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Was, wenn sich das Leben in ein Davor und ein Danach teilt? Mia (17) wollte doch eigentlich nur die Wahrheit über ihren verstorbenen Vater erfahren - doch der Streit mit ihrer Mutter endet mit einer schicksalhaften Reise in die Anderswelt. Dort trifft sie auf den Elfenkrieger Tan, den Feuerdrachen Arokh und wird in eine gefährliche Drachenqueste verwickelt. Als sich die Tore der Anderswelt erneut öffnen, erkennt Mia, dass die Antworten, die sie suchte, nur der Anfang sind. Mit einem Stab, der mehr als nur Macht bringt, und dem geheimnisvollen Achak Wicasa steht sie vor einer Entscheidung, die die Balance zweier Welten verändern könnte. Wird Mia den Mut finden, sich ihrer Vergangenheit zu stellen - und die Wahrheit zu akzeptieren, selbst wenn sie ihre Welt für immer verändert? Ein mitreißender Roman voller Magie, Geheimnisse und der Kraft, den eigenen Weg zu finden.
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Seitenzahl: 365
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Eric.
Für alle Generationen nach uns.
«Give it time and wonder why
Do what we can
Laugh and we cry
And we sleep in your dust because we’ve seen this all before.
Culture fades with tears and grace
Leaving us stunned hollow with shame
We have seen this all before»
Aus dem Songtext Spirt Bird von Xavier Rudd
Teil I: Davor
Prolog der Feenkönigin Titania
Der Schattenmann
Das Licht der Quelle
Das Gleichnis von Licht und Schatten
Das Vermächtnis der Weisen
Die Bestimmung
Teil II: Danach
Auszug aus Mias Tagebuch
FaceTime, Fernweh und irgendwas dazwischen
Alles nur geträumt?!
Auf dem Weg
Am Rand der Welt
So lange du ein Geheimnis hast, bist du angreifbar
Die flüsternden Bücher
Der heilige Berg
Gipfelstürmer
Die Bewahrerin
Danksagung
Alles begann mit einem Stern, der vom Himmel fiel. Wie ein funkelnder Tropfen regnete er auf die Erde – und das am Anfang von Zeit und Raum. Sein Zauber hauchte allem Leben einen besonderen Funken ein. Einen Funken, der die Kraft besaß, aus Liebe zu wirken und bösen Zauber in Licht zu verwandeln.
Und alle Welten – ob oben, in der Mitte oder unten – waren und sind von diesem Zauber durchdrungen. Er spinnt sich zwischen den Zeilen, die nicht ausgesprochen werden müssen. Wenn das Herz offen ist, ist es leicht, die Zwischentöne zu erfassen. Doch den Weg, diese Sprache zu lesen, zu hören, zu fühlen, zu verstehen, muss jedes Lebewesen selbst gehen.
Obwohl viele das Licht in sich vergessen, war und ist die Magie immer da. Man muss nur genauer hinsehen – mit einem besonderen Auge. Doch manchmal überwiegen die Schatten, und dann wird eine Reise nötig. Eine Reise, die zum Hinsehen führt! Schicksal wird sie genannt.
Aber das ist eigentlich nur die halbe Wahrheit! Denn man muss es wirklich von ganzem Herzen wollen, dazu stehen und schweigen, um die innere Stimme des Zaubers zu hören. Dann wenden auch die Kräfte der höheren Welt ihre ganze Energie auf.
«Bist du bereit? Und mutig genug, das Risiko einzugehen?» Dann wird diese Reise zu deinem eigenen magischen Abenteuer...
«Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die ins uns liegen, Vorboten desjenigen, das wir zu leisten imstande sein werden. Was wir können möchten, stellt sich unserer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im Stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausgreifen das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliches.» (Johann Wolfgang von Goethe)
Die Sonne tauchte das Meer in ein warmes, goldenes Licht. Der Sand fühlte sich angenehm warm unter den Füßen an. Das Meer lag ruhig, und ein lauer Wind ließ die Wellen sanft gegen das Ufer schlagen. Das gleichmäßige Rauschen hatte etwas Beruhigendes, fast Erzählerisches – als würde das Meer seine Geschichten denen zuflüstern, die ihm zuhörten.
Nach der Schule an den Strand zu gehen war Mias Lieblingsmoment. Die Weite des Meeres schenkte ihr ein Gefühl von Freiheit, das sie sonst nirgendwo fand. Heute war keine Ausnahme. Es waren endlich Sommerferien! Noch vor einer halben Stunde hatte sie sich mit ihrem Surfbrett auf den Wellen der Ostsee bewegt, leichtfüßig wie ein Schatten, der auf dem Wasser tanzte. Jetzt saß sie mit ihren Freunden im Sand. Die ausgelassene Stimmung spiegelte sich in ihren strahlenden Augen und den lachenden Gesichtern wider. Der fast untergegangene gelbe Ball der Sonne glitzerte wie flüssiges Gold auf der Meeresoberfläche.
«Wer hat Lust auf Kino morgen?», fragte Mia, während sie sich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht strich und in die Runde blickte.
«Muss jobben.» Alex verzog das Gesicht und nahm einen Schluck Cola.
Lea, die neben ihm saß, schielte ihm mit einem träumerischen Blick zu – mehr als offensichtlich, dass sie für den 17-Jährigen mit den etwas zu langen, lässig fallenden Haaren schwärmte.
Sam bemerkte den Blick und stupste Alex grinsend an. «Gönn dir!»
«Chill...!» Lea verdrehte genervt die Augen, ihre dunklen Locken wippten dabei.
«Alter, echt jetzt!» Alex zuckte nur mit den Schultern und ließ seinen Blick unauffällig zu Mia gleiten.
Chloe, die mit ihren feinen Sommersprossen, der Stupsnase und den leuchtend roten Haaren ein bisschen wie ein Elfenmädchen wirkte, meldete sich zu Wort: «Morgen wird nix. Ich bin schon verplant.»
«Ok… also kein Kino.» Mia zog eine Grimasse und schielte auf ihre Uhr. Obwohl sie es gar nicht nötig hatte – die fast untergegangene Sonne verriet, dass es kurz vor zehn war.
«Ich muss los. Meine Eltern sind heute Abend weg, und Finn ist mit seinem Babysitter allein.»
«Ich bring dich nach Hause!» Sam schoss die Worte heraus, bevor Alex auch nur daran denken konnte, etwas zu sagen.
Für alle außer Mia war klar: Sam stand auf sie. Sie war das Mädchen, das in seinen Augen immer eine Spur zu lässig, eine Spur zu cool und vor allem viel zu unerreichbar war. Ihre olivbraune Haut, das dunkle, dichte Haar und die rehbraunen Mandelaugen ließen Sams Herz schneller schlagen, als ihm lieb war. In ihrer Nähe fühlte er sich gleichzeitig schwerelos und wie ein Trampeltier. Ein unkontrollierbares Durcheinander aus Fliehen und Bleiben war seit ihrer ersten Begegnung zu seinem Dauerzustand geworden.
Mia klopfte sich den Sand von den Beinen, schlüpfte in ihre Jeans und zog einen Hoodie über ihren Bikini. Ihr langes Haar steckte sie in den Pullover, bevor sie die Kapuze überzog. Ihre schlanke Gestalt zeichnete sich dunkel gegen das rotgoldene Licht der untergehenden Sonne ab, das auf den Wellen funkelte.
Sam schluckte bei ihrem Anblick. Er konnte nicht anders, als ihr zu folgen. Gemeinsam gingen sie zum Club, verstauten die Surfbretter und winkten den anderen zum Abschied. Danach liefen sie schweigend zu ihren Fahrrädern, die an der Promenade angelehnt standen.
Das Strandhaus der Familie lag abseits, versteckt hinter dichten Grün. Mia und Sam radelten auf einem schmalen Pfad, der sich durch den Geisterwald schlängelte – ein Birkenwald, der seinen Namen nicht ohne Grund trug. Nachts, wenn Mond und Sterne zaghaft zwischen den Wolken hervorlugten, warfen die schmalen Birkenstämme lange, gespenstische Schatten, die den Wald in eine andere Welt zu verwandeln schienen.
«Wollen wir uns morgen treffen?», fragte Sam beiläufig, als sie schließlich das Haus erreichten. Er lehnte sich lässig gegen die Natursteinmauer, die den Garten umschloss, und versuchte, seine Stimme so unaufgeregt wie möglich klingen zu lassen.
«Ja, klar, warum nicht.» Mia schenkte ihm ein Lächeln, das in ihren rehbraunen Augen widerhallte. Sie mochte Sam – für seine überlegte, bodenständige Coolness und seine unerschütterliche Spontaneität. «Ich texte dir, okay?»
«Okay», antwortete Sam und zog seinen rechten Mundwinkel nach oben, wodurch ein charmantes Grübchen auf seiner Wange erschien.
«Also dann… bis morgen», verabschiedete sich Mia lächelnd, während sie den Seitenständer ihres Fahrrads mit ihrem Fuß hochkickte. Es wunderte sie kaum noch, dass Sam so oft wie möglich ihre Nähe suchte. Er hatte dieses unsichtbare Band zwischen ihnen längst gespürt – eines, das sie aber niemals in der gleichen Intensität wahrnahm. Für Mia war Sam ihr bester Freund, einer, den sie blind in die friendzone eingestuft hatte.
Doch für Sam war es anders. Sein Blick, ein wenig glasig, hätte Mia einen deutlicheren Hinweis geben können, wenn sie sich erlaubt hätte, ihn zu deuten.
«Bye!», sagte er schließlich und fuhr sich verlegen durch die widerspenstigen Haare. Ein Reflex, der immer dann über ihn kam, wenn sie ihn aus der Fassung brachte – was ständig geschah. Sein Herz klopfte so laut, dass er befürchtete, Mia könnte es hören.
Zu gern hätte er sie geküsst. Doch der Moment schien ungreifbar, als hätte der Wind ihn fortgetragen, bevor er ihn überhaupt greifen konnte.
Der Kies unter ihren Füßen knirschte, als Mia ihr Fahrrad zur Garage schob und dabei das Auto ihrer Eltern entdeckte. Warum sind die noch zu Hause? Konnte Emilia nicht kommen? Oder hat sie sich verspätet? Keine gute Idee!
Ihr Stiefvater, Dr. Maximilian von Sengbusch, hasste Verspätungen. Als Chefarzt eines Hamburger Krankenhauses war Zuverlässigkeit für ihn oberstes Gebot. Immerhin lag die norddeutsche Metropole zwei Stunden entfernt. Die lange Fahrt nahm er zwar in Kauf, doch nicht ohne ein leises Knirschen der Zähne. Oft genug zeichnete sich der Stress des Pendelns in den Schatten um seine sonst wachen Augen ab. Und dann war er… na ja, etwas mürrisch.
Aber für einen Stiefvater war er trotzdem ganz okay, fand Mia! Ihr richtiger Vater hingegen war für sie nur ein Schattenmann: Irgendwann vielleicht mal da gewesen, aber längst nicht mehr greifbar für mich.
Wenn er es überhaupt je war!
«Mia, bist du das?», hallte die freundliche Stimme ihrer Mutter durch den Flur und riss sie aus ihren Gedanken.
«Ja.» Schlendernd durchquerte das vom Surfen durchtrainierte Mädchen den langen Flur, der mit Fotografien und abstrakten Kunstwerken geschmückt war und an eine Galerie erinnerte. Schließlich betrat sie das stilvolle Wohnzimmer mit offenem Kamin. Eine riesige Glasfront eröffnete den Blick auf das weite Meer.
«Ah, da bist du ja.» Eine hochgewachsene, schlanke Frau kam aus dem angrenzenden Küchentrakt.
«Hi Mum! Wolltet ihr nicht nach Hamburg? Wo ist Emilia?» Mia schaute sich suchend um, bevor ihr Blick an den aristokratischen Zügen ihrer Mutter hängen blieb. Doch bevor diese antworten konnte, flitzte ein kleiner Junge mit strahlendem Gesicht um die Ecke.
«Mia!», rief er voller Freude.
«Finni!» Mia nahm ihren kleinen Halbbruder lachend auf den Arm. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihre Mutter statt eines eleganten Abendkleides eine weite Leinenhose und eine Tunika trug. «Alles in Ordnung? Wolltet ihr nicht zum Ärzteball?», fragte sie irritiert.
«Mia…», begann ihre Mutter, doch brach mitten im Satz ab. Ihre Stirn legte sich in Falten, und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Es war offensichtlich, dass in ihrem Kopf ein Gedankensturm tobte.
Was ist denn hier los?! So kenn ich Mum gar nicht! Mia rollte innerlich mit den Augen.
«Ich bringe Finn ins Bett. Setz dich doch schon mal zu Max an den Tisch. Ich komme gleich nach.» Die Ansage klang fast übertrieben deutlich, als wolle ihre Mutter keinen Widerspruch dulden.
«Okay.» Mia zuckte mit den Schultern, drückte Finn einen Gutenachtkuss auf die Wange und schlenderte dann gemächlich am Küchenblock vorbei zum Essplatz.
Kerzen spendeten sanftes Licht. Durch ein offenes Fenster drang das leise Rauschen der Brandung herein. Die Stimmung im Raum war – wie fast immer – von einer eleganten Atmosphäre geprägt. Doch diesmal schwang noch etwas anderes mit, das Mia in einen leicht angespannten Modus versetzte.
«Hallo Mia», grüßte ihr Stiefvater, der lässig in Jeanshemd und Leinenhose vor einem Glas Wein an der massiven Holztafel saß.
Mia setzte sich ihm gegenüber, ihre Bewegungen fast zögerlich.
«Möchtest du eine Cola?» Wie immer, ohne auf eine wirkliche Antwort zu warten, stand ihr Stiefvater auf und ging um den Küchenblock herum zur Glasvitrine. «Oder ein Wasser?», fügte er schließlich hinzu.
Mia folgte ihm mit leicht misstrauischem Blick. «Wurde der Ball abgesagt?»
«Nein... nicht direkt!», antwortete der Angesprochene mit einem schiefen Lächeln.
Etwas zu gedehnt für Mias Geschmack.
Achselzuckend drehte er sich zu ihr um, das Glas wie einen Pokal in der Hand haltend.
Warum wirkt er so angespannt?
Im krassen Gegensatz dazu standen seine strahlenden Augen, was Mia nur noch mehr verwirrte.
«Finn ist sofort eingeschlafen.» Mias Mutter betrat barfuß das große Wohnzimmer, trat an den Tisch und nahm genüsslich einen Schluck Wein.
Was läuft hier?
Mia sah ihre Eltern abwechselnd wachsam an, ihre Stirn leicht gerunzelt.
«Ich weiß, dass du dich fragst, warum wir nicht nach Hamburg gefahren sind», sagte ihre Mutter mit einem vielsagenden Blick.
Max räusperte sich hörbar, als würde er Zeit gewinnen wollen. Irgendwie schien ihm das Gespräch unangenehm zu sein.
«Mmmh...!», machte Mia nur, ihre Augen blieben auf ihrer Mutter fixiert.
Diese schlug die schlanken Beine übereinander, ihre Haltung gewohnt elegant. Sie sah Mia direkt an, ihre Stimme ruhig, aber mit einem Hauch von Anspannung.
«Es gibt Neuigkeiten, die wir mit dir besprechen möchten», sagte sie in ihrem gewohnt lässigen Tonfall.
Aha!
«Und die wären?» Mias Stimme klang ruhig, doch in ihrem Inneren begann sich ein mulmiges Gefühl auszubreiten.
Himmel... was ist denn da los? Die wirkt ja wie auf Draht gespannt! Nicht gut. Gar nicht gut.
Wie automatisch richtete sich Mias Haltung kerzengerade auf, als hätte jemand einen Stock in ihren Rücken geschoben.
«Max hat eine Professur angeboten bekommen», erklärte ihre Mutter sachlich, doch ihre Stimme klang nicht so gefasst, wie sie es wohl gern gehabt hätte.
«Hej… das is‘ doch super, oder nicht!» Mia zuckte mit den Achseln und warf Max ein unsicheres Lächeln zu. Aber was ist nun der Punkt?
«Also...», begann ihre Mutter erneut, geriet aber plötzlich mächtig ins Straucheln.
«Der Job ist in Vancouver», ergänzte Max mit bedächtiger Langsamkeit, während er sich den Nacken rieb – ein deutliches Zeichen seiner eigenen Nervosität.
«Cool!», erwiderte Mia, doch ihr Tonfall klang leicht begriffsstutzig.
Ihre Mutter legte die Stirn in Falten, als suche sie angestrengt nach den richtigen Worten. «Mia, das bedeutet, dass wir vier – Max, Finn, ich und du – zusammen nach Kanada ziehen!»
Wie ein verirrter Frisbee knallte ihr die Nachricht an den Kopf. Wow! Langsam begann Mia zu begreifen. Plötzlich gewann eine wilde Mischung aus Ärger, Panik und Hilflosigkeit die Oberhand. Es fühlte sich an, als würde sich eine Faust in ihren Magen bohren, die den Boden unter ihren Füßen mit sich riss. Ich falle. In dieses imaginäre Loch. Im Boden. Unter mir.
«W-wir ziehen um?! Weg von hier? Aber warum?!», stammelte sie verwirrt, ihre Stimme klang viel höher und lauter, als sie es beabsichtigt hatte. Die Worte hallten schrill im Raum wider.
«Weil es eine einmalige Chance ist – für mich und deine Mutter. Wir können zusammen im selben Krankenhaus arbeiten. Und ich muss nicht mehr stundenlang durch die Gegend fahren», erklärte Max ruhig, fast schon zu sachlich, wie ein Vortrag, der auswendig gelernt schien.
Zack! Bumm! Peng! So einfach ist das!
«Aber... was hat das alles mit mir zu tun? Warum muss ich mitkommen? Ich will hier nicht weg!», platzte es entsetzt aus Mia heraus. Sie sah sich hilfesuchend im Raum um, als könnten die Möbel oder der offene Kamin eine Antwort geben. Wirr fuchtelte sie mit der Hand herum, ihre Stimme wurde noch heftiger: «Mein Leben hier ist schön! Okay! Ich will nicht weg. Versteht ihr das nicht?! Ich will hierbleiben! Mit meinen Freunden... am Meer. Was wird aus ihnen? Und überhaupt...» Was soll aus mir werden?, dachte sie verzweifelt, während sie krampfhaft versuchte, ein paar wütende Tränen wegzublinzeln. Weinen vor ihren Eltern? Auf keinen Fall! No way. Erinnerungen blitzten in ihrem Kopf auf: Der Umzug hierher, das Einleben, die neue Schule... und die neuen Freunde. Es hatte so lange gedauert, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. «Ihr könnt mich nicht zwingen! In einem Jahr werde ich 18!», flüsterte sie trotzig, doch ihre Stimme trug die volle Wucht ihrer inneren Rebellion.
«Mia, beruhige dich. Du wirst schon neue Freunde finden. Das ist doch kein Problem. War es doch bisher auch nie! Sei nicht so egoistisch! Du kannst hier nicht allein bleiben. Noch nicht! Punkt», entgegnete ihre Mutter unerbittlich und – so typisch für sie – völlig sachlich, als könnte sie Gefühle und Gedanken einfach beiseite wischen.
Scheiße! Wie können die nur so ätzend sein? Chloe und Lea...! Und Sam...! Mia ballte fassungslos die Hände unter dem Holztisch zu Fäusten. Das ist nicht fair! Ihr Herz zersprang fast vor Wut und Schmerz. «Warum werde ich einfach so vor vollendete Tatsachen gestellt? Warum fragt ihr mich nicht einfach? Warum entscheidet ihr über meinen Kopf hinweg? Warum glaubt ihr zu wissen, was gut für mich ist und was nicht?!», platzte es aus ihr heraus. Ihr Kinn war trotzig nach vorne gereckt, die Augen blitzten vor Zorn. «Was soll ich denn in Vancouver?!» Wo wir doch gerade erst hierher gezogen sind! An die vielen Umzüge davor wollte sie schon gar nicht mehr denken. Als wären wir auf der Flucht! Genau so hatte es sich angefühlt. Eigentlich sollte mit Max, ihrem Stiefvater, alles ruhiger werden. Eigentlich! Und jetzt das? Es war einfach zum Verrücktwerden. Und total ungerecht.
«Mia...!» Ihre Mutter legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm und schaute sie an, als wäre sie ein trotziges Kleinkind, dem man Brokkoli schmackhaft machen wollte, indem man die Vorzüge gesunder Ernährung aufzählte. Auf Mias Protest ging sie nicht mal ein!
Mia zog ihren Arm unwirsch zurück. Bin gespannt, welche lahme Erklärung jetzt kommt!
«Es wird dir gefallen!», fuhr ihre Mutter gedehnt fort – mit genau diesem Ich-rede-mit-einem-Kleinkind-Tonfall, den Mia nicht ausstehen konnte. «Außerdem ist der Zeitpunkt für einen Schulwechsel perfekt. Du gehst nach den Sommerferien auf eine internationale Schule und machst dort deinen Abschluss. Denk nur an all die Möglichkeiten!»
Oh... Schulwechsel...?! Dann ist ja schon alles geplant! Na, schönen Dank auch!
«Das glaube ich nicht! Ihr habt schon alles organisiert. Stimmt’s?!» Mia schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. «Ohne mich überhaupt zu fragen!» Total angepisst sprang sie auf, schob ihren Stuhl heftig von sich, stürmte durch das Wohnzimmer zur Wendeltreppe und über die Galerie in ihr Dachzimmer.
«Mia...!», hörte sie ihre Mutter noch konsterniert rufen.
Aber Mia wollte nichts mehr hören und sehen. Sie wollte einfach verschwinden. Zusammen mit den Farben in meinem Leben.
Den Blick ins Leere gerichtet, saß Mia in ihrem Hängesessel auf der Dachterrasse. Zwischen den Sternen zeichnete sich die Sichel des Mondes ab. Die Brandung war zu hören. Im Haus dagegen war es mucksmäuschenstill. Die Nachricht musste erst einmal verdaut werden.
Warum? Warum gerade jetzt? Darauf gab es keine Antwort. Mias Gedanken schweiften zu einem Spruch, den sie einmal als Graffiti an einer Wand gelesen hatte: Mit den Flügeln der Zeit fliegt die Traurigkeit davon.
Keine Ahnung, ob das stimmt...! Mia schloss die Augen und lauschte der Brandung. Das Rauschen hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Nicht lange, und sie tauchte ein in das Traumgespinst der Nacht. Plötzlich drang aus der Ferne statt des Meeresrauschens der Ruf eines Falken zu ihr. Als sie die Augen wieder öffnete, war das Meer verschwunden, und Mia fand sich mitten in einem Wald wieder. Der Himmel war aschgrau und wolkenverhangen. Ein Falke kreiste über ihr.
«Folge dem Falken», hörte sie eine fremde Stimme sagen.
Wo bin ich? Was ist das? Aber etwas zog sie magisch an. Und so folgte sie dem Falken immer tiefer in den Wald hinein, bis sie plötzlich von dichtem Nebel umgeben war. Der Falke aber war verschwunden. Wo bin ich? Was ist das? Mia spürte Panik in sich aufsteigen. Da tauchte vor ihr eine Gestalt in einem Umhang auf, die aussah wie ein Zauberer aus einer anderen Welt. Direkt aus dem Nebelstrudel kam sie auf Mia zu. Der dunkle Umhang fiel wie das Federkleid eines Raben über den Rücken des Fremden. Eindringlich blickte der Achak Mia an und deutete mit dem Finger auf ein Tor. Wer bist du? Doch statt einer Antwort drang nur ein markerschütterndes Brüllen aus dem Tor. Mias Herz setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus. Dann wachte sie auf. Was um alles in der Welt war das für ein komischer Traum? Erschrocken kroch Mia ins Bett, zog sich die Decke über den Kopf und versuchte zu schlafen. Doch der Blick des Achaks verfolgte sie bis in den unruhigen Schlaf.
Als Mia am nächsten Morgen wach wurde, lauschte sie den vertrauten Geräuschen im Haus. Draußen dämmerte die Nacht dem Tag entgegen. Feiner Nebel durchzog die feuchte, salzige Luft. Nicht mehr lange, und alle würden aus dem Haus sein. Genau darauf wartete Mia. Sie musste ja zum Glück nicht zur Schule gehen. Der dumpfe Schmerz in ihrem Inneren war nicht verklungen, nicht leiser geworden. Wie ein Bohrer bei einer Wurzelbehandlung hatte er sich tief in Mias Innerstes gebohrt. Schwermütig lehnte sie sich gegen ihr Kissen. Bei dem Gedanken an den bevorstehenden Umzug hätte sie vor Wut und Trotz einfach nur kotzen können. Warum jetzt? Warum immer wieder ein Neuanfang? Endlich fiel das Garagentor ins Schloss. Erleichtert atmete Mia aus. Hatte sie die ganze Zeit die Luft angehalten? Jetzt setzte sie ihre Kopfhörer auf und schaltete die Welt um sich herum aus. Zumindest für eine Weile.
Ihre Mutter wusste sehr wohl, dass Mia alleine sein wollte. Vielleicht hatte sie sogar eine Weile im Flur gestanden, unschlüssig, wie sie mit der Situation – dem Umzug und überhaupt – umgehen sollte. Aber aus ganz anderen Gründen als die ihrer Tochter.
Gegen Mittag zog Mia ihre Jeans und ihr T-Shirt an und lief zu der kleinen Bucht, die zum Haus gehörte. Der Traum vom Vorabend wollte nicht weichen. Immer wieder tauchten die durchdringenden Augen des verhüllten Wesens auf. Warum um alles in der Welt erscheint mir ein ... ja, was? Ein Zauberer ... im Traum? Ein Knacken ließ sie zusammenfahren.
«Hallo?», rief Mia wachsam und runzelte die Stirn. Anwesenheit war zu spüren. Doch die Steinstufen, die zum Haus führten, waren nicht einsehbar. Plötzlich sprang eine Gestalt in ihr Blickfeld: groß, sportlich und mit einer gehörigen Portion Schalk in den meerblauen Augen, die von einer Baseballkappe etwas verdeckt wurden.
«Erwischt!» Sam zog verschmitzt die Mundwinkel hoch. Grinsend ließ er sich neben sie in den Sand plumpsen.
«Sam ... Mensch ... du hast mich erschreckt!» Erleichtert, aber auch ein wenig mürrisch vor Schreck, gab sie ihm einen Klaps auf die Schulter.
«Wow... du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!», sagte er mit dem für ihn typischen schelmischen Gesichtsausdruck.
«Ha ha...!», entgegnete Mia, vermied es aber, Sam in die Augen zu sehen.
«Ähm... alles in Ordnung?», fragte Sam vorsichtig. «Ich meine... du hast gar nicht auf meine Nachrichten reagiert...», kombinierte er feinfühlig.
«Wir ziehen nach Vancouver!», entgegnete Mia zögernd. Ihr sonst so unbekümmerter Tonfall klang ungewohnt sachlich. Langsam drehte sie den Kopf in seine Richtung und erwiderte Sams Blick mit einer demonstrativ hochgezogenen Augenbraue.
Sams Gesichtsausdruck wechselte zwischen Erstaunen, Freude und etwas anderem, das Mia sich nicht erklären konnte. Es schien, als wolle er seine Gefühle unterdrücken. Seine Kiefermuskeln spannten sich ungewöhnlich hart an.
«Wow... das sind ja tolle Neuigkeiten! Ich meine... wow... mega, oder?»
Mia starrte ihn verständnislos an: «Wie kannst du das sagen, Sam? Ich muss schon wieder alles aufgeben, was mir wichtig ist!», brachte sie ärgerlich hervor, als wäre es anstrengend, sich dafür erklären zu müssen, es einfach nur scheiße zu finden!
«Aber du wirst in Kanada leben! Ich meine K A N A D A!»
Mia warf Sam abermals einen entgeisterten Blick zu. «Sam, es ist dein Traum, eine Weltreise zu machen, okay!»
Nicht meiner, dachte sie frustriert den Satz zu Ende. «Ich habe es so satt, dass mir jeder sagt, es wäre die Chance meines Lebens!» Verärgert schüttelte sie den Kopf. Aber das war es einfach nicht! Irgendwie wollte das niemand verstehen.
«Tut mir leid...! Ich weiß, das mit den vielen Umzügen. Aber glaub mir, es wird sich alles einrenken.»
«Typisch für dich, du Superoptimist», entgegnete Mia zerknirscht. Irgendwie hatten die vielen Umzüge etwas in ihr kaputt gemacht. Kaum hatte sie sich eingelebt, war es auch schon wieder vorbei. Immer alles hinter sich lassend, gab es einfach kein richtiges Ankommen. Kein Ort, an dem sie sich zuhause fühlte.
«Sieh Kanada doch wirklich als Chance... Ich meine –» «Wieso?!», blaffte sie schnippischer als beabsichtigt.
Sam ließ sich von ihrer demonstrativ zur Schau gestellten Abwehrhaltung nicht beirren: «Na ja, weil…» Irgendwie wollte ihm keine passende Antwort einfallen.
«Ja…?» Mia schaute Sam abwartend an. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, meinte er es wirklich ernst. Doch gerade als Mia etwas erwidern wollte, sah Sam ihr plötzlich viel tiefer in die Augen. Also, mit diesem ganz speziellen Dackelblick.
Was zum Teufel...???? Oh nein! Bitte nicht! Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen, was sie die ganze Zeit zu verdrängen versucht hatte. Aber nun war es zu spät! Sam hatte bereits seinen Arm um sie gelegt und versuchte sie doch tatsächlich zu küssen. Offensichtlich hatte er etwas falsch verstanden! Wahlweise einfach nicht auf ihre Gefühle geachtet! Scheiße...! Sam...! Bester Freund! Lieblingsmensch! Warum nur? Innerlich schlug sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Sie war ganz und gar nicht in der Stimmung für ein weiteres Drama in ihrem Leben. Verdammt!
«Sam... i-ich... es...! Ich meine... es... es tut mir leid», stotterte sie mühsam.
Sams verträumter Gesichtsausdruck fiel in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hatte, und wich gleichzeitig einem undefinierbaren: Mit weit aufgerissenen Augen und einem zu einem «O» geformten Mund sah er Mia starr an. Etwas dämmerte ihm, das war deutlich zu sehen. Und Mia tat es unendlich leid, ihn so verletzt zu haben. Wortlos starrte sie ihn an.
Die peinliche Stille dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis seine gepresste Stimme die angespannte Atmosphäre durchbrach.
«Is‘ ok...! I-ich meine... Kein Problem. Sorry!», brach es wortkarg aus Sam heraus. Entschuldigend hob er die Hände, als hätte Mia eine Waffe auf ihn gerichtet, und räusperte sich verlegen. «Ich mache mich besser auf den Weg!»
Bevor Mia etwas erwidern konnte, sprang Sam wie von der Tarantel gestochen auf. Zwei Stufen der Steintreppe auf einmal nehmend, drehte sich nicht mehr nach ihr um. Seine durchtrainierten Schultern hingen herab, als hätte man einem Mantel die Schulterpolster und den Kleiderbügel abgenommen.
Scheiße! Es war zum Verrücktwerden!
Die wenigen noch verbleibenden Tage bis zum Umzug vergingen fast wie im Flug. Mia und Sam taten so, als wäre nichts passiert. Und doch...! Der missglückte Kussversuch stand zwischen ihnen wie einst die Mauer zwischen Ostund Westdeutschland. Schier unüberwindbar. Mia ging ihren Eltern aus dem Weg, so gut sie konnte. Die unverhohlene Freude in Max‘ Augen konnte sie nur schwer ertragen. Dass ihre Mutter dagegen immer stiller und blasser wurde, je näher der Umzug rückte, war Mia ein unerklärliches Rätsel. Genauso wie der seltsame Traum. Er blieb ebenso ungelöst. Bis an einem verregneten Freitag kurz vor dem Abflug etwas Seltsames geschah. Als Mia gerade eine Kiste mit aussortierten Sachen in den Keller bringen wollte, stolperte sie – fast so, als hätte eine unsichtbare Hand sie geschubst. Sie fing sich zwar noch rechtzeitig, doch der Inhalt der Kiste verteilte sich auf dem Boden des Flurs.
«Shit!», fluchte sie vernehmlich, sammelte die Sachen mürrisch auf und warf sie achtlos in die Kiste. Da fiel ein Briefumschlag aus einem Buch heraus und segelte direkt vor ihre Füße. Was ist das? Mias Kopfhaut begann zu kribbeln. Neugierig hob sie den Umschlag auf, betastete ihn von allen Seiten und zog schließlich einen Brief heraus. Langsam faltete sie ihn auseinander und begann zu lesen, bis ihr plötzlich der Atem stockte. «No way!», murmelte sie geistesabwesend und riss erstaunt die Augen auf. «No way!»
Dagwáang,
wenn du diesen Brief liest, wird es mich nicht mehr geben in deinem Leben. Das heißt, du bist ohne mich aufgewachsen. Und ich werde nicht wissen, wie es dir in den vergangenen Jahren ergangen ist. Du bist bestimmt ein hübsches Mädchen oder vielleicht sogar schon eine junge Frau geworden. Genau wie deine Mutter, die ich über alles liebe. Auch über den Tod hinaus. Genau wie dich. Sollte dies also der Fall sein, glaube mir, gibt es Gründe dafür. Gute Gründe, die ich dir leider nicht erzählen kann. Nicht mal darf! Nicht jetzt. Aber ich vertraue darauf, dass du alles erfahren wirst.
Eines aber sei gesagt: Wir Haida sind ein stolzer, ein mutiger Stamm. Wir kämpfen für unsere Rechte. Vergib mir also, dass ich mein Volk über die Liebe zu dir gestellt habe. Aber am Ende habe ich einzig für dich, für unsere Freiheit gekämpft. Und doch habe ich alles verloren, was mir lieb und teuer war.
Sei von Herzen umarmt,
in Liebe, Dad
Mia ließ den Brief fallen. Das kann nicht sein! Never...! Ein Brief vom... Schattenmann?! Für mich? Dad!? Der Mann, an den sie sich überhaupt nicht mehr erinnern konnte. Und doch...! Sie spürte es. Ganz deutlich. Dieser Brief war an sie gerichtet. Beim Lesen hatte Mia das intensive Gefühl beschlichen, als würde er direkt vor ihr sitzen und ihr in die Augen schauen. Wie ein Geist. Seine Stimme schien zwischen den Zeilen zu erklingen, warm und vertraut, wie ein Echo, das sich durch Raum und Zeit zog. Das kann doch nicht sein! Ist das wirklich ein Brief von meinem... Dad?! Das letzte Wort fiel ihr sichtlich schwer. So tief hatte sie den Gedanken an ihren leiblichen Vater verdrängt. Sie wollte so gerne glauben, dass er ein Schattenmann war. Einer, der seine Familie im Stich gelassen hatte. Mit Sicherheit für eine andere Frau! Ihre Mutter hatte nie darüber sprechen wollen. Es war zu einem absoluten Tabuthema zwischen ihnen geworden.
Dagwáang…? Was heißt das? Und unter welchen mysteriösen Umständen ist mein Vater gestorben? Warum weiß ich nichts davon? Tod... ist er wirklich tot? Für mich gestorben? Für seine Familie?! Die Fragen rasten wie ein Karussell durch ihren Kopf. Mia wurde schwindelig. Sie ließ sich auf den kalten Flurboden sinken, das Herz schwer wie Blei. Eigentlich wollte sie den Brief zurück in den Umschlag stecken, doch ihre Finger zitterten, als sie noch etwas darin entdeckte. Ein Foto. „Was ist das?“ Mias Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie das Bild hervorholte. No! No! No! Das Foto zeigte ein junges Paar. Der Mann hatte langes schwarzes Haar und lachte fröhlich. Im Arm hielt er ein kleines Mädchen, nicht viel älter als ein Jahr. Instinktiv wusste Mia sofort, wer das kleine Kind auf dem Bild war. Und die Frau daneben: Ihre Mum! Die Haare lang und zu Zöpfen geflochten. Ganz untypisch für die aristokratische Akademikerin Dr. Sara von Sengbusch!
Mias Kopf begann zu pochen. Alles in ihr schrie nach Antworten, aber nichts fühlte sich real an. »Was um alles in der Welt geht hier vor?«, raunzte sie ungläubig und schüttelte den Kopf. Mein Vater ist ein… Indianer?! Mia zitterte bei der Erkenntnis, die wie ein alter, flackernder Leuchtturmstrahl ihren Geist erhellte. Der Keller schien plötzlich enger zu werden, und das schwache Licht der Glühbirne warf verzerrte Schatten an die Wände. Alles um sie herum begann sich zu drehen, als würde sie in einen Strudel gesogen werden. Nichts wollte Halt geben. Mia hielt das Foto so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Das heißt... auch ich bin eine Indianerin! Die Erkenntnis war ein Blitz, der sie erstarren ließ. In der bedrückenden Stille des Kellers fühlte Mia sich wie zwischen zwei Welten gefangen. Ein leises Rauschen erklang, fast wie das Flüstern einer Stimme. Oder war es nur ihr Kopf? Er war stolz. Er hat gekämpft. Für mich, für uns. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, während die Worte des Briefs in ihrem Inneren widerhallten. Ich muss die Wahrheit herausfinden. Egal, wohin sie mich führt. Langsam erhob Mia sich. Ihre Knie fühlten sich schwach an, doch in ihrem Herzen begann etwas zu wachsen – ein Funke, den sie nicht benennen konnte. Die Welt um sie herum war noch immer ein Farbbrei, der sie zu verschlucken drohte. Aber irgendwo darin, tief verborgen, musste eine Antwort, die darauf wartete, entdeckt zu werden.
«WER BIN ICH?!», fragte Mia atemlos und mit gerunzelter Stirn, ihre Stimme zitternd vor Frust und Verwirrung. Doch es war niemand da, der ihr eine Antwort geben konnte. Die Frage schien in die Leere des Kellers zu hallen und bekam eine neue Dimension. Eine, die alles Bekannte in ein schwarzes Loch zog und eine totale Leere hinterließ. Es fühlte sich an wie ein blinder Fleck in ihrer Seele, der alles zu verschlingen drohte, was sie je gekannt hatte. «Vielleicht wärst du besser ein Schatten in meinem Leben geblieben!», klagte Mia das Porträt ihres Vaters an, ihre Stimme jetzt brüchig, fast ein Flüstern. Mit zitternden Fingern steckte sie die Fotografie zurück in den Umschlag. Der Blick ihres Vaters schien sie noch immer zu verfolgen, selbst als sie den Brief mit einer Entschlossenheit, die sie kaum selbst verstand, zusammen mit dem ominösen Buch in eine Kommode in ihrem Zimmer versteckte. Die Schublade schloss sich mit einem leisen Knarren, doch der innere Lärm in ihrem Kopf aber verstummte nicht.
In den letzten Tagen vor dem Abflug rührte Mia den Brief und das Buch nicht mehr an. Nur einmal, mit einer Mischung aus Neugier und Angst, suchte sie bei Wikipedia nach dem Wort «Haida». Die Ergebnisse faszinierten und verunsicherten sie gleichzeitig. Sie erfuhr, dass Haida Gwaii eine Inselgruppe im Westen Kanadas war, die Heimat des gleichnamigen Stammes. Die Haida – bekannt für ihre beeindruckende Schnitzkunst und die Herstellung von Schmuck und Skulpturen. Doch was Mia am meisten faszinierte, waren die Legenden. Jene Geschichten, die traditionell nur mündlich und nur einmal erzählt wurden. Einem Mythos zufolge hatte der Rabe die Welt erschaffen. Die Gesellschaft der Haida teilte sich in zwei große Sippen: die Adler und die Raben. Doch jede Familie besaß ihr eigenes Schutztier. Aus reiner Neugier versuchte Mia, mehr über die Legenden zu erfahren. Doch ihre Internetrecherche verlief enttäuschend. Keine Geschichten, keine Details, nur bruchstückhafte Hinweise und unpersönliche Fakten. Stattdessen stieß sie auf Berichte über die aktuelle Situation der First Nations. Die Legenden, Traditionen und Rituale der Ureinwohner Nordamerikas waren vor allem in den letzten 100 Jahren immer mehr verloren gegangen. Importierter Alkohol, eingeschleppte Krankheiten und die berüchtigten Residential Schools – Schulen, die nur dazu dienten, Kinder von ihren Familien zu trennen und ihre kulturelle Identität auszulöschen – hatten tiefe Wunden hinterlassen.
Mia starrte auf den Bildschirm und fühlte, wie sich eine unsichtbare Faust um ihr Herz schloss. Ist dieser Kampf gemeint? Die Berichte über die Kämpfe der Haida um den Regenwald auf ihrem Archipel ließen Mia nicht los. Noch in den 1990er Jahren hatten sie darum gerungen, ihre Heimat vor der Profitgier von Investoren zu schützen, die den Wald abholzen wollten. Ein Kampf, der immer noch nicht beendet war. Mia sank tiefer in ihren Schreibtischstuhl. Die Worte verschwammen vor ihren Augen, als die Schwere der Informationen auf sie drückte. Es gab keine weiteren Antworten. Keine Legenden, die ihr halfen, das Rätsel um ihren Vater und ihre eigene Herkunft zu entschlüsseln. Nur leere Fragen, die in ihrem Kopf kreisten, ohne je einen Halt zu finden. Und dennoch...! Etwas in ihr sagte ihr, dass sie nicht aufgeben durfte. Doch nicht jetzt. Mia schob den Laptop weg und rieb sich die Augen. Es blieb ein Rätsel. Zumindest für den Moment.
Und dann kam der Tag des Umzugs. Auf der Fahrt zum Hamburger Flughafen hielt Mia eine kleine Schachtel in der Hand. «Von Sam für Mia» stand auf der Verpackung! Sam hatte doch tatsächlich um halb vier am Morgen vor der Tür gestanden, mit einem ordentlich gequälten Ausdruck in den Augen.
«I-ich…», hatte er verlegen gestammelt, «ich wollte dir das hier zum Abschied schenken. Mia… du wirst mir fehlen!»
«Du mir auch», hatte sie mit belegter Stimme entgegnet.
Dann hatte Sam sie in die Arme genommen und ihr einen ganz sanften Abschiedskuss auf die Stirn gehaucht. Ganz freundschaftlich natürlich. Aber genau das war es, was Mia jetzt so sehr zu schaffen machte. Sie schaute die Schachtel an, ihre Finger glitten über die kleinen Buchstaben. Sam…! Mia schluckte schwer und öffnete das Geschenk vorsichtig. Innen lag ein feines Lederband, an dem eine filigrane Silberfeder hing. Ein kleiner Zettel war beigelegt. Darauf stand in Sams krakeliger Handschrift: Ich denk an dich. Ein bittersüßes Lächeln schlich sich auf Mias Gesicht. Das Lederband fühlte sich weich an unter ihren Fingern, die Feder schimmerte im schwachen Licht des Autos. Warum musste Abschied immer so schwer sein? Es ist nicht fair! Warum darf nicht einfach alles bleiben, wie es ist? Sie schloss die Schachtel und legte sie auf ihren Schoß. Trotz der liebevollen Geste fühlte sich Mias Herz bleischwer an. Wie sehr ich doch Abschiede hasse…
Das Flugzeug hob pünktlich ab. Ihre Eltern hatten – natürlich – Business Class gebucht. Nun saß Mia an einem Fensterplatz mit genügend Abstand zum Rest der Familie, denn sie hatte ihren Platz für ein Pärchen eingetauscht, das gerne zusammensitzen wollte. Gelangweilt zappte sie durch das Unterhaltungsprogramm der Fluggesellschaft und steckte schließlich ihre Kopfhörer ein. Nach einer warmen Mahlzeit wurde das Licht im Flugzeug gedämpft.
Endlich!, dachte Mia und zog das Buch mit dem Umschlag aus ihrer Tasche. Ihre Eltern saßen weit genug weg, also begann sie, das handgeschriebene Buch zu lesen, das weder einen Titel noch einen Autor zu haben schien. Irgendjemand – vielleicht ihr Vater? – hatte in fein geschwungener Schrift eine Geschichte darin niedergeschrieben. Sie handelte von einem Assassinen, dessen Bestimmung es war, seine Welt von einer dunklen Macht zu befreien. Mia, deren Herz ganz für Fantasy schlug, verlor sich beim Lesen zwischen den Zeilen, fast so, als wäre sie selbst Teil der Geschichte. Raum und Zeit spielten keine Rolle mehr. Doch wie jede schöne Geschichte fand auch diese ihr Ende – und zwar ein ziemlich abruptes! Eigentlich hörte sie einfach auf. Buchstäblich mittendrin! So, als hätte der Autor oder die Autorin keine Zeit mehr gehabt, weiterzuschreiben.
Aber…! Völlig verblüfft starrte Mia auf die aufgeschlagene Seite. Akzentuiert und verschnörkelt floss die Schrift über die weiße Seite, als wäre diese eine Leinwand. Sogar die Zeichnungen fügten sich in das Schriftbild ein. Es war, als hätte die gestaltende Hand mit Hingabe und Liebe Text und Bild ineinander fließen lassen. Fast wie hineingeworfen in diese andere Welt, kehrte Mia nur widerwillig in das Hier und Jetzt ihrer Realität zurück. Es war, als wäre sie durch ein Stargate geschlüpft. Magie… das war pure Magie! Voll schade, dass die Story einfach so aufgehört hat! Sie drehte das Buch in den Händen, fühlte es, roch daran, strich zaghaft über die Seiten. Es musste ihrem Vater gehören. Aber wer hat das geschrieben? Die Frage brannte lichterloh in ihr wie eine Holzscheune. Ratlos blickte Mia sich um. Rechts von ihr saß ein Anzugträger, der seinen Laptop malträtierte. Eine Matrone mit geblümter Bluse schlief. Ein leises Schnarchen war zu hören. Ansonsten war es still im Flugzeug. Bis auf das Tastengeklapper von Mr. Man in Black. Wieder strich sie mit den Fingerspitzen sanft über das gemalte Cover – ein Feuerdrache?
Plötzlich prickelte es in ihren Kuppen. Mias Kopfhaut begann zu kribbeln, und ihr Herz schlug bis zum Hals. Im nächsten Moment tauchten Bilder vor ihrem inneren Auge auf: ein magisches Tor, ein silbrig-grün schimmernder Wald und … ein Drache! Ein leuchtend roter Drache. Er bäumte sich auf, brüllend spie er Feuer. Erschrocken wich Mia zurück. Mit einem dumpfen Knall krachte das Buch zu Boden. Der Anzugträger blickte kurz von seinem Laptop auf, lächelte sie geistesabwesend an und tippte sofort weiter. Mia zuckte nur mit den Schultern und schüttelte verwirrt ihre Gedanken wach. Was war das denn? Jetzt bloß nicht durchdrehen! Um sich zu sammeln, schaute Mia aus dem Fenster. Der Himmel blickte freundlich und klar auf sie herab. Er hieß sie in ihrer neuen Heimat willkommen und bildete gleichzeitig einen harten Kontrast zu Mias Stimmung. Sie wollte von all dem nichts wissen. Durch das Mikrofon wurde bereits die Landung angekündigt. Nun erwachte auch die Matrone und versuchte etwas umständlich, imaginäre Fusseln von ihrer Bluse zu entfernen. Die Tische wurden hochgeklappt, die Sitze zurechtgerückt. Einige Passagiere schnallten sich schon an, während Mia noch einmal auf die Toilette verschwand, bevor das Flugzeug zur Landung ansetzte.
Schnell schnappte sich Mia ihren Rucksack und folgte der Menge zum Ausgang. Die Empfangshalle war überfüllt. Trotz des Trubels war das Einreiseprozedere per Computer erstaunlich schnell erledigt, und so schlenderte Mia mit ihren Eltern zum Ausgang – nicht ohne einen letzten, flüchtigen Blick auf die beeindruckenden einheimischen Holzfiguren in der Halle zu werfen. Schließlich fiel ihr Blick auf ihre Mutter, die bleich wie ein Gespenst neben Max herlief. Was ist nur mit ihr los?, dachte sie und verdrehte innerlich die Augen. Wenn sie nicht umziehen wollte, warum haben wir es dann getan? Die Tage vor dem Abflug waren sie sich aus dem Weg gegangen. Irgendwie war da diese drückende, bleischwere Spannung zwischen ihnen zu spüren, die Mia auf den ungewünschten Umzug und den rätselhaften Brief zurückführte. Das komische Verhalten ihrer Mutter aber konnte sich Mia nicht erklären.
Ein Chauffeur brachte die Familie vom internationalen Flughafen in Richmond nach Gastown, ihrem Zielort. Vorbei an üppigen Parkanlagen, durch belebte Stadtviertel und über einen Fluss hielt die Limousine schließlich – nach einer gefühlten kleinen Ewigkeit von knapp 30 Minuten Fahrt – vor einem imposanten Backsteingebäude. Während der Fahrer der Familie mit den Koffern half, blieb Mia auf der Straße vor einem Coffeeshop mit breiter Glasfront stehen. Den Kopf in den Nacken gelegt, glitt ihr Blick etwas entrückt über das Gebäude. Die rotbraunen Backsteine schienen mit der Abenddämmerung zu verschmelzen, und die Lichter der Umgebung spiegelten sich in den Fenstern. Was um alles in der Welt soll ich bloß hier? Ein Gefühl von Verlorenheit überkam sie. Es war wie eine Welle, die sie mitten ins Herz traf und ihr den Atem raubte. Mia schüttelte den Kopf, als wolle sie das Gefühl abschütteln, und betrat das Haus.
Dass etwas nicht stimmte, spürte Mia bereits, als sie die Haustür der Wohnung öffnete. Kalt wie eine Gletscherwand schlug ihr die Atmosphäre entgegen. Oha... was ist denn hier los?, dachte sie und lief den Flur entlang. Ihre Haltung glich der einer Wildkatze im Lauermodus. Vorsichtig spähte sie in ein Zimmer und entdeckte ihre Mutter – in einer Art Schockstarre. Mitten im Raum. Die Augen starr auf die eintretende Mia gerichtet.
«Ähm... Mum? Alles in Ordnung?», fragte sie vorsichtig.
«Nein, es ist natürlich nicht alles in Ordnung!!!», antwortete sie mit ungeheurem Ernst. Der frostige Blick aus den grasgrünen Augen sprach Bände und bohrte sich direkt durch Mia hindurch in die Wand hinter ihr. Ihre Mutter wirkte wie ein blutleerer Vampir kurz vor der Jagd.
«Okee!» Mia zuckte unwillkürlich zusammen und blieb wie angewurzelt stehen. Ist sie wütend? Entsetzt? Geschockt? Was ist los? Sie konnte den Blick nicht deuten.
«Woher hast du das?» Es klang bitter, hart und so gar nicht nach ihrer Mum. Die stand immer noch wie zur Salzsäule erstarrt da und bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle.
Mias Blick fiel auf den Gegenstand in der Hand ihrer Mutter. Und endlich erkannte sie die Ursache für die seltsame Aufführung. Dort in der Hand lag nämlich der Brief!
«Oh man!», stöhnte Mia genervt, als sie bemerkte, dass ihre Mutter den Rucksack mit nach oben genommen hatte. Aber ihre Mutter hatte überhaupt kein Recht, in ihren Sachen herumzuschnüffeln! Das brachte Mia ordentlich auf die Palme. «Warum durchwühlst du meine Sachen?», hakte sie daher direkt auf Angriff programmiert nach, als wäre das die beste Verteidigung. Es war offensichtlich, dass der schwelende Konflikt zwischen den beiden in diesem Moment zum Ausbruch kam.
«Ich habe nicht gewühlt! Die Sachen sind aus der Tasche gefallen, als ich sie hier deponieren wollte!», stellte ihre Mutter unbeeindruckt klar. Ihre Stimme war hart wie ein Beil, das nun über Mia schwebte.
Jetzt reichte es ihr endgültig! Enough is enough! «Aha?! Ja, nee, is klar...! Die sind bestimmt nicht von alleine aus meinem Rucksack gekrochen!», blaffte Mia unbeherrscht zurück. Sie versuchte gar nicht erst, leise zu sprechen.
«Wo hast du das her?» Ihre Mutter zeigte sich von Mias Eskalation unbeeindruckt. Ihre Stimme blieb unverändert streng und hatte die gleiche Lautstärke wie Mias.
In diesem Moment betrat Max mit Finn auf dem Arm das Zimmer. «Alles in Ordnung?», fragte er betont unbekümmert und sah die beiden Streithennen verwirrt an. «Was macht ihr für einen Krach?»
«Nicht wirklich!», antwortete Mia schnippisch. «Meine Mutter durchwühlt ungefragt meine Sachen und stellt mich zur Rede. Danke auch!»
«Sara... kannst du mir bitte erklären, was hier los ist?» Max setzte Finn ab und fuhr verständnislos fort: «Ihr seht aus wie zwei kampfbereite Hyänen! Was soll das Theater?»
«Nichts! Alles in Ordnung, Max! Mia hat nur etwas, das ihr nicht gehört!», stellte ihre Mutter mit versteinerter Miene klar.
Das ist ja wohl n’ Witz, oder was? «Ach ja... Ich darf also nicht wissen, wer mein Vater war? Dass er ein Indianer war? Und überhaupt, hm?» Mia verschränkte trotzig die Arme und begann wütend mit dem rechten Fuß zu dribbeln. Ihr Blick ruhte unbeweglich auf ihrer Mutter. Sie schluckte hart, ließ ihre Mutter aber nicht aus den Augen, die vor Wut fast zu blitzen begannen.