Dr. Reichel im Zwiespalt - Britta Winckler - E-Book

Dr. Reichel im Zwiespalt E-Book

Britta Winckler

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Beschreibung

Die große Arztserie "Die Klinik am See" handelt von einer Frauenklinik. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig eine sensible medizinische und vor allem auch seelische Betreuung für die Patientinnen ist, worauf die Leserinnen dieses Genres großen Wert legen. Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie "Die Klinik am See" ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete. Mit finster zusammengezogenen Augenbrauen blickte Dr. Thomas Reichel aus dem Fenster der geschmackvoll eingerichteten großen Wohnstube der in der ersten Etage des modernen Appartementhauses gelegenen Wohnung. Von hier hatte man einen herrlichen Blick über den Starnberger See, über dem sich an diesem Samstagnachmittag ein mit weißen Schäfchenwolken bedeckter Himmel wölbte. Thomas Reichel, der wohlbestallte Anästhesist und Internist in der Frauenklinik am See bei Auefelden, hatte jedoch keinen Blick für diese Naturschönheiten. Hinter seiner hohen Stirn beschäftigte er sich in diesen Minuten mit anderen, profaneren Dingen. In seinen Zügen arbeitete es. Seine Augen zeigten einen Ausdruck aus einer Mischung von Enttäuschung und verhaltenem Zorn. Spätestens in diesen Minuten wurde ihm bewußt, daß er vergeblich hierhergekommen war. Langsam drehte er sich um und sah die auf der Couch sitzende dunkelhaarige Frau an, mit der er nun drei Jahre verheiratet war. »Du bleibst also bei deinem Entschluß, Hanne«, stieß er fast heftig hervor. Das war weniger eine Frage als eine Feststellung. »Ja, Thomas«, kam die Antwort, »und ich habe dir auch die Gründe erklärt. Ich liebe nun einmal meinen Beruf als Reiseleiterin, der mich die Welt kennenlernen läßt, und fühle mich mit meinen dreißig Jahren noch zu jung, um in einer Provinz…« »Geschenkt, Hanne«, fiel Dr. Reichel seiner Frau hart ins Wort. »Ich weiß, was du sagen willst.« »Dann ist es ja gut«, gab Hanne Reichel etwas schnippisch zurück. Nervös knetete sie ihre Finger. »Ich hätte allerdings etwas mehr Verständnis von dir erwartet.« »Verständnis? Wofür?« konterte Thomas Reichel. »Etwa dafür, daß du mich, mit dem du seit drei Jahren

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Die Klinik am See – 6–

Dr. Reichel im Zwiespalt

Private Sorgen überschatteten seine Arbeit

Britta Winckler

Mit finster zusammengezogenen Augenbrauen blickte Dr. Thomas Reichel aus dem Fenster der geschmackvoll eingerichteten großen Wohnstube der in der ersten Etage des modernen Appartementhauses gelegenen Wohnung. Von hier hatte man einen herrlichen Blick über den Starnberger See, über dem sich an diesem Samstagnachmittag ein mit weißen Schäfchenwolken bedeckter Himmel wölbte.

Thomas Reichel, der wohlbestallte Anästhesist und Internist in der Frauenklinik am See bei Auefelden, hatte jedoch keinen Blick für diese Naturschönheiten. Hinter seiner hohen Stirn beschäftigte er sich in diesen Minuten mit anderen, profaneren Dingen. In seinen Zügen arbeitete es. Seine Augen zeigten einen Ausdruck aus einer Mischung von Enttäuschung und verhaltenem Zorn. Spätestens in diesen Minuten wurde ihm bewußt, daß er vergeblich hierhergekommen war. Langsam drehte er sich um und sah die auf der Couch sitzende dunkelhaarige Frau an, mit der er nun drei Jahre verheiratet war.

»Du bleibst also bei deinem Entschluß, Hanne«, stieß er fast heftig hervor. Das war weniger eine Frage als eine Feststellung.

»Ja, Thomas«, kam die Antwort, »und ich habe dir auch die Gründe erklärt. Ich liebe nun einmal meinen Beruf als Reiseleiterin, der mich die Welt kennenlernen läßt, und fühle mich mit meinen dreißig Jahren noch zu jung, um in einer Provinz…«

»Geschenkt, Hanne«, fiel Dr. Reichel seiner Frau hart ins Wort. »Ich weiß, was du sagen willst.«

»Dann ist es ja gut«, gab Hanne Reichel etwas schnippisch zurück. Nervös knetete sie ihre Finger. »Ich hätte allerdings etwas mehr Verständnis von dir erwartet.«

»Verständnis? Wofür?« konterte Thomas Reichel. »Etwa dafür, daß du mich, mit dem du seit drei Jahren verheiratet bist, zwei Drittel des Jahres allein läßt? Das ist ja lachhaft.«

Hanne wollte aufbrausen, besann sich aber im letzten Moment. »Begreife doch bitte!« kam es verhalten über ihre Lippen. »Ich bin zum einen noch zwei Jahre gebunden, und zum anderen möchte ich wirklich noch ein wenig von der Welt sehen.«

Thomas Reichel ließ einen erbosten Knurrlaut hören, versagte sich jedoch eine Entgegnung.

»Thomas, noch zwei Jahre«, verlegte sich Hanne aufs Bitten. »Dann aber – das verspreche ich dir – werde ich immer bei dir bleiben und dir eine liebende Ehefrau sein.«

Thomas Reichel trat dicht vor seine Frau hin. »Noch zwei Jahre zu den schon verflossenen?« stieß er fragend hervor. »Weißt du, was du da von mir verlangst?« Wild schüttelte er den Kopf. »Nein, das mache ich nicht mit. Das halte ich nicht aus. Die vergangenen drei Jahre habe ich ja fast wie ein Mönch gelebt. Aber ich bin eben ein Mann, der seine Frau aus Liebe geheiratet hat und von ihr auch etwas haben will.«

»Nun übertreibst du aber, Thomas«, gab Hanne zurück. »Von wegen – wie ein Mönch!« In ihren Augen blitzte es unwillig auf. »Habe ich dir nicht immer, wenn ich zwischen den Reisen wieder im Lande war, bewiesen, daß ich dich liebe? Hast du nicht bekommen, was eine liebende Frau ihrem Mann überhaupt geben kann?«

»Bewiesen, bewiesen«, stieß Dr. Reichel erbost hervor. »Ja, wir haben uns geliebt, wie das bei Ehepaaren nun einmal üblich ist. Alle Vierteljahre einmal. Aber verdammt, Hanne…«, er ballte die Hände zu Fäusten, »… ich will mehr. Eine ganz normale und harmonische Ehe möchte ich führen, ein Familienleben mit Kindern. Ist das denn wirklich so schwer zu verstehen?«

»Nein«, murmelte die Reiseleiterin. »Du sollst mir aber auch glauben, daß ich dich nach wie vor liebe und…«

»Ich glaube es nicht«, unterbrach Dr. Reichel seine Frau. »Wäre es so, dann würdest du die Reiseleiterin an den Nagel hängen und zu Hause bleiben. Du liebst statt meiner viel mehr diese sogenannte große Welt, in die du deine mehr oder minder betuchten Reiseteilnehmer führst – Europa, Afrika und Amerika. Da bleibt nicht viel Liebe für den eigenen Ehemann übrig. So ist es doch. Denk doch einmal nach, und du wirst feststellen müssen, daß unsere Ehe kühl, ja, fast kalt geworden ist.«

»Nein, das ist nicht wahr, Thomas…«, fuhr die junge Frau auf.

»Doch«, beharrte der Arzt auf seinem Standpunkt. »Nur von deiner Seite aus.« Zwingend blickte er seine Frau an. »Aber noch ist es nicht zu spät«, fügte er hinzu. »Du brauchst nur deinen Job aufgeben.«

»Nein, das kann und will ich nicht«, entgegnete Hanne Reichel in leicht aggressivem Ton. »Die Gründe kennst du.«

»Ist das dein letztes Wort?«

»Ja…«

Dr. Thomas Reichel versteifte sich. Seine Züge wurden kantig. »Tja, dann…, dann wird wohl eine…, eine Trennung ziemlich unvermeidlich sein«, brach es leise und stockend über seine Lippen. Er fühlte sich plötzlich elend. Er war gekommen, um Hanne zu bitten, nun endlich immer bei ihm zu bleiben und nicht andauernd in der Welt herumzureisen. Ein, zwei Kinder wollte er haben, und diese Kinder sollten eine Mutter haben, die sich täglich um sie kümmerte. Hanne aber dachte anders. Deutlich genug hatte sie es ihm in der verflossenen Stunde gesagt. So etwas wie Trotz meldete sich plötzlich bei ihm. Nein, betteln wollte er nicht. Das hatte er nicht nötig. Es tat weh, eine vor drei Jahren so gut begonnene Ehe in die Brüche gehen zu sehen.

»Waas? Trennung? Scheidung?« fragte Hanne Reichel in die sekundenschnellen Überlegungen ihres Mannes hinein. »Das…, das ist doch nicht dein Ernst.« Über ihren Körper lief ein Zittern. Die Vorstellung, Thomas für immer zu verlieren, brachte sie doch etwas aus der Fassung. Nicht im entferntesten hätte sie an eine solche Konsequenz gedacht. Nein, sagte sie sich in Gedanken, das macht er nicht, dazu hängt er doch zu sehr an mir, auch wenn ich durch meinen Beruf bisher wenig Zeit für ihn hatte.

Thomas Reichel nickte. »Es sei denn…«, sagte er, sprach aber nicht weiter.

Hanne wußte, was er mit diesem Wort andeuten wollte. Doch in diesem Augenblick meldete sich in ihr Trotz. Nein, erpressen lassen wollte sie sich nicht. Auch nicht von ihrem eigenen Mann. »Das wirst du nicht tun, Thomas«, flüsterte sie. »Das kannst du mir nicht antun. Überschlaf erst alles und komm zur Ruhe! Wir reden morgen nach dem Frühstück weiter«, fuhr sie ablenkend fort. »Ich brauche erst morgen nachmittag ins Büro, um die neue Reise zusammenzustellen…«

»Wann?« fiel Thomas Reichel seiner Frau hart ins Wort.

»Was wann?« Hanne verstand nicht sofort. Doch eine Sekunde später begriff sie. »Ach so«, kam es verhalten über ihre Lippen. »Du meinst den Beginn der nächsten Reise. Übermorgen«, setzte sie leise hinzu und wagte nicht, ihrem Mann in die Augen zu sehen.

»Wohin?« fragte der.

»Diesmal nach Kenia«, erwiderte Hanne. »Für vier Wochen.«

»Wie schön für dich«, stieß Thomas sarkastisch hervor.

Hanne zuckte zusammen. Dieser Ton tat ihr weh. Sie atmete tief durch. »Sprechen wir morgen weiter«, wiederholte sie und zwang sich zu einem Lächeln. Lebhafter werdend, fuhr sie fort: »Weißt du was? Wir fahren heute nach München, gehen ganz groß aus und werden dann eine wunderbare Nacht verleben. Morgen siehst du alles wieder mit anderen Augen.« Sich ihrer Ausstrahlung und deren Wirkung auf Thomas bewußt, schmiegte sie sich an ihn und versuchte ihm tief und lockend in die Augen zu sehen.

»Tut mir leid, Hanne, aber daraus wird nichts, kann nichts werden!« Sanft schob Dr. Reiches seine Frau von sich. »Ich muß zurück in die Klinik, denn ich habe Abenddienst.«

Hanne warf den Kopf in den Nacken. »Sieh an«, zischte sie, »du wirfst mir vor, daß ich wenig Zeit für dich habe. Wie sieht es denn bei dir aus? Deine Zeit wird ja auch zum größten Teil von der Klinik beschlagnahmt.«

»Das ist doch wohl etwas anderes«, versuchte sich Dr. Reichel zu rechtfertigen. »Ich bin Arzt, der für Kranke und Leidende dazusein hat. Arzt zu sein ist nicht allein ein Beruf, sondern eine Berufung, die dem Wohl der Menschen dient«, belehrte er seine Frau. »Das hast du gewußt, als du mich geheiratet hast.«

Hanne ignorierte diese letzte Bemerkung. Ihre Augen funkelten. »Meinst du damit etwa, daß meine Arbeit überflüssig oder vielleicht gar nur ein notwendiges Übel ist, das nur dem Vergnügen dient?« warf sie die Frage auf. Sie war jetzt ein wenig zornig.

Thomas Reichel zuckte mit den Schultern. »Zumindest ist sie nicht so wichtig wie die eines Arztes«, antwortete er.

In diesem Augenblick rastete bei Hanne etwas aus. »Dann fahr doch zu deinen Kranken«, fuhr sie auf. »Ich wollte dir heute eine liebende Frau sein. Aber wenn du deine Kranken mir vorziehst – bitte, ich halte dich nicht auf. Zum Betteln um deine Gunst eigne ich mich nicht.«

»Das trifft für mich auch zu.« Dr. Reichel straffte sich, neigte sich kurz zu der ein wenig kleineren Hanne hinunter, hauchte ihr einen Kuß auf die Stirn und ging.

Mit großen Augen starrte Hanne auf die Tür, die sich Sekunden darauf hinter ihrem Mann schloß. In ihrem Innern meldete sich ein Sturm von Empfindungen. Etwas drängte sie, Thomas nachzulaufen und ihm zuzurufen, nicht so von ihr zu gehen, aber sie brachte keinen Laut über die Lippen. Wie zu einer Salzsäule erstarrt stand sie im Raum und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wenig später vernahm sie das Motorengeräusch durch das leicht geöffnete Fenster.

Daß Dr. Thomas Reichel noch einmal zu eben diesem Fenster heraufblickte – vielleicht mit der winzigen Hoffnung auf ein einlenkendes Zeichen, ein Winken –, das wußte Hanne nicht. Mit einem verhaltenen Seufzer ließ sie sich auf die Couch fallen.

*

Ein wenig ungeduldig blickte Dr. Bernau immer wieder auf die Uhr. Die Stationsschwester hatte ihm eine Tasse Kaffee hingestellt, an der er aber nur nippte.

»Sie sind nervös, Herr Doktor.« Schwester Marianne lächelte. »Es ist doch alles in Ordnung auf den Stationen, also…«

Dr. Bernau schob die halbgeleerte Tasse zur Seite und sah die Stationsschwester mißbilligend an. »Wie kommen Sie darauf, daß ich nervös bin?« fragte er. »Ich bin die Ruhe selbst.«

»Das scheint mir aber nicht so«, erwiderte Schwester Marianne, »denn Sie blicken immer wieder auf die Uhr. Erwarten Sie denn jemanden?«

»Nein…, das heißt ja«, gab Dr. Bernau zurück. »Den Kollegen Reichel nämlich, der mich für den Abend ablösen soll.«

Nun warf auch Schwester Marianne einen Blick auf die Uhr. »Bis dahin fehlen aber noch an die zwanzig Minuten«, sagte sie.

»Na und?« warf Dr. Bernau ein. Um seine Lippen huschte ein Lächeln. »Schließlich möchte ich mich ja noch in Schale werfen«, fügte er erklärend hinzu.

»In Schale?« Die Stationsschwester bekam runde Augen. Im nächsten Augenblick aber blitzte es verstehend in ihren hellbraunen Augen auf. »Jetzt begreife ich«, meinte sie. »Die Hochzeitsfeier unserer jungen Frau Doktor….«

»Sie haben es erfaßt, Schwester«, fiel Dr. Bernau der jungen Frau in der kleidsamen Schwesterntracht lächelnd ins Wort. »Unsere Doktor Astrid Lindau ist ja heute Frau Doktor Mertens geworden, wie Ihnen sicher bekannt sein wird.«

»Allerdings«, bestätigte die Stationsschwester. »Wir haben ja – also das Personal – dem frischgebackenen Ehepaar auch ein nettes Hochzeitsgeschenk überreicht. Schade, daß ich bei der Hochzeitstafel nicht dabeisein kann.« In ihre Augen trat ein träumerisches Glänzen.

»Heiraten Sie einfach«, meinte Dr. Bernau und feixte verstohlen. »Dann haben Sie Ihre eigene Hochzeitsfeier.«

»Als ob das so einfach wäre«, murmelte Schwester Marianne. »Dazu gehören immer noch zwei.«

»Na und?« Dr. Bernau sah die Krankenschwester spitzbübisch an. »Für eine Frau wie Sie dürfte es doch nicht so schwer sein, sich einen genehmen Ehemann zu angeln.«

»Zum einen, Herr Doktor, angle ich keinen Mann, wie Sie sich auszudrücken belieben«, konterte Schwester Marianne mißbilligend, »und zum anderen sind die Männer, die für eine Ehe etwas taugen, nicht gerade in Übermaß vorhanden. Nehmen Sie sich doch selbst einmal.«

»Wie meinen Sie das?« Dr. Bernau überlegte, ob er die letzte Bemerkung der Stationsschwester humorvoll oder ernst nehmen sollte. Er entschied sich für das erstere. »Ich verstehe«, sagte er daraufhin. »Sie spielen auf meine verschiedenen Bekanntschaften mit dem schwachen Geschlecht an.«

»In etwa…«, räumte die Schwester Marianne ein. »Ich… hm… wir alle fragen uns manchmal, wann Sie endlich in den Hafen der Ehe einlaufen werden.«

Dr. Bernau winkte lächelnd ab. »Das hat noch ein wenig Zeit, denn…, denn es prüfe, wer sich ewig binden will.«

»Aha, und Sie befinden sich immer noch in der Prüfungsperiode, Herr Doktor.« Schwester Marianne lachte leise. »Na, dann wünsche ich Ihnen weiterhin viel Glück.«

»Danke«, murmelte Dr. Bernau und erhob sich. »Einmal wird es schon klappen. Jetzt aber interessiert mich die Hochzeitstafel unserer verehrten Leiterin der Kinderabteilung. Da möchte ich nämlich so schnell wie möglich hin. Tja, dann gehe ich jetzt hinüber ins Wachzimmer und warte auf den Kollegen Reichel, der…«

»Schon zur Stelle, Herr Bernau«, klang es von der geöffneten Tür her. Dort stand Dr. Reichel, schon mit seinem weißen Arztmantel angetan, und nickte der Stationsschwester zu. Seine Miene war ernst, und er machte einen etwas bedrückten Eindruck.

Das fiel nicht nur Schwester Marianne auf, die den Internisten eigentlich immer nur mit freundlichem und oft lächelndem Gesicht kannte. Auch Dr. Bernau stutzte.

»Ärger gehabt?« fragte er.

Dr. Reichel bedachte den um einige Jahre jüngeren Kollegen mit einem undefinierbaren Blick.

»Wie kommen Sie darauf?« fragte er kurz angebunden.

»Ach, nur so… ich dachte nur«, wich Dr. Bernau einer direkten Antwort aus und sah auf die Uhr. »Darf ich mich jetzt als abgelöst betrachten?« wollte er wissen. »Ich möchte nämlich gleich fahren. Sie wissen ja – die Tochter des Chefs…«

»Schon in Ordnung, Herr Bernau«, unterbrach Dr. Reichel den Kollegen. »Gehen wir ins Dienstzimmer und lassen Sie mir nur kurz eine Übersicht des heutigen Tages zukommen. Dann können Sie sofort Ihrer Wege gehen.«

Schwester Marianne sah den beiden Ärzten nachdenklich nach. Sie wurde das Gefühl nicht los, daß mit Dr. Reichel etwas nicht stimmte. Jedenfalls machte er auf sie einen etwas zerfahrenen und irgendwie bedrückten und nervösen Eindruck.

Von den Gedanken der Stationsschwester hatte Dr. Reichel allerdings keine Ahnung. Schweigend hörte er sich den Tagesbericht von Dr. Bernau an.

»Wie Sie sehen – keine besonderen Vorfälle«, schloß Dr. Bernau seinen kurzen Bericht. »Risikofälle haben wir glücklicherweise zur Zeit auch nicht im Haus. Frau Neumayr auf achtundzwanzig hat die gestrige Ausschabung gut überstanden und kann in den nächsten Tagen wieder nach Hause.«

»Wie steht es mit Frau Götz von zweiunddreißig?« erkundigte sich Dr. Reichel dann doch noch. Er erinnerte sich, daß bei dieser jungen Patientin eine Schräglage des Ungeborenen festgestellt worden war. »Gibt es Komplikationen?«

»Vorläufig nicht«, antwortete Dr. Bernau. »Der Chef und Frau Doktor Westphal haben sie heute mittag noch einmal untersucht.«

»Und?«

Dr. Bernau zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich wird ein Kaiserschnitt nötig sein«, meinte er. »Doktor Lindau rechnet mit dem Einsetzen der Wehen allerdings erst morgen oder übermorgen. Ich habe Frau Götz aber vor zwei Stunden auf Anweisung des Chefs eine Spritze gegeben. Tja, das wäre eigentlich alles.«

»Danke.« Dr. Reichel klappte das Rapportbuch zu. »Ach, wer hat Dienst auf der Kinderstation?« wollte er noch wissen.

»Assistenzarzt Dr. Burger…«

»Ist gut, Herr Bernau!« Dr. Reichel nickte dem Kollegen verabschiedend zu. »Viel Spaß noch bei der Hochzeitsfeier…«

»Danke, den werde ich haben«, gab Dr. Bernau lächelnd zurück. Sekunden darauf war er auch schon verschwunden. Er hatte es jetzt eilig, denn er wollte von dieser Hochzeit des jungen Paares noch etwas mitbekommen.

Weniger eilig hatte es Dr. Reichel. Eine Weile starrte er noch vor sich hin und bemühte sich, seine innere Aufregung über den Ausgang der Aussprache mit seiner Frau zu besänftigen. Er mußte sich jedoch sehr schnell eingestehen, daß das gar nicht so einfach war. »Na, dann eben nicht«, stieß er unwillig hervor und verließ das Dienstzimmer, um einen Rundgang durch die Stationen der Klinik zu machen. Er hoffte, daß ihn der Dienst jetzt etwas von seinen trüben Gedanken ablenken würde.

»Ich gehe durch die Krankenzimmer«, rief er der Stationsschwester zu, als er am Stationszimmer vorbeiging. »Anschließend finden Sie mich drüben im Dienstzimmer und…« Abrupt brach er mitten im Satz ab und hob lauschend den Kopf. Er hatte die Sirene des Rettungswagens gehört, die Sekunden später jaulend abbrach.

»Da kommt etwas«, rief Schwester Marianne, die das Herankommen des Krankenwagens ebenfalls vernommen hatte.

Dr. Reichel war schon auf dem Weg zur Notaufnahme. Er kam gerade dort an, als zwei Rettungsleute eine auf der Trage liegende Frau hereintrugen. Dr. Ritter, ein noch junger Assistenzarzt, der an diesem Tag den Aufnahmedienst versah, und zwei Schwestern kümmerten sich sofort um die nur schwach atmende und dabei aber leise stöhnende Frau.

»Ich bin der diensthabende Arzt…« Dr. Reichel wandte sich an die Rettungsmänner. »Was ist geschehen?«

»Wir wurden gerufen«, kam die Antwort. »Frau Elisabeth Dittmann – sie wohnt zehn Kilometer nördlich von Auefelden in Wörmsmühl – hat einen Sturz über eine steile Treppe hinter sich. Atemnot und Blutspeichel konnten wir nur feststellen. Frakturen…«, der Rettungsmann zuckte mit den Schultern,»… keine Ahnung. Ich tippe aber auf innere Verletzungen.«

»Danke.« Dr. Reichel trat zu dem Untersuchungstisch, auf den Elisabeth Dittmann gelegt worden war, die schon von den beiden Schwestern entkleidet wurde. Mit einem Blick sah er, daß sich die etwa fünfzigjährige Frau in einem Zustand befand, der am Rande einer Bewußtlosigkeit war. »Herztätigkeit?« fragte er den Assistenzarzt, der schon mit der Untersuchung begonnen hatte.

»Sehr schwach, wahrscheinlich ein Kollaps.«

Dr. Reichel überlegte nicht lange. »Zum Röntgen!« befahl er. »Sofort. Ich gehe schon voraus.« Mit eiligen Schritten entfernte er sich in Richtung Röntgenabteilung.

Eine Minute später wurde die Patientin in den Röntgenraum gebracht, in dem die Röntgenschwester schon alles zum Durchleuchten vorbereitet hatte. Ein wenig besorgt betrachtete Dr. Reichel die fast bewußtlose Frau, die sichtlich unter starker Atemnot litt. »Beginnen wir!« rief er der Schwester zu und zog sich mit ihr hinter die Glaswand zurück.