu, unsere jeweiligen Wände hochzugehen und abwechselnd optimistische Banalitäten von uns zu geben.

»Was glaubst du, was sie hat?«, fragte sie erneut.

»Ich habe einen Termin bei Dr. Terence vereinbart. Morgen um drei. Sie wird uns sagen, wie wir weiter vorgehen sollen.«

»Ich habe diese Dr. Terence noch nie gemocht. Sie macht ständig auf lustig.«

»Sie ist Kinderärztin. Jedenfalls, sie wird uns einen Augenarzt nennen. Falls wir überhaupt einen brauchen. Es könnte auch etwas ganz Harmloses sein.«

Meg nickte.

Meleagris crassipes. In einem Buschrattennest fand sich das distale Ende eines Tarsometatarsus. Das Nest war von Vandalen verbrannt worden, sodass der Knochen stark kalziniert war. Das fragile Exemplar wurde nach der Bestimmung beschädigt, dann wiederhergestellt. Die Fläche der Trochlea und die Krümmung des körperfernsten Schaftendes unterscheiden diese Spezies vom gewöhnlichen Truthahn, M. gallopavo.

In meinem Traum, einem Traum, dem ich — wahrscheinlich wegen der Staffage — von Anfang an nicht traute, war ich nicht ich selbst, sondern jemand, der mich gut kannte und so tat, als wäre er ich. Er, als ich, kam nach Hause und setzte sich an den Esstisch, zu einer Frau, die so tat, als wäre sie meine Frau, und meiner Tochter, die tatsächlich meine Tochter war. Meine Tochter wusste, dass ihre Eltern in Wirklichkeit nicht ihre Eltern waren, aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie hatte Angst, und das auf stille Weise — die schlimmste Art, sich zu fürchten —, war verstörter, als ich sie je erlebt hatte. Selbst mein falsches Ich ließ diese Furcht nicht kalt, und wo auch immer mein richtiges Ich sich befand, mir war tief in der Magengrube kalt. Meine Tochter schob mit einem Löffel ihr Essen auf dem Teller herum, und mein falsches Ich fand das eigenartig. Ihre falsche Mutter und ihr falscher Vater unterhielten sich über Dinge, die gar nicht passiert waren. Dann beschwerte ich mich in meinem Traum über meinen Traum, gab mich als den Urheber des Traums zu erkennen und lachte. Lachend wusste ich nicht, ob ich ich oder das vorgebliche Ich war. Ich erwachte mit dem gleichen Gefühl.

Einige Offizielle in Juárez zogen die Möglichkeit in Betracht, dass die Frauenmörder Teufelsanbeter waren. Sie zeichneten eine Karte, die zeigte, dass die Orte früherer Morde ein Pentagramm ergaben. Die Leute sehen, was sie sehen wollen. Bei so vielen Tatorten könnte man auch einen Weihnachtsbaum oder ein Pudelgesicht konstruieren.

Hilary Gill war Dozentin. Ihr Fachgebiet waren Erdbeben, aber leider hatte sie bis jetzt noch nichts Welterschütterndes geleistet. Sie war extrem jung, ein Attribut, das bei ihrer Einstellung auf Genie hingedeutet hatte, inzwischen jedoch, nach fünf unproduktiven Jahren, wie Unreife wirkte. Sie kam in der elften Stunde zu mir und fragte, wie sie vielleicht doch noch eine Festanstellung ergattern und der Entlassung entgehen könnte.

»Was hast du denn in Arbeit?«, fragte ich. »Irgendwelche Paper fast fertig?« Die Antwort auf diese Frage kannte ich bereits.

»Eigentlich nicht.«

Wir saßen in einem Café auf dem Campus, in der Nähe der Football- und Fußballtrainingsplätze. Sportler mit Flipflops an den Füßen, Männer und Frauen, kamen in ihrem schlurfenden Gang vorbeigeschlappt. Hilary blickte sich immer wieder unbehaglich um.

»Wo stehst du mit deiner Feldforschung? Wie sieht es damit aus?«

»Ich habe eine Menge Daten.« Das ist immer eine schlechte Antwort.

Ich trank meinen Kaffee und betrachtete sie, während sie meinem Blick auswich. Ein paar Jahre zuvor hatte ich sie angewiesen, den Rat von Kollegen zu ignorieren, die ihr empfahlen, an jeder nur möglichen Tagung teilzunehmen. Ich hatte ihr gesagt, sie solle jegliche Ausschussarbeit ausschlagen. Sie hatte meinen Rat nicht befolgt, und das hatte sie nun davon: Sie strampelte sich ab, um spärliche Daten in unausgereiften Versuchen unterzukriegen. Und Fördermittel bekam sie natürlich auch nicht.

»Was soll ich machen?«

»Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, Hilary. Manchmal kommen die Dinge an einen Punkt, wo es einfach zu spät ist.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich glaube, ich will damit sagen, dass du anfangen solltest, dich nach anderen Jobs umzusehen.«

Man sah es Hilary nicht an, aber sie weinte. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass dies nicht das erste derartige Gespräch war, das sie führte. Ich war nichts Besonderes. Zweifellos suchte sie einen Kollegen nach dem anderen auf, um entweder eine Strategie oder wenigstens ermutigenden, wenn auch fehlgeleiteten Optimismus zu finden.

»Manchmal ist es einfach zu spät.«

Wahrheit und Befriedigung.

Während wir mit meiner Tochter im Wartezimmer der Kinderärztin saßen, hielten meine Frau und ich Händchen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann wir das letzte Mal Händchen gehalten hatten.

Ein großes Aquarium war in die gemeinsame Wand zweier Wartebereiche eingelassen, einer für kranke, der andere für gesunde Patienten. Wir saßen auf der Seite für Gesunde.

Sarah schmökerte in einer Filmzeitschrift. Wir hielten Händchen. Mein Telefon klingelte. Ich schaltete es aus und steckte es in die Tasche meiner neuerworbenen Jacke. In dieser Tasche fand ich einen kleinen Zettel, die Art von Zettel, auf der häufig so etwas wie »Geprüft von 53« steht. Doch auf diesem Zettel stand »Ayúdame«.

»Was ist das?«, fragte Meg.

»Das war in meiner Tasche. Darauf steht ›Ayúdame‹.«

»Was heißt das?«

»Das heißt ›Hilf mir‹ auf Spanisch, oder?«

»Keine Ahnung.«

»Ich frage mich, wo das herkommt. Ich habe die Jacke gerade erst gekauft.«

»Sie ist nicht neu«, sagte sie.

»Nein, sie ist aus zweiter Hand, wie es so schön heißt.«

Die Sprechstundenhilfe rief uns auf.

Phalarope fulicarius. Aus der 35—40-cm-Schicht wurde das proximale Ende einer rechten Ulna geborgen. Osteologisch ähneln die Phalaropes den Strandläufern.

Eine Notiz in einem Rinnstein. Bedeutet sie irgendetwas? Gibt es irgendeinen Aussagengehalt ohne Kontext? Die Notiz lautet: »Das Pferd ist gelb.« Bedeutet sie, auf der Straße gefunden, irgendetwas? Gibt es ein Pferd? Ist es gelb? Hat sich ein Kind im Schreiben geübt? Wurden die Buchstaben von einem Affen getippt? Ein zufallsbedingter Satz? Zeichen auf einer Seite? Was, wenn die Notiz lautete »Das Pferd ist und ist nicht«? Sie ist sinnlos, aber was bedeutet sie?

Meine Tochter liebte das Infinite-Monkey-Theorem. Ihr war natürlich klar, dass diese Vorstellung keine wirklichen Affen beinhaltete, aber sie fragte sich, durchaus zu Recht, warum das eine Rolle spielte. Sie lachte und fragte: »Und wenn Shakespeare einfach nur Tasten gedrückt hat?«

»Shakespeare hatte noch keine Schreibmaschine«, sagte ich.

»Und wenn er einfach Zeichen auf Papier gekritzelt hat? Und dabei Macbeth herausgekommen ist?«

»Das bezweifle ich. Vielleicht Maß für Maß. Bei Maß für Maß könnte ich mir das vorstellen. Aber nicht bei Macbeth.«

Dr. Terence war eine sehr junge Frau. Wegen ihres Alters und ihrer geringen Erfahrung traute meine Frau ihr nicht. Ich vermutete, dass sie sich mit den neuesten Ausgaben sämtlicher Fachzeitschriften auf dem Laufenden hielt.

»Also, was gibt es?«, fragte sie.

»Sag du’s ihr«, sagte ich zu Sarah.

»Ich sehe nicht besonders gut.«

Die Ärztin neigte Sarahs Kopf nach hinten und schaute ihr beim Reden in die Augen. »Siehst du alles verschwommen?«

»Die Optikerin konnte das Problem nicht feststellen«, sagte ich. »Oder vielmehr, sie konnte das Problem nicht lösen.«

»Okay.« Sie rollte auf ihrem Stuhl zurück. Sie warf einen Blick in die Patientenakte und nahm die Vitalparameter zur Kenntnis, hörte und sah sich alles ganz so an, wie ich auf einen Automotor starren würde.

»Irgendwelche Augenschmerzen? Kopfschmerzen?«

Sarah schüttelte den Kopf.

Dr. Terence hielt die Hände rechts und links neben Sarahs Kopf, ein ganzes Stück hinter den Ohren. »Halte die Augen auf mein Gesicht gerichtet. Kannst du meine Hände sehen?«

»Nein.«

Sie nahm die Hände weiter nach vorn. »Und jetzt?«

»Nein.«

Noch ein Stück nach vorn, sodass sie nun deutlich vor Sarahs Ohren waren.

»Da. Jetzt kann ich sie sehen.«

»Okay.«

»Was meinen Sie, was es ist?«, fragte Meg.

»Das weiß ich nicht. Ich überweise Sie an Dr. Peterson drüben in der Kinderklinik. Er ist Kinder-Ophthalmologe.«

Ich konnte sehen, dass Meg nicht zufrieden war.

»Wie schläfst du denn in letzter Zeit?«, fragte Dr. Terence Sarah.

»So wie immer.«

»Wirst du schwer wach?«

»Nein.«

»Was sagt Ihnen das?«, fragte Meg.

»Ich stelle bloß Fragen«, sagte die Ärztin.

»Verstehe. Also wird uns der Augenarzt weiterhelfen können?« Meg beugte sich auf ihrem Stuhl vor, schickte sich zum Gehen an.

Auf dem Weg aus der Praxis sagte sie: »Das war reine Zeitverschwendung.«

Ich fuhr Sarah durch die Haare. »Wir haben die Überweisung bekommen. Deswegen waren wir hier. Wir gehen der Sache auf den Grund. Stimmt’s, Mäuschen?«

Gallinula chloropus. Die Spezies ist vertreten durch das distale Ende eines Tibiotarsus. Sie verlangt zur Fortpflanzung keine ausgedehnte Vegetation, sondern permanente Wasserversorgung und Wasserpflanzen.

An jenem Abend ging Sarah früh und rasch zu Bett. Vielleicht hatte der Arzttermin zusätzlich zu einem vollen Schultag sie erschöpft, vielleicht war es aber auch schlicht Angst. Falls sie vorher nicht ängstlich gewesen war, hatten ihre Mutter und ich wahrscheinlich eine gewisse Angst in ihr geschürt.

Meg verknotete sich nicht zu ihren üblichen Yogastellungen, und vermutlich deutete ich das als Geste.

»Der Augenarzt schiebt uns morgen in drei Wochen ein.«

»Das ist der früheste Termin?«

»Offenbar.«

Meg schlug ihr Buch auf und wieder zu.

»Was ist?«, fragte ich.

»Du«, sagte sie, als hätte sie darauf gewartet, dass ich fragte.

»Ich was?«

»Hast mit Dr. Baby geflirtet.«

»Was? Was redet du denn da? Ich hab dadrin ja kaum was gesagt.«

»Eben.«

»Bist du jetzt auf einmal wieder siebzehn?«

»Gute Nacht.« Sie schaltete ihre Nachttischlampe aus.

»Nein. Was soll das? Ich würde es ja wohl wissen, wenn ich geflirtet hätte.«

»Weil du das entsprechende Verhalten so genau kennst?« Das sagte sie mehr oder weniger in ihr Kissen.

»Meg.«

Es sah Meg überhaupt nicht ähnlich, sich über solche Dinge Gedanken zu machen, weshalb ich mir Gedanken darüber machte, ob ich tatsächlich geflirtet hatte. Ich durchforschte meine Erinnerung an die kurze Begegnung nach etwas, was mir entgangen war. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, dass Dr. Terence mich während der Untersuchung direkt angesehen hatte. Ich versuchte, wütend auf Meg zu sein, aber das hielt ich nicht durch.

»Wenn ich geflirtet habe, tut es mir leid. Das wollte ich nicht. Mir war nicht klar, dass ich es getan habe.«

»Okay.«

Ihr »Okay« war so ausdruckslos, so distanziert, so vorwurfsvoll, dass es mich dann doch wütend machte, also sagte ich nichts weiter. Stattdessen widerstand ich dem Drang, leise etwas Gemeines zu sagen — nicht, dass mir etwas eingefallen wäre —, und starrte zum offenen Fenster hinaus, bis ich glaubte, eingeschlafen zu sein.

Ich machte mit Basil einen Gang in die Hügel. Ich fragte mich, was irgendeine beliebige Stelle pinkelwürdig machte. Warum beschnupperte er endlos eine bestimmte Stelle, setzte ein paar Tröpfchen ab, setzte an der nächsten nichts ab und durchtränkte dann die dritte? Ich fragte Basil danach, und er gab keine Antwort, jedenfalls keine, die ich verstand. Im Gehen entsann ich mich außerdem, wie viel nachsichtiger ich dank meiner Tochter geworden war. Seit ihrer Geburt war ich ein sehr viel freundlicherer Mensch. Nicht, dass ich jemals gemein gewesen wäre, aber ich war vor ihr durchaus so direkt, so schroff, so gefühllos ehrlich gewesen, dass ich bei nicht wenigen Gelegenheiten als Arschloch wahrgenommen wurde. Dass Meg sich bereiterklärte, mich zu heiraten, überraschte mich, aber vielleicht nicht so sehr wie die Tatsache, dass ich sie fragte.

An einem klaren Tag hätte ich in der Ferne die City sehen können, aber es war kein klarer Tag. Ich suchte den Boden nach Kot irgendwelcher anderer Tiere als meinem Hund ab. Gelegentlich verirrte sich ein Bär oder ein Puma in die Wohnviertel unten und trieb sich in Pools oder auf Veranden herum. Das kam immerhin so häufig vor, dass die Fernsehnachrichten ab und zu mal einen entsprechenden Filmbeitrag brachten, aber ich war nie etwas anderem als Kojoten begegnet. Kojoten waren überall. Sie spazierten nachts durch downtown Los Angeles. Überall fanden sich Hinweise auf sie. Von Pumas oder Bären hatte ich niemals auch nur Spuren gefunden. Ich mochte Kojoten sehr, aber sie waren schließlich auch keine Pumas oder Bären. Vor Kojoten hatte ich keine Angst. Klapperschlangen gab es da oben auch, und vor ihnen hatte ich eine Heidenangst, aber sehen wollte ich keine.

»Was hast du zu Hilary gesagt?«, fragte mich Horace Golightly. Horace konnte weder seinen Vor- noch seinen Nachnamen leiden und bestand darauf, mit seinem zweiten Vornamen — Igor — angeredet zu werden.

»Wovon redest du, Igor?«, fragte ich.

Wir saßen in der Cafeteria hinter der Bibliothek auf dem Campus. Wir tranken beide Kaffee, und ich zupfte lose Krümel von einem allzu trockenen Muffin.

»Als ich sie getroffen habe, war sie in Tränen aufgelöst.«

»Wann war das?«