Drachenmann - Garry Disher - E-Book
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Drachenmann E-Book

Garry Disher

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Beschreibung

Im Peninsula District bei Melbourne, einer Halbinsel, die wie ein langes Komma ins Meer hinaus ragt, herrscht kurz vor Weihnachten Hochbetrieb. Es ist heiß, die Touristensaison hat gerade angefangen, im Gerichtsgebäude von Waterloo wird endlich die schon längst nötige Klimaanlage eingebaut. Detective Inspector Hal Challis freut sich nicht besonders auf die Weihnachtstage, alte Wunden werden wieder aufgerissen, am liebsten würde er sich ganz der Restaurierung eines alten Flugzeugs widmen. Dann aber wird eine junge Frau nachts auf dem Old Peninsula Highway ermordet, kurz darauf geschieht ein zweiter Mord, ein anonymer Brief kündigt ein drittes Opfer an.

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Seitenzahl: 415

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Über dieses Buch

Inspector Hal Challis freut sich nicht besonders auf die Weihnachtstage, alte Wunden werden wieder aufgerissen, am liebsten würde er sich ganz der Restaurierung eines alten Flugzeugs widmen. Dann aber wird eine junge Frau nachts auf dem Highway ermordet, kurz darauf geschieht ein zweiter Mord, ein anonymer Brief kündigt ein drittes Opfer an.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Garry Disher (*1949) wuchs im ländlichen Südaustralien auf. Seine Bücher wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter zweimal der wichtigste australische Krimipreis, der Ned Kelly Award, viermal der Deutsche Krimipreis sowie eine Nominierung für den Booker Prize.

Zur Webseite von Garry Disher.

Peter Friedrich (*1956) studierte Theaterwissenschaft, Ethno-Geografie, Kunstgeschichte und Sinologie/Japanologie. Er ist als Autor, Filmemacher und Übersetzer tätig.

Zur Webseite von Peter Friedrich.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Garry Disher

Drachenmann

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Peter Friedrich

Ein Inspector-Challis-Roman (1)

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel The Dragon Man bei Allen & Unwin in St. Leonards, Australien.

Originaltitel: The Dragon Man (1999)

© by Garry Disher 1999

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Frontline Photography (Alamy Stock Photo)

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-30822-0

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 08.01.2024, 08:26h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DRACHENMANN

DankProlog1 – Detective Inspector Hal Challis duschte mit den Füßen …2 – »Ein junger Streifenpolizist wollte mich wegen einer gesprungenen …3 – In derselben Nacht riss eine Frau in der …4 – Sieben Uhr morgens und die Sonne brannte bereits …5 – Nach ihrer Begegnung mit Sergeant Destry an diesem …6 – Challis sah von der Uferböschung aus zu …7 – Am nächsten Morgen las Challis auf dem Beifahrersitz …8 – Challis stand am Freitagmorgen um sechs auf und …9 – »Was machst du?«10 – »Tschüsschen, Frosch«, sagte Scobie Sutton11 – Challis erwachte am ersten Weihnachtsfeiertag um sechs und …12 – Sie waren Leute vom Land: anständig, bestürzt und …13 – Am zweiten Weihnachtsfeiertag brachten die Zeitungen Berichte über …14 – Am Mittwoch, dem siebenundzwanzigsten Dezember rollten dunkle Wolkenmassen …15 – Gegen Mittag saßen Danny Holsinger und Boyd Jolic …16 – Sutton war im Einsatzraum und telefonierte Vicki Mudge …17 – Montag, erster Januar. Als Pam Murphy zum Dienst …18 – Es war eine Nacht der heißen Nordwinde …19 – Tagesanbruch, Mittwoch, dritter Januar. Challis hatte sich noch …20 – Am Donnerstagmorgen kam Ellen zu spät. Challis’ Triumph …21 – Am nächsten Morgen um neun sagte Scobie Sutton …22 – Am Samstag um Viertel nach acht stand Challis …23 – Pam Murphy chauffierte Sutton wieder in dem weißen …24 – »Ich bring ihn um«, sagte sie25 – Die Frau hatte ein Mädchen bei sich …26 – Danny dirigierte sie zu einer Siedlung, die an …27 – Challis parkte ein Stück weiter die Straße hinunter …28 – »Er hat immer wieder gesagt: ›Deine Mutter ist …

Mehr über dieses Buch

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Über Garry Disher

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Über Peter Friedrich

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Für Helen Sargeant

Dank

Ich möchte mich bei den Kriminalbeamten und der uniformierten Polizei von Victoria bedanken, die mir großzügig ihre Zeit zur Verfügung stellten, als ich Hintergrundinformationen für dieses Buch sammelte. Alle Abweichungen von der üblichen Vorgehensweise der Polizei gehen auf mein Konto (zum Beispiel die Einführung eines örtlichen Inspektors der Kriminalpolizei).

Meinem Herausgeber Carl Harrison-Ford schulde ich großen Dank dafür, dass er mir zeigte, wie ich hieraus ein viel besseres Buch machen konnte.

Prolog

Manchmal fühlte es sich so an, als streifte er durch das Dach des Himmels, als ritte er hoch durch die Nacht, die Sterne dicht über sich, mutterseelenallein, denn die wimmelnden Massen mit ihren kleinen Kümmernissen lagen sicher in ihren Betten. Er war so ruhelos wie ein Fuchs. Zu Zeiten wie diesen schien er einen eigenen Tunnel durch das Leben zu besitzen, einen Pfad durch diese ausgedehnte Dunkelheit, die ›Old Peninsula Highway‹ hieß, wo ihn nichts und niemand bedrängen konnte. Er fuhr die ganze Länge der schlummernden Landzunge hinunter bis zu der Stelle, wo er auf den Ozean traf. Dann zurück zur östlichsten Spitze der Stadt, zu den Lichtern und dem Gestank der Menschen, wo er in einem Haus ohne Liebe lebte. Er wendete an einem Kreisverkehr und fuhr wieder auf den Ozean zu.

Ungefähr auf halbem Weg entlang des Highways sah er sie. Bei Nacht stellten andere Autos beinahe einen Affront für ihn dar, aber sie waren immer blitzschnell vorbei, lediglich ein Paar Scheinwerfer, das er kaum wahrnahm. Dieser Wagen aber hatte angehalten und parkte auf dem Schotter vor einem Obst- und Gemüseverkauf an der Straße, einem wuchtigen, scheunenähnlichen Gebilde in der Nacht. Beim Vorbeifahren bremste er auf Schritttempo ab. Das Auto wirkte verloren, die Motorhaube stand offen und Dampf stieg aus dem Kühler. Eine einzelne Lampe auf einem Mast in der Nähe warf einen schwachen, graugelben Lichtkegel auf eine Telefonzelle und die junge Frau, die darin stand. Sie redete eindringlich und gestikulierte, aber als sie ihn vorbeifahren sah, schien sie plötzlich zu erstarren und trat heraus, um besser sehen zu können. Er beschleunigte. Das Bild, das er von ihr hatte, war das der einsamsten Gestalt am einsamsten Ort der Erde. Ende der Welt. Amen.

Er wendete an der nächsten Kreuzung, und als er die Frau wieder erreichte, bog er von der Straße ab und lenkte dicht an den abgetakelten Wagen heran, der sie im Stich gelassen hatte. Gut. Sie war allein. Er fuhr weiter, bis er neben der Telefonzelle war, dann kurbelte er das Fenster herunter. Er wollte sie nicht beunruhigen, indem er die Tür öffnete und ausstieg.

Sie stand zögernd in der Telefonzelle. Er rief hinüber: »Alles in Ordnung? Funktioniert das Telefon? Manchmal machen diese Vandalen es kaputt.«

Er klang wie ein Einheimischer. Das würde helfen. Er sah, wie sie die Arme um sich schlang. »Bestens, danke. Ich habe einen Pannendienst gerufen. Sie sind unterwegs.«

Wie zufällig sah er von ihr weg zu ihrem Wagen. Er versteifte sich und blickte sie alarmiert an: »Haben Sie jemanden mitgenommen?«

Sie erstarrte, begann zu zittern, und als sie ihre Stimme wieder fand, war sie nur noch ein Piepsen. »Was meinen Sie damit?«

»Da ist jemand hinten in Ihrem Wagen, hinter dem Sitz.«

Sie schob sich seitlich näher an ihn heran. »Wer? Ich habe niemanden gesehen.«

Er öffnete seine Tür und stellte einen Fuß auf den Boden. »Das gefällt mir nicht. Haben Sie den Wagen irgendwann unbeaufsichtigt gelassen?«

»Am Bahnhofsparkplatz. Er stand den ganzen Tag da.«

»Es hat schon Fälle gegeben…«, sagte er.

Er stieg aus, ließ aber seine Tür offen. Jetzt beäugten sie beide fluchtbereit ihren Wagen. »Hören Sie«, sagte er, »Sie steigen besser bei mir ein. Rutschen Sie auf die Beifahrerseite durch.«

Sie ließ es sich durch den Kopf gehen. Er achtete darauf, sie nicht anzusehen, sie aber die Furcht auf seinem Gesicht merken zu lassen. Dann, als sie auf ihn zukam, trat er zur Seite und schob sich um seinen eigenen Wagen herum auf den ihren zu.

Sie fuhr mit den Händen zum Mund. »Was tun Sie da? Kommen Sie zurück, bitte kommen Sie zurück.«

»Ich will ihn mir erst genauer ansehen. Für die Polizei.«

»Nein!«

Ihre Angst schien sich auf ihn zu übertragen. »Ich glaube, Sie haben Recht.«

»Bringen Sie mich nur fort von hier.«

»Gut.«

So leicht ging das. Wirklich genial. Die Erste, damals, letzte Woche, das war überhaupt keine Herausforderung gewesen. Betrunken, von Drogen halb betäubt, eine Tramperin. Ein Kinderspiel. Heute Nacht hatte er wenigstens seinen Verstand ein bisschen einsetzen müssen. Die Scheinwerfer bohrten sich in die Dunkelheit, während er die Frau mit sich davontrug, hoch über die Verderbtheit hinweg, die allgegenwärtig war unter dem Licht der Sonne.

1

Detective Inspector Hal Challis duschte mit den Füßen in einem Eimer. Er ging sparsam mit dem Wasser um, aber trotzdem lief der Eimer über. Er frottierte sich trocken, zog sich an, und während die Espressokanne auf dem Beistellkocher in der Küche heiß wurde, schüttete er das Wasser im Eimer in die Waschmaschine. Noch ein paar Duschen, und er hatte genügend Wasser für eine Ladung Wäsche. Erst der neunzehnte Dezember, aber schon näherte sich der Pegel seiner Wassertanks dem Tiefstand und es war ein langer, trockener Sommer vorhergesagt. Er wollte nicht wieder Wasser kaufen müssen wie im letzten Sommer.

Der Kaffee war fertig. Während er sich eingoss, warf er einen Blick auf den alten Kalender, den er vor drei Jahren im Versandhandel bestellt hatte und seitdem beim März aufgeschlagen ließ. Der Flugzeugoldtimer dieses Monats war ein Prototyp der de Havilland DH84 Dragon, ›Drache‹. Dann klackte der Toaster und Challis machte sich auf die Suche nach Butter und Marmelade und nahm schließlich seinen Toast und den Kaffee mit auf die Veranda hinter dem Haus.

Die Strahlen der frühen Morgensonne trafen ihn durch die Glyzinien hindurch. Heute würde sicher wieder ein heißer Tag werden. Er fühlte sich todmüde. Verdacht auf eine Entführung auf dem Old Peninsula Highway vor zwei Nächten – und die Ermittlungen waren schließlich an ihm hängen geblieben. Die Streifenpolizei in Frankston hatte den Anruf entgegengenommen und an den Superintendenten des gesamten Gebiets weitergeleitet, der seinerseits um ein Uhr nachts Challis angerufen und gesagt hatte: »Möglicherweise hat ihr Knabe ein zweites Mal zugeschlagen, Hal.« Challis hatte die nächsten vier Stunden vor Ort verbracht und die ersten Ermittlungen geleitet. Als er dann gestern um fünf Uhr früh endlich zurück war, hatte er nicht mehr viel Sinn darin gesehen, wieder ins Bett zu gehen, und den Rest des Tages im Auto oder am Telefon zugebracht.

Ein kleiner Viertaktmotor tuckerte am Damm seines Nachbarn entlang. Früher war dort eine Viehtränke gewesen. Jetzt waren die Kühe verschwunden und entlang der Hügelflanke erstreckten sich ordentliche Reihen von Weinstöcken. Challis konnte seinen Nachbarn nicht zwischen den Rebstöcken erkennen. Aber der Mann war bestimmt irgendwo dort, jätete Unkraut, schnitt die Stöcke zurück, sprühte Insektenschutzmittel, las die Trauben. Challis musste an die Insektizide denken, die der Wind auf sein Dach trug und der Regen in seinen unterirdischen Tank spülte, und goss seinen Kaffee weg.

Er stieg von der Veranda und machte einen Rundgang entlang seines Grenzzaunes. Ein halber Hektar, an einer ungeteerten Straße westlich des Old Peninsula Highway, eingebettet zwischen Obstgärten, einem Weingut und einem Gestüt. Challis unternahm diesen Spaziergang jeden Morgen und Abend als eine Art Test für seine Gefühle. Fünf Jahre schon, und der Ort war immer noch sein sicherer Hafen im Sturm.

Als er die Zeitung aus dem Briefkasten an der Schotterstraße vor seinem Haus holte, rief eine Stimme aus der nächsten Einfahrt: »Hal, haben Sie mal eine Minute Zeit?«

Der Mann vom Weingut kam auf ihn zu. Klein, die Augen vor der Sonne zugekniffen, um die Sechzig. Challis wartete und musterte ihn ausdruckslos, wie er es mit Verdächtigen tat. Tatsächlich wurde der Mann unruhig.

Challis riss sich zusammen. Der Typ hatte seine Kripotricks nicht verdient. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich weiß, dass es nur eine Kleinigkeit ist, aber Sie kennen doch den Teich, den ich drüben beim Haus angelegt habe?«

»Ja.«

»Jemand hat darin geangelt«, sagte der Nachbar. »Nach Forellen. Das Problem ist, dass sie mir die Vögel verjagen.«

Ibisse, Reiher, ein schwarzer Schwan, Sumpfhühner. Challis hatte sie einmal einen halben Tag lang von einem winzigen Versteck aus beobachtet, das der Mann im Schilf angelegt hatte. »Wissen Sie, wer?«

»Kinder wahrscheinlich. Ich habe ein paar verknäulte Schnüre gefunden und Angelhaken, sowie ein halbes Dutzend leere Coladosen.«

Challis nickte. »Haben Sie die zuständige Wache verständigt?«

»Ich dachte, Sie als Inspector –«

»Verständigen Sie die hiesige Wache«, sagte Challis. »Die werden ab und zu einen Streifenwagen vorbeischicken und Präsenz zeigen.«

»Könnten Sie nicht…«

»Tut mir sehr Leid, aber es wäre besser, wenn Sie Anzeige erstatten.«

Bald darauf machte Challis sich auf den Weg. Er sperrte das Haus ab, lenkte seinen Triumph rückwärts aus der Garage, bog am Tor rechts ab und fuhr die Straße vorsichtig im ersten Gang entlang. Im Winter musste er sich vor Schlaglöchern, Schlamm und kleineren Überschwemmungen in Acht nehmen, im Sommer vor Spurrillen und trügerischen weichen Banketten.

Er fuhr Richtung Osten und hörte dabei die Achtuhrnachrichten. Um fünf nach acht traf er ganz in der Nähe des Schauplatzes der Entführung auf den Old Peninsula Highway, bog ab und fuhr in Richtung Süden weiter, auf die Stadt Waterloo zu, während er den Nachhall der verzweifelten Schreie der Sterbenden hinter sich zu hören glaubte.

Er hätte seinem Nachbarn gegenüber hilfsbereiter sein sollen. Er fragte sich, was der Mann wohl von ihm hielt, dem Inspector, und von der ›Neuen Halbinsel‹.

Die Halbinsel. Die Leute redeten von ihr, als wäre sie eine homogene Einheit. Das tat man nur, wenn man sie nicht kannte, dachte Challis. Das tat man nur, wenn man dachte, dass ihre unverwechselbare Form – ein kommaähnliches Landstück, das sich südöstlich von Melbourne ins Meer hineinkrümmte – ihr eine eigene Identität verlieh, oder wenn man nur ein einziges Mal durchgefahren war und dabei lediglich Strände, Ackerland und ruhige Küstenorte gesehen hatte.

Nicht, dass sie eine große Fläche bedeckt hätte – weniger als eine Autostunde von oben bis unten und an der breitesten Stelle etwa zwanzig Minuten quer hindurch –, aber für einen Polizisten wie Challis gab es mehrere Halbinseln. Die alte Halbinsel mit ihren kleinen Farmen und Obstgärten, abgeschiedenen Landsitzen, ein wenig Kleinindustrie und Fischerei und ruhigen, von Rentnern und Urlauberfamilien bevölkerten Küstenorten wich langsam der neuen Halbinsel der Weinboutiquen, Wochenendfarmen und Nebenstraßen voller Bed&Breakfast-Pensionen, Töpfereien, Naturheilkundekliniken, Kongresszentren, Teestuben und Galerien. Der Tourismus war einer der größten Industriezweige, und Leute, die ihrem Beruf nachgehen mussten – wie Challis selbst –, flüchteten aufs Land, um sich dort einen Schlupfwinkel zu sichern. Einige einheimische Firmen verdienten gut daran, Scheunen in amerikanischem Stil hochzuziehen und gusseiserne Kochherde einzubauen. Und die Ortschaften waren verstopft mit teuren Allradfahrzeugen.

Aber obwohl mehr Geld im Umlauf war, verteilte es sich nicht zwangsläufig auf mehr Menschen. Eine befreundete Sozialpädagogin in der Stadtverwaltung hatte Challis von der wachsenden Anzahl obdachloser, drogenabhängiger Jugendlicher berichtet, mit denen sie zu tun hatte. Industriebetriebe und Geschäfte wurden aufgegeben, gleichzeitig zogen immer mehr Familien in die billigen Wohnsiedlungen, die sich an den Rändern der größten Orte, Waterloo und Mornington, ausbreiteten. Die Regionalverwaltung, einst einer der größten Arbeitgeber, kürzte die Ausgaben auf das Allernotwendigste und beschäftigte Manager, deren Menschlichkeit ebenfalls auf das Allernotwendigste reduziert war. ›Freistellungen‹ erfolgten ohne Vorwarnung und niemals von Angesicht zu Angesicht. Die Sozialpädagogin verkaufte jetzt hausgemachte Pickles und Marmeladen auf den Märkten der Gegend. Sie hatte einen Brief mit der Mitteilung bekommen, dass sie überflüssig sei und ihre ganze Abteilung geschlossen werde. »Nur drei Tage Frist, Hal.«

Das geschah jetzt überall, und mit den Folgen musste sich die Polizei herumschlagen.

Was nicht hieß, dass die Halbinsel kein angenehmer Ort zum Leben war. Challis hatte das Gefühl, endlich nach Hause gefunden zu haben.

Und die Arbeit lag ihm. Wenn er früher in Mord- oder Entführungsfällen ermittelt hatte, war er mit einer Truppe von Spezialisten durch das ganze Land gehetzt worden, durch Stadt und Busch, aber der Commissioner hatte ein neues System eingeführt, das den Beamten vor Ort mehr Erfahrung bei der Untersuchung von Schwerverbrechen verschaffen sollte, neben den üblichen Kleindelikten wie Einbrüchen, Körperverletzung oder Diebstahl. Mittlerweile waren höhere Kriminalbeamte wie Challis für ein bestimmtes Gebiet zuständig. In Challis’ Fall war es die Halbinsel. Obwohl er ein Büro im regionalen Hauptquartier hatte, verbrachte er die meiste Zeit in den verschiedenen Polizeirevieren der Halbinsel, führte die Ermittlungen mithilfe der örtlichen Kripo durch und zog die Spezialisten nur hinzu, wenn er anders nicht mehr weiterkam. Es war eine Aufgabe, die Takt erforderte, denn er durfte die Kompetenzen der örtlichen Kripo nicht zu sehr einschränken. Das hätte zu Missstimmungen und schleppenden Ermittlungen geführt.

Bei der Kripo von Waterloo rechnete er nicht mit etwas Derartigem. Er hatte schon früher mit ihr zusammengearbeitet.

Challis fuhr zwanzig Kilometer weiter in südlicher Richtung. Der Highway folgte dem Ostrand der Halbinsel, sodass er gelegentlich einen Blick auf die Bucht hatte. Dann kam hinter den Mangrovensümpfen die Raffinerie von Waterloo in Sicht mit ihren grellweißen Tanks und Schornsteinen, aus denen leuchtende Flammen schlugen. Ein großer Tanker lag vor Anker. Der Highway wurde zu einer Nebenstraße, die ein Neubaugebiet durchschnitt. Die hohen Bretterzäune zu beiden Seiten verbargen höchst unterschiedlich geformte Dächer, die aber nie mehr als einen Meter weit auseinander lagen. Er überquerte die Eisenbahnschienen und bog rechts auf die Ortsumgehung ab, dann links auf die Hauptstraße, die ihn an Holzhandlungen, Bootswerften, der Taxizentrale, Autowerkstätten, einem Aerobic-Center und dem Fiddlers Creek Pub vorbeiführte, schließlich an einem Eckgrundstück, das mit fahrbaren Rasenmähern und Kleintraktoren voll gestopft war.

Das Polizeirevier und das angrenzende Gerichtsgebäude lagen an einem Kreisverkehr am Ende der High Street, gegenüber von Pizza Hut. Beim Abbiegen warf Challis einen Blick die High Street entlang. Am anderen Ende glitzerte das Wasser. Mit Kunstschnee verzierte Weihnachtsmänner, Rentiere, Schlitten, Kerzen, Krippen und Glocken baumelten von Lichtmasten und Bäumen.

Er parkte in der Seitenstraße gegenüber dem Haupteingang des Polizeireviers, stieg aus und war sofort in Schwierigkeiten.

»Ihre Windschutzscheibe ist nicht verkehrssicher.«

Ein Streifenpolizist hatte gerade in einen Polizeibus steigen wollen, der mit einer jungen Polizistin am Steuer im Leerlauf am Straßenrand stand, überlegte es sich dann aber anders und kam auf Challis zu. Er zückte seinen Strafzettelblock und fischte in der Brusttasche nach einem Stift. Der verpasst mir glatt ein Strafmandat, dachte Challis.

»Die neue Scheibe ist schon bestellt.«

»Das reicht nicht.«

Der Triumph hatte flache, schnittige Linien. Auf den Nebenstraßen der Halbinsel schleuderte er immer wieder Steine und Kiesel hoch und einer davon hatte die Windschutzscheibe auf der Beifahrerseite beschädigt.

»Ist das Ihr Wagen?«

»Allerdings.«

Ein Fingerschnippen. »Führerschein.«

Challis gehorchte. Der Constable war groß – hoch gewachsen und grobknochig, aber er hatte auch Übergewicht. Er war jung, die Haut noch unberührt von Zeit und Witterung, und sein Haar war so kurz geschnitten, dass die Kopfhaut durchschimmerte. Challis hatte den Eindruck von quadratmeterweise rosa Haut.

»Schneller, schneller.«

Ein klassischer Leuteschinder, dachte Challis.

Dann sah der Polizist den Namen auf Challis’ Führerschein. Aber er hielt sich gut, das musste man ihm lassen. »Challis. Inspector Challis.«

»Ja.«

»Sir, diese Windschutzscheibe ist nicht verkehrssicher. Sie stellt eine Gefahr dar.«

»Das ist mir klar. Ich habe eine neue bestellt.«

Der Constable musterte ihn für lange Sekunden, dann nickte er. Er steckte seinen Block weg. »Na schön.«

Challis war nicht erpicht auf einen Strafzettel, und dem Constable jetzt zu sagen, er solle nach Vorschrift handeln und ihn aufschreiben, wäre für sie beide peinlich und ärgerlich gewesen, also schwieg er. Der Constable wandte sich ab und ging zum Bus. Challis sah ihm nach, als er wegfuhr.

»Eine echte Nervensäge, der Kerl«, sagte eine Stimme.

Vor dem Gerichtsgebäude parkte ein verbeulter Jeep. Die Hecktüren standen offen und ein Mann im Overall lud Lüftungsöffnungen für eine Klimaanlage aus. Challis warf einen Blick auf die Seite des Jeeps. Rhys Hartnett – Klimaanlagen.

»Der Mistkerl hat mich gestern in die Mangel genommen. War noch keine fünf Minuten hier, da hat er mich schon wegen einem gesprungenen Rücklicht aufgeschrieben. Hat herumgebrüllt und gegeifert, als wäre ich irgendein Krimineller.«

Challis wechselte das Thema. »Arbeiten Sie im Polizeigebäude?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Im Gericht.«

Er schnippte Challis eine Visitenkarte entgegen. Es war eine automatische Geste und Challis hatte eine Vision von hunderten von Leuten, die mit unerwünschten Visitenkarten in den Taschen herumspazierten. Er warf einen Blick darauf. Rhys Hartnett – Spezialist für Klimaanlagen.

»Na, es wäre noch schöner, Sie würden im Polizeigebäude arbeiten.«

Hartnett schien sich zu straffen. »Sie sind Polizist?«

»Ja.«

»Na bravo. Das hätte ich mir sparen können, mich bei Ihnen über Polizeimethoden zu beschweren.«

»Nicht unbedingt«, sagte Challis, bevor er sich abwandte und die Straße überquerte.

Das Polizeirevier erstreckte sich über zwei Stockwerke. Im Erdgeschoss war ein Gewirr von Vernehmungszimmern, Büros, Arrestzellen, einem Bereitschaftsraum, einer Kantine und einer Kaffeestube. Im ersten Stock war es ruhiger: ein kleiner Fitnessraum, Spinde, das Krankenrevier. Außerdem war hier die Einsatzzentrale, die gleichzeitig als Fahndungsbüro diente, wenn eine größere Ermittlung anstand.

Ein dienstälterer Sergeant hatte die Gesamtleitung des Reviers. Er hatte vier einfache Sergeants und etwa zwanzig niederere Dienstränge unter sich, einschließlich einer Hand voll Auszubildender, denn Waterloo war ein Ausbildungsrevier. Die Kripoabteilung selbst war klein, nur ein Sergeant und drei Detective Constables. Es gab auch zwei Kriminaltechniker, die für die ganze Halbinsel in Bereitschaft standen – und ein paar zivile Büroangestellte.

Weil über dreißig Personen, die meisten davon im Schichtdienst, auf dem Revier arbeiteten und die uniformierte Abteilung im Allgemeinen wenig Kontakt mit der Kripo hatte, wunderte sich Challis nicht besonders, dass der junge Constable ihn nicht von seinen beiden früheren Ermittlungen in Waterloo wieder erkannt hatte.

Die Kaffeestube lag neben dem Fotokopierraum. Challis ging zu der Spüle voller schmutzigem Geschirr in der Ecke und nahm zur Kenntnis, dass das Gespräch der vier jungen, uniformierten Polizisten verstummte, während er sich eine Tasse mit Leitungswasser füllte. Er sah auf die Uhr. Zeit für die Besprechung.

In der Einsatzzentrale im ersten Stock erwarteten ihn bereits die Kripobeamten und ein Paar uniformierter Sergeants. Morgenlicht strömte herein. Es war ein großer, luftiger Raum, aber er wusste, dass es bis zum Ende des Tages ganz schön stickig werden würde. Der Raum war mit zusätzlichen Telefonleitungen ausgestattet, Fotokopierern, Computern, großformatigen Wandkarten und einem Fernsehgerät. Jeder eingehende Anruf konnte automatisch auf Kassette aufgezeichnet werden. Außerdem gab es eine direkte Leitung zu Telstra, der australischen Telefongesellschaft, sodass Anrufe zurückverfolgt werden konnten.

Challis nickte, als er den Raum betrat. Sein Gruß wurde mit ein paar gemurmelten Hallos erwidert und jemand sagte: »Da kommt der Drachenmann.« Er ging weiter zu einem Schreibtisch, der zwischen einer weißen Schreibtafel und einer Wand voller Landkarten stand. Er bezog seine Position hinter dem Tisch, stützte seine Hände auf die Stuhllehne und sagte ohne Vorrede: »Sonntagnacht wurde von einer jungen Frau namens Jane Gideon aus einer Telefonzelle am Old Peninsula Highway ein Notruf abgegeben. Seitdem fehlt von ihr jede Spur, und weil eine andere junge Frau, Kymbly Abbott, vor einer Woche vergewaltigt und ermordet neben dem Highway aufgefunden wurde, betrachten wir die Umstände als verdächtig.«

Er richtete sich auf und sah über ihre Köpfe hinweg. »Sie sind Jane Gideon. Sie arbeiten im Odeon-Kino. Sie erwischen den letzten Zug aus der Stadt nach Frankston, holen Ihren Wagen, einen alten Holden, und fahren den Highway entlang. Es ist ihr üblicher Nachhauseweg. Stellen Sie sich den Highway bei Nacht vor. Beinahe Mitternacht. Keine Straßenbeleuchtung, der Mond wolkenverhangen, kaum Autos unterwegs, die Gegend verlassen abgesehen von den Lichtern der einen oder anderen Farm auf einem entfernten Hügel. Es ist eine heiße Nacht, die Anstiege sind teilweise recht steil, Ihr Wagen müsste eigentlich dringend zur Inspektion. Irgendwann kocht der Kühler. Sie schaffen es gerade noch bis zu dem geschotterten Platz vor der Firma Foursquare Produce, die dort eine Art riesiger Scheune unterhält, mitten im Nirgendwo, aber es gibt eine Telstra-Telefonzelle gleich daneben. Sie hat keine Türen, kaum Glas, besteht fast ausschließlich aus blaugrauem Maschendraht. Sie fühlen sich exponiert in der Finsternis und rufen die VAA an.«

Er schob eine Kassette in ein Abspielgerät und drückte den Startknopf. Sie lauschten angestrengt:

»Victoria Automobile Association. Was kann ich für Sie tun?«

»Ja, mein Name ist Jane Gideon. Ich bin mit dem Wagen liegen geblieben. Ich glaube, es ist der Kühler. Ich habe Angst, dass etwas kaputtgeht, wenn ich weiterfahre.«

»Ihre Mitgliedsnummer?«

»Äh…«

Man hörte das Klimpern von Schlüsseln. »Hier ist sie: MP sechs drei null null vier Schrägstrich neun sechs.«

Eine kurze Pause, dann: »Tut mir Leid, wir haben diese Nummer nicht in unseren Unterlagen. Ist Ihre Mitgliedschaft vielleicht abgelaufen?«

»Bitte, könnten Sie trotzdem jemand schicken?«

»Sie müssten erst wieder beitreten.«

»Herrgottnochmal«, murmelte jemand. Challis hob um Ruhe bittend die Hand.

»Ist mir gleich. Bloß schicken Sie jemand.«

»Wie möchten Sie bezahlen?«

Es gab eine Pause, in der man nur das Pfeifen von Funksignalen in hörte.

»Da kommt jemand.«

»Dann brauchen Sie also doch keine Hilfe?«

»Ich meine, da kommt ein Wagen. Er fährt jetzt ganz langsam. Bleiben Sie dran.«

Das Klimpern von weiteren Münzen, mit denen sie den Apparat fütterte. »Ich bin wieder da.«

Die Stimme der Telefonistin klang neutral, als könnte sie die pechschwarze Nacht nicht spüren, die Isoliertheit der Telefonzelle und die Angst der jungen Frau. »Wo genau sind Sie, bitte?«

»Hm, da ist dieser Schuppen, steht Foursquare Produce dran.«

»Aber wo? Ihre Mitgliedsnummer, das ist auf der Halbinsel, richtig?«

»Ich bin auf dem Old Peninsula Highway. Oh nein, er hält an!«

»Wo auf dem Highway? Können Sie mir einen Anhaltspunkt geben? Eine Hausnummer? Eine Querstraße?«

»Es ist ein Mann. Oh Gott.«

Die Stimme der Telefonistin wurde schärfer. »Jane, hören Sie, was ist da los bei Ihnen?«

»Ein Wagen.«

»Gibt es ein Haus in der Nähe?«

»Nein.« Sie schluchzte jetzt. »Nirgends ein Haus, nur dieser Schuppen.«

»Ich sage Ihnen, was ich tun werde. Sie –«

»Schon gut, er fährt weiter.«

»Jane, steigen Sie in Ihren Wagen. Wenn er noch fährt, stellen Sie ihn irgendwo neben der Straße ab, wo man ihn nicht sehen kann. Hinter diesem Schuppen vielleicht. Bleiben Sie dann im Wagen. Versperren Sie die Türen und kurbeln Sie alle Fenster hoch. Würden Sie das für mich tun?«

»Ich glaube, ja.«

»Inzwischen rufe ich die Polizei an, und ich werde auch eines unserer Pannenfahrzeuge zu Ihnen hinausschicken. Sie können dann vor Ort wieder dem VAA beitreten. Okay? Jane? Sind Sie noch dran?«

»Und wenn er zurückkommt? Ich hab Angst. Ich hab noch nie im Leben so viel Angst gehabt.«

Ihre Stimme brach unter der wachsenden Furcht. Die Telefonistin wiederholte ruhig ihre Anweisungen, aber es lag kein Trost darin: »Steigen Sie ins Auto, sperren Sie die Türen zu, sprechen Sie mit niemandem, auch wenn er seine Hilfe anbietet.«

»Ich könnte mich verstecken.«

Die Telefonistin war offensichtlich hin- und hergerissen. Der Automobilclub von Victoria zeichnete alle Notrufe auf, seit ein Mitglied sie wegen eines falschen Ratschlags verklagt hatte, der sich als kostspielig erwiesen hatte. Seitdem waren die Telefonistinnen ziemlich zurückhaltend mit Ratschlägen – aber eine junge Frau nachts allein auf einer verlassenen Straße? Sie hatte ein Anrecht auf irgendeinen guten Rat.

»Ich weiß nicht«, gestand die Telefonistin. »Wenn Sie meinen, es nützt etwas. Wo verstecken? Hallo? Hallo?«

Man vernahm das Geräusch eines Wagens, gedämpfte Stimmen, eine lange Pause, dann war die Leitung tot.

»Den Rest wissen Sie«, sagte Challis. »Die VAA-Telefonistin wählte die Eins-Eins-Null, die wiederum Frankston alarmierten, und die schickten einen Streifenwagen hin. Sie fanden Jane Gideons Wagen. Das Telefon war eingehängt. Keine Anzeichen eines Kampfes. Sie haben in den umliegenden Schuppen und Gärten gesucht, falls Gideon doch beschlossen hatte, sich zu verstecken, fanden aber nichts.« Er sah auf die Uhr. »Gestern bei Tagesanbruch hat die uniformierte Polizei die Suche aufgenommen. Unsere erste Aufgabe wird darin bestehen, Klinken zu putzen.«

Er machte eine Pause. »Wir stehen noch ganz am Anfang, also sollten wir nicht den einen Fall mit dem anderen durcheinander bringen, aber wir können eine mögliche Verbindung zwischen der Ermordung Kymbly Abbotts und Jane Gideons Verschwinden nicht von der Hand weisen. Da ich bereits am Fall Abbott arbeite, habe ich ihre Akten mitgebracht. So weit irgendwelche Fragen?«

»Wo liegen die möglichen Verbindungen, Chef?«

»Da wäre zunächst der Old Peninsula Highway«, sagte Challis. Er drehte sich zu einer Wandkarte um. Sie zeigte die Stadt Melbourne und ihre Hauptverkehrsadern in die ländlichen Gebiete hinaus. Auf ein Netz von Straßen deutend, das die Vorstadt Frankston am Südostrand der Stadt darstellte, sagte er: »Kymbly Abbott war hier in Frankston auf einer Party. Der Highway beginnt dort, ein paar hundert Meter entfernt. Abbott wurde zuletzt gesehen, als sie in Richtung Highway ging, um nach Hause zu trampen.« Er zeichnete den Verlauf des Highways entlang des Kommas der Halbinsel nach. »Sie lebte bei ihren Eltern, hier in Dromana. Sie haben dort ein Schuhgeschäft. Unseres Wissens verließ sie die Party um ein Uhr morgens, möglicherweise betrunken, möglicherweise unter Drogen, also könnte ihr Urteilsvermögen getrübt gewesen sein. Es scheint, dass keiner von der Party sie mitgenommen hat, ich werde aber mit allen noch einmal reden. Ihre Leiche wurde hier gefunden, neben dem Highway, nur sieben Kilometer südlich von Frankston. Wir bitten mögliche Zeugen, sich zu melden. Das Übliche: Hat sie jemand gesehen, sie mitgenommen oder gesehen, wie jemand anders sie mitgenommen hat.«

»Das spricht aber doch dafür, dass unser Mann auch in Frankston selbst unterwegs ist, nicht nur den Highway rauf und runter.«

»Ich weiß. Oder er lebt in der Gegend von Frankston und war gerade beim Wegfahren, oder er lebt hier unten und war gerade auf dem Nachhauseweg. – Gut, zu den anderen Parallelen. Beide Vorfälle ereigneten sich spätnachts. Beide Opfer waren junge Frauen und zu diesem Zeitpunkt allein unterwegs.«

Er ließ Fotos des Tatorts herumgehen. Sie zeigten Kymbly Abbott, die wie eine weggeworfene Stoffpuppe aussah, Hals und Oberschenkel angeschwollen und brutal misshandelt. »Vergewaltigt und erwürgt. Wenn es für unseren Mann das erste Mal war, könnte seine Euphorie ein paar Tage lang angehalten haben, bevor es ihn dann Sonntagnacht danach drängte, es wieder zu versuchen.«

»Ziemlich vage, Chef«, sagte jemand.

»Ich weiß, dass es vage ist«, sagte Challis und zeigte erstmals einen Anflug von Emotion. »Aber solange wir nicht mehr haben, können wir nichts anderes tun, als unsere Fantasie zu benutzen und zu versuchen, uns in die Geschehnisse hineinzudenken.« Er tippte sich an die rechte Schläfe. »Versuchen Sie, ein Gespür für den Kerl zu entwickeln.«

»Was ist mit dem VAA-Mechaniker?«

»Er traf erst nach der Polizei dort ein. Er ist außer Verdacht.«

Ein Beamter sagte: »Ich wurde vor sechs oder vielleicht sieben Monaten zu einer Jane Gideon gerufen. Man hatte bei ihr eingebrochen. Ein Apartment in der Nähe der Mole.«

»Das ist sie«, sagte Challis. »Ich habe am Montag frühmorgens ihr Apartment überprüft, ob sie nicht einfach jemand zu Hause abgesetzt hatte.«

Er stemmte die Arme in die Hüften. »An dem Fall hängt eine Menge dran. Waterloo ist ein kleiner Ort. Viele Leute werden sie gekannt haben. Sie werden aufgeregt sein, nervös, und nach schnellen Resultaten schreien.«

Er wartete. Da keine Fragen mehr kamen, drehte er sich zu der Luftbildkarte des Vermessungsamtes an der Wand hinter ihm um. »Ich möchte, dass zwei von Ihnen mit ein paar Uniformierten entlang des Highways von Haustür zu Haustür gehen und Fragen stellen. Ein ganzes Stück davon verläuft durch landwirtschaftliches Gebiet, das macht es etwas einfacher. Ich bin auf dem Herweg heute Morgen durchgefahren und nur ein paar Transportern und einem Schulbus begegnet. Eine 24-Stunden-Tankstelle hier an der Kreuzung mit der Straße nach Mornington. Die meisten Farmhäuser liegen ein Stück von der Straße zurückversetzt, aber wir müssen sie trotzdem überprüfen. Und einige Firmen. Einen Laden namens ›The Stables‹, der Antiquitäten verkauft. Ein paar Weinläden. Eine Rotwildzucht, Straußenfarm, Flugschule, Weihnachtsbaumplantage – da ist um diese Jahreszeit sicher viel los. Eine Töpferei, ein Pannendienst – den nehmen Sie sich bitte besonders gründlich vor, ja? Stellen Sie fest, ob er Sonntag spätnachts noch gerufen wurde, außerdem in der Nacht von Kymbly Abbotts Ermordung. Dann gibt es neben Foursquare Produce noch zwei weitere Obst- und Gemüseproduzenten mit Straßenverkaufsständen.«

Er wandte sich ihnen wieder zu. »Das wär’s für den Augenblick. Wir treffen uns hier wieder um fünf. Scobie, bitte stellen Sie eine Liste zusammen mit allen bekannten Sexualverbrechern, die auf der Halbinsel leben. Ellen, Sie kommen mit mir.«

2

»Ein junger Streifenpolizist wollte mich wegen einer gesprungenen Windschutzscheibe aufschreiben, als ich heute Morgen ankam. Ziemlich kräftig, arrogant. Wissen Sie, wer das sein könnte?«

Als Kripobeamtin in Waterloo hatte Ellen Destry wenig mit den uniformierten Streifenpolizisten zu tun, aber sie wusste, von wem Challis sprach. »Das muss John Tankard sein. Sie nennen ihn Tank.«

»Wie passend. Gebaut wie ein Wassertank und überrollt einen wie ein Panzer.«

»Es hat ein paar Beschwerden gegeben«, gab Ellen zu. »Irgendjemand hat Flugblätter über ihn verteilt, auf denen er als Sturmbannführer bezeichnet wird.«

Sie schloss den Sicherheitsgurt und ließ den Motor an. Sie wollten zu Jane Gideons Apartment, und sie lenkte den Kripo-Falcon aus dem Parkplatz hinter dem Revier die High Street hinunter zur Mole. Der ganze Weihnachtsflitter erinnerte sie daran, dass sie am Weihnachtsmorgen Gäste auf ein paar Drinks erwartete und immer noch keine Geschenke für ihren Mann und ihre Tochter gekauft hatte.

Das lenkte ihre Gedanken auf Kymbly Abbott und Jane Gideon. Für sie würde es gar kein Weihnachten mehr geben, und ein schreckliches für ihre Familien. Sie versuchte, den Gedanken abzuschütteln. Man durfte die Dinge nicht zu nahe an sich heranlassen. Challis hatte ihr einmal erklärt, dass Polizist zu sein bedeutete, dass man in die Haut anderer Menschen schlüpfte – Opfer, Täter, Zeuge – und Rollen spielte – Beichtvater, Ratgeber, Schulter zum Ausweinen. Aber letzten Endes, hatte er gesagt, war man da, um Gerechtigkeit zu üben, und wenn es um Schwerverbrechen ging, bedeutete das, Gerechtigkeit für diejenigen zu üben, die sonst niemanden hatten, der für sie eintrat.

Sie warf ihm einen Blick zu, wie er sich in den Beifahrersitz lehnte, den Ellbogen auf den Rahmen des Seitenfensters und die Stirn in die Hand gestützt. Bei der Besprechung hatte er wie immer seine rastlose Intelligenz gezeigt, aber jetzt, wo er ruhig war, lagen Trauer und Müdigkeit in seinen schmalen, dunklen Gesichtszügen. Sie wusste, dass er eine lange Unglückssträhne hinter sich hatte, und sie vermutete, dass die ihn nie ganz loslassen würde. Aber er war erst vierzig und auf seine unruhige und gequälte Weise attraktiv. Er hatte einen Neuanfang verdient.

Unerwartet sagte er: »Sie leben gerne auf der Halbinsel?«

»Ich liebe sie.«

»Ich auch.«

Er verfiel wieder in Schweigen. Sie liebte die Halbinsel, aber das hieß nicht, dass sie das Leben an sich liebte. Die Dinge standen ziemlich problematisch mit ihrem Mann und ihrer Tochter. Alan, der bei der Streifenpolizei im Ostteil war, hatte jeden Tag eine lange Anfahrt zur Arbeit und er nahm ihr die Beförderung zum Sergeant übel. ›Du bist nur die Karriereleiter raufgefallen, weil du eine Frau bist‹, sagte er. Und Larrayne mit ihren fünfzehn Jahren war eine echte Nervensäge, ein Bündel aus Hormonen und Auflehnung.

Die Immobilienfirma, die Jane Gideons Apartmenthaus verwaltete, lag direkt neben einem Kleiderladen, der vor sechs Monaten zugemacht hatte. Ein Schild mit der Aufschrift »Unterstützen Sie die ortsansässigen Geschäfte« klebte hinter der staubigen Schaufensterscheibe. Ellen parkte in zweiter Reihe und wartete, während Challis den Schlüssel holte. Sie beobachtete eine Horde Teenager auf dem Fußweg. Sie trugen Hosen, die auf dem Boden schleiften, übergroße T-Shirts über den mageren Körpern, schmale, seitlich herumgezogene Sonnenbrillen und das Haar war mit Gel zu Stachelschweinfrisuren hochgepappt. Sie flippten müßig ihre Skateboards mit den Füßen in die Luft und ein oder zwei kurvten auf alten Fahrrädern herum. ›Alles Langweiler und Proleten, Ma‹, sagte Larrayne immer. ›Du zwingst mich, unter Langweilern und Proleten zu leben.‹

Challis stieg wieder in den Wagen und sie fuhr los. An der Mole bremste sie ab. Das Wasser vermittelte ihr ein Gefühl von Frieden. Jetzt war gerade Ebbe und sie beobachtete ein Fischerboot, das seinen Kurs zwischen den roten und grünen Bojen im Fahrwasser suchte. Waterloo hatte etwas Heruntergekommenes, Provinzielles an sich, deshalb konnte sie Larraynes Standpunkt durchaus verstehen, aber vorher hatten sie in der Großstadt gewohnt, wo Alans Asthma sich verschlimmerte und die Teenager anfälliger für Drogen waren. Ellen hatte ihre Familie da rausholen wollen.

Jane Gideons Apartment lag in einer schmalen Straße mit einfachen, backsteinverkleideten Häusern. Abgestandene Gerüche hingen im Treppenhaus: Curry, Katzenpisse, Hasch. »Nummer vier, oben rechts«, sagte Challis.

Ellen versuchte, sich ihn vor zwei Nächten vorzustellen, in der Dunkelheit, erschöpft durch die lange Fahrt hierher, nur um in der Hoffnung an die Tür zu klopfen, dass Jane Gideon nicht entführt, sondern von einem freundlichen Fremden nach Hause gebracht worden war. Er drehte den Schlüssel. Ellen folgte ihm in dem Bewusstsein, dass es hier nichts zu finden gab, außer der Telefonnummer einer bedauernswerten Mutter.

Bevor er sich in den Computer einloggte, um die Liste der Sexualverbrecher auszudrucken, quittierte Detective Constable Scobie Sutton für einen Falcon aus dem Wagenpark und fuhr zum Kinderhort von Waterloo. Es war ihm nur mühsam gelungen, während der Besprechung seine Gefühle zu kontrollieren. Er fuhr vornübergebeugt und hielt mit weißen Knöcheln das Lenkrad umklammert. Er lenkte den Wagen auf das Gras neben dem Drahtzaun und sah zu. Zeit für den Morgentee. Die Kinder saßen in Kreisen im Gras, nach Altersgruppen geordnet. Dann sah er sie, fröhlich und ausgelassen, in dem Kleid, das sie ihr »blaues Ballett« nannte. Das Gesichtchen im Schatten eines baumwollenen Tropenhuts verborgen schlürfte sie aus einer Plastiktasse und steckte ihre kleine Faust in etwas, was wie eine Tupperware-Dose voller Biskuits aussah. Sie wandte sich zu dem Kind neben ihr, und Sutton sah sie lächeln, und dann steckten die beiden Kinder die Köpfe zusammen, bis sie sich berührten.

Er fühlte, wie die Anspannung von ihm wich. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass seine Tochter Zeter und Mordio geschrien hatte, als er sie um acht Uhr abgeliefert hatte. »Ich will nicht da rein! Ich will bei dir bleiben!« Sechs Wochen zuvor hatte der Kreisrat unter dem Druck von Etatkürzungen einen weiteren Kinderhort geschlossen und dessen Zusammenlegung mit Waterloo erzwungen. Zwanzig neue Kinder, sechs neue Angestellte und nicht genug Platz für sie alle. Kinder sind konservativ. Sie mögen keine Umwälzungen in ihren Gewohnheiten. Die fröhliche Frau, die in der Gruppe seiner Tochter die Leitung gehabt hatte, hatte eine Abfindung akzeptiert und war gegangen – zweifellos aus Zorn und Frustration. Jetzt leitete eine Fremde die Gruppe der Zwei- bis Dreijährigen und Roslyn machte jedes Mal ein Riesentheater, wenn Sutton sie am Morgen ablieferte. Schlug diese Frau sie insgeheim? War sie fies zu ihr?

Wenigstens war sie im Augenblick glücklich. Sutton ließ den Falcon an und schlängelte sich durch die Stadt zurück zum Polizeirevier.

Der Dienst habende Sergeant fing ihn am Fuß der Treppe ab. »Scobe, da vorne ist so eine Frau. Behauptet, sie hätte Informationen über Jane Gideon.«

»Was macht sie für einen Eindruck?«

»Eine Spinnerin«, sagte der Dienst habende Beamte nur.

Scobie führte die Frau in ein Vernehmungszimmer. Man musste sie mit Geduld ertragen, all die Spinner.

»Name?«

Die Frau richtete sich auf. »Sofia.«

»Sofia. Sie sagen, Sie hätten Informationen über das Verschwinden von Jane Gideon?«

Die Frau beugte sich vor und sagte mit leiser, krächzender Stimme und Augen, die glitzerten wie Steine: »Nicht einfach Verschwinden. Mord.«

»Wissen Sie das aus erster Hand?«

»Ich habe es gefühlt.«

»Sie haben es gefühlt.«

»Ich bin eine Romni. Ich bin Seherin.«

Sie starrte ihn an. Diese Augen: Er hatte noch nie so eine Intensität gesehen. Sie schien den Effekt an- und abschalten zu können. Er betrachtete ihre Haare, schwarz und wild, ihre Ohren, beringt mit filigranen Goldreifen, ihren Hals, behängt mit Goldketten, der Ansatz ihrer braunen Brüste in einem dünnen, weiten und schreiend bunten Baumwollkleid. Eine Zigeunerin, dachte er und fragte sich, ob es in Australien überhaupt Zigeuner gab.

»Sie meinen, Sie haben es irgendwie gespürt?«

»Sie ist eines gewaltsamen Todes gestorben.«

Er malte Kringel auf seinen Block. »Aber Sie haben keine Kenntnis aus erster Hand?«

»Wasser«, sagte sie. »Dort werden Sie sie finden.«

»Sie meinen im Meer?«

Die Frau schien in unermessliche Fernen zu starren. »Ich glaube nicht. Ein stehendes Gewässer.«

Er stieß seinen Stuhl zurück. »Gut, wir werden dem auf jeden Fall nachgehen. Danke, dass Sie gekommen sind.«

Sie strahlte ihn an und wartete, dass er ihr die Tür aufhielt. Sie war außergewöhnlich, und auf geheimnisvolle Art überwältigend. Das Gold, das Haar, das leuchtende Kleid, das alles schien ganz natürlich zu ihr zu passen.

»Sie haben ein kleines Mädchen«, sagte sie, als sie aus dem Zimmer trat.

Sutton erstarrte. Es war eine eherne Polizeiregel, die Öffentlichkeit niemals etwas über das Privatleben erfahren zu lassen. Er musterte sie kühl. Auch sie konnte ein Kind im Kinderhort haben, vielleicht hatte sie ihn morgens einmal gesehen, als er Roslyn ablieferte. Aber sie schien nicht nach einem Druckmittel gegen ihn zu suchen, also sagte er einfach: »Ja.«

»Sie ist durch die Veränderungen in ihrem Leben verwirrt, aber sie wird darüber hinwegkommen. Sie ist widerstandsfähig.«

»Danke«, sagte Sutton und fragte sich, warum er ihr – einfach so, von einer Sekunde auf die andere – glaubte.

Challis kehrte am Nachmittag zum Tatort der Entführung zurück und fuhr anschließend zu der Vorstadt in der Bucht, wo Jane Gideons Eltern lebten. Sie hatten dem, was sie ihm am vorigen Tag erzählt hatten, nichts hinzuzufügen. Ihre Tochter war auf die Halbinsel gezogen, weil sie einen Kadetten auf dem Marinestützpunkt dort kennen gelernt hatte, und nachdem er sie verlassen hatte, war sie einfach geblieben. Nein, er diente irgendwo in der Golfregion.

Als Challis nach Waterloo zurückkam, fand er Tessa Kane auf der Kante eines Klappstuhls sitzend vor, misstrauisch beobachtet von Sergeant Ellen Destry, für die die Art, wie Tessa Kane lächelte, eine einzige Provokation sein musste.

»Tess, wie geht’s Ihnen?«

»Hal.«

»In letzter Zeit irgendwelche Sensationen veröffentlicht?«

»Sensationen ist ein relativer Ausdruck bei einer Wochenzeitung, Hal.«

»Chef, ich habe ihr gesagt, dass Sie beschäftigt sind und –«

»Ist schon in Ordnung, Ellen«, sagte Challis.

»Sie sagt, es ginge um Informationen.«

»Haben Sie welche oder wollen Sie welche, Tess?«

Tessa Kanes Stimme klang leise, tief und leicht amüsiert. »Beides.«

»Wann erscheint Ihre nächste Ausgabe?«

»Donnerstag. Dann lassen wir die Ausgabe zwischen Weihnachten und Neujahr aus und kommen am vierten Januar wieder heraus.«

Challis sagte: »Da kann eine Menge passieren.«

»Es ist schon eine Menge passiert.«

Challis sah zu, wie sie aufstand und ihren Rock über den Schenkeln glatt strich. Sie war kleiner als Ellen Destry und steckte immer voller Lächeln, manche davon falsch und gefährlich, andere träge und unkompliziert. Er mochte ihre vollen Wangen. Frauen konnten Tessa Kane nicht leiden. Challis hatte in der Angelegenheit keine Meinung. Er musste bloß aufpassen, was er ihr sagte.

»Diese Information, die Sie zu haben behaupten –«, begann er.

Sie unterbrach ihn. »Können wir das da drinnen erledigen?«

»Im Vernehmungszimmer? Tess, ich bitte Sie!«

Sie grinste. »Nur ein Gedanke. In einem Büro vielleicht, statt hier auf dem Gang?«

Challis wandte sich an Ellen. »Sergeant, bringen wir Miss Kane doch in Ihr Büro, wenn es Ihnen recht ist?«

Er sah, wie Ellen sich darüber klar zu werden versuchte, was das bedeutete. Er bezog sie mit ein, schob sie nicht ab, also sagte sie: »Ist mir recht, Sir.«

Das Büro war eine Kabine aus Gipskartonplatten und mattiertem Glas ein Stück weiter den Korridor entlang, und sobald sie drin waren, drehte Tessa Kane sich um und sagte: »Ich hatte gehofft –«

»Dies ist Sergeant Destrys Revier, ihr Büro, ihre Ermittlung – als meine rechte Hand. Also, was immer Sie mir sagen wollen, sagen Sie auch ihr.«

»Wie Sie wollen.«

Sie sahen zu, wie sie einen durchsichtigen Gefrierbeutel aus ihrer Aktentasche zog und auf den Tisch legte. »Das kam heute Morgen mit der Post.«

Ein paar Zeilen in deutlicher Schrift auf einem Blatt Papier ausgedruckt. Challis beugte sich vor und las durch die Folie hindurch.

Das ist ein offener Brief an die Menschen von Victoria. An eurer Stelle hätt ich kein Vertrauen in die Polizei mehr. Die rennen auf der Suche nach mir bloß im Kreis herum. Und was haben sie in der Hand? Eine Leiche. Aber wo ist die zweite? In nem wässrigen Grab? Und jetzt wird’s noch ne dritte geben. Ich hab sie schon im Visier.

»Oh Gott«, sagte Ellen.

Kriegt ihr langsam Angst? Solltet ihr auch.

»Umschlag?«, fragte Challis.

Tessa Kane zog einen zweiten Gefrierbeutel heraus. Er stocherte mit seinem Stift danach und drehte ihn um, sodass er ihn lesen konnte. Er seufzte. Blockschrift. Keine brauchbaren Fingerabdrücke und keine Speichelspuren, denn der Umschlag war vorfrankiert und hatte eine selbstklebende Klappe. In jedem Postamt erhältlich. Er sah die Worte ›Eastern Mail Centre‹, aber keinen weiteren Hinweis, wo er aufgegeben worden war.

»Sie haben ihn heute Morgen erhalten und bis jetzt gewartet, ihn uns zu zeigen?«

»Ich war den ganzen Tag unterwegs. Sie haben ihn mir auf den Schreibtisch gelegt und ich habe ihn erst vor ein paar Minuten entdeckt.«

Er fasste sie genauer ins Auge. »Gab es vorher schon welche?«

»Nein.« Sie schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich glaube, die Schreibweise sagt etwas über ihn aus.«

Ellen konnte es nicht lassen, ihr zu widersprechen. »Nicht unbedingt. Er versucht vielleicht nur, uns in die Irre zu führen. Sehen Sie sich den Stil an, die Effekthascherei mit kurzen Sätzen, die umgangssprachlichen Verkürzungen, aber andererseits ein Begriff wie ›wässriges Grab‹, und ›bloß‹ schreibt er auch richtig. Ich würde sagen, er hat eine brauchbare Schulbildung, möchte aber, dass wir das Gegenteil glauben.«

Sie rümpfte die Nase. »Sie sind die Expertin.«

Challis ging dazwischen. »Wir müssen den Brief untersuchen, Tess.«

»Kein Problem. Ich habe eine Kopie gemacht.«

»Sie wollen ihn doch hoffentlich nicht veröffentlichen?«

Ihr Stimme wurde schärfer. »Er spricht von einer dritten Leiche, Hal. Die Leute haben ein Recht darauf, gewarnt zu werden.«

»Wir haben noch nicht einmal die zweite Leiche gefunden«, sagte Ellen. »Soweit wir wissen, kann Jane Gideon noch am Leben sein.«

Challis kam ihr zu Hilfe. »Ihr Briefeschreiber könnte ein Spinner sein, Tess. Ein Trittbrettfahrer. Jemand mit einem Groll gegen die Polizei.«

Er beobachtete sie genau und sah, dass ihr die Implikationen klar waren.

»Und es gibt nichts, was Sie mir vorenthalten?«

»Ich schwöre es.«

»Aber ich darf sagen, dass die Polizei glaubt, es könnte eine Verbindung zwischen den ersten beiden Fällen geben?«

Er seufzte. »Vielleicht gibt es keine, aber wahrscheinlich schon.«

»Allerdings würde es mir nicht viel bringen, Sie zu zitieren, wenn Sie ihn vor der Donnerstagsausgabe verhaften.«

»Das kann ich nicht ändern.«

Sie blickte zu ihm hoch. »Die Leute haben Angst, Hal. Heute Morgen rief mich ein Makler an und sagte, dass etliche Leute ihre Buchungen storniert hätten. Ich habe beim Wohnwagenpark und beim Campingplatz angerufen. Dieselbe Geschichte. Eine Menge Einheimische leben von den Sommergästen.«

»Wir tun alles, was wir können, Tess. Wir verfolgen die Spuren und durchforsten unsere Datenbanken. Sobald sich etwas Neues ergibt, rufe ich Sie als Allererste an.«

Sie legte ihre Fingerspitzen gegen seine Brust und drückte ganz leicht. »Würden Sie das wirklich tun? Das wäre großartig, selbst wenn Sie wie ein Polizeisprecher klingen.« Sie trat einen Schritt zurück. »Schön, Weihnachten steht vor der Tür. Alle guten Wünsche zum Fest und so.«

»Ihnen auch.«

Sie wandte sich an Ellen. »Jemand verteilt Flugblätter über Constable Tankard. Haben Sie irgendeinen Kommentar dazu?«

»Nein.«

»Na gut. Tschüss dann.«

Als Tessa Kane verschwunden war, sagte Ellen: »Ich hasse Leute, die ›Tschüss dann‹ sagen.«

»Ach, sie ist ganz in Ordnung. Man muss sie nur zu nehmen wissen.«

»Hal, lassen Sie sich da besser auf nichts ein.«

Er runzelte die Stirn. »Seit wann sind Sie mein Kindermädchen?«

»Ich meine als PR-Mann der Polizei. Nicht Ihr Privatleben.«

Challis war peinlich berührt. »Tut mir Leid.«

»Ich bringe den Brief ins Labor.«

»Er wird uns nicht weiterbringen.«

»Ich weiß.«

Durch den Kantinenklatsch verbreitete sich die Nachricht von John Tankards Versuch, Challis einen Strafzettel zu verpassen, in Windeseile. Daher war er am Nachmittag ein miserabler Gesellschafter – als wäre er nicht schon wegen der Flugblattkampagne gegen ihn reizbar genug gewesen. Pam Murphy wich ihm aus, so gut es ging, während sie den Boden am Tatort von Jane Gideons Entführung absuchten. Und sie hätte gut darauf verzichten können, auf der Rückfahrt zum Revier mit ihm über Funk zu einem Familienstreit gerufen zu werden. Tankards Methode, Familienstreitigkeiten zu schlichten, bestand aus Gebrüll und dem Austeilen von Kopfnüssen.