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Joseph Knox

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Beschreibung

Drogen-Sumpf, Bandenkrieg und Polizei-Korruption in Manchester. Das spannende Thriller-Debüt von Joseph Knox – »Ein Kraftpaket von einem Thriller.« (Val McDermid) Der erste Fall für Detective Aidan Waits in Manchester. Isabelle Rossiter, die Tochter eines einflussreichen Politikers, ist von zu Hause ausgerissen. Detective Aidan Waits, bei seinen Vorgesetzten in Ungnade gefallen, soll sie wiederfinden. Seine Suche auf den nächtlichen Straßen Manchesters führt ihn in einen Sumpf von Drogen und Gewalt: Offenbar setzt ein mächtiger Dealer minderjährige Mädchen, sogenannte »Sirenen«, als Drogen-Kuriere ein, und nicht nur eine von ihnen ist verschwunden. Aidan Waits dämmert, dass Isabelle mit voller Absicht untergetaucht ist, um ihr Leben zu retten. Und auch sein eigenes hängt am seidenen Faden. Ein zwielichtiges Spiel in den Grauzonen des Gesetzes beginnt. Aidan Waits muss aufs Ganze gehen, um die Wahrheit herauszufinden, und stößt dabei auf ein Geflecht dunkler Machenschaften … »Knox zeichnet Manchester so ausdrucksstark und kompromisslos wie Ian Rankin sein Edinburgh.« Guardian

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Seitenzahl: 454

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Joseph Knox

Dreckiger Schnee

Thriller

Aus dem Englischen von Andrea O’Brien

Knaur e-books

Über dieses Buch

Isabelle Rossiter, die Tochter eines einflussreichen Politikers, ist von zu Hause ausgerissen. Detective Aidan Watts, bei seinen Vorgesetzten in Ungnade gefallen, soll sie wiederfinden. Seine Suche auf den nächtlichen Straßen Manchesters führt ihn in einen Sumpf von Drogen und Gewalt: Offenbar setzt ein mächtiger Dealer minderjährige Mädchen als Kuriere ein, und nicht nur eine von ihnen ist verschwunden. Aidan dämmert, dass Isabelle mit voller Absicht untergetaucht ist, um ihr Leben zu retten. Und auch sein eigenes hängt am seidenen Faden …

Inhaltsübersicht

MottoPrologTeil I – Unknown PleasuresKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Teil II – SubstanceKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Teil III – CloserKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Teil IV – StillKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Teil V – ControlKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Teil VI – PermanentKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3
[home]

 

 

 

 

The past is now part of my future, the present is well out of hand

Joy Division, Heart and Soul

[home]

 

 

 

 

Danach landete ich wieder beim Nachtdienst. Bei Tageslicht war mir offenbar nicht mehr zu trauen. Also nahm ich um vier Uhr morgens Anrufe entgegen, stand auf menschenleeren Rolltreppen und schaltete mein Hirn auf Durchzug. Darin war ich richtig gut. So kam es, dass mich einige Monate später der Anblick der Atemwolke vor meinem Gesicht überraschte. Schon wieder November.

»Bei dem Scheißwetter geh ich nicht raus«, verkündete Sutty und rutschte tiefer in den Sitz. In den letzten Tagen hatte sich Hagel mit Schneeregen abgewechselt. Heute goss es in Strömen, glitzernde Regenfluten wuschen die Straßen sauber. Das hatten sie auch bitter nötig. Mein Kollege reichte mir die Zeitung, damit ich sie mir beim Aussteigen zum Schutz über den Kopf halten konnte.

Der Geschäftsführer eines Gebrauchtwarenladens für wohltätige Zwecke hatte uns gerufen. Sein Mund bewegte sich. Anscheinend wollte er, dass wir die Obdachlosen vertrieben, die im Eingang vor dem Laden ihr Nachtquartier bezogen hatten. Das schien mir irgendwie unlogisch, was möglicherweise daran lag, dass ich ihm nicht richtig zuhörte. Seine Nasenhaare, rabenschwarz und verklebt, erinnerten mich an Hitlers Bärtchen. Mit Blick auf das schlafende Pärchen vor der Tür wies ich den Geschäftsführer darauf hin, dass er wegen solcher Lappalien gefälligst nicht die Polizei belästigen sollte, und trottete durch den Regen zurück zur Streife.

Zur Strafe für seine Weigerung auszusteigen drückte ich Sutty die klatschnasse Gazette in die Hand, was mir einen bösen Blick einbrachte.

»Hast du das gesehen?«, fragte er und zeigte auf eine triefend herabhängende Seite. »So will niemand vor die Hunde gehen.«

Obwohl das Foto und der Artikel vom Regen verwaschen waren, erkannte ich sie. Eine der drei jungen Frauen, mit denen ich im vergangenen Jahr zu tun gehabt hatte. Dreiundzwanzig Jahre alt, behauptete der Vorspann. Zweiundzwanzig, als ich sie kannte. Ich blickte aus dem Fenster auf den November, der mal wieder Einzug hielt. Sie war die Letzte von ihnen. Mit einem Räuspern lehnte Sutty sich zu mir rüber.

»Mal ehrlich«, sagte er im Totengräberton. »Was ist da eigentlich los gewesen?«

Ich hielt seinem Blick stand. »Da fragst du den Falschen.«

Ich wusste nur, wie alles begonnen hatte. Vor einem Jahr, als mich die drei Schläge trafen und es so viele Gründe gegeben hatte, mich in die Sache reinziehen zu lassen. Nicht erklären konnte ich ihm die drei Frauen, fast noch Mädchen, die kurz in mein Leben getreten und es für kurze Zeit verändert hatten. Er würde es nicht verstehen, ihr Lachen, ihre Empörung, ihre Geheimnisse. Den Rest der Nacht beobachtete ich die Menschen auf der Straße, die Mädchen und Frauen, und bildete mir ein, das Leben zu sehen, das sie nicht mehr führen konnten.

In den frühen Morgenstunden kehrte ich heim, schenkte mir was zu trinken ein und ließ mich aufs Sofa fallen. Ich drehte so lange am Radio herum, bis es sich nicht länger aufschieben ließ. Nachdem ich den Artikel noch einmal durchgelesen hatte, dachte ich zum ersten Mal seit Monaten ernsthaft darüber nach.

»Du machst mich fertig«, hatte sie gesagt.

Was ist da eigentlich los gewesen?

[home]

Teil I

Unknown Pleasures

Kapitel 1

Bei meinem Anblick wechselte das junge Pärchen die Straßenseite. Bei irgendwem klirrten Münzen in der Hosentasche.

Mit dem Gesicht im Rinnstein sieht man vertraute Straßen mit neuen Augen, und es dauerte eine Weile, bis ich wusste, wo ich lag. Der Gehweg war schockgefrostet. Tief hängender Nebel verschleierte die Sicht und veränderte alles, was er berührte. Ein Freitagabend wie jeder andere, doch die Stadt wirkte verwischt und glanzlos.

Als ich auf die Uhr sehen wollte, stellte ich fest, dass mein linker Arm taub war. Das Glas war zerbrochen. Angenommen, sie war bei meinem Sturz stehen geblieben und ich hatte nur ein paar Minuten hier gelegen, bliebe mir also noch über eine Stunde. Ich könnte mich locker umziehen und früh genug in der Bar auftauchen, um die Übergabe mitzukriegen. Mühsam zog ich mich an einer Mauer hoch. Mein Gesicht schmerzte, mein Hirn schwappte völlig losgelöst in meinem Schädel herum und löschte dabei wichtige Dinge wie PIN-Nummern und die Namen meiner früheren Schulfreunde.

Das Paar verschwand im Nebel. Trotz sozialer Medien, Überwachungskameras und staatlicher Kontrolle ist es in unserer Welt immer noch möglich abzutauchen, wenn man es darauf anlegt. Auch, wenn nicht. Vor ungefähr einem Monat war die Geschichte durchgesickert.

Vor einem Monat war ich verschwunden.

Ich betastete meinen Hinterkopf, wo mir jemand einen Schlag versetzt hatte. Richtig heftig. Die Geldbörse steckte noch in meiner Hosentasche, also hatte man mich nicht ausgeraubt. Es war eine Warnung gewesen. Obwohl die Straße menschenleer war, fühlte ich mich von tausend Augen beobachtet.

Plötzlich geriet alles so stark ins Wanken, dass ich mich an einer Straßenlaterne festhalten musste. Mit geschlossenen Augen ging ich weiter, ohne einen Gedanken an die Hindernisse zu verschwenden, die mir im Weg stehen könnten.

Als ich um die Ecke bog, stand ich auf einmal in der Back Piccadilly mit ihren müden Ziegelfassaden und den außen verlaufenden Feuertreppen, die sich zu beiden Seiten der schmalen Straße aufrichteten wie in einem klaustrophobischen Albtraum. Nostalgie trieb mich durch diese Straßen, in deren Pfützen sich das Mondlicht spiegelte. Am Ende gab es ein Café, das die ganze Nacht geöffnet hatte. In meinem früheren Leben hatte ich dort viel Zeit verbracht. Doch das war schon Jahre her, und die Stadt hatte sich sehr verändert. Heute würde ich dort sicher keine bekannten Gesichter treffen.

Ich war schon ein paar Schritte gegangen, als hinter mir ein Motor aufbrüllte, nur um kurz darauf in ein sonores Brummen zu verfallen. In der schmalen Gasse wurde es hell, ein verzerrter Schatten fiel vor mir auf den Boden.

Dürrer, als ich ihn in Erinnerung hatte.

Über die Schulter hinweg blickte ich direkt ins grelle Scheinwerferlicht. Der Wagen lauerte an der Straßenmündung. Hier gibt’s nix zu sehen. Ich wandte mich ab und ging weiter. Auf halbem Weg bewegte sich der Lichtstrahl zitternd vorwärts. Sie folgten mir.

Der Motor heulte auf, der Wagen war dicht hinter mir, nur ein paar Schritte. Da wurde mir klar, dass ich nie ganz verschwunden war. Ich spürte förmlich, wie sich die Scheinwerfer in meinen Rücken brannten, aber ich wollte mich nicht umdrehen. Wollte nicht wissen, wer am Steuer saß.

Also quetschte ich mich in einen Eingang, um den Wagen vorbeizulassen. Dort verharrte ich eine Weile. Im grellen Licht erkannte ich einen BMW, schwarz glänzend, chromverziert. Die Nacht füllte meine Lunge, in meinen Adern sang das Blut. Das Fenster fuhr herunter, doch ich erkannte kein Gesicht.

»Detective Constable Waits?«, fragte ein Mann.

»Wer will das wissen?«

Auf dem Beifahrersitz lachte eine Frau.

»Wir stellen hier die Fragen, Kumpel. Steig ein.«

Kapitel 2

Der Regen prasselte aufs Dach und zog Grimassen auf der Windschutzscheibe. Meine Venen fühlten sich abgenutzt an, völlig ausgeleiert. Um mich bei Laune zu halten, ballte ich die Hand zur Faust und dachte an das Speed in meiner Manteltasche.

»Also stimmen die Gerüchte?«, fragte der Fahrer, als hätte er meine Gedanken gelesen. Ende vierzig, breite Schultern, die er bei jeder Gelegenheit kreisen ließ wie ein Mittelgewicht. Er trug eine anthrazitfarbene, maßgeschneiderte Anzugjacke, die nahezu perfekt zu seinem Haar passte. Wenn er in den Rückspiegel blickte, tat er dies lässig, als wäre ich gar nicht da. Die Frau hatte ihr straßenköterblondes Haar zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammengebunden.

Ich schwieg.

Hockte frierend in nassen Klamotten auf dem Rücksitz und biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Außer dem stumm geschalteten Polizeifunkempfänger kam alles an dieser Karosse direkt aus dem Autohaus. Es roch nach Designerparfüm mit Vanillenote, aber die Marke war mir unbekannt. Sie passte allerdings weder zum Fahrer noch zur Beifahrerin, denn es duftete nach Reichtum, nach Jugend.

Wir entfernten uns rasch von dort, wo ich gerade noch gestanden hatte. Weg vom Nachtleben, dem grellen Licht. Vorbei an leerstehenden Läden, den nach und nach verschwindenden Geschäften. Den riesigen, leeren Gebäuden. Der sterbenden Einkaufsstraße.

»Was will er?«, fragte ich.

Der Mann sah mich im Rückspiegel an. »Hab ihn nicht gefragt.«

Wir bogen auf die Deansgate ab, diese über einen Kilometer lange Querachse durch Manchester, an der man alles fand, vom exklusiven Gourmettempel bis zur Suppenküche für Obdachlose.

»Wo ist er?«

»Beetham Tower.«

Ich glaube, da habe ich geflucht.

»Schon mal da gewesen, hm?«, fragte die Frau.

Beetham Tower, das höchste Gebäude außerhalb Londons, war einer von mehreren für die Stadt geplanten Wolkenkratzern. Die Türme sollten, einer größer als der andere, wie eine riesige nach oben verlaufende Kurve aus stumpfem Metall immer weiter in die Höhe wachsen. Die Bauunternehmer hatten sich riesige Summen aus dem Verkauf kleiner, überteuerter Einzimmerapartments an Singles erhofft, an denen im Gegensatz zu anderen Dingen in dieser Stadt kein Mangel herrschte. Aber sie hatten ein Wolkenkuckucksheim gebaut. Die Wirtschaftskrise sorgte dafür, dass die Besitzer, die Investoren und die Bauunternehmen alles verloren. Die Suizidrate unter Männern stieg ein wenig an, aber ansonsten ging alles weiter wie vorher.

Mittlerweile dienten die meisten dieser baufälligen Wohntürme als Quelle für wiederverwertbare Baumaterialien. Die anderen verfielen weiter, auf den nackten Fundamenten sammelte sich Regenwasser, Metallstreben rosteten darin vor sich hin wie schwärende Wunden.

Während der dreijährigen Bauphase hatte es Zeiten gegeben, als man nicht wusste, ob Beetham Tower je fertig würde. Doch das Gebäude wurde hochgezogen, allen Widrigkeiten zum Trotz, und jetzt ragte es wie ein Stinkefinger in den Himmel über der Stadt.

Wir verließen Deansgate und fuhren auf den hochhauseigenen Parkplatz. Ein strahlender Angestellter des Parkdienstes, der in seiner Uniform aussah wie Frank Sinatra, linste durchs Seitenfenster. Doch als er den Fahrer erkannte, erstarb sein Lächeln, und er winkte uns nach unten zur Tiefgarage durch.

Kapitel 3

Beetham Tower beherbergt ein Hilton Hotel, Apartments und ganz oben einige wenige exklusive Penthouse-Suiten.

Obwohl der Bau selbst stromlinienförmig gestaltet war, hatte man den vierstöckigen Annex im unteren Teil sehr viel breiter gebaut, um dort den Ballsaal, das Schwimmbad und die feist grinsenden Söhne und Töchter der oberen zwei Prozent unterzubringen. Die Wände der Lobby mit dazugehöriger Bar waren fast ausschließlich aus Spiegelglas, sodass jeder, der nach draußen schauen wollte, mit dem Anblick des eigenen Konterfeis belohnt wurde.

Ich war schon mal hier gewesen.

Letztes Jahr hatte ich Beetham Tower das erste Mal besucht, nach dem Tod einer jungen Frau, die aus einem Fenster im neunzehnten Stock gestürzt war. Dasa Ruzicka war eine minderjährige Prostituierte aus Tschechien gewesen. Ihr Vater hatte sie mit vierzehn Jahren an einen Menschenhändler aus der Gegend verschachert, und man hatte sie quer durch Europa bis hierher gebracht. Es war ein Leichtes, Mädchen wie sie aus ihren Dörfern zu entführen, weil sie so oft verschwanden. Bei so vielen Vermissten ging das Einzelschicksal glatt unter. Doch es gab noch einen anderen, viel elementareren Grund für ihre Entführung.

Dasa war eine echte Schönheit gewesen, keine von diesen abgemagerten Mädchen, wie man sie heutzutage an jeder Straßenecke zu sehen bekam. Sie gab dem Wort wieder eine Bedeutung. Ihr klarer Teint war perfekt für die Sexarbeit, denn er wirkte trotz der traurigen Schmuddeligkeit dieser Existenz stets rein und unberührt. Frauen und Mädchen waren zum Ficken da und zum Verprügeln, so lautete die frustrierende Bilanz meiner Arbeit. Oder man warf sie einfach aus dem Fenster. Anmut als unkalkulierbares Risiko. Was sagte das über uns aus?

Dasa hatte sich garantiert nicht selbst mit solcher Wucht aus dem Fenster gestürzt. Doch im Hotelzimmer hatte niemand gewohnt. Ich hatte Gäste und Personal stundenlang festgehalten und jeden verhört, der mit seiner Schlüsselkarte Zugang zur betreffenden Etage gehabt hatte. Nachdem sich aber mehrere Geldleute beschwert hatten, schickte man einen Detective Inspector zu meiner Ablösung. Ich zeigte ihm das leere Zimmer im neunzehnten Stock und versuchte, ihm die Situation klarzumachen.

Weil er offenbar nichts davon wissen wollte, trat ich den Rückzug an, den Blick jedoch fest aufs Fenster und die darunterliegende Stadt gerichtet. Als der Mann kapierte, was ich vorhatte, brüllte er, ich solle stehen bleiben. Aber ich lief weiter, allein schon, um seinen Gesichtsausdruck zu sehen, wenn ich mit Karacho gegen die Scheibe bretterte. Leider stellte er sich mir in den Weg.

Das war der zweite von drei Schlägen gegen mich gewesen, die mir schließlich eine Schlagzeile in der Zeitung bescherten. Und meinen Ruf zerstörten. So komplett, dass ich den einzigen Job annahm, der mir noch blieb.

Dasas Tod wurde zum Selbstmord erklärt.

Beetham Tower hatte ich seitdem nie mehr betreten.

Kapitel 4

Detective Sergeant Conway«, sagte die Polizistin und streckte mir die Hand entgegen.

Ihr Kollege sprach mit der Empfangsdame, während ich in der Lobby wartete. Für einen, der vermutlich beim Special Branch arbeitete, verhielt er sich ein bisschen zu ungezwungen. Eine laut lachende Gruppe Männer im Smoking kam durch die eindrucksvolle Drehtür. Sie tanzten unter einem Kronleuchter vom Ausmaß eines Familienwagens. Während ich DS Conway ansah, wünschte ich innerlich, er möge auf die Typen herabsausen.

Sie machte eine Kopfbewegung zu ihrem Partner. »Was hat er gegen Sie?«, fragte sie. Doch als der Mann sich vom Empfang abwandte und zu uns zurückkehrte, straffte sie die Schultern und tat, als wäre nichts gewesen.

 

Der Aufzug zu den Penthouse-Suiten brauchte ewig. Sie befanden sich in einem Bereich des Towers, den ich noch nie betreten hatte. Der Mann benutzte eine Schlüsselkarte, die uns Zugang zu den höheren Sphären verschaffte. Aus dem Lautsprecher schallte eine Billigversion von »My Heart Will Go On«, verklang und begann von vorn. Wie alles in diesem Gebäude war auch der Lift mit Spiegeln und hochglänzendem Chrom ausgekleidet.

Ich betrachtete meine Schuhe.

Im fünfundvierzigsten Stock hielt der Lift und öffnete seine Türen mit einem prahlerischen Zischlaut. Die automatisierte Oberlehrerinnenstimme hatte ihren Satz noch nicht beendet, als der Mann mich am Arm packte und auf den Flur zerrte.

Wir marschierten über einen langen, geschmackvoll minimalistisch gestalteten Korridor. Detective Sergeant Conway ließen wir zurück. Nachdem wir die beiden einzigen Apartments auf diesem Stockwerk passiert hatten, kamen wir an eine kahle, schwarze Eingangstür. Der Mann zog seine Karte durch das Lesegerät und schob mich in die Lounge eines geräumigen, anonymen Domizils.

Die Medien hatten damals ausführlich über die Penthouse-Suiten berichtet. Nur für Superreiche. Die Suite selbst war ihren Preis nicht wert, aber darum ging es auch gar nicht. Man bezahlte für das Privileg, fünfhundert Meter über der Erde zu wohnen. Eine einzigartige Gelegenheit, sich über Millionen zu erheben oder sie zu sich aufblicken zu lassen, wenn die Eitelkeit groß genug war.

In der Lounge war es dunkel, die City zu ihren Füßen inszenierte die Beleuchtung. Drei der vier Wände bestanden aus riesigen Fenstern, die einen spektakulären Panoramablick auf die Stadt boten.

»Nehmen Sie Platz«, sagte der Mann in Anthrazit. Ich blieb stehen. »Wie Sie wollen. Er ist gleich bei Ihnen.« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand in Richtung Ausgang. Die Tür öffnete er gerade weit genug, dass er durchpasste, dann schloss er sie leise hinter sich.

Diskretion.

Kaum war sie ins Schloss gefallen, folgte ich ihm und presste mein Auge gegen den Spion. Da der Korridor menschenleer war, fragte ich mich, wie er so schnell hatte verschwinden können. Kurz überlegte ich sogar, ob er in die Hocke gegangen war, damit ich ihn nicht sehen konnte, verwarf den Gedanken aber rasch als absurd.

»Wir sind allein, Waits, falls Sie sich deswegen sorgen.«

Ich fuhr herum. Die Stimme gehörte zu einem Mann, der sich als dunkler Umriss gegen die leuchtende Stadt abzeichnete.

»Wer hat Ihnen denn die Beule verpasst?«, fragte er mit unverwechselbarem Oxbridge-Akzent.

Ich betastete meine Stirn. »Zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen.«

»Und ich dachte schon, Detective Kernick hätte was gegen Sie.«

»Ja, er wirkte ziemlich enttäuscht, dass ihm jemand zuvorgekommen ist.«

»Schien mir auch so.« Der Mann trat ins trübe Licht und grinste. »Ich sollte mich vorstellen. David Rossiter, MP.«

Ich trat auf ihn zu. Er war groß und respekteinflößend. Mitte vierzig, maßgeschneiderter Anzug, verbindlich wie ein guter Politiker. Mit dem festen Griff eines Mannes, der täglich mit Menschen zu tun hatte, umschloss er meine Finger mit beiden Händen. Seine Haut war warm, doch sein Ehering fühlte sich kalt an.

»Nehmen Sie Platz«, sagte er. Also setzte ich mich hin, und nach kurzem Zögern tat er es mir gleich. »Interessant.«

»Was meinen Sie, Mr Rossiter?«

»Ich habe auf den Platz zu meiner Linken gezeigt, aber Sie haben den rechten gewählt – bitte nennen Sie mich David.« Als ich mir ein Lächeln abrang, verspürte ich einen dumpfen Schmerz zwischen den Augen. »Sie fragen sich vermutlich, warum ich Sie hergebeten habe, Aidan.«

»Waits«, sagte ich. »Vermutlich nicht aus privatem Anlass.«

»Gut, dann eben Waits. Interessieren Sie sich für Politik?«

»Nur, wenn’s sein muss.«

Er lächelte erneut. Dabei sah er mir genau in die Augen und vermittelte mir das Gefühl, ich hätte ihn auf besonders kluge Weise amüsiert. Ich hatte ihn auf Titelseiten gesehen, wo er Kriegsverbrechern mit derselben Miene die Hand schüttelte.

»Ich bilde mir gar nicht ein, dass Sie mich erkennen.«

»Sie sind David Rossiter, MP.«

»Und was wissen Sie über meine Karriere?«, sagte er mit besonderer Sorgfalt für das letzte Wort.

»Was in den Zeitungen steht.«

»Sie sollten nicht alles glauben, was Sie dort lesen, Detective Aidan Waits, wenn es von jemandem heißt, er sei korrupt.«

Ich ignorierte seinen Seitenhieb. »Ihr Vater hatte einen Sitz im Parlament und für den Rest seines Lebens ausgesorgt. Doch Sie waren idealistischer. Als Ihr Bruder sich in die Politik stürzte, zockten Sie noch als Anwalt die Leute ab. Sie haben jung geheiratet, und der Plan ging auf. Aber wahrscheinlich ist es für einen Mann kein Problem, sich mit einer Wodkaerbin zu verstehen.«

Wieder dieses Lächeln.

»Sie sind zu einem seltsamen Zeitpunkt in die Politik eingestiegen. Die Torys waren schon vier Jahre nicht mehr an der Macht gewesen, und das ging auch die nächsten vier Jahre nach Ihrem Eintritt so weiter. Doch Sie haben die alten Haudegen wieder salonfähig gemacht. Haben sich einen Dreck um das Parteiprogramm geschert und sich für die Homoehe, Frauenrecht und so was ausgesprochen. Sogar für die Einwanderung. Progressiv genug, um ins Kabinett zu kommen. Niemand war überrascht, als man Sie zum Justizminister ernannte, wo Sie doch ohnehin Jurist waren. Wahrscheinlich ist es auch nicht schlecht, dass Sie treuer Ehemann und Vater von zwei hübschen Töchtern sind.«

»Sie sollten meine Biografie schreiben«, sagte er, senkte aber beim Anblick meiner zitternden Hände die Stimme. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, erhob er sich, trat an die Bar und schenkte uns zwei große Gläser Cognac ein.

»Danke«, sagte ich.

»Und wohin tendieren Sie politisch?«, fragte er und ließ sich wieder in den Sessel sinken.

»Ich schwanke noch irgendwo dazwischen.«

»Also unentschieden?«

»Politik erscheint mir zu vage für die Probleme, mit denen ich es täglich zu tun habe.«

Er trank einen Schluck, ließ den Cognac kurz im Mund, bevor er ihn herunterschluckte. »Die Welt retten, aber einen Menschen nach dem anderen?« Ich nickte. »Da ist vielleicht sogar was dran.« Er rutschte in seinem Sessel herum. »Wenn ich Ihnen also von einem Menschen erzähle, der dringend der Rettung bedarf?«

»Würde ich Ihnen antworten, dass es dafür Bessere gibt als mich.«

»Dass ich den Medien nicht glaube, hatte ich schon erwähnt, oder?«

Ich trank einen Schluck. »In dem Fall würde ich mein Bestes geben. Aber das ist auch nicht mehr, als Detective Anthrazit unten in der Lobby tun würde. Wahrscheinlich sogar weniger.«

Die Antwort schien ihm zu gefallen.

»Wenn ich ehrlich bin, Waits, sind Sie der Einzige, der mir helfen kann. Sagt Ihnen der Name Zain Carver was?«

Ich schwieg.

»Heute Morgen«, fuhr er fort, »habe ich mit Ihrem Vorgesetzten geredet. Parrs heißt er, ein ganz famoser Bursche.«

»Wieso erfahre ich das erst jetzt?«

»Weil Sie abgetaucht sind. Detective Kernick hat ein paar Stunden damit verbracht, Sie aufzustöbern.«

»Na, wie gut, dass er so diskret vorgegangen ist. Sein BMW war die perfekte Tarnung.«

»Tut mir leid. Die Leute vom Special Branch haben sich zu sehr daran gewöhnt, bei den Reichen nicht aufzufallen.«

»Wie praktisch, dass ich bei den Armen nicht auffalle.«

»Deswegen sind Sie ja hier.«

»Bevor ich mit Ihnen über Carver rede, muss ich bei Superintendent Parrs um Erlaubnis bitten.«

Rossiter überlegte kurz, dann zückte er sein Handy und hielt es mir hin.

»Mir wäre es lieber, wenn Sie ihn anrufen.«

Er grinste, wählte die Nummer aus seiner Liste und wartete. Parrs war sofort dran, wie immer.

»Hab Ihren Burschen Waits hier sitzen«, sagte Rossiter. »Passt wie Faust aufs Auge. Sehr authentisch. Trinkt sogar im Dienst. Redet aber erst mit mir, wenn Sie’s ihm erlauben.« Wieder hielt er mir das Handy hin. Diesmal nahm ich es.

»Sir.«

»Waits«, knurrte Parrs mit seinem schottischen Akzent. »Sie stehen dem Minister in vollem Umfang zur Verfügung. Wir unterhalten uns morgen.« Damit war das Gespräch beendet. Ich gab Rossiter sein Telefon zurück.

»Zain Carver«, sagte er.

»Drogendealer.«

»Und was hat er mit Ihnen zu tun?«, fragte Rossiter.

»Ein schwaches Glied in der Kette, wenn ich Glück habe.«

»Sie sollen sich an ihn ranwanzen?«

»Ich hab das Gefühl, meine Aufgabe ändert sich gerade.«

Rossiter schwieg.

»Falls Carver Erfolg haben sollte, liegt das daran, dass er ein Sonderling ist. Ein Geschäftsmann unter Hooligans. Ich soll ausloten, inwieweit wir das ausnutzen können.«

»Inwiefern ausnutzen?«

»Auf dreierlei Art. Wenn wir genug Druck ausüben, plaudert er vielleicht mit uns über die anderen Drogendealer. Er ist weder der Größte noch der Beste, aber auf diese Weise kann er jemandem weiter oben so richtig in die Parade fahren. Alternativ könnte er uns vielleicht verraten, welche Polizisten sich von ihm bestechen lassen. Am interessantesten wäre es, wenn er sich nur als Strohmann herausstellen würde.«

»Strohmann? Für wen?«

»Es könnte ein Dutzend Leute über ihm geben, von denen wir noch nie gehört haben.«

»Sie machen mich neugierig. Was springt für Sie dabei raus? Jetzt, wo man Ihren Namen schon durch den Dreck gezogen hat …«

»Mein Name stand noch nie für viel. Wieso bin ich hier, Mr Rossiter?«

Als er trank, klirrten seine Zähne gegen das Glas.

»Was wissen Sie über meine Tochter? Meine jüngste, Isabelle?«

»Sehr hübsch und sehr jung. Achtzehn, neunzehn?«

»Sie ist siebzehn. Und mit diesem Carver verbandelt.«

»Also minderjährig. Lassen Sie sie von einer Streife abholen.«

»Das hat Superintendent Parrs auch schon vorgeschlagen. Ich fürchte, die Sache erfordert etwas mehr Fingerspitzengefühl.« Rund um uns herum platschten fette Regentropfen auf die Fenster. Sekundenlang konnte ich jeden einzelnen erkennen, doch dann prasselten sie immer schneller herunter, bis das Zimmer in ein verschwommenes Grau gehüllt war. Ich wartete. »Ein belesener Bursche wie Sie kann sich vielleicht noch an die Zeiten erinnern, als Isabelle das letzte Mal in den Nachrichten war.«

»Sie erlitt einen Zusammenbruch«, sagte ich. »Erschöpfung.«

Rossiter bewegte keine Miene.

»Selbstmordversuch?«

Er nickte. »Isabelle leidet unter Depressionen. Die hat sie unter anderem von ihrer Mutter geerbt. Es hatte schon mehrere Versuche gegeben, aber keiner so heftig wie der letzte. Zu viel Blut, zu viel Aufregung, um die Sache aus der Presse rauszuhalten. Also haben wir sie mit Erschöpfung abgespeist.« Er starrte auf einen Punkt zu meiner Rechten, als würde er das Ganze noch einmal durchleben. »Ich bin höchstpersönlich bei den Herausgebern angetrabt und habe sie angefleht, nichts darüber zu veröffentlichen.«

»Verstehe«, sagte ich.

»Tun Sie das?«, fragte er, bevor er seinen Ton wieder im Griff hatte und die nächste Frage hinterherschickte. »Können Sie sich was Schlimmeres vorstellen als eine Tochter, die sich ein Messer in den Hals sticht?« Ich schüttelte den Kopf. »Eine Tochter, die einen dafür hasst, dass man sie gerettet hat.« Rossiter leerte sein Glas. »Sie hat mit mir gesprochen, Waits. Mir erklärt, dass sie ihre Krankheit verstehe, sich klar sei, dass es in ihrem Leben immer wieder dunkle Momente geben werde. Und dann behauptet, dass es sich in diesem Fall nicht um einen solchen gehandelt habe. Sie sei bei klarem Verstand gewesen und würde mir nie verzeihen, dass ich den Krankenwagen gerufen habe.«

»Man muss schon tief fallen, um als Tochter eines hochrangigen Politikers bei jemandem wie Zain Carver zu landen.«

»Tief gefallen ist sie ganz sicher«, erwiderte Rossiter. »Ich glaube, sie hat diese Leute durch eine Freundin kennengelernt. Soweit ich weiß, wohnt sie seit einem Monat bei ihnen in Fairview.«

»Seit einem Monat?« Rossiter antwortete nicht. Fairview. So hieß das Anwesen von Zain Carver. Ein großzügiges viktorianisches Haus mit Garten im Süden der Stadt, einer Gegend, wo viele junge Leute und Studenten lebten. Fairview war für seine Hauspartys berüchtigt, die alle aus der Szene anlockten, vom Uni-Schwarm bis zum Provinz-Promi. »Keine Ahnung, was Parrs Ihnen erzählt hat, aber ich habe die Anweisung, mich am Rande des Geschehens aufzuhalten. Ich habe Geldübergaben gesehen und mit kleineren Dealern gesoffen, aber …«

»Und das haben Sie ja bis jetzt richtig prima hinbekommen«, stichelte er. »Ab heute gelten andere Regeln. Jetzt geht’s ans Eingemachte. Machen Sie sich die Hände schmutzig. Nehmen Sie Kontakt mit den wichtigen Leuten auf.«

»Und Ihre Tochter?«

»Ich will nicht, dass die Polizei sie nach Hause bringt. Das ist mir zu riskant.«

»Mit Verlaub, Sir. Die Presse hat schon einmal auf Sie gehört, dann wird sie es auch wieder tun. Außerdem, wo ist der Skandal?«

»Skandal?«, fragte er. »Ich würde meinen Job sofort aufgeben, wenn ich sie damit wiederbekäme.« Das nahm ich ihm sogar ab, aber ich hätte es als Warnung verstehen sollen. Er redete über seine Tochter, als wäre sie bereits tot. Rossiter erlangte die Fassung wieder. »Ich will sie nicht dazu bringen, dass sie sich noch mal verletzt. Verstehen Sie?« Hätte ich sein Gesicht besser sehen können, hätte ich ihn vielleicht tatsächlich verstanden.

Weil wir aber im Dunkeln saßen, zuckte ich nur die Achseln.

»Sie sind jung. Warten Sie’s nur ab. Für Ihre Kinder würden Sie alles tun.«

»Was soll ich für Ihres tun?«

Er zögerte, als hätte er noch nicht so richtig drüber nachgedacht. »Können Sie richtig nah an sie herankommen? Nachschauen, ob es ihr gut geht?«

»Oder sie einfach fragen.«

»Es wäre mir lieber, wenn Sie nicht mit ihr in Kontakt treten würden.«

»Sie machen es mir aber nicht gerade leicht, Mr Rossiter.«

»Ich will meine Tochter nicht gegen ihren Willen nach Hause bringen. Und ganz bestimmt nicht mithilfe der Polizei.«

»Davon würde sie gar nichts mitbekommen«, erklärte ich. »Selbst die Leute vom Special Branch unten in der Lobby haben keinen Plan, was hier abgeht.« Rossiter schwieg. »Das sind üble Typen.«

»In was ist sie da reingeraten? Sex?« Das Wort kam ihm nicht leicht über die Lippen.

»Keine Ahnung, aber wohl eher nicht. Carver hält sich für einen Gentleman. Einen Geschäftsmann.«

»Das ist gut, oder?«

»Kommt drauf an, was für Geschäftsleute Sie so kennen. Ich halte es für gefährlich. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine Frau auszubeuten, besonders, wenn sie einen berühmten Namen hat. Es gibt in dieser Stadt genügend Dealer, die sie mies behandeln würden. Aber dann wäre sie schon längst wieder zu Hause und in Therapie, egal, wie sehr sie Sie hasst.«

Er bemühte sich sichtlich, nicht auf meinen Seitenhieb zu reagieren. »Aber Zain Carver?«

»Er ist anders. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit umso höher, dass er genau weiß, wer sie ist. Vermutlich macht er auf Charmeoffensive. Der Mann verkauft Eight und …«

»Eight?«

»Heroin«, erklärte ich. »H ist der achte Buchstabe im Alphabet. Ein cooler Markenname, der sich auch noch unschuldig anhört, wenn man ihn auf der Straße oder in Clubs verwendet.«

»Völlig absurd. Isabelle hat Probleme, aber sie würde nie …«

»Das würde niemand von uns. Bis wir es doch tun. Außerdem befinden wir uns in einer Studentenstadt. Carver hat mit Partydrogen gut verdient. Weiß er also, dass Isabelle Ihre Tochter ist?«

»Möglich.« Rossiter schluckte. »Obwohl sie sich meist deswegen schämt.«

»Selbst wenn. Er spielt ein gefährliches Spiel, denn er kann nicht wissen, ob Sie sie nicht wieder nach Hause holen.«

»Hm«, sagte Rossiter und spielte mit seinem Ehering herum.

»Ist sie schon mal abgehauen?«

»Ja, aber nur, um auf meine Kosten im Luxushotel zu übernachten.«

»Und haben Sie ein aktuelles Foto von ihr?«

Rossiter griff in seine Brusttasche, zog ein Bild heraus und gab es mir. Dabei hielt er schützend die Hände darüber, als handelte es sich um eine brennende Kerze, die jeden Moment verlöschen könnte. Isabelle war ein blasses, hübsches Mädchen mit stumpfem blonden Haar und intelligenten blauen Augen. Auf dem Bild starrte sie auf einen Punkt direkt über der Kamera. Auf den Fotografen, dachte ich.

»Hören Sie«, sagte er. »Die Bemerkung über Ihre Arbeit mit den Kleindealern tut mir leid. Sie stehen sicher unter enormem Druck.«

Wir schwiegen eine Weile.

»Brauchen Sie sonst noch was von mir?«

»Den Namen der Person, die Isabelle bei Carver eingeführt hat.«

»Die kenne ich nicht. Tut mir leid.«

»Die?«

»Den, die, ich weiß es nicht.«

»Vielleicht kann Ihre Frau …?«

»Alexa ist sehr krank. Ich möchte sie nicht damit belasten.«

»Verstehe. Und woher kommt Ihr plötzliches Interesse?«

Rossiter sah mich entgeistert an.

»Isabelle ist doch schon seit einem Monat nicht mehr hier.«

»Gut beobachtet«, sagte er und ließ die Kiefermuskeln spielen. »Ich verrate Ihnen jetzt mal was. Momentan kämpfe ich an zwei Fronten, Waits. Alexa hat auch Depressionen. Unsere Beziehung ist schon seit Längerem … angespannt. Leider ist Isabelle dabei irgendwie untergegangen.«

»Wie kann ich Sie erreichen?«

Er reichte mir eine kunstvoll geprägte Visitenkarte. Abwesend befingerte ich die Erhebungen und Vertiefungen.

»Unter dieser Nummer erreichen Sie mich Tag und Nacht.«

»Gut. Danke für den Cognac. Ich melde mich.«

Als ich ging, war er noch tiefer ins Sofa gerutscht, er sah abgezehrt aus, kummervoll.

Kapitel 5

Rubik’s war eine dieser höhlenartigen Bars, die im Laufe eines Abends zum Club mutierten. Als die Bar noch ehrlich war, hatte sie der Hacienda ernsthaft Konkurrenz gemacht und dem Who’s Who der Postpunk-Bands eine Bühne geboten. Doch das war schon lange vorbei. Die Bar lag an den Deansgate Locks und bot einen Blick über den Kanal, der quer durch die Stadt verlief. Zu den Öffnungszeiten war der Schankraum in rotes Licht getaucht, das keiner genauen Quelle zuzuordnen war. Diese größte Trinkhalle der Stadt bot locker Platz für mehrere tausend Gäste.

Vier Bars auf drei Etagen.

Seit drei Wochen hatte ich den Manager der größten Bar im Auge, ein kräftiger Typ mit modebewusst zur Schau gestelltem Dreitagebart, berechnend und wachsam. Besonders freitags, wenn er einem von Zain Carvers Leuten die Erlöse aus seinen Drogengeschäften übergab. Mittlerweile wusste ich, dass die Drogen an den Club geliefert und von diesem Manager an andere Bars in der Gegend weiterverteilt wurden.

Ganz geschmeidig.

Wo konnte man ein paar zugedröhnte Leute besser verstecken als in einer Horde Betrunkener? Für Zain Carver bot dieses Arrangement keinerlei Risiken, die trug nur der Manager. Sein Angebot war gut gemischt und beinhaltete Partydrogen aller Art. Jedes Produkt trug eine eigene Nummer. Koks war drei, Ecstasy fünf, Ket lief unter der Nummer elf. Die Kunden brauchten also nur die betreffende Anzahl Finger hochzuhalten und bekamen, was sie wollten, ohne den Namen der Droge ausgesprochen zu haben.

Der Schlüssel zu Zain Carvers Erfolg lag allerdings darin, dass er mehr mit einem Geschäftsmann als mit einem Straßengangster gemein hatte. Er lieferte einfach Ware aus und kassierte ein paar Tage später. Was seine doch sehr menschliche Verbindung zu Isabelle Rossiter umso ungewöhnlicher machte.

Heute war mal wieder Zahltag.

Wegen meines Treffens mit David Rossiter war ich zu spät dran und hatte die Geldübergabe verpasst, aber das war jetzt egal, denn mein Auftrag hatte sich geändert. Zeit für einen Frontalangriff.

Carvers Eintreiberin war leicht zu erkennen. In schwarzer Strumpfhose und schwarzen Stiefeletten stand sie an der Bar, wo sie wie immer einen großen Wodka pur bestellte, die pink geschminkten Lippen zu einem wattstarken Lächeln verzogen. Ihr langes kastanienbraunes Haar fiel über ihre antike Wildlederjacke, vermutlich älter als sie selbst. Sie war was Besonderes, erst Anfang zwanzig, bemühte sich allerdings darum, nicht aufzufallen.

Als ich ihr Glas umstieß, reagierte sie gelassen. Zwar riss sie kurz entnervt die Kulleraugen auf, beruhigte sich aber schnell wieder und bestellte sich, mit der unterkühlten Beherrschtheit, die vermutlich zu ihren Aufgaben gehörte, rasch einen neuen Wodka.

»Tut mir leid.«

»Kein Problem.«

»Du heißt Cath, oder?« Sie zögerte kurz, bevor sie sich zu mir umdrehte. »Wir haben uns auf einer von Zains Partys getroffen …«

»Tatsächlich.« Eine Feststellung.

»Na ja, nur kurz.«

In Wahrheit hatte ich sie ein-, zweimal mit Carver reden sehen, aber noch nie mit einem von beiden Kontakt gehabt. Die traurigen, unattraktiven Mauerblümchen hatten mir ihren Namen verraten. Sie redeten über sie, als wäre sie eine Berühmtheit. Cath, sagten sie, ist eine seiner Lieblinge. Auch sie hatte am Anfang zu den Mauerblümchen gehört und sich von den hinteren Reihen nach vorn vorgearbeitet, war vom Partygirl zur Partnerin aufgestiegen. Die anderen waren der Meinung, ihre Beharrlichkeit habe ihr zum Erfolg verholfen, und erhofften sich dasselbe, wenn sie nur eifrig genug um Aufmerksamkeit buhlten. Die Schlaueren unter ihnen kamen hoffentlich rechtzeitig darauf, dass sie auf verlorenem Posten kämpften.

Als der Manager ihr den frischen Wodka brachte, bedachte er mich mit einem bösen Blick. Eine Erinnerung blitzte auf und verschwand wieder. Irgendwo hatte ich ihn schon mal gesehen. Hatte er mich ebenfalls erkannt? Mit dem vollen Glas in der Hand wirkte Catherine jedenfalls ruhiger und lächelte mir sogar zu, und zwar so, dass es erheblich aufrichtiger aussah als das Schauspielerinnengrinsen, das sie vorher aufgesetzt hatte. Diese junge Frau beherrschte ihre Rolle perfekt und wirkte darin authentisch genug, dass man sie ihr abnahm. Sogar wenn sie von einer Sekunde auf die nächste die Maske tauschte, hielt man keine von beiden für eine Täuschung.

»Ja«, sagte sie auf einmal, »jetzt erinnere ich mich wieder …«

»Ich zahl das«, sagte ich.

»Wenn du einem Mädel das nächste Mal das Glas umwirfst, nur um sie auf einen Drink einzuladen, suchst du dir am besten eine aus, die nicht auf Kosten des Hauses säuft.«

Mit diesen Worten wandte sie sich ab.

»Sonst hättest du doch nie mit mir geredet.«

Sie fuhr herum. »Ich hätte es auf einen Versuch ankommen lassen. Das Veilchen steht dir. Sorgt dafür, dass dein Gesicht nicht verschwindet.«

»Sobald es verblasst, besorge ich mir Nachschub.«

»Soso. Sag mal …«

»Aidan.«

»Aidan.« Ihr Lächeln erlosch. »Willst du wirklich Ärger?« Ich schwieg. »Ich frag nur, damit du dich nicht unbeabsichtigt in die Scheiße reitest.« Sie sah vielsagend in Richtung Manager. Ich folgte ihrem Blick. Der Mann stand mit verschränkten Armen über der breiten Brust hinterm Tresen und beobachtete uns.

»Nee, kein Interesse.«

»Dann geb ich dir jetzt mal einen Rat.« Sie trat näher an mich heran. »Verschwinde. Spar dir das nächste Veilchen.«

»Wie du schon sagtest, ohne würde mein Gesicht verschwinden.«

Ihr Blick wanderte erneut zum Manager. »Verschwinden wäre keine schlechte Idee, Schätzchen.«

»Sorry, wollte dich nicht belästigen.«

Der Barmanager schien zufrieden und bediente eine Gruppe junger Frauen. Catherine trank einen großen Schluck und stellte das Glas auf den Tresen. Sie schob diskret eine Karte darunter.

»Ich hätte dir ja gern angeboten, mich mal auf einen Drink einzuladen …« Ihr Grinsen war breit und verzerrt, aber ich hatte den Eindruck, dass sie mich einen kurzen Augenblick hinter alle ihre Masken schauen ließ.

»Wahrscheinlich würde ich ihn nur wieder umstoßen. Gute Nacht.«

Sie marschierte mit langen, grazilen Schritten davon.

Rasch steckte ich die Karte ein und wartete noch ein bisschen, ehe ich den Club verließ, um zu meinem gemieteten Zimmer zurückzukehren. Ich warf die kaputte Armbanduhr in den Müll, tankte ein bisschen Speed und zog mich um.

Kapitel 6

Den dritten Schlag hatte ich mir selbst zuzuschreiben. Danach musste ich dankbar sein, überhaupt noch was tun zu dürfen, und sei es, Eintreibern durch die Bars zu folgen.

Wochenlang hatte ich mir Friedhofsschichten erschlichen, erbettelt, erschummelt, gegen Tagschichten eingetauscht. Es war mir eine Lust, dabei zuzusehen, wie sich die mir so bekannte Stadt zwischen neun Uhr abends und fünf Uhr morgens komplett verwandelte. Die Smileys, tagsüber von Kinderhand an Fenster gemalt, wurden nachts von Neonlicht durchstochen.

Mir gefielen die Nachtmenschen.

Sie waren jung und betrunken und verliebt. Die Mädchen waren elektrisch aufgeladen, die Jungs im Imponiermodus. Die Transen, Goths, Schwulen und Lesben eroberten die Nacht, malten die Einkaufsstraße wieder bunt an und riefen einander Worte zu, deren Bedeutung ich nicht kannte. Und es funktionierte. Ich blieb fast nüchtern, hielt mich fast an die Regeln.

Wenn mein Chef nicht gewesen wäre. Detective Inspector Peter Sutcliffe. Ja, so heißt er tatsächlich. Mit dem Namen war sein Schicksal vermutlich schon vorgezeichnet. Vielleicht hatte man ihn als Kind damit gemobbt. Kein Wunder, wenn man einen der schlimmsten Verbrecher des Landes zum Namensvetter hat. Jedenfalls trug er den Namen eines Scheißkerls und wurde ihm voll gerecht. Sie nannten ihn Sutty, was klang wie sooty, das englische Wort für rußig. Sein Spitzname schützte ihn nicht nur vor Verwechslungen, sondern war auch ein Witz.

Sutty war leichenblass und allergisch gegen Sonnenlicht.

Von ihm lernte ich eine Menge, aber nicht nur Gutes. Eine Weile genoss ich die Friedhofsschichten, hing meinem romantisch verzerrten Bild vom Nachtleben nach, doch es dauerte nicht lange, bis die Realität mich einholte. Ich wusste nichts über die Vampire, Dealer, die nur nachts unterwegs waren, und hatte keine Ahnung von den Gangs, was sie verkauften und wie sie sich unterschieden. Die Einzigen, die ich auf Anhieb erkannte, waren die Grinser, die ihren Namen dem Umstand zu verdanken hatten, dass Dealer ihnen zur Strafe für verspätete Zahlungen oder zu freches Auftreten rechts und links in die Mundwinkel geschnitten hatten.

Sutty erkannte Rushboys oder Whalleys schon an ihrem um Aufmerksamkeit heischenden Pfeifen. Sutty sah sofort, wenn sich ein Burnsider zu weit nach Süden verirrt hatte. Er zeigte mir die Eintreiberinnen, Sirenen genannt, die von Club zu Club wanderten. Dieser Mann hatte geradezu übernatürliche Antennen für Konfliktsituationen. Es war Sonntagmorgen, aber noch nicht lange, ungefähr zwei oder drei Uhr, als wir an der Oxford Road im Einsatz waren. Auf dieser Straße, die Studentenwohnungen mit dem Unigelände und die Uni mit der Innenstadt verband, gab es Licht und Schatten. Prostituierte und Freier, Dealer und Junkies.

Außerdem führt die Oxford Road zu einer der berühmtesten Fressmeilen der Stadt. Spezialitäten aus Pakistan, Bangladesch, Kaschmir, hunderte Restaurants, Tür an Tür, so weit das Auge reicht. Eine florierende, lebendige und bunte muslimische Gemeinschaft. Der unsere Aufmerksamkeit galt, weil sie einer besonderen Masche Vorschub leistete.

»Das Kopftuchding«, nannte Sutty das. Junge Frauen in Burkas, auf dieser Straße zu jeder Tages- und Nachtzeit ein völlig normaler Anblick, die ihr Gewand aber zur Tarnung nutzten. Es war bekannt, dass Dealer sie als Kuriere einsetzten, und einige der nervöseren männlichen Kuriere hatten sich in letzter Zeit ebenfalls eine Burka zugelegt. Das regte Sutty tierisch auf. Vermutlich dunkelhäutig. Vermutlich drogenabhängig. Ein perfektes Feindbild.

Wir tranken gerade Kaffee an einem Straßenkiosk, der die ganze Nacht geöffnet hatte, und er rauchte eine Zigarette, als er mich in die Rippen stieß und eine Kopfbewegung in Richtung Straße machte.

»Das ist unser Mädchen.«

»Was? Wo?«

Er wies auf eine schmächtige Frau in schwarzer Burka auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

»Sieht aus wie eine Frau auf dem Heimweg.«

»Ach, komm!«, sagte er und bahnte sich mit allgemeingültiger Geste einen Weg durch den Verkehr. Ich folgte ihm. Er überholte die Frau, baute sich vor ihr auf, und als sie ihm ausweichen wollte, hob er warnend die Hand.

»Allahu akbar«, keuchte er.

Die Frau sah ihn schweigend an.

»Komm schon, Kopftuch runter!«, sagte Sutty.

Die Frau sah sich hektisch um. Wie ein Tier in der Falle. Schließlich nahm sie das schwarze Kopfteil ab. Ihr Haar war schütter, fahl und strohig. Sie war weiß und eindeutig drogensüchtig, ihr bleicher Teint derselbe wie Suttys. Als ich näher kam, erkannte ich die länglichen Narben an beiden Seiten ihres Mundes. Man hatte sie gebrandmarkt.

»Grins nicht so dämlich!«, scherzte Sutty und lachte über seinen eigenen Witz. Die Frau verzog keine Miene. »Zeigst du mir mal, was du da in der Hand hast, Schätzchen?« Zögernd streckte die Frau die rechte, zur Faust geballte Hand aus und öffnete sie: zwei schweißdurchtränkte, zerknüllte Zehn-Pfund-Scheine. Sutty nahm sie ihr ab, sagte »Danke schön« und wandte sich zum Gehen.

Sie blickte entgeistert auf ihre leere Hand, dann auf mich.

»Sir!«, rief ich Sutty hinterher. Meine Stimme klang schwach. »Sir …«, wiederholte ich. Als er nicht reagierte, brüllte ich: »SUTCLIFFE!«

Da blieb er endlich stehen und sah mich ausdruckslos an.

»Das kannst du nicht bringen«, sagte ich. Zuerst rührte er sich nicht vom Fleck, stand stocksteif im Passantenstrom. Dann nickte er, kramte das Geld aus der Hosentasche und drückte es ihr in die Hand. Dann packte er mich am Arm und schubste mich gegen sie. »Durchsuch sie! Los! Das ist ein Befehl!«

Zögernd befolgte ich seine Anweisungen. Die Leute machten einen großen Bogen um Sutty. Die Frau öffnete ihre Hand erneut und zeigte mir die Geldscheine, doch jetzt lag ein Tütchen Koks dazwischen, das vorher nicht da gewesen war. Sutty trat einen Schritt vor und tat ganz überrascht.

Mit einem missbilligenden Kopfschütteln nahm er sie in den Polizeigriff und legte ihr Handschellen an. Als er sie unsanft zur Streife bugsierte, bedachte er mich mit einem bösen Grinsen.

»Wie gut, dass ich ihr das Geld zurückgegeben habe, hm?«

Auf dem Rücksitz fing sie an zu weinen. Wir lieferten sie auf der Wache ab und überließen sie und das Koks dem zuständigen Beamten. Ich hielt mich nicht lange mit Schuldgefühlen auf. Am nächsten Tag marschierte ich ins Polizeipräsidium am Central Park, meldete mich an und fuhr mit dem Lift in den fünften Stock. Mein Code verschaffte mir Zugang zum gesicherten Bereich der Asservatenkammer, wo Drogen in Schließfächern aufbewahrt wurden. Ich nahm das Koks und tauschte es gegen Körperpuder. Damit wäre die Sache erledigt gewesen. Leider hatte sich Superintendent Parrs just an diesem Tag in den Kopf gesetzt, die Schließfächer zu inspizieren. Ich weiß noch genau, wie mir das Blut in den Ohren rauschte, als ich über den Flur zum Lift zurückkehrte.

Da ertönte eine brüchige, raue Stimme. »Moment mal, Detective Constable …«

Ich wusste sofort, dass ich erledigt war. Zwei Stunden saß ich voller Angst vor Parrs Büro. Als er mich endlich hereinbat, fiel mir auf, dass wir noch nie zuvor ein Wort gewechselt hatten. Er forderte mich auf, Platz zu nehmen, und tat dann das, was ich als Parrs-typisches Verhalten erkennen sollte.

Er schwieg.

Wir saßen stumm herum, bis ich es nicht mehr aushielt und ihm meine Geschichte erzählte. Dass meine Karriere im Eimer war, bevor sie überhaupt begonnen hatte, erwähnte ich ebenfalls. Er widersprach meiner Einschätzung nicht, sondern lehnte sich auf dem Stuhl zurück, um über das Gehörte nachzudenken. Doch dabei wirkte er nicht ganz uninteressiert. Glaube ich zumindest.

Dieser schottische Akzent …

»Regeln gelten für die anderen, Waits?«

»Sutcliffe …«

»Den knöpf ich mir schon vor. Hab da mal in Ihre Akte geschaut. Gar nicht so übel, bis auf Ihre Tendenz, den Einzelkämpfer zu geben. Vielleicht sind Sie genau der Richtige.«

»Sir?«

»Damit wir uns verstehen, mein Junge. Ich gebe Ihnen zwei Möglichkeiten. Unter uns gesagt, rate ich Ihnen dringend zur ersten.« Ich wartete. »Ich kann Sie fristlos rauswerfen. Anklage erheben, Sie vor Gericht bringen und in den Knast stecken. Außerdem kann ich die Presse informieren und denen verraten, dass Sie Dreck am Stecken haben. Danach wird Sie niemand mehr einstellen.«

»Und die zweite Möglichkeit?«

»Sie können was für mich erledigen. Die Nachricht von Ihrer Schandtat hat hier wahrscheinlich schon die Runde gemacht. Bis heute Mittag pfeifen’s die Spatzen von den Dächern. Das könnte sich als Glücksfall erweisen.«

»Wie das?«

Parrs beugte sich vor. »Ich brauche jemanden, der als korrupt gilt.«

Er erklärte mir seinen Plan.

Es sei ein offenes Geheimnis, dass Zain Carver Polizisten bezahle. Jahrelang seien Beweise verschwunden, Razzien ins Leere gelaufen. Meine Aufgabe bestehe darin, seine Informanten ausfindig zu machen. Dafür müsse ich schmutziger aussehen als sie, falsche Informationen durchsickern lassen und den Informanten eine Falle stellen.

»Egal, was Sie machen«, fuhr er fort, »bis zur Verhandlung sind Sie suspendiert. Sie legen alle Fälle nieder. Bis dahin können Sie sich frei bewegen und mit Kriminellen verkehren, wie Sie wollen.« Er grinste verschlagen. »Wenn Sie für mich arbeiten und Ihre Sache gut machen, sorge ich dafür, dass die Vorwürfe gegen Sie verschwinden.«

»Und Sie raten mir zur ersten Möglichkeit?«

»Die erste beendet Ihre Karriere. Die zweite vielleicht Ihr Leben.«

»Bis wann muss ich mich entscheiden?«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich notiere mir jetzt mal, was gegen Sie vorliegt.« Parrs klickte mit seinem Kugelschreiber herum. »Wenn Sie nicht in den Bau wollen, sorgen Sie dafür, dass ich nicht bis zum Ende komme.«

Die erste Option war mies, aber so richtig Angst machte mir die Vorstellung, im Gefängnis zu landen. Ich war in einem Heim aufgewachsen und hatte genug von Schlafsälen, Schulkantinen und Sperrstunden. Parrs schrieb schnell, und als ich die Worte auf Papier geschrieben sah – Konspiration, Korruption –, wurde mir klar, dass mir eigentlich keine Wahl blieb.

»Ich mach’s.«

Es gab nichts zu verlieren, dachte ich. Zuerst gefiel mir die Vorstellung sogar, ins Drogengeschäft abzutauchen. Superintendent Parrs hatte eine geradezu paranoide Angst, dass ich auffliegen könnte, und außer mir wussten nur noch drei andere von meinem Undercover-Einsatz.

Ich kündigte meine Wohnung und lagerte meine Sachen ein. Dann zog ich ins Stadtzentrum. Mitten ins Gewimmel, wo ich von Bar zu Bar ziehen und die Organisation verfolgen konnte. Ich überlegte mir lange, was ich den Leuten aus meinem alten Leben sagen könnte, aber als ich meiner Bettbeziehung erklärte, dass ich eine Weile verschwinden würde, lachte sie nur.

»Verschwinden?«, sagte sie, während sie ihre Sachen in die Tasche stopfte. »Du warst doch nie richtig hier.«

Ich erschien nicht mehr zum Dienst. Mich gab’s nicht mehr. Sie informierten die Presse, und alle glaubten, was sie über mich in der Zeitung lasen.

Der korrupte Detective Aidan Waits.

Mein Verstand lief auf Hochtouren, stellte Verbindungen her. Ich spielte mit der Karte herum, die Catherine mir in der Bar hinterlassen hatte. Eine Einladung zur After-Party in Fairview. Zain Carvers Anwesen. Ich könnte noch in dieser Nacht dort auftauchen und Isabelle Rossiter beschatten.

Ich schnappte mir eine Flasche Wein und zog mir die Lederjacke über. Das Speed hob meine Stimmung sofort. Kurz blieb ich am Fenster stehen, atmete tief durch und betrachtete die nicht enden wollenden Häuserreihen.

Erleuchtete Fenster starrten aus fünfzig Stockwerken.

Kapitel 7

Ich hämmerte an die Tür und wartete.

Bässe wummerten wie ein Puls durchs Haus. Die Fenster ratterten, das gesamte Gebäude schien zu erzittern und sich langsam auf mich zuzubewegen. Die mächtige Geräuschkulisse zog Fremde an, die sich allerdings nicht trauten, an die Tür zu klopfen, und sich stattdessen vor dem Haus zusammengerottet hatten und mir mit Blicken folgten, als wäre ich ihr Leittier.

Fairview befand sich zwischen West Didsbury und Withington, zwei der wohlhabendsten Viertel der Stadt. Das Anwesen wirkte wie der Ahne eines vornehmen Villengeschlechts, dem das Feinste gerade recht war. Ich schlug mit dem Boden der Rotweinflasche gegen die Tür.

Eine junge Frau in schwarzem Abendkleid öffnete. Ihr Gesicht war krankenbleich, ihr Haar naturrot. Sie sagte etwas, das aber in der Musik unterging. Die schwarz umrandeten Augen, das zeitlose Kleid und die lautlos geformten Worte verliehen ihr etwas Ikonenhaftes, das mich an die Stars der Stummfilme aus den Zwanzigerjahren erinnerte. Ich sah sie entgeistert an. Sie war diese Reaktion offenbar gewohnt, denn sie nahm mir Catherines Einladung aus der Hand und bat mich ins Haus.

Als ich eintrat, hatte ich das Gefühl, die Luft hätte sich verfestigt, denn vor mir tobte ein Tollhaus, vollgestopft mit lachenden, tanzenden, schwitzenden, knutschenden Leuten. Als ich der Rothaarigen danken wollte, bemerkte ich, dass sie die Tür bereits wieder verriegelt und ihre offenbar durch mich unterbrochene Unterhaltung mit einem anderen fortgesetzt hatte. Wie erwartet fiel ich mit meinen dreißig Jahren unter lauter Zwanzigjährigen auf wie ein bunter Hund.

Catherine war nirgends zu sehen, aber ein anderes Mädchen fiel mir ins Auge. Sie stand etwas abseits und wirkte ziemlich fehl am Platz. Ihr punkiges, weißblondes Haar harmonierte trotz der künstlichen Farbe mit ihrem hübschen Gesicht. Sie hatte die zierliche Figur einer Siebzehnjährigen, bemühte sich aber, mit ihrem Look älter auszusehen. Sie stierte mit leerem Blick in die Runde und kaute gedankenverloren auf einer Strähne herum, während die älteren Jungs auf dicke Hose machten und sie mit wissenden Blicken taxierten.

Isabelle Rossiter.

Sie trug einen dünnen, ausgefransten Schal, an dem sie permanent herumspielte, als müsste sie sich vergewissern, dass er nicht verrutscht war. Wie ihr Vater sagte, hatte sie sich ein Messer in den Hals gestochen, also wollte sie vermutlich die Narbe bedecken.

Ich murmelte etwas, um mich bei der Rothaarigen fürs Reinlassen zu bedanken, und warf ihr einen schmachtenden Blick zu. Sie nahm’s mit der Gelassenheit der Schönen, die jeden Tag ein Schlachtfeld der gebrochenen Herzen hinterlassen. Ich trat aus dem Eingang und nickte Isabelle Rossiter freundlich zu.

Im Flur herrschte ein infernalisches Gedränge. Ich trank einen Schluck aus der Flasche und schob mich durch die Horde zugedröhnter Zwanzigjähriger. Manche sahen mich aus glasigen Augen an, waren wahrscheinlich schon auf Eight, doch die treibende Kraft an diesem Abend war eindeutig Ecstasy. Fünf, wie sie es nannten. Da ich mir ohnehin schon vorkam wie Falschgeld, verzichtete ich darauf, mich zum Tanzen zu den anderen in den Nebenraum zu gesellen. Das nervige Gedränge im Flur ermüdete mich, aber nach oben führte kein Weg. Unter dem Ansturm der zumeist zu Paaren zusammengeschlossenen Gäste, die für Klo, Dusche, Schlafzimmer oder Sex anstanden, waren die Stufen nicht mehr zu erkennen.

»Krieg ich ’nen Schluck«, nuschelte mir ein Mädchen ins Ohr.

Als mein Blick auf den blassen Porzellanteint mit den weißen Zähnen und dem weißblonden Schopf fiel, musste ich an das Foto denken, das ihr Vater mir gegeben hatte. Isabelle Rossiter war dünner geworden, aber darin unterschied sie sich nicht wesentlich von den anderen Mädchen im Raum. Sie waren zwar zwischen fünf oder zehn Jahre älter, aber alle hatten eine ähnliche Figur. Bis zur Perfektion gehungert, aufs Nötigste heruntergefeilt.

»Klar«, sagte ich und reichte ihr die Flasche. Nachdem sie sie halb leer getrunken und ihren Mund abgewischt hatte, war ihr Interesse an mir auch schon wieder erloschen. Stattdessen sah sie sich im Raum um, als erwartete sie dort Zuschauer. Als uns das Gedränge einander wieder näher brachte und sie mich genauer betrachtete, machte sich auf ihrem Gesicht Enttäuschung breit.

»Was machst du hier?«, fragte sie laut, um die Musik zu übertönen. Eine ziemlich direkte Frage. Ich passte weder vom Alter noch vom Typ her auf diese Party, und zwischen diesen jungen, energiegeladenen, bunten jungen Menschen fiel ich in meinen dunklen Klamotten umso mehr auf.

»Ich dachte, du könntest was zu trinken gebrauchen.«

Sie schenkte mir ein Zahnpastalächeln. »Woher kennst du Sarah Jane?«

»Sarah Jane?«

»Die Rothaarige, der du gerade noch zu Füßen lagst.«

»Ich hab sie heute zum ersten Mal getroffen.«

»Sie lässt nur Leute rein, die sie kennt.«

»Ja, ich werde oft verwechselt.«

»Verwechselt?« Sie musterte mich eingehend. »Hast du deswegen ein blaues Auge?«

»Genau.«

»Soso«, sagte sie und genehmigte sich noch einen Schluck aus meiner Flasche. Immer wieder rempelten uns Leute an, und wir kamen einander für kurze Zeit sehr nahe. »Ich wette, das hast du dir nur angemalt, damit du gefährlich aussiehst.«

»Wieso sollte ich mir die Mühe machen? Ich tauche lieber auf Partys auf und beleidige den stärksten Typen, den ich finden kann.«

Sie sah mich fragend an. »Hast du Zain schon getroffen?«

Wir standen so dicht beieinander, dass sich unsere Lippen fast berührten. Ich schob mein Gesicht an ihren Hals, damit sie mich besser verstand.

»Ist der heute hier?«

»Keine Ahnung, hab ihn noch nicht gesehen.«

»Aber du kennst ihn, oder?«

»Hmm«, sagte sie mit unbeweglicher Miene.

»Weil, wenn das stimmt, was man sich so erzählt, würde ich nicht nur mit einem blauen Auge davonkommen.«

»Woher kennst du Sarah Jane noch mal?«

»Wie gesagt, ich kenn sie nicht.«

Isabelle trat einen Schritt zurück. »Was willst du dann hier?«

»Nette Mädchen kennenlernen.«

»Zain und nette Mädchen geht gar nicht.«

»Und was ist mit dir?«

Sie verzog angewidert das Gesicht. Ich hatte eindeutig zu dick aufgetragen. »Als ich hier aufschlug, war ich alles andere als nett, und jetzt bin ich auch nicht besser drauf.«

»Noch schlimmer?«

Als sie sich abwandte, zog ich ihr die Flasche aus der Hand.

»Die wollte ich aber«, sagte sie.

»Tja, Pech gehabt.«

»Ach, komm … du kannst mir zumindest was ausgeben.«

Ich nickte, trank.

Sie neigte den Kopf zur Seite und setzte eine gelangweilte Miene auf. »Ich blas dir auch einen.« Als wir wieder dichter aneinandergeschoben wurden, meinte ich zu erkennen, dass sie rot angelaufen war. Ich drückte ihr die Flasche in die Hand und ging auf Abstand.

»Die gibt’s umsonst.«