Drakhim - Die Drachenkrieger - Uschi Zietsch - E-Book
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Drakhim - Die Drachenkrieger E-Book

Uschi Zietsch

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Beschreibung

Blaeja, das Reich zwischen den Schleiern, ist eine kleine Welt, von undurchdringlichem Dunst umgeben, den zu erforschen niemand je in der Lage war. Als eines Tages die >Klirrenden< hinter den Schleiern hervorbrechen, Blaeja überfallen und die Götter stürzen, schließen alle Völker den >Bund<, um gemeinsam gegen die Fremden vorzugehen. Doch nur dem größten Magier jener Zeit gelingt es zusammen mit dem mächtigsten aller Drachen, den unbekannten Feind mit einem Fesselbann zu belegen. Aus dem Blutsbund zwischen Drache und Magier entsteht im Verlauf der Jahrhunderte das stolze, einzigartige Volk der Drakhim ... die Drachenkrieger. Ihre jahrhundertealte Festung Drakenhort liegt einsam gelegen in der Steppe, sie birgt viele Geheimnisse und Artefakte. Als eines Tages ein Kind mit zwei Seelen geboren wird, ist ersichtlich, dass der Bann über die >Klirrenden< zu versiegen droht. Die wahre Gefahr aber erwächst aus den Völkern Blaejas selbst, allen voran den Drakhim … Die Bestseller-Trilogie als Komplettausgabe in einem Band.

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Seitenzahl: 1012

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Uschi Zietsch

Drakhim 

Die Drachenkrieger

Trilogie

fabEbooks

Über die Autorin

Uschi Zietsch wurde 1961 in München geboren. Sie ist verheiratet und lebt seit Jahren als Schriftstellerin und Verlegerin mit ihrem Mann und vielen Tieren auf einem  kleinen Hof im bayerischen Allgäu.

Ihre erste Veröffentlichung war 1986 der Fantasy-Roman »Sternwolke und Eiszauber« im Heyne-Verlag. Darauf folgten bis heute kontinuierlich über einhundert Veröffentlichungen in den Bereichen der Science Fiction, Fantasy, Kinderbücher, TV-Serien und vielen mehr. Unter dem Künstlernamen »Susan Schwartz« schrieb sie jahrelang als Teamautorin bei »Perry Rhodan«, »Maddrax« und anderen Heftserien mit. Für die exklusiv bei BS-Editionen (Bertelsmann) erschienenen sehr erfolgreichen und beliebten Urban-Fantasy-Serien »Elfenzeit« und »Schattenlord« zeichnete sie für das gesamte Konzept und die Exposés verantwortlich und schrieb die meisten Romane.

Darüber hinaus gibt Uschi Zietsch Schreibseminare und ist Mit-Verlegerin des Fabylon-Verlags.

2008 erhielt sie den Literaturpreis von amnesty international für ihre Kurzgeschichte »Aische« zum Thema Menschenrechte.

Hinweis

Die vorliegende Trilogie ist eine eBook-Sonderausgabe zum Vorzugspreis (900 Seiten). Es handelt sich um die überarbeitete und erweiterte, stark geänderte Neuversion der Buchfassung von 2005.

Als Fantasy-eBooks sind ferner erhältlich:

Die Chroniken von Waldsee (Trilogie)

Nauraka – Volk der Tiefe (Band 4)

Fyrgar – Volk des Feuers (Band 5)

Der Stern der Götter (Prequel)

Eine Kurzgeschichte aus Waldsee: Der wahre Schatz

Sternwolke und Eiszauber

Der Traum der Wintersonne

HADES

Der Alp

Sowie die Kinderbuch-Reihe „Ich erzähl dir was“ – aus dem Leben von Jungtieren

Impressum:

Cover: fotokostic/Istock

© der eBook-Ausgabe 2013 by fabEbooks

ISBN: 978-3-943570-33-5

Blaeja, das Reich zwischen den Schleiern, ist eine kleine Welt, von undurchdringlichem Dunst umgeben, den zu erforschen niemand je in der Lage war. Als eines Tages die Klirrenden hinter den Schleiern hervorbrechen, Blaeja überfallen und die Götter stürzen, schließen alle Völker den Bund, um gemeinsam gegen die Fremden vorzugehen. Doch nur dem größten Magier jener Zeit gelingt es zusammen mit dem mächtigsten aller Drachen, den unbekannten Feind mit einem Fesselbann zu belegen. 

Aus dem Blutsbund zwischen Drache und Magier entsteht im Verlauf der Jahrhunderte das stolze, einzigartige Volk der Drakhim – die Drachenkrieger. 

Ihre jahrhundertealte Festung Drakenhort liegt einsam gelegen in der Steppe, sie birgt viele Geheimnisse und Artefakte. 

Als eines Tages ein Kind mit zwei Seelen geboren wird, ist ersichtlich, dass der Bann über die Klirrenden zu versiegen droht. Die wahre Gefahr aber erwächst aus den Völkern Blaejas selbst, allen voran den Drakhim …

INHALT

Buch 1: Die Stimme des Windes

Prolog: Der Fluch

1.: Guldenmarkt

2.: Windflüsterer

3.: Deratas letzter Kampf

4.: Flucht

5.: Im Tal der Tränen

6.: Der Schrei des Geknechteten

7.: Ein neuer Bund

8.: Blutfinders Warnung

9.: Der Verrat

10.: Kein Ausweg mehr

11.: Der Schweigsame

12.: Die Entscheidung

13.: Drakenhort

14.: Die Beschwörung

15.: Der Dunkle Drache

Epilog: Der Blick nach Morgen

Buch 2: Die Gefesselten

16.: Der Abtrünnige

17.: Vorberg

18.: Erkenntnisse

19.: Der Schlächter in Vorberg

20.: Die Entscheidung

21.: Sichelschatten

22.: Eine unerwartete Begegnung

23.: Wiedersehen in Vorberg

24.: Arkenstein

25.: Ein Dieb im Kerker

26.: Die alte Zwergenbinge

27.: Freund oder Feind

28.: Die Rüstung

29.: Am Scheideweg

30.: Die Zackenklinge

Buch 3: Kampf um Drakenhort

31.: Die Forderung

32.: Marsch auf Drakenhort

33.: Belagerung

34.: Dornkralle

35.: Blutsbande

36.: Am Rand der Wüste

37.: Scharfzahn

38.: Der Weg nach Drakenhort

39.: Vater und Sohn

40.: Nadel

41.: Lauschers Stunde

42.: Die Klirrenden

43.: Menors Opfer

44.: Drachenflug

45.: Der Unbesiegbare

46.: Seelenkristall

47.: Ruorim

48.: Sternglanz

Epilog

BUCH 1

Die Stimme des Windes

Prolog

Der Fluch

Silbernes Mondlicht floss schweigend über die ausgedörrte Steppe. Was sich in den Schatten verborgen hatte, zog sich noch tiefer zurück aus Furcht vor den Jägern der Dunkelheit. Die Hitze des Tages war der feuchten Kühle der Nacht gewichen, und eine aufkommende Nordbrise erzählte von den nahenden Tagen der goldenen Dämmerung, wenn die Schatten länger wurden und sich die Blätter bunt verfärbten und schließlich raschelnd zu Boden fielen. 

Derata zog fröstelnd den Umhang über der Brust zusammen. Viel zu schnell waren die hellen Tage vergangen, sie konnten den Mechanischen Winter nicht aufhalten. In der Ferne hörte sie wie zur Antwort auf ihren Gedanken einen klagenden Schrei, der bald darauf von vielfach schaurigem Heulen beantwortet wurde. Ein weiteres Vorzeichen des heranrückenden Herbstes: Die Wölfe kamen von den Bergen herab. Und diejenigen, die sie begleiteten …

»Lykaner«, flüsterte Derata, die das Antwortheulen erkannt hatte, das wolfsähnlich war, aber nicht von diesen Tieren hervorgestoßen. Mitleid erfasste sie mit all jenen Geschöpfen, die schutzlos dort draußen unterwegs waren. Hatten die Grauen Jäger erst einmal vom Wind getragenen Angstschweiß gewittert, waren sie in ihrer Gier kaum mehr zu halten. Mit feinen Nasen nahmen sie die Spur auf, hefteten sich an die Fersen der Beute, sei es Tier, Mensch, Elf oder Zwerg, kreisten sie ein und stellten sie zuletzt. Wer nicht im Umgang mit der Waffe ausgebildet war, konnte nicht entkommen. Wer eine Waffe besaß, hatte zwar genauso wenig eine Chance, aber er nahm wenigstens noch einen oder zwei Lykaner mit in den Tod.

»Viel zu früh«, erklang eine tiefe Stimme hinter Derata, und sie zuckte zusammen. Sie hatte den leisen Schritt ihres Vaters nicht gehört, obwohl sie seine beste Schülerin gewesen war und das oberste Gebot der Wachsamkeit nie missachtete. Nach wie vor konnte sie von ihm lernen, wie sie beeindruckt für sich feststellte. 

»Der Herbst hat noch nicht Einzug gehalten, und trotzdem suchen sie bereits unsere Lande heim«, fuhr Darmos Eisenhand, Herr der Festung, fort. »Es scheint, als treibe sie der Hunger aus den Bergen herab … oder etwas anderes.«

»Die Gefesselten regen sich«, murmelte Derata. »Die Seherin hat es geweissagt. Die Ketten verrotten …«

»Was besorgt dich das?«, fragte ihr Vater. Er war ein stattlicher Mann in den besten Jahren und gefürchteter Schwertkämpfer. Er stellte sich an Deratas Seite und wies um sich. »Drakenhort ist unangreifbar, die Steilwände des Berges können nicht bezwungen werden. Zu uns kann nur gelangen, wer Eintritt durch das große Tor erhält. Unsere Zinnen sind viele Klafter hoch, der Blick reicht an klaren Tagen bis zu den Grenzen der Westlande. Die Drakhim sind die besten Krieger der Welt, jeder fürchtet uns. Wir neigen unser Haupt vor niemandem. Und wir ergeben uns keinem Fluch.«

Derata schwieg. Diese Rede hatte sie oft genug als Kind gehört. Es stimmte, ihre Sippe war stolz und gefürchtet, und ihre Dienste wurden gern angenommen. Doch darüber hinaus wollte niemand etwas mit ihnen zu tun haben, denn es hieß, die Drakhim wären vor langer Zeit einen Bund mit den Drachen eingegangen und wären so erst zu den heute unüberwindlichen Kämpfern geworden. Sie hätten dadurch einen Teil ihrer Menschlichkeit verloren und sich zudem schwarzer Magie hingegeben, munkelte man. Besonders einer von ihnen …

Drakenhort war ihre Heimat, vor Jahrhunderten in mühevoller Arbeit in einen einsamen, steilen Berg  gehauen, eine gewaltige Festung mit mächtigen Mauerwehren und hohen Zinnen. Wer jemals durch die Weite Steppe wanderte, konnte Drakenhort nicht verfehlen, der Berg mit der Festung war die einzige große Erhebung in diesem Gebiet.

Viele Geschichten gab es über Drakenhort und die Menschen, die dort lebten, der Ort galt als sagenumwoben und verflucht zugleich. Händlerkarawanen ließen sich nicht davon abhalten, hierherzumarschieren, denn die Drakhim waren reich und zahlten gut. Das Gold sollte aus einem Drachenschatz stammen … aber wer wusste das schon, es war ein weiteres, beliebtes Gerücht über das kleine Volk.

Normale Reisende verirrten sich selten hierher; die Festung lag auf keiner bedeutenden Route zwischen den Landen. Nur ab und zu kamen Arbeitssuchende oder junge Talente, die sich im Kampf bewähren wollten.

»Warum bist du hier, Tochter, und nicht in der Halle, um unserem Gast aufzuwarten?«, erklang Darmos Eisenhands Stimme erneut in Deratas Gedanken.

»Ruorim ist kein Gast, Vater«, antwortete sie und konnte den Klang von Schärfe in ihrer Stimme nicht verhindern. »Er ist ein Drakhim, genau wie du und ich, und er macht uns seine offizielle Aufwartung, weil du mich mit ihm verheiraten willst.«

»Er ist die beste Wahl, Derata«, sagte ihr Vater ruhig. »Im nächsten Sommer wirst du zwanzig. Es wird Zeit, deine Wahl zu treffen. Und ich hoffe doch, dass du deinen alten Vater glücklich machen wirst, wie es sich für eine gute Tochter gehört.«

Derata konnte nur mit Mühe den Zorn unterdrücken, der sich wie ein wildes Tier in ihr aufbäumte. Sie wollte ihm entgegenschleudern, dass sie sich nicht wie ein edles Ross an den Meistbietenden verschachern lassen wolle. Doch sie sagte stattdessen: »Ich habe noch Zeit, Vater. Und andere Ziele.« Sie deutete auf den fernen Horizont, über dem die riesige Scheibe des Mondes wie ein kaltes, blindes Auge hing. Darunter breitete sich das mattsilbern schimmernde ruhende Land aus. Das vielstimmige Geheul war immer noch nicht verklungen, wenn auch sehr viel leiser geworden. »Der Bund ist dabei zu zerfallen, seit vielen Jahren herrscht immer wieder Krieg. Er ernährt unsere Sippe, gewiss. Aber sag mir, Vater, was wird übrig sein, wenn er eines Tages beendet ist?«

Darmos hatte schweigend zugehört. Der Unwillen in seiner Stimme war nicht zu überhören, als er entgegnete: »Darüber solltest du nicht nachdenken. Wichtig ist die Zukunft unserer Sippe.«

»Eben darum geht es. Ich bin nicht so gierig nach Blut und Macht wie Ruorim da unten in der Halle. Er ist ein Kriegsherr, der sich rücksichtslos nimmt, was er will.« Sie sah ihrem Vater in die Augen. »Hast du gesehen, wie er mich betrachtet hat? Wie ein Stück Ware oder Vieh. Er will nicht den Bund mit mir eingehen, er will mich besitzen. Und das werde ich niemals zulassen.«

Darmos legte seine Eisenhand behutsam auf Deratas Schulter. Als junger Mann hatte er die linke Hand in einem Kampf verloren, doch die magischen Künste eines Schmieds und das Erbe des Drachenbluts in ihm halfen ihm, Ersatz zu schaffen, der beweglich war. Nicht so gut wie eine richtige Hand, aber ausreichend für einen kurzen Kampf mit der Axt und das Halten eines Bechers Schwarzbier. »Ich glaube, du täuschst dich, Derata. Gewiss, Ruorim ist über zehn Jahre älter als du, aber dafür kann er dir auch mehr bieten als ein junger Herumtreiber. Er ist ein großer Mann, und nicht von der hässlichen Sorte, soweit ich das beurteilen kann. Ich glaube wirklich, dass er die beste Wahl ist. Durch diesen Bund können wir vielleicht sogar den Krieg beenden. Unsere Sippe wird dadurch wieder geeint und gewinnt mehr Einfluss.«

»Lass mich darüber nachdenken, Vater«, bat Derata leise.

»Gut, ich lasse dich allein. Aber ich erwarte deine Entscheidung morgen früh.« Darmos beendete das Gespräch streng und bestimmt, denn er nahm keinen Widerspruch hin, auch nicht von seiner Tochter. Und sein Tonfall machte deutlich, welche Entscheidung er erwartete.

Derata atmete tief durch, als sie endlich wieder allein war. Der Mond war inzwischen den Horizont hinaufgeklettert, die Schatten wurden kürzer, aber auch dunkler. Die Luft war frisch und klar, die sanfte Brise brachte den Duft nach wilden Kräutern, rauem Steppengras und Honigorchideen mit sich. Ringsum war alles still, und die junge Frau beneidete jeden friedlichen Schläfer um seinen sorglosen Traum.

Wie sollte sie ihrem Vater klarmachen, dass sie überhaupt keinen ehelichen Bund wünschte? Derata wollte als Drachenkriegerin ihre Dienste anbieten, denn die Lande waren unruhig, das hatte sie vorhin nicht einfach so dahingesagt. Fürsten und Könige bekriegten sich untereinander, und auch zwischen den Völkern schwelten etliche Konflikte, die sich zusehends hochschaukelten. Es sah so aus, als würde der Bund, der einst alle Kontrahenten an einen Tisch gebracht hatte, zerbrechen. Der Urvater der Drakhim hatte diesen Bund bewirkt, als er wiederum einen unauflöslichen Bund mit dem Drachen eingegangen war – daher stammte die Bezeichnung des Friedensvertrags –, um die Klirrenden zu überwältigen. Ganz Blaeja, wie die Gesamtheit der Länder zwischen den Schleiern genannt wurde, war damals in Gefahr gewesen.

Die Klirrenden waren einst hinter den Schleiern hervorgekommen, ein halbes Dutzend nur, doch sie verfügten über entsetzliche Kräfte. Sie stürzten die Götter und verbannten sie hinter die Schleier, und sie brachten die Dunkelheit über alle Reiche und überzogen sie mit Krieg. Nichts schien ihnen gewachsen zu sein, kein Magier, kein Alchemist vermochte sich ihnen in den Weg zu stellen. Auch die Bündelung aller Kräfte half nichts – wie denn auch, wenn nicht einmal Götter den Untergang verhindern konnten?

Bis es dem Urvater der Drakhim, Blutfinder, gelungen war, den Bund mit dem mächtigsten aller Drachen einzugehen. Gemeinsam schafften sie es, die Klirrenden niederzuringen, zu binden und in Ketten zu legen, an einem weit entfernten Ort. Es war die einzige Weise, sie zu überwinden, denn sie konnten nicht vernichtet und auch nicht in die Nebel verbannt werden. So wandelten sich die schauerlichen, unbekannten Feinde hinter den Nebeln zu den Gefesselten. Die Völker der Schleierwelt konnten aufatmen, und sie gingen daran, gemeinsam das blutende und von allen Göttern verlassene Land wieder aufzubauen. Sie alle hatten schreckliche Verluste erlitten und mussten neu beginnen, und jeder  benötigte dazu die Hilfe des Anderen. Die Hoffnung, die daraus erwuchs, war groß.

Doch nichts währt ewig, weder der Frieden noch magische Ketten.

Die Schatten waren kürzer geworden, aber umso dunkler. Der Mond stand direkt über Derata und zeichnete schmeichelnd ihre hohe, schlanke Gestalt mit Silberfingern nach. Der Wind spielte mit ihren offenen, langen Haaren, doch sie bemerkte es kaum. 

Seit Stunden verharrte sie reglos wie eine Statue. Das war sie gewohnt, denn oft genug hatte sie oben auf den Wachzinnen ihren Dienst verrichtet. Drakenhort war niemals unbewacht, und jeder kam an die Reihe, den ehrenvollen Dienst zu verrichten, auch die Tochter des Fürsten.

Derata wollte den richtigen Moment abwarten, bevor sie wieder ins Innere der Burg zurückkehrte. Ihr Vater erwartete ihre »Entscheidung«, wie er es nannte, erst am Morgen, also sollte er sie auch nicht früher erhalten. Derata wollte warten, bis Darmos schlief, und dann zu Ruorim gehen. Es war nicht ihre Art, unangenehme Dinge lange vor sich herzuschieben. Und sie hoffte, dass sich Ruorim bis zum Morgen wieder beruhigt hatte über das, was sie ihm eröffnen würde.

Sie hatte zufällig miterlebt, wie schnell er in Zorn geriet, als er eine Magd schnell und heftig ins Gesicht schlug, nur weil sie einige Tropfen Wein verschüttet hatte. Leider hatte Deratas Vater es nicht mitbekommen. Aber sie konnte sich ausmalen, wie der Drakhim erst reagieren würde, wenn sie ihm eine Abfuhr erteilte. Sie wollte ihrem Vater diesen möglicherweise gewalttätigen Streit ersparen, er brauchte nur das Ergebnis zu erfahren. Vor Ruorim selbst hatte sie keine Furcht; sie durfte sich schließlich im Gegensatz zu der Magd zur Wehr setzen und war auch sehr gut dazu in der Lage. Das würde sie schnell deutlich machen, und Ruorim würde es sich zweimal überlegen, als Hausgast gegen die Tochter des Herrschers von Drakenhort vorzugehen.

Es war kein gutes Zeichen, dass er jetzt hier war. Derata dachte an eine Vorhersehung von Marela der Sanften. Erst vor wenigen Tagen hatte sie Derata beiseitegenommen und geflüstert: »Achte auf alle Zeichen, mein Kind. Du wirst bald eine schwere Entscheidung treffen müssen. Jemand wird kommen, der dein ganzes Leben verändern wird. Und möglicherweise sogar das Leben unseres Volkes, das kann ich noch nicht genau erkennen. Aber ich sehe einen großen dunklen Schatten über uns fallen, und du ... es war eigenartig, du warst Licht und Dunkelheit zugleich, und ich sah eine Seele leuchten, die nicht die deine war, sondern sehr, sehr alt ...« Derata hatte darauf gedrängt, mehr zu erfahren, aber Marela hatte sich nicht deutlicher ausdrücken können, weil die Wege der Zukunft stets nebelverhangen, schemenhaft und sehr vage waren. Bereits kleine Zwischenfälle konnten auf einen anderen Pfad führen.

Die Vermutung lag nahe, dass Ruorim derjenige war, von dem Marela gesprochen hatte, denn sein Eintreffen konnte kein Zufall sein. Derata hatte eine Beklemmung verspürt, denn dieser Mann umgab sich mit schönem Schein, doch in den Tiefen seiner wolfsgelben Augen lauerte ein Tier. 

Nachdem der Mond bereits hinter ihren Rücken gewandert war, kam wieder Bewegung in die junge Frau. Zu dieser Zeit lag die gesamte Festung in tiefem Schlummer, mit Ausnahme der Wachen oben auf den schmalen Türmen. Diese hatten streng darauf zu achten, auch nicht für einen Augenblick einzunicken, denn auf Unachtsamkeit stand die Todesstrafe.

Ich muss es hinter mich bringen, dachte Derata unzufrieden. Warum nur hatte ihr Vater sie in diese Lage gebracht? Weshalb hatte er nicht vorher mit ihr darüber gesprochen? Oder war ihm die Idee erst gekommen, nachdem Ruorim sie an ihn herangetragen hatte? Sie konnte es einfach nicht glauben, dass er sich so verhielt, als wäre sie eine der Prinzessinnen des Südens, bei denen die Frauen nicht allzu viel zu sagen hatten. Erwartete er ernsthaft, sie würde sich einfach fügen?

Oder hegte auch er Befürchtungen, dass der Bund endgültig zerfiel und wollte das Volk der Drakhim stärken, indem er die Sippen auf diese Weise wieder zusammenführte?

Gleichwie – er hätte mit ihr reden müssen. Das konnte sie ihm nicht so leicht verzeihen.

Zehn Schlachten mit der Waffe wären mir lieber als diese eine mit dem Wort, gestand sie sich ein. Sie war nicht sehr geschickt im Umgang mit Worten und mit »sittsamem« Verhalten. Deswegen dachte sie sich nichts dabei, einen Mann, der bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten hatte, allein und unangemeldet mitten in der Nacht in seiner Kammer aufzusuchen – um ihm eine Abfuhr zu erteilen.  

Nun gut, dorthin zu gehen, das war leicht. Aber was folgte dann? Wie sollte sie zum Ausdruck bringen, was ihr Ziel war, ohne Ruorim zu einem Feind ihres Vaters zu machen? Ruorim war in den Nordbergen geboren und aufgewachsen, Angehöriger einer mächtigen Drakhim-Sippe, die sich vor langer Zeit von Drakenhort abgespaltet hatte und inzwischen viele begabte Magier hervorbrachte. 

Nicht denken, handeln, dein Entschluss steht schließlich fest. Sie fasste sich ein Herz und verließ die Mauerzinne, stieg die enge Treppe hinab, die sich wie ein Schneckenhaus in schwindelnden Wendeln in die Burg hinunter wand. Einhundertsechzig Stufen bis zur ersten Abzweigung, und dann noch einmal fünfzig bis zur Flüstergalerie, wo die jeweils über Drakenhort herrschende Sippe, derzeit die Familie von Darmos Eisenhand, wohnte. Derata öffnete die Tür und betrat den Hauptgang, der vom Schein zahlreicher Fackeln hell erleuchtet war. Geradeaus ging es zur Thronhalle, links und rechts führten Seitengänge zu den Zimmern der Familie und Gastkammern. Die Außenwand hatte mehrere Ausbuchtungen, wo kleine Fenster in die Mauer gehauen waren, und zwei schmale Türen führten zu einem großen Balkon. Eine enge Mechanische Wendeltreppe führte auf die Galerie einer Zwischenetage, wo sich die Bibliothek befand.

Die Flüstergalerie war einer der ersten fertiggestellten Bereiche gewesen, als Drakenhort vor über vierhundert Jahren erbaut worden war, und Derata, die sich als kleines Mädchen oft dort oben aufgehalten hatte, glaubte damals das Flüstern der Ahnen in den hohen Mauern, Winkeln und Ecken hören zu können. Es hieß auch, dass man, wenn man genau hinhörte, das Flüstern des Drachen vernehmen konnte ...

Derata verharrte vor Ruorims Gastkammer, sah sich nervös um, aber es war nach wie vor alles still und verlassen. Marela, hoffentlich war deine Erziehung etwas wert, und ich wähle kluge Worte.

Entschlossen pochte Derata an die hölzerne Tür.

Nach einigen schnellen Herzschlägen erklang eine gedämpfte Stimme: »Wer ist da?«

»Ich bin es, Derata!«, sagte sie gerade so laut, dass es nicht über den Gang schallte, aber im Inneren der Kammer verständlich war.

Rasche Schritte, dann öffnete sich die Tür. Ruorims Miene wechselte von Verwunderung zu erwartungsvoller Freude, was Derata wohl bemerkte und nicht gerade mit Zuversicht erfüllte. Aber sie musste jetzt zu Ende bringen, was sie begonnen hatte. »Verzeiht die Störung zu so später Stunde, aber ich muss Euch dringend sprechen.« Sie betonte das letzte Wort ausdrücklich, um deutlich zu machen, dass es hier nicht um ein heimliches voreheliches Stelldichein ging.

Er hob eine schwarze Braue. »Bitte, kommt herein.« Er gab den Weg frei und wies einladend nach innen.

Derata schlüpfte hastig in die Kammer, das Herz pochte ihr bis zum Hals. »Ich kann Euch nicht heiraten«, platzte sie heraus, kaum dass Ruorim die Tür geschlossen hatte. Sehr klug gewählt, in der Tat, dachte sie, über sich selbst wütend. Geradeheraus und unverblümt wie immer, damit man gleich weiß, woran man bei dir ist.

»Das kommt allerdings ein wenig plötzlich«, meinte Ruorim nach einem kurzen überraschten Innehalten. »Und zu so später Stunde erscheint es mir nicht unbedingt wohlüberlegt ...« Um den peinlichen Moment zu überbrücken, bot er ihr einen Stuhl an. »Wollt Ihr Euch nicht setzen, Derata?« 

Wie in jeder Gastkammer bestand die Einrichtung aus einem Tisch, zwei Stühlen und einer schmalen, mit Fellen ausgelegten Bettstatt. Auf einem Brett unter dem kleinen Fenster standen eine Waschschüssel und ein Krug voll Wasser. Über eine Kleidertruhe waren achtlos Ruorims Gewänder geworfen; er trug Nachtkleidung: ein dünnes, langes Hemd und einen geschlossenen Übermantel. Dazu hatte er sich in seine Stiefel gezwängt.

Das Bett sah zerwühlt aus, also hatte er wohl geschlafen. Aber Ruorims wolfsgelbe Augen funkelten hellwach, seine langen schwarzen Haare waren ordentlich, und sein Gesicht zeigte einen angespannten, neugierigen, zugleich leicht amüsierten Ausdruck.

Genau das Gegenteil von dem, was sie erwartet hatte. Sollte sie sich doch in diesem Mann täuschen, war er nicht nur oberflächlich und brutal? Besaß er tatsächlich so etwas wie Anstand und Feinfühligkeit?

»Danke, es ist besser, wenn ich im Stehen vorbringe, was ich zu sagen habe, und dann gleich wieder gehe«, lehnte Derata ein wenig verlegen ab. »Wenn mein Vater wüsste, dass ich hier bin –«

»Diese Art Unterhaltung hätte auch sicherlich Zeit bis morgen früh gehabt«, meinte Ruorim mit freundlicher Stimme, aber sein Blick blieb dabei kalt.  Das konnte sie ihm allerdings nicht verdenken. »Gestattet, dass ich mich trotzdem setze, so lässt sich Eure Abfuhr besser verkraften.« Er ging zu dem zweiten Stuhl, setzte sich, lehnte sich zurück und zwirbelte abwartend seinen langen schmalen, glänzenden Schnurrbart.

»Diese Angelegenheit ist zu wichtig, sie raubt mir den Schlaf«, erklärte Derata.

»Und deshalb wollt Ihr mir auch meinen rauben«, versetzte Ruorim. Anzüglich grinsend setzte er hinzu: »Dies hätte ich mir nicht zu träumen gewagt, und wenn doch, dann unter anderen Umständen.«

Derata spürte wie sie errötete; sie fühlte sich auf einmal sehr töricht. »Ich bin Kriegerin, keine Strategin«, sagte sie entschuldigend. »Verzeiht meine unverblümte Direktheit. Aber ich bin während des ganzen Abends nicht zum Reden gekommen, und ich möchte Euch nicht in falschen Hoffnungen wiegen. Zwischen meinem Vater und Euch schien alles bereits besiegelt, doch wurde dabei vergessen, dass auch ich ein Anrecht auf Entscheidung habe.«

»Liegt es an mir?«, fragte Ruorim.

Ja!, schrie eine Stimme in Derata, aber diesmal hatte sie sich in der Gewalt. »Selbstverständlich nicht«, antwortete sie höflich. »Dazu kenne ich Euch zu wenig, um das beurteilen zu können. Es liegt an mir. Ich fühle mich noch zu jung, um mich schon zu binden, und ich habe eigene Pläne. Ihr müsst verstehen, ich habe mir nach einer langen und harten Ausbildung seit meiner frühen Kindheit einen achtenswerten Rang verdient. Ich bin eine Drachenkriegerin, und als solche will ich jetzt handeln.«

»Verstehe.« Ruorim wies erneut auf den leeren Stuhl, nun mit deutlicher Geste.

Derata setzte sich, sie wollte nicht gänzlich abweisend sein. Sie entspannte sich etwas. Ruorim zeigte sich bis jetzt sehr gefasst. Hier, außerhalb der Thronhalle und vieler lauschender Ohren, gab er sich als ganz anderer Mann, ohne Großmäuligkeit und Überheblichkeit. Er bewies weiterhin Manieren und nahm Deratas Ablehnung mit Anstand hin. 

Er musterte sie durchdringend. »Derata, ich habe nicht vor, Euch einzusperren. Habt Ihr das etwa angenommen? Die Ehe sollte ein Quell der Freude sein, kein Joch. Als Drakhim sind wir Auserwählte, wir erheben uns weit über die anderen Menschen, und wir haben keine Veranlassung, deren Sitten und Gebräuche zu teilen. Selbstverständlich wärt Ihr immer noch eine Drachenkriegerin und müsstet nicht der Schlachten entsagen, nach denen Ihr Euch offenbar sehnt.«

Schöne Worte, aber konnte sie sie glauben? »Dennoch wäre ich nicht mehr frei in meiner Entscheidung, mein Herr. Ich fühle mich einfach noch zu jung für so eine Verantwortung. Durch unsere Bindung entsteht ein Führungsanspruch über beide Sippen, dem wir gerecht werden müssen. Aber zu herrschen liegt ganz und gar nicht in mir.« Sie dachte kurz nach, dann fügte sie hinzu: »In Euch muss dereinst etwas Ähnliches vorgegangen sein, da Ihr in meinem Alter keine Vermählung eingegangen seid, sondern bis heute gewartet habt, nachdem Ihr die Dreißig bereits überschritten habt.«

Ruorim stutzte. Dann lachte er. »Wohl gesprochen! Ihr habt recht, Derata, mein Vorgehen und das Eures Vaters war übereilt. Selbstverständlich habt Ihr ein Anrecht auf Bedenkzeit, und wir sollten in der Tat nichts überstürzen. Aber gestattet mir, dass ich meine Werbung aufrecht erhalte, denn nach diesem Gespräch weiß ich umso mehr, dass Ihr die einzig wahre und richtige Frau für mich seid, und dass die Drakhim durch Euch zu neuer Blüte gelangen.« Er beugte sich vor. »Ich mache Euch einen Vorschlag. Ich muss leider morgen bereits wieder zu den Nordbergen abreisen. Ein … Zwist erfordert meine Anwesenheit als Sippenoberhaupt.«

Ach, deshalb hatte ihr Vater es so eilig mit der Entscheidung gehabt. Vor Ruorims Abreise sollte alles beschlossene Sache sein. Ohne Werbung, ohne Bedenkzeit ... in Derata flackerte wieder ein Funke der Empörung auf. Was ging nur in Darmos vor? Sie kannte ihn nicht wieder. »Natürlich«, sagte sie förmlich. »Ihr müsst Euren Verpflichtungen nachkommen.«

Die Nordberge teilten sich gleichberechtigt unter Menschen und Zwergen auf. Bisher jedenfalls. Es war ein raues und hartes Leben, und möglicherweise handelte es sich bei dem »Zwist« um ein neu entdecktes Erzvorkommen, das Mensch und Zwerg gleichermaßen für sich beanspruchten.

Sie war erleichtert, dass er so schnell wieder abreiste. Sie fühlte sich in Ruorims Nähe nach wie vor nicht wohl, und ihr gefühlsmäßiges Misstrauen war trotz seines zuvorkommenden Verhaltens und seiner guten Manieren keineswegs gemildert. Zweifelsohne sah der Drakhim gut aus, mit seinen markanten, vielleicht ein wenig zu hart geschnittenen Gesichtszügen – die allerdings durch das Grübchen im Kinn etwas gemildert wurden –, der geraden Nase, den vollen Lippen und den großen, unter schwarzen Brauen hervorfunkelnden Augen. Ruorim war großgewachsen und muskulös, aber nicht zu schwer, er bewegte sich geschmeidig wie eine Katze, und seine wohlklingende Stimme konnte genauso schnurrend klingen.

 »Sprecht weiter«, bat sie.

»Ich werde mindestens zwei Mondläufe abwesend sein«, fuhr er daraufhin fort. »In dieser Zeit bitte ich Euch, mein Angebot zu überdenken. Ich werde Euch Nachricht schicken, so oft ich kann, und von mir erzählen, damit Ihr mich besser kennenlernt. Sobald ich zurück bin, werden wir noch einmal über alles sprechen, vor allem über Eure Bedingungen. Ich bin sicher, dass wir uns einig werden, und dass Ihr erkennt, welchen Vorteil unsere Verbindung unserem kleinen Volk bringt. Wäre das überlegenswert?«

Derata nickte ohne zu zögern. Sie wollte Ruorim nicht gänzlich verärgern, auch wenn sie sicher war, dass sich ihre Meinung nicht ändern würde. Aber immerhin hatte sie sich Zeit verschafft, und wer wusste schon, wie es in zwei Mondläufen aussah. Bis dahin konnte sich viel verändern. »Das ist ein sehr gerechter Vorschlag, edler Herr. Ich danke Euch dafür.«

»Nicht doch, meine Teure, das gehört alles zu meinen Verführungskünsten«, versetzte er lächelnd. »Ich will schließlich Euer Herz erobern.«

Ja, wie eine Burg, dachte sie abweisend. Um deine Eitelkeit zu befriedigen. Sie lächelte zuckersüß zurück.

Für eine kurze Zeit herrschte Schweigen, Ruorim wirkte nachdenklich. Dann schien er eine Eingebung zu haben. »Diese Vereinbarung sollten wir besiegeln«, schlug er vor. »Mit einem Becher Wein – ich bitte Euch, das dürft Ihr nicht ablehnen! Vorher lasse ich Euch nicht gehen, meine Dame.«

Derata gab nach. »Na schön, aber nur einen Schluck, dann muss ich wirklich gehen.«

Ruorim griff nach seinem Reisebeutel und zog eine kleine, angestaubte Flasche daraus hervor. »Diesen kostbaren Tropfen wollte ich eigentlich für die Verlobung aufsparen, aber ich denke, diese Gelegenheit ist genau richtig dafür. Ein Süßwein, wie ihn nur die Meister des Südens keltern können, selten und daher nur in kleinen Mengen zu genießen. Goldtraube nennt man ihn, und Ihr werdet gleich sehen, warum.«

Derata beobachtete ihn aufmerksam, während er ein wenig goldschimmernde Flüssigkeit in zwei kleine Gläser goss.

»Und fühlt Ihr Euch jetzt erleichtert?«, fragte Ruorim unterdessen.

»Ja«, gab sie aufrichtig zu. »Ich hätte nicht erwartet, dass Ihr es so gelassen hinnehmt.«

»Oh, ich nehme es keineswegs gelassen hin«, erwiderte Ruorim, und ein kaltes Licht brannte auf einmal in seinen Augen, was ganz und gar nicht zu seinem zuvorkommenden Lächeln passte. »Ihr könnt versichert sein, dass ein Sturm in mir tobt, denn je länger ich mit Euch zusammen bin, je besser ich Euch kennenlerne, desto mehr verlangt es mich nach Euch. Aber ich weiß, dass sich ein guter Jäger in Geduld üben muss, und so werde auch ich mich fügen und meinen Schmerz über das Herzleid auf dem Schlachtfeld austoben.«

Schmeichelnde Worte, doch mit tödlichem Ernst ausgesprochen. Nichts passte bei diesem Mann zusammen, und einmal mehr fühlte Derata einen Schauer den Rücken hinabrieseln. 

Sie wollte es schnell hinter sich bringen und dann zu Bett gehen; sie hatte schließlich in wenigen Stunden eine schwierige Auseinandersetzung mit ihrem Vater vor sich. Sie hob das Glas und stieß mit Ruorim an; wartete dabei, bis sich seine Kehle schluckend bewegte, dann nippte auch sie vorsichtig an dem Getränk. Allerdings war es ein vorzüglicher Wein, etwas Besseres hatte sie noch nie getrunken. Wärmend, kraftvoll, belebend, zugleich beruhigend. Sie trank das Glas leer und musste zugeben, dass sie sich umgehend sehr viel besser fühlte. Sie spürte Ruorims lauernden Blick auf sich ruhen; vielleicht erhoffte er sich Deratas gemilderte Stimmung nach dem Genuss des Weines. Doch darin würde sie ihn enttäuschen. Sie fühlte sich tatsächlich ein wenig berauscht, aber immer noch geistesklar. Sie lächelte Ruorim kurz an, bevor sie aufstand, sich höflich verabschiedete und dann zu ihrem Gemach eilte. Die erste Hürde war genommen.

Der Wein half ihr rasch in den Schlummer. Derata schlief schon fast, kaum dass ihr Kopf ins Kissen sank. Sie seufzte und streckte sich, ihre Zunge leckte die letzten Tropfen von den Lippen, und sie glitt langsam hinüber ins Reich der Träume, wo alle Wünsche wahr wurden, doch niemals festgehalten werden konnten, weil die Traumwelt und die wirkliche Welt unvereinbar waren, obwohl die Grenze nur sehr dünn war und manchmal fast verwischte. Der Gott der Träume war dahin, doch sein Geschenk war den Menschen und vielleicht auch anderen Völkern geblieben.

Derata versank in einem tiefen Traum, der so nah an der Grenze war, dass sie einerseits wusste zu träumen, andererseits alles als wirklich empfand.

Sie wanderte durch ein tiefes Tal, durch das weißer Nebel waberte, doch es war nicht kalt. Derata fühlte sich wohl, der Weg war ihr auf seltsame Weise vertraut, und der Nebel bewegte sich mit ihr. Nicht der dichte, undurchdringliche Schleier, der Blaeja umgab und von den Meisten gefürchtet wurde, sondern ein weicher, warmer Nebel. Er schützte sie, sie empfand Geborgenheit und Frieden, während sie dahinwanderte. Wohin der Weg führte, war nicht wichtig, nur dass sie unterwegs war, genau dort, genau in diesem Moment. Es ist ein wahrer Traum, dachte Derata im Schlaf.

Dann träume gut, wisperte etwas in ihr. Lass dich treiben ...

Es war ein weiter Weg, das Tal schien kein Ende zu nehmen. Derata merkte, dass sie barfuß war. Das Gras unter ihren nackten Füßen fühlte sich kühl, feucht und weich an.

Der Nebel schloss sich enger um sie, sickerte unter ihre Kleidung, strich kühlend über ihre vom langen Marsch erhitzte Haut. Wie schön du bist, flüsterte der glitzernde Hauch. Sie spürte, wie er über ihre Brüste glitt, um ihre Schenkel, sie umschmeichelte wie ein hauchdünnes Seidengewand im Wind. Ich möchte dich immer spüren, so wie jetzt. Dir so nahe sein. Kannst du mich fühlen?

Ja, antwortete Derata. Sie murmelte im Schlaf und drehte sich um. Sie wusste, dass sie das tat, während sie gleichzeitig durch das Tal weiterging, wobei sie das Gefühl des Schwebens hatte, als ob ihre Füße den Boden kaum mehr berührten. Der Nebel schien sie zu tragen, mit sich zu nehmen. Sie spürte nun überall sein Streicheln und Kosen, empfand dabei neue, nie zuvor entdeckte Gefühle, die sie reizten, die sie gierig nach mehr machten. Ihr wurde zugleich heiß und kalt, Schauer rollten in Wellen über ihre Haut, ließen sie erbeben. Ihre Brust hob und senkte sich in heftigen Atemzügen, und sie verspürte ein Kitzeln auf ihren aufgerichteten Brustknospen, die unter der Berührung zu erblühen schienen. Gleichzeitig fühlte sie ein Tasten zwischen ihren Schenkeln, und ein Schauer rieselte dort über ihre seidenweiche Haut.

Ich will mehr, flüsterte der Nebel. Ein Teil von dir werden, in dir sein, wie Blut durch deine Adern fließen, damit ich alles von dir haben kann. Willst du mich?

Ich will dich, antwortete Derata. Sie stöhnte im Schlaf, aber sie wachte nicht auf. Sie versank tiefer in den Armen des Traumes, wollte ihn nicht mehr loslassen, immer nur weiterschweben, und sie breitete die Arme aus, ließ sich hineinsinken ...

Der Nebel trug sie und gleichzeitig sie ihn, sie spürte, wie er in ihre Haut einsickerte, Kälte und Hitze mit sich führend, wie er ihr Blut zum Rauschen brachte, seine heißkalte Bahn durch ihren Körper zog, bis ...

... ein grelles Licht den Traum zerbersten ließ, wie die Feuerkugel eines Wurfgeschosses, das in eine Wehrmauer einschlug. Es war fast wie ein Schmerz, zugleich aber auch höchste Wonne, und Derata hörte sich selbst, wie sie einen kurzen Schrei ausstieß.

Dann wusste sie nichts mehr.

Unterhalb der Flüstergalerie, tief im Berg, sank Marela die Sanfte, Seherin und Heilerin von Drakenhort, in ihrer Kammer ohnmächtig zu Boden, mit einem Ausdruck unaussprechlichen Schreckens auf dem bleichen Gesicht.

Die nächste Zeit wurde von Herbststürmen und heftigen Regenfällen beherrscht. Das Wetter passte zu Deratas Stimmung. Ihr Vater redete seit Ruorims Abreise kaum noch mit ihr. Er kannte seine Tochter genau, und das wusste auch Derata. Sie zweifelte nicht daran, dass er ihren Versuch, Zeit zu gewinnen, durchschaut hatte. Damit sie keine Möglichkeit bekam nachzudenken, betraute ihr Vater sie mit allen möglichen Aufgaben innerhalb der Festung. Sie konnte kaum mehr einen Schritt unbeobachtet tun, und ihre Pflichten nahmen sie voll in Anspruch.

Als die Bäume fast kahl waren und der erste Bodenfrost einsetzte, näherte sich der Tag der Entscheidung. Doch Derata hatte Glück. Darmos Eisenhand erhielt eine Botschaft, in der  Ruorim seine Verspätung ankündigte, da ihn noch einige Angelegenheiten aufhalten würden.

»Hast du seine Briefe gelesen?«, fragte Darmos, nachdem er seine Tochter in Kenntnis gesetzt hatte.

»Ja«, sagte Derata missgelaunt. »Ich wette, er hat einen Schreiber damit beauftragt, denn dieses schmachtende Liebesgesäusel passt nicht zu Ruorim.«

»Woher willst du das wissen? Du kennst ihn noch nicht gut genug.«

»Eine seltsame Frage, o Vater, da du im selben Atemzug von mir verlangst, mich in seine Hände zu begeben!«

Es war die erste längere Unterhaltung seit vielen Tagen, und schon endete sie im Streit. Darmos sprang von Zorn ergriffen auf. »Ich verbiete dir, mich auf diese Weise anzugreifen! Auch, wenn du meine Tochter bist, hast du mir den nötigen Respekt zu erweisen, wie jeder Andere! Ich bin der Herr dieser Festung, es ist meine Aufgabe, weitsichtig zu planen und für das Wohlergehen des Volkes zu sorgen. Wenn deine Mutter jemals so wählerisch gewesen wäre wie du ...«

Deratas Augen verdunkelten sich. »Lass meine Mutter aus dem Spiel«, sagte sie gefährlich leise. Sie hatte nur noch wenige Erinnerungen an ihre Mutter, denn sie starb, als Derata erst vier Jahre alt war. Aber was sie noch wusste, war voller Zärtlichkeit und Heiterkeit. Ihre Mutter war eine Drakhim gewesen, aber keine Kriegerin, sondern eine Heilerin. Was sie berührte, wurde gesund, an Körper und Geist. Ihr plötzlicher unerklärlicher Tod hatte Drakenhorts Mauern erschüttert und die Flüstergalerie lange Zeit in Schweigen versinken lassen.

Darmos griff sich an die Brust, und sein Gesicht verzerrte sich, als hätte er plötzlich Herzschmerzen. »Geh«, sagte er gepresst. »Wir haben in dieser Angelegenheit alles besprochen. Du wirst tun, was ich dir sage, zum Wohle unseres Volkes.«

»Vater, ich bitte dich, sei nicht so hart«, versuchte Derata, dem Streit noch eine Wendung zu geben, indem sie nicht forderte, sondern bat. »So soll es zwischen uns beiden nicht enden. Ich achte und ehre dich, das weißt du, doch ich kann nicht tun, was nicht richtig ist. Ruorim verfolgt eigene Ziele, unser Volk ist ihm gleichgültig. Er will mich kaufen, weil ich ihm auf irgendeine Weise von Nutzen bin. Das will und werde ich herausfinden, und dann wirst du erkennen, dass ich Recht habe.« Sie zögerte einen Moment, dann fügte sie hinzu: »Auch ich habe ein Anrecht auf Respekt, Vater, nach den Gesetzen der Drakhim bin ich erwachsen und frei in meiner Entscheidung. Dies ist das Vorrecht der Drachenblütigen.«

Darmos Eisenhand atmete tief durch. Dann wandte er sich ab. »Geh«, wiederholte er.

Derata gehorchte. Ihr Stolz ließ es nicht zu, dass sie ihn noch einmal anflehte.

Auf dem Weg zu ihrem Gemach wurde sie plötzlich ohnmächtig.

»Was ist passiert?« Derata fuhr hoch und blickte verwirrt um sich. »Wieso bin ich in meinem Bett?«

»Alles ist gut, Kindchen.« Marela die Sanfte drückte Derata ins Kissen zurück. »Du warst bewusstlos. Lauscher hat dich gefunden, hierhergebracht und nach mir gerufen.«

Lauscher war Marelas längst erwachsener, aber geistig zurückgebliebener Sohn, der über das Gemüt eines Kindes verfügte. Er konnte nicht richtig sprechen, aber den Schritt eines Wolfes auf dreißig Meilen Entfernung hören.

 »Derata, endlich sind wir beide unter uns, dass ich mit dir reden kann«, fuhr Marela ernst fort. Sie hatte die Fürstentochter als eine Art Mutterersatz und ältere Freundin erzogen und unterrichtet. »Seit Wochen versuche ich das schon, doch ich kam nie nahe genug an dich heran.«

»Du hättest einfach zu mir kommen können«, sagte Derata verwundert.

»Darum geht es ja, Derata, das wurde verhindert«, erwiderte Marela düster. »Ich habe weitere Visionen gehabt, die mich zutiefst beängstigen, und sie hängen alle mit dir zusammen. Ich fürchte, Warnungen brauche ich keine mehr auszusprechen, denn es ist wohl schon zu spät. Aber bevor ich dir mehr erzähle, muss ich dich etwas fragen.«

Deratas Magen krampfte sich unwillkürlich zusammen. »Bin ich krank?«, flüsterte sie besorgt. Drakhim wurden nur selten krank, das Drachenblut in ihnen machte sie zäh und ausdauernd, auch weitgehend unempfindlich gegenüber einfachen Giften. Sie konnten mehr ertragen als normale Menschen. Ohnmächtig zu werden – Derata wusste nicht, ob es das zuvor je gegeben hatte, und allein das trieb ihr schon die Schamröte ins Gesicht.

»Ganz im Gegenteil«, erwiderte die Heilerin. »Du bist schwanger.«

»Ich – was?« Derata fuhr erneut hoch und packte die mütterliche Freundin am Arm. »Wovon redest du da? Ich bin Jungfrau, ich habe noch nie –« Sie konnte vor Empörung nicht weitersprechen.

Marelas Gesicht verdüsterte sich zusehends. »Denk nach«, bat sie. »Gab es nicht doch jemanden, einen unserer jungen Burschen ...?«

»Was erlaubst du dir?«, brauste sie zornig auf. »Wie kannst du es wagen, an meinen Worten zu zweifeln?«

Die Heilerin seufzte tief und voller Sorge. »Ich zweifle nicht, aber ich kann mich nicht täuschen. Ist dir denn selbst nicht aufgefallen, dass sich in letzter Zeit einiges in dir verändert hat?«

»Gewiss«, gab Derata zu, »aber ich achtete nicht weiter darauf. Weibliche Schwächen stehen einer Kriegerin nicht gut an, Marela. Vor allem jetzt, wo ich diesen Streit wegen Ruorim mit meinem Vater habe, darf ich nicht ...« Ihre Stimme verhallte, ohne dass sie den Satz zu Ende sprach. Ihr kam ein furchtbarer Verdacht. »Marela, du glaubst doch nicht –«

»Genau das befürchte ich«, sagte Marela leise. 

Derata kämpfte gegen einen Würgereiz an und hielt sich die Hand vor den Mund. »Nein«, keuchte sie. »Nicht einmal er würde das … und wie könnte er …«

»Erzähl mir alles, was kurz vor Ruorims Abreise geschah. Und dann werden wir eine Beschwörung durchführen, denn ich glaube, ich verstehe jetzt die Zusammenhänge, und das erschreckt mich zutiefst. Wenn ich recht habe, verfolgt Ruorim einen finsteren Plan ...«

Derata war fassungslos, aber sie nahm sich zusammen und berichtete von der Unterhaltung in jener Nacht in Ruorims Kammer. »Und das war alles«, schloss sie. »Du musst dich einfach täuschen, Marela!« 

»Was war danach, Derata?«

»Ich bin zu Bett gegangen, habe geschlafen, und am anderen Morgen bin ich wieder aufgestanden.«

»Was geschah während deines Schlafs?« Marela ließ nicht locker.

Derata runzelte die Stirn. Dann weiteten sich ihre Augen. »Da ... da war dieser Traum, ich hatte ihn völlig vergessen ...«, flüsterte sie.

»Erzähle mir davon, während wir uns an die Arbeit machen«, sagte Marela. »Komm, wir müssen uns jetzt Klarheit verschaffen.« Sie erhob sich und musste sich dabei auf einen Stock stützen, denn die Kraft ihrer Beine schwand zusehends dahin. Das fortdauernde Beschreiten der magischen Wege zehrte an ihren Körperkräften. »Lauscher, folge uns«, sagte sie zu ihrem Sohn, der die ganze Zeit still an der Tür gestanden hatte, als ob er Wache gehalten hätte.

Auf dem Weg hinab, tief in die Burg hinein, wo abgeschieden die uralte Kammer der Alchemisten lag, berichtete Derata von dem Traum, und anschließend von dem neuerlichen Streit mit ihrem Vater vor wenigen Stunden, bevor sie ohnmächtig geworden war. Marela hörte aufmerksam zu, ohne zu kommentieren, während sie eine große Schale auf den Tisch stellte. Mit raschen, gezielten Handgriffen öffnete und schloss sie Gläser, Krüge und Flakons, aus denen sie Pulver, getrocknete Kräuter, Tierhaare und winzige Knochen nahm und in die Schale legte.  »Gib mir deine Herzhand«, forderte sie Derata schließlich auf, die ihr inzwischen schweigend, in sich gekehrt, gegenüber saß. Derata streckte die linke Hand aus. Marela packte den Zeigefinger und schnitt blitzschnell mit einem scharfen Messer in die Kuppe. Die junge Kriegerin zuckte nicht einmal. Sie betrachtete gleichgültig das Blut, das aus dem Schnitt hervorquoll. Marela drehte die Hand und presste die Wunde zusammen. Mehrere tiefrote Tropfen fielen in die Schale.

Es zischte leise und begann zu dampfen. »Gleich ist es soweit«, murmelte Marela, entzündete einen Kienspan an ihrem Herdfeuer und warf ihn in die Schale.

Fauchend explodierte die Mischung in der Schale zu grauem Qualm, der wie eine Nebelwolke aufstieg und sich rasch ausbreitete.

Derata wollte zurückweichen, aber die Priesterin rief: »Verhalte dich ruhig, atme es ein! Gib mir deine Hände, ich werde dich führen. Bald wirst du es sehen ...«

Derata spürte den festen Griff der knochigen Hände. Vertrauensvoll atmete sie den Qualm ein, der sie augenblicklich schwindeln machte, ihre Augen begannen zu tränen, und alles verschwamm.

»Achte darauf«, erklang Marelas leise Stimme wie durch Watte in ihre Ohren, und sie spürte ein Zerren an ihren Händen. »Nicht wegtreiben! Konzentriere dich!«

Derata blinzelte und erwiderte den Druck der Hände. Sie starrte in den trüben, kalten Rauch; ihre Nasenflügel waren geweitet, der Atem aus ihrem Mund dampfte in plötzlicher Kälte. Dann sah sie ...

... sich selbst, schlafend in ihrem Bett. Doch sie war nicht allein. Jemand näherte sich ihr, beugte sich über sie, zog die Bettdecke von ihr und legte ihren Körper frei, und dann begann er sie zu berühren ... und Dinge mit ihr zu tun, die …

Derata schüttelte es vor Ekel, als sie sah, was da ohne ihr Wissen mit ihr geschehen war. »Wie ...?«, flüsterte sie angewidert.

»Der Wein«, drang Marelas Stimme von der anderen Seite herüber. »Er tat etwas hinein, das dich willenlos machte und in seine Gewalt brachte.«

»Aber ich sah, wie er selbst trank ...«

»Dann hat er zuvor ein Gegengift getrunken, oder es hatte sich etwas davon schon zuvor in deinem Glas befunden. Vielleicht hat er dein Gespräch mit Darmos magisch belauscht und deinen Besuch bereits erwartet.«

Derata hatte genug gesehen. Sie riss sich von Marela los, sprang auf und schleuderte die Schale mit einer heftigen Geste vom Tisch. Mit einem schrillen Klirren zerschellte sie in tausend Scherben, der Inhalt verstreute sich über den Boden. Der Rauch verflüchtigte sich rasch, und die Drachenpriesterin trat hastig mit dem Fuß auf den Rest des brennenden Spans.

»Ich bringe ihn um!«, schrie Derata, außer sich vor Zorn. »Verflucht sei seine schwarze Seele, Schleiercroglin sollen sie holen und hineinzerren in den kalten Dunst, wo sie niemals Ruhe finden möge! Wie kann er es wagen, mir Gewalt anzutun und seinen Bastard in mich zu pflanzen, um mich zu zwingen, die Vermählung mit ihm einzugehen?«

Marela stand über die Aschereste gebeugt, aus der sich feine Rauchfäden kräuselten. Sie murmelte unverständliche Worte und zeichnete mit ihrem krummen Zeigefinger Muster in die Luft.

»Still!«, herrschte sie die tobende Derata schließlich an, ohne aufzusehen. »Darum geht es doch, Mädchen, was ich schon die ganze Zeit erforsche und bisher nur erahnen konnte. Da ist noch mehr, viel mehr, und jetzt endlich klärt es sich, da ich dein Blut, das Blut einer werdenden Mutter, hinzufügen konnte ...«

Derata verstummte augenblicklich und stellte sich neben die Priesterin. »Was siehst du?«

»Dein Sohn ...«

»Es wird ein Junge?«

»Ja. Still jetzt, es verflüchtigt sich bereits ... Ruorim wollte mehr als deine Ehre beflecken. Schau hin, kannst du es sehen?«

Derata sah Blut, nichts als Blut, denn in ihren Adern rauschte es heftig und verlangte nach Rache für die Schande, die ihr angetan worden war. Sie vernahm kaum ihre eigene Stimme durch das Dröhnen in ihren Ohren: »Blut«, zischte sie. »Blut wird fließen.«

»Ja, aber anders, als du denkst«, sagte Marela. Sie packte die junge Frau an den Schultern und schüttelte sie. »Hör endlich auf, an dich zu denken, Derata, diese Geschichte ist größer, sehr viel größer, als du es dir vorstellst! Es geht hier nicht um dich, sondern um dein Kind!«

»Schneide es heraus aus mir, dann ist die Geschichte beendet!«, schrie Derata.

Marela machte erschrocken eine Geste gegen ein böses Zeichen. »Ich begehe keine solche Freveltat an einem Mitglied der Sippe, ewige Blutrache würde ich auf mich ziehen!«

 »Ich will es nicht haben!«, stieß Derata hasserfüllt hervor. »Niemand kann mich zwingen, diesen Bastard aufzuziehen!«

»Du hast keine Wahl, denn dein Sohn ist drachenblütig«, sagte die Priesterin eindringlich. »Und von großer Bedeutung. Ich bitte dich, hör mir jetzt zu! Sein Vater wird ihn benutzen wollen, und das musst du verhindern!« Sie schüttelte Derata erneut und stieß mit vor Angst schriller Stimme hervor: »Die Zeichen deuten darauf hin, dass dein Sohn – Blutfinders Seele in sich trägt!«

Es hätte ein Donnerschlag den Raum erzittern lassen können, der diese Worte begleitete, aber das beeindruckte Derata wenig. »Natürlich. Er war es schließlich, der den Bund mit dem Drachen einging, damit die Gefesselten gebändigt werden konnten. Wir alle tragen sein Blut und damit die Seele des Urvaters in uns, Marela, das solltest du selbst am besten wissen!«

»Das Blut, ja, aber nicht die Seele!«, rief die Priesterin verzweifelt. »Das ist nur eine Floskel, verstehst du? Blutfinder hat seine Tat damals nicht aus Selbstlosigkeit begangen, er hatte sein Leben lang nach der Unsterblichkeit getrachtet und gehofft, sie durch die Verbindung mit dem Drachen zu erlangen. Doch weil sein Körper trotzdem verfiel, musste er eine andere Lösung suchen – und fand sie. Seine Seele blieb erhalten, und ihr ist es nunmehr gelungen, in einen Körper einzufahren, in deinen Körper! Sie ruht jetzt in deinem ungeborenen Sohn und wird eines Tages in ihm erwachen!«

»Woher willst du das nur wissen, Marela?«

»Alle unserer Art, die wir die Strömungen der Magie nutzen können, wissen das. Blutfinder war ein Drecksack, der nur nach Macht und Unsterblichkeit strebte, er war kein Held. Auch normale Menschen und manche von den anderen Völkern wissen das, denn … nun, nachdem die Klirrenden zu den Gefesselten wurden, kam alles heraus, durch Blutfinders eigene Schuld. Er wollte nämlich die Oberhoheit über alle Reiche und Völker erringen.«

»Ich kann das einfach nicht glauben …«

»Mit den Jahrhunderten ist dieses Wissen natürlich in Vergessenheit geraten, und jeder von uns hat darauf gehofft, dass seine Seele niemals wieder aus den Schleiern zurückfindet. Aber anscheinend … ist sie nie dorthin gereist, sondern hat sich irgendwo hier festgesetzt und gelauert. Und wir haben nicht mal mehr Götter, die uns beistehen können, falls Blutfinder tatsächlich zurückkehrt. Es ist zwar etwas Gutes aus seinen Taten entstanden, nämlich unser Volk, das stark und aufrichtig ist und in Ehren lebt. Aber er wird sich seiner bemächtigen, sobald er zurück ist. Und mit Ruorim nimmt es seinen Anfang.«

Derata rieb sich das Gesicht. »Marela … warum hast du nicht schon früher mit mir darüber gesprochen? Oder mit Vater?«

»Hättest du mir denn geglaubt? Du scheinst mir jetzt noch stark zu zweifeln, obwohl du bereits Ruorims Kind unter dem Herzen trägst. Denkst du, dein Vater würde mir eher Glauben schenken?«

Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Nein«, musste sie zugeben. »Nein, wir hätten es als Hirngespinste abgetan. Weil …«

»… ihr die Wahrheit nicht hören wollt. Vor allem konnte ich nichts mit Bestimmtheit sagen, die Zusammenhänge erschlossen sich auch mir erst jetzt. Zuerst dachte ich, Blutfinders Seele wäre nur in dir, aber nun, da du schwanger bist, ist es viel schlimmer gekommen!« 

In der Kammer wurde es dunkel. Fackeln und Kerzen brannten zwar unverändert, spendeten aber kaum mehr Helligkeit. Das Licht wurde niedergedrückt von Marelas Offenbarungen.

Derata fühlte das Blut in sich rauschen, als die Worte allmählich von ihrem Gehör in ihren Verstand drangen und dort auf Begreifen stießen. 

Die Seherin fuhr fort: »Nach all der langen Zeit ist es Blutfinder endlich gelungen, sich zu manifestieren. Das kann kein Zufall sein, dass es gerade jetzt geschieht, es muss mit den Gefesselten und dem Zerfall des Bundes zusammenhängen. Eine besondere Konstellation, die seine Magie zum Wirken bringt. Vielleicht hatte er genau das beabsichtigt … schließlich war er der größte Magier, der jemals gelebt hat, damals wie heute. Niemand von uns kann wissen, wie weit in die Zukunft er vorausgeplant hat.«

Derata wurde bleich wie Schnee im Mondlicht. Mehr und mehr erkannte sie, was Marela ihr klarzumachen versuchte. Sie sank auf den Stuhl zurück. »Darauf willst du also hinaus«, flüsterte sie. »Du nimmst an, dass der Urvater tatsächlich in meinem Sohn – wiedergeboren werden könnte?«

Marela strich sich mit zitternder Hand eine Strähne aus der schweißnassen Stirn. Auch sie war tief erschüttert von der Wahrheit, die nun endlich klar vor ihr lag. »Es spricht alles dafür, Derata«, sagte sie leise. »Ruorim muss gewusst haben, dass eure reinblütige Verbindung, da eure beiden Familien in direkter Linie von dem Urvater abstammen, die nötige Voraussetzung dafür schafft. Du, die beste Kriegerin dieser Zeit, und er, der beste Magier dieser Zeit. Es tut mir leid.«

Drei Nächte später, nach reiflichem Nachdenken, entschloss sich Derata zur Flucht. Marela versuchte es ihr vergeblich auszureden. Sie konnte die junge Frau auch nicht dazu bringen, vorher zu ihrem Vater zu gehen und mit ihm darüber zu sprechen. Die  beiden hatten seit dem Streit nicht mehr miteinander gesprochen, sich nicht einmal mehr gesehen. Die Festung war groß genug, um sich aus dem Weg zu gehen.

»Er hat mich zweimal abgewiesen, Marela«, lehnte Derata ab. »Er hat mich aus seiner Halle gejagt wie einen räudigen Hund. Ich kann ihm das nicht verzeihen.«

»Wenn du ohne Abschied gehst, wirst du es dir selbst nicht verzeihen können«, warnte die Seherin. »Du liebst deinen Vater, und du weißt, dass auch er dich liebt.«

»Marela, du bist weise und eine große Seherin, doch hier bist du absolut blind. Er würde mir gar nicht zuhören, und wenn doch, dann bestimmt keinen Glauben schenken. Es ist in letzter Zeit einfach zu viel vorgefallen, und er ist vernarrt in Ruorim. Vielleicht hat dieser Scharlatan ihn sich ebenso hörig gemacht wie mich in jener Nacht.«

»Aber wo willst du denn hin? Du kannst dein Kind nicht vor seinem Schicksal bewahren, indem du wegläufst!«

Derata nickte. »Das mag sein. Aber ich kann an Orte gehen, wo nicht das Erbe der Väter in jeder Wand lauert, wo ich nicht vom Atem des Drachen umgeben bin. Du selbst zwingst mich dazu, Marela, indem du mir die Verantwortung für den Balg aufbürdest.«

»Es ist auch dein Kind«, sagte Marela leise. »Es wächst in dir heran, wird von deinem Blut genährt, hört deinen Herzschlag. Die Hälfte deines Erbes ist in ihm; liebe wenigstens das, was von dir in ihm ist. Es ist unschuldig, und es wird ein schweres Leben vor sich haben und viele Prüfungen bestehen müssen. Wer weiß, vielleicht ist dein Sohn der Schlüssel, die Gefesselten in ihrem Bann zu halten. Einer wie er wurde nie zuvor gezeugt, das darfst du nicht vergessen. Dein Kind braucht dich. Du bist die Essenz aller Drakhim-Krieger.«

»Aber hier kann ich diesen Ba... meinen Sohn nicht beschützen«, versetzte Derata. »Ich sehe keine andere Möglichkeit, als fortzugehen. Du hast recht, ich darf ihm die Schuld nicht anlasten, dass er gezeugt wurde. Und ich werde darauf hoffen, dass er weniger von seinem Vater und mehr von mir in sich trägt. Ich weiß nicht, ob ich ihn jemals lieben kann, weil er mich jeden Tag an die Schande erinnert, die mir angetan wurde. Doch er soll seinen Platz finden und ein Anrecht auf ein eigenes Leben haben. Ich werde ihn deshalb fernab von allem aufziehen, damit er unbelastet ist und allein seine Entscheidungen treffen kann. Falls ich ihm je von seinem Erbe erzähle, was ich nicht glaube.«

Marela schüttelte traurig das allmählich ergrauende Haupt. »Du begehst einen schweren Fehler, Derata. Du kannst  die Gefahr nicht von deinem Sohn fernhalten, indem du sie leugnest. Wenn Blutfinder von ihm Besitz ergreifen will, muss dein Kind um das Erbe wissen, um vorbereitet zu sein und sich wehren zu können.«

Derata schloss den Schwertgürtel, prüfte den korrekten Sitz des Dolches, des Messers und der kleinen Axt, dann schulterte sie ihr Bündel: wärmende Kleidung, eine Decke, ein paar Vorräte, Heilkräuter. Sie schob den Pfeilköcher daneben und griff nach dem Bogen. »Ich werde bei ihm sein«, sagte sie. »Und wenn es sein muss, werde ich Blutschande auf mich nehmen, indem ich mein eigenes Kind töte, bevor es zu Blutfinder wird. Was auch immer geschehen mag: Hier kann ich nicht bleiben, Marela. Diese Mauern waren einst meine Heimat, doch sie sind verflucht, und Ruorim wird zurückkehren. Von jetzt an bin ich keine Drakhim mehr, sondern eine Abtrünnige.«

Die Seherin begann zu weinen. »Warte doch wenigstens noch ein paar Tage, Kind, mir fällt sicher etwas ein! Ich finde einen Weg, eine Beschwörung, nur gib mir Zeit!«

Aber Deratas Entscheidung war unumstößlich. Sie neigte sich und küsste Marela auf die Stirn. »Lebe wohl, liebste Lehrerin und Freundin. Ich habe dir so viel zu verdanken, und ich werde dich nie vergessen. Ich hoffe, mein Vater wird nicht zu zornig auf dich sein.«

»Er wird dich suchen«, versuchte die alte Frau es ein letztes Mal mit Vernunft.

»Nein, das glaube ich nicht. Er wird mich gänzlich aus seinem Herzen reißen, weil ich durch meine Flucht Schande über ihn bringe, und mich aus der Chronik verbannen.« Derata zwang Marela, ihr in die Augen zu sehen. »Um eines bitte ich dich: Er darf nie erfahren, dass ich ein Kind erwartet habe. Was er nicht weiß, kann er Ruorim nicht weitergeben.«

»Ich verspreche es, auch wenn es falsch ist«, sagte Marela verzweifelt. »Weil ich hoffe, dass du von selbst zur Vernunft kommen wirst, Derata! Ich werde meine weitere Zeit damit verbringen, nach einem Ausweg zu suchen, um deinen Sohn zu retten, und alles für eine Beschwörung vorbereiten. Mag ich auch Jahre auf dich warten müssen, das spielt keine Rolle. Ich hoffe darauf, dass du zurückkehren wirst, wenn du nachgedacht und Abstand gewonnen hast. Aber nun geh, da ich dich nicht zurückhalten kann, bevor der Sturm draußen schlimmer wird. Lauscher ist schon in den Ställen und hat dein Pferd vorbereitet.«

Deratas Herz war schwer, als sie die Stufen hinabstieg. Immer wieder war sie versucht, ihrem Vater wenigstens eine Nachricht zu hinterlassen. Doch sie musste jetzt kühl und überlegt handeln.

Draußen brauste der Sturm um Drakenhort, passend zu dieser schweren Stunde. Sie sah es allerdings auch als gutes Zeichen, denn das Wetter war tatsächlich auf ihrer Seite, es würde sofort ihre Spuren verwischen.  Die Wächter auf den Zinnen würden es schwer haben, mit ihren Blicken den Regenvorhang in der Dunkelheit zu durchdringen und einen einzelnen Reiter auszumachen.

In der Burg war alles still, niemand unterwegs in den Gängen. Wer noch wach war, hielt sich in der Thronhalle auf, am wärmenden Feuer. Vor dem Morgen würde es niemandem auffallen, dass Derata fort war. Bei diesem Sturm würde niemand damit rechnen, dass ein Mensch so verrückt war, die schützenden Mauern zu verlassen.

Lauscher wartete bereits mit Goldpfeil am Zügel. Derata hatte den Fuchshengst, dessen Fell in der Sonne wie flüssiges Gold schimmerte, vor drei Jahren selbst aufgezogen. Er folgte ihr auf dem Fuß und hatte noch nie einen anderen Reiter getragen. Er war schnell wie der Wind, wendig und ausdauernd. Und er fürchtete nichts. Von jetzt an würde er ihr einziger Freund sein. Ein kleiner Trost in dieser traurigen Stunde.

»Danke, Lauscher«, sagte Derata zu dem stummen Mann. Er stieß keuchende Geräusche aus, und die Tränen kullerten über seine runden Wangen. Er streckte seine große, schwielige Hand aus und streichelte unbeholfen Deratas Wange.

Sie hatte jetzt selbst einen dicken Kloß in der Kehle, deshalb beeilte sie sich. Sie schwang sich in den Sattel und lenkte Goldpfeil in einen engen Gang. Von dort aus führte eine schmale Seitentür über eine kleine Zugbrücke auf einen Felsweg, der steil und schwierig war. Nur wenige wussten noch von diesem uralten Pfad, doch Derata war ihn schon öfter mit dem trittsicheren Goldpfeil geritten, wenn sie einen kurzen, heimlichen Ausflug ins Land unternehmen wollte. Am Haupttor unten am Fuß des Berges standen Wachen, die ein unbemerktes Vorbeikommen vereitelten.

»Wenn ich drüben bin, zieh die Brücke sofort wieder hoch und gehe dann gleich zu deiner Mutter«, sagte sie zu Lauscher, der ihr watschelnd folgte. »Lass dich nicht erwischen, hörst du? Ich möchte nicht, dass Vater dich dafür auspeitscht, nur weil du mir gehorcht hast.«

Lauscher brummte unverständlich, zwängte sich an dem Pferd vorbei und entriegelte die Tür. Sie war gerade breit und hoch genug für das Pferd; Derata musste sich tief in den Sattel beugen. Goldpfeil schnaubte und prustete, als der Wind von draußen hereinpfiff. Er tänzelte, aber Derata flüsterte ihm beruhigend ins Ohr und trieb ihn an. Auf seine Herrin vertrauend wagte sich der Hengst in das Unwetter hinaus, das ihnen mit voller Wucht ins Gesicht schlug, kaum dass sie die schützenden Mauern hinter sich ließen. Derata konnte fast nicht die Hand vor Augen sehen, doch sie kannte den Weg gut genug. Als sie das hohle Geräusch der Hufe auf den Brückenbohlen hörte, drehte sie sich noch einmal um.

Hinter sich sah Derata einen länglichen hellen Fleck in schwarzer Regennacht, mit dem zerbrechlichen Umriss eines Menschen darin, der zaghaft winkte. Sie winkte zurück und hoffte, dass Lauscher in seinem Kummer nicht vergaß, die Brücke wieder hochzuziehen, sobald das Pferd den tiefen Abgrund überwunden hatte.

Dann richtete sie den Blick nach vorn.

1.

Guldenmarkt

Der Frühling stand vor der Tür. Von den Dächern tropfte überall geschmolzener Schnee, die Fuhrwerke versanken im angetauten Matsch, und die Kinder hatten ihre helle Freude daran. Sie jagten sich über Hof und Platz, über morastige Wegbefestigungen, umgestürzte Karren, hangelten sich an zerschlissenen Seilverbindungen entlang, sprangen über Balkone und versuchten ihr Glück im Balancieren auf rutschigen Wehrgängen. Ihr Gelächter schallte bis in die oberen Stockwerke der Veste, wo Goren neben einem Balkon auf dem Mauervorsprung kauerte. Eine Weile sah er dem fröhlichen Treiben unten nur zu, dann konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Er kletterte wieselflink die Mauer hinab, seine kleinen Füße fanden mühelos in Ritzen und vorstehenden Steinkanten Halt. Seine geschickten Finger ertasteten den sichersten Weg nach unten, klammerten sich auch an tropfendem, eiskaltem Gestein fest. Sicher kam er unten an, gesellte sich zu den anderen Kindern und beteiligte sich an der Jagd.

Doch die Kinder brachen das Spiel schnell ab, als sie den Störenfried in ihrer Mitte bemerkten.

»Was soll das denn?«, rief Zachury, der Anführer der Bande, ein sommersprossiger, bereits zehn Jahre alter Junge. »Warum mischst du dich ein, Goren?«

Der dunkelhaarige Junge blieb stehen und sah sich auf einmal von den anderen Kindern umringt, die ihn mit nicht gerade freundlichen Gesichtern musterten.

»Weiß nich’«, sagte er. »Wollte halt mitspielen.«

»Wolldä mitspiieln«, äffte ihn Helim nach, ein rothaariges kleines Mädchen, und schnitt eine Grimasse. Die Anderen lachten.

Goren hob die Schultern. »Ich tu doch gar nix!«

»Wir wollen dich aber nicht haben!« Zachury und stapfte breitbeinig auf Goren zu. »Wann kapierst du das endlich, Holzkopf? Du bist keiner von uns.«

»Bin ich doch!«

»Biste nicht!«

»Aber ich bin von hier!«, beharrte Goren.

»Du gehörst trotzdem nicht zu uns, Langnase!«, fauchte Zachury und schubste Goren mit beiden Händen vor die Brust. »Und jetzt hau ab!«

»Ich kann gehen, wohin ich will!«, maulte Goren und rieb sich die Brust. »Guldenmarkt ist ´ne freie Stadt, und euch gehört der Platz hier nich’!«

»Hast du vergessen, dass Darwin Silberhaar mein Oheim ist?«, versetzte Zachury großspurig. »Er ist der Statthalter, Herr der Veste. Du hast überhaupt nichts zu melden, Goren Vaterlos, du bist ein Habnix und tust das, was dir befohlen wird!«