Drei aus einem Nest - Gert Rothberg - E-Book

Drei aus einem Nest E-Book

Gert Rothberg

0,0

Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Die drei Kinder hatten schon eine Weile zugeschaut. Als eine Pause im leidenschaftlichen Völkerballkampf der Sophienluster Kinder eintrat, fragte das blonde Mädchen mit verblüffender Selbstverständlichkeit, ob sie mitspielen könnten. Henrik von Schoenecker betrachtete die drei fremden Kinder, die offensichtlich Geschwister waren, prüfend. »Wenn ihr es könnt?«, meinte er achselzuckend. »Je mehr mitmachen, desto besser.« Nun, eigentlich beteiligten sich schon genug Kinder an dem Völkerballspiel. Henrik, Fabian, Heidi, Vicky, Angelika, Pünktchen und noch ein paar andere Kinder nahmen an diesem warmen Sonntagnachmittag daran teil. »Du kommst in meine Partei, und dein Bruder kann auf der anderen Seite spielen«, bestimmte Henrik, ohne sich damit aufzuhalten, sich nach den Namen der drei Fremdlinge zu erkundigen. Dass deren ehemals hellblaue Baumwolljeans reichlich schmutzig waren, fiel ihm nicht auf. In solchen Dingen war Denise von Schoeneckers Jüngster sehr großzügig. »Ati guckt zu. Sie ist noch zu klein«, erklärte das fremde Mädchen. Pünktchen warf einen kurzen Blick auf Ati. »Das ist also ein Mädchen«, meinte sie. »Lustig schaut sie aus, die Ati.« Zu weiteren Betrachtungen blieb keine Zeit, denn das Spiel ging weiter.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 149

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophienlust Extra – 82 –Drei aus einem Nest

Eine kleine Rasselbande sorgt für Aufregung …

Gert Rothberg

Die drei Kinder hatten schon eine Weile zugeschaut. Als eine Pause im leidenschaftlichen Völkerballkampf der Sophienluster Kinder eintrat, fragte das blonde Mädchen mit verblüffender Selbstverständlichkeit, ob sie mitspielen könnten.

Henrik von Schoenecker betrachtete die drei fremden Kinder, die offensichtlich Geschwister waren, prüfend. »Wenn ihr es könnt?«, meinte er achselzuckend. »Je mehr mitmachen, desto besser.«

Nun, eigentlich beteiligten sich schon genug Kinder an dem Völkerballspiel. Henrik, Fabian, Heidi, Vicky, Angelika, Pünktchen und noch ein paar andere Kinder nahmen an diesem warmen Sonntagnachmittag daran teil.

»Du kommst in meine Partei, und dein Bruder kann auf der anderen Seite spielen«, bestimmte Henrik, ohne sich damit aufzuhalten, sich nach den Namen der drei Fremdlinge zu erkundigen. Dass deren ehemals hellblaue Baumwolljeans reichlich schmutzig waren, fiel ihm nicht auf. In solchen Dingen war Denise von Schoeneckers Jüngster sehr großzügig.

»Ati guckt zu. Sie ist noch zu klein«, erklärte das fremde Mädchen.

Pünktchen warf einen kurzen Blick auf Ati. »Das ist also ein Mädchen«, meinte sie. »Lustig schaut sie aus, die Ati.«

Zu weiteren Betrachtungen blieb keine Zeit, denn das Spiel ging weiter. Die beiden kleinen Fremdlinge erwiesen sich als recht gute Spieler und trugen dazu bei, dass das Spiel noch spannender wurde, als es vorher schon gewesen war.

Schwester Regine, die an diesem Nachmittag die Verantwortung für die kleinen Bewohner des Kinderheims Sophienlust übernommen hatte, kam etwa eine Stunde später in den Park. Sie stellte mit einiger Verwunderung fest, dass drei Kinder zu viel vorhanden waren. Das war eine höchst erstaunliche Entdeckung, nachdem sie sich hatte vergewissern wollen, dass auch kein Kind fehlte.

Schwester Regine unterbrach das Spiel nicht.

Sie hockte sich neben Ati ins Gras. Jedes Mal, wenn der Ball durch die Luft flog, lachte das schmutzige kleine Ding laut und begeistert. Manchmal klatschte es auch in die Händchen.

»Wie heißt du?«, fragte die Kinderschwester freundlich.

Ati wandte ihr das pausbäckige Gesichtchen zu und nannte ihren Namen. »Ati.«

Damit war nicht viel anzufangen. Schwester Regine überlegte, ob Ati ein Bub oder ein Mädchen sei. Die Frage, woher diese drei Schmutzfinken gekommen sein könnten, blieb offen, bis das Spiel endlich abgebrochen wurde, weil beide Mannschaften völlig außer Atem geraten waren.

Erst jetzt wurde Henrik, Pünktchen und den übrigen Sophienluster Kindern bewusst, dass sie Gäste hatten. »Du musst mit Schwester Regine reden«, wandte sich Fabian an das fremde blonde Mädchen, das etwa ein Jahr älter sein mochte als der fremde Junge mit den lustigen braunen Augen, der noch nicht viel gesagt, dafür aber umso eifriger gespielt hatte.

Schwester Regine ging auf die beiden Geschwister zu, und Ati gesellte sich ebenfalls zu ihnen. Fröhlich und ohne jede Scheu schauten diese die Kinderschwester an. Den Eindruck unglücklicher, in Not geratener Kinder machten sie durchaus nicht. War Sophienlust, die Zufluchtsstätte für Kinder in Bedrängnis, für diese drei der rechte Ort? Wohl kaum.

»Willst du mir erzählen, wer ihr seid? Möchtet ihr uns hier in Sophienlust besuchen?«, wandte sich Schwester Regine an das Mädchen.

»Besuchen? Nein, eigentlich nicht. Wir sahen die Kinder spielen und haben gefragt, ob wir mitmachen können.«

»Müsst ihr jetzt nach Hause? Wo wohnt ihr überhaupt?«

»Wir …, wir haben uns ein bisschen verlaufen«, gestand das Mädchen.

»Ach so, da können wir euch ganz gewiss helfen. Du bist schon ziemlich groß und gehst gewiss bereits zur Schule. Also wirst du mir sagen können, wie ihr drei heißt und wo ihr wohnt.«

Das Kind nickte. »Ich bin Bea. Richtig heiße ich Beatrix Holte.«

»Und ich heiße Harald Holte«, erklang die etwas raue Stimme des Jungen. »Dies ist Ati.«

Schwester Regine setzte das kleine Verhör behutsam fort. Oft genug hatte sie erlebt, dass Kinder bei allzu vielen Fragen verstummten, doch diese drei Geschwister antworteten ihr freimütig. Die Sophienluster Kinder, die im Kreis um sie herumstanden, erfuhren so, dass Beatrix, Harald und Astrid – so lautete Atis voller Name – sieben, sechs und zwei Jahre alt waren. Auch ihre genaue Anschrift nannten die Geschwister. Sie wohnten in der Kreisstadt Maibach, in der Brunnenstraße acht. Harald wurde übrigens Raldi gerufen.

»Und wie seid ihr ausgerechnet zu uns nach Sophienlust verschlagen worden?«

Bea hob die Schultern. »So richtig wissen wir das nicht«, gestand sie. »Gestern musste Vati nämlich verreisen. Es war ziemlich wichtig, aber er wollte bis zum Nachmittag bestimmt zurück sein. Na ja, und dann ist er einfach nicht gekommen. Erst haben wir gewartet, dann wollten wir ihm entgegengehen.«

»Du meine Güte«, entfuhr es Schwester Regine. »Wie ging die Geschichte dann weiter?«

»Eine Geschichte ist es nicht«, wandte Raldi ernsthaft ein. »Wir haben es richtig erlebt. Es wurde nämlich dunkel, und wir merkten, dass wir den Weg zurück nicht finden konnten. Natürlich haben wir keine Angst gehabt.«

»Aber der Wald war so fremd im Dunkeln«, fügte Bea hinzu. »Wir sind immer weitergelaufen, bis wir müde waren. Kalt war es ja nicht. Schließlich haben wir irgendwo unter ein paar Büschen geschlafen.«

Woher sie so bemerkenswert schmutzig geworden waren, erklärte sich mit dieser Erzählung hinlänglich.

»Und weiter?«, drängte Schwester Regine sanft.

»Nichts weiter«, meinte Raldi treuherzig. »Aber Hunger haben wir.«

»Ja, Hunger.« Ati nickte eifrig.

»Ihr seid also dann heute weiter herumgeirrt. Von Maibach bis hierher ist es ziemlich weit.« Schwester Regine war erschüttert. Sie führte die drei Geschwister ins Herrenhaus von Sophienlust, das nach dem Vermächtnis der früheren Besitzerin Sophie von Wellentin in ein Kinderheim umgestaltet worden war. Glücklicherweise kehrte Frau Rennert, die Heimleiterin, eben von einem Besuch in Bachenau zurück, sodass Schwester Regine sie um Hilfe bitten konnte.

»Der Vater der drei Kinder heißt Dr. Friedrich Holte, sagen sie«, berichtete die Kinderschwester atemlos. »Ob Sie versuchen könnten, dort anzurufen? Brunnenstraße acht in Maibach.«

»Natürlich. Die Eltern sind gewiss schon in größter Sorge.« Frau Rennert war sofort bei der Sache. Es war nicht der erste Fall solcher Art in ihrer langen Praxis.

»Bloß Vati«, meinte Bea unbekümmert. »Denn unsere Mutti ist nicht da.«

Daraus erklärte sich wohl manches.

Obgleich bei Schwester Regine Reinlichkeit groß geschrieben wurde, führte sie die drei Kinder zunächst in Magdas riesige Küche, wo bereits die Vorbereitungen für das Abendessen der Kinderschar im Gange waren. Bea, Raldi und Ati tranken die angebotene Milch so gierig wie drei kleine Kälbchen.

»So, das ist genug für den Anfang. Später gibt es mehr, Kinder. Jetzt wollen wir euch erst einmal in die Wanne stecken.«

Bea betrachtete ihre Jeans sowie ihre verschmierten Hände und nickte.

Im Badezimmer staunte Schwester Regine, wie rasch die drei kleinen Gäste ihre Kleider abgelegt hatten und voller Eifer in die Wanne kletterten. Kein Zweifel, sie waren daran gewöhnt, zu dritt zu baden.

»Wir zwei können uns allein waschen«, sagte Bea fröhlich. »Nur Ati muss man abschrubben. Das tut sonst Vati.«

Nach reichlicher Anwendung von Seifenschaum und warmem Wasser erwies sich, dass Sophienlust drei besonders niedliche kleine Gäste beherbergte. Schwester Regine musste diese unbekümmerten Ausreißer immer wieder anschauen, während sie ihnen die Haare wusch und diese anschließend mit dem Fön trocknete. Schließlich steckte sie Bea, Raldi und Ati in frische Kleidung aus den Vorräten des Kinderheims.

Frau Rennert erschien mit etwas ratloser Miene. Doch beim Anblick der drei entzückenden Kinder hellte sich ihr Gesicht sofort auf.

»Ich habe die Nummer im Telefonbuch gefunden. Es stimmt genau: Dr. Friedrich Holte, Brunnenstraße acht. Aber ich kann keinen Anschluss bekommen, obwohl das Telefon einwandfrei durchläutet.«

Bea schlug die langbewimperten Lider zu Frau Rennert auf. »Dann ist er noch immer nicht gekommen. Komisch!«

Sorgen, dass etwas passiert sein könnte, schienen sich weder Bea noch Raldi oder gar Ati zu machen. Ati war ohnehin noch zu klein, um die Tragweite des Geschehens zu ermessen.

»Weißt du, was für einen Beruf dein Vati hat?«, bemühte sich Frau Rennert den Dingen auf den Grund zu gehen.

Bea nickte. Sie trug jetzt rote Cordhosen und einen weißen Baumwollpulli. »Vati schreibt dicke Bücher. Zuerst tippt er alles auf der Schreibmaschine, und später wird es natürlich gedruckt. Wenn Vati arbeitet, darf man ihn nicht stören.«

»Und eure Mutti? Wollte sie sehr lange fortbleiben? Ist sie zusammen mit euerm Vater weggefahren?«

Jetzt meldete sich Raldi zum Wort. »Nein, Mutti ist immer weg. Aber ich weiß, wie die Stadt heißt.«

»Die Stadt, in der eure Mutti ist?«, fragte Schwester Regine hoffnungsvoll.

»Nein, in die Vati fahren wollte, meine ich – Heidelberg!« Es klang wie ein Fanfarenstoß, so stolz war der Junge, dass er sich diesen Namen gemerkt hatte.

Heidelberg – das war immerhin etwas. Trotzdem würde es schwer sein, am Sonntagabend Erkundigungen einzuziehen, falls Dr. Holte tatsächlich nicht in sein Haus in Maibach zurückgekehrt war.

Frau Rennert tat das, was sie angesichts der Sachlage für ihre Pflicht hielt. Sie ging ans Telefon und benachrichtigte Denise von Schoenecker, drüben auf Gut Schoeneich.

Denise hatte einmal einen ungestörten Sonntag mit ihrem Mann verbringen wollen. Doch sie wusste, das unvermutete Auftauchen der drei Kinder rechtfertigte die Handlungsweise der Heimleiterin.

»Wir müssen die Polizei verständigen. Wir kommen zum Abendessen hinüber, liebe Frau Rennert. Selbstverständlich können die drei Kinder zunächst in Sophienlust bleiben.«

Denise von Schoenecker fällte diese Entscheidung, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

Etwa eine halbe Stunde später traf sie mit ihrem Mann in Sophienlust ein. Als es zum Essen gongte, erschien auch Nick mit Irmela. Die beiden begeisterten Reiter waren den ganzen Nachmittag über auf ihren Pferden unterwegs gewesen.

»Drei neue Kinder, und ich war nicht da«, rief Nick enttäuscht.

»Sie werden kaum bleiben. Ihr Vater ist nur von einer Fahrt nach Heidelberg noch nicht zurückgekommen. Die drei wollten ihm entgegengehen, wobei sie sich verlaufen haben«, berichtete Pünktchen, Nicks besondere Vertraute, mit gesenkter Stimme.

Nick hob die Hand und setzte eine überlegene Miene auf. »Wenn da nur nicht etwas faul ist«, orakelte er. »Ein Glück, dass sie in Sophienlust gelandet sind.«

Denise von Schoenecker warf ihrem lang aufgeschossenen Sohn einen liebevollen Blick zu. Nick – eigentlich Dominik –, ihr Sohn aus erster Ehe, war der Erbe von Sophienlust. Sophie von Wellentin, seine Urgroßmutter, hatte ihm den großen Besitz sowie ein riesiges Vermögen hinterlassen. In ihrem Testament hatte sie verfügt, dass Sophienlust in eine Zufluchtsstätte für in Not geratene Kinder umgewandelt werden solle. Damals war Nick erst fünf Jahre alt gewesen, doch heute identifizierte sich der Gymnasiast bereits weitgehend mit dieser ihm zugefallenen Lebensaufgabe, in die er im Laufe der Zeit auf die natürlichste Weise hineingewachsen war.

Denise dachte flüchtig an die Anfänge von Sophienlust zurück, das ihr in jeder Hinsicht Glück gebracht hatte. Hier hatte sie den Gutsnachbarn Alexander von Schoenecker kennengelernt, der damals ebenso verwitwet gewesen war wie sie. Die Begegnung war schicksalhaft gewesen. Zwei Vereinsamte hatten einander die Hand zum zweiten Bund fürs Leben gereicht. Nick, der seinen eigenen Vater nie gekannt hatte, hatte einen verständnisvollen Stiefvater erhalten, und Denise war Alexanders Kindern Sascha und Andrea eine liebevolle Mutter geworden.

Henrik, Denises jüngster, stammte aus der Ehe mit Alexander. Jedes Mal wenn sie den Buben ansah, wurde ihr bewusst, wie viele Jahre seitdem vergangen waren. Schoeneich war ihr zur Heimat geworden, aber Sophienlust blieb nach wie vor Inhalt und Aufgabe ihres Lebens, was von Alexander mit sehr viel Verständnis akzeptiert wurde.

Noch immer schaute Denise Nick an. Ihre Gedanken kehrten in die Gegenwart dieses Sonntags zurück, an dem drei verirrte Kinder nach Sophienlust gekommen waren.

Das Essen war nun aufgetragen. Der große Kreis nahm Platz. Die Kinder feierten es wie ein Fest, dass Denise, zärtlich von allen Tante Isi genannt, und Alexander von Schoenecker unerwartet mit am Tisch saßen.

Bea, Raldi und Ati langten kräftig zu. Ati hatte den Ehrenplatz neben Denise erhalten und ließ sich von dieser ab und zu helfen, wenn sie mit dem Löffel nicht zurechtkam.

Die Fröhlichkeit der drei fremden Kinder wirkte fast bestürzend. Aus dem, was sie berichtet hatten, ging hervor, dass die Eltern getrennt lebten oder geschieden sein mochten. Möglicherweise war die Mutter sogar tot, und man hatte es den Kindern nicht gesagt. Seit gestern hatten sie ihren Vater gesucht, im Walde übernachtet und nicht einmal etwas gegessen. Trotzdem waren sie so strahlend heiter, als habe nichts ihren persönlichen Himmel getrübt.

Ob sie hier schlafen wollten, falls man ihren Vater auch nach dem Essen telefonisch nicht erreichen könne, fragte Denise die Kinder.

Ja, das wollten sie gern!

»Habt ihr so viele Betten?«, erkundigte sich Raldi mit gekrauster Nase. »Es sind doch schon die anderen Kinder da.«

»Für euch finden sich bestimmt noch drei Betten«, mischte sich Nick ein, der sich als Hausherr und Gastgeber fühlte. »Nicht wahr, Tante Ma, sie kriegen das große Eckzimmer oben? Denn sie wollen sicherlich beisammenbleiben.«

Tante Ma war der Kosename von Frau Rennert. Sämtliche Sophienluster Kinder nannten sie so.

Die Heimleiterin neigte jetzt zustimmend den Kopf. »Ja, Nick, ich habe auch gleich an das Eckzimmer gedacht. Wirst du mir helfen, für Ati ein Kinderbett hineinzutragen?«

»Klar, mache ich, Tante Ma.«

Ati war satt und sehr müde. Die Anstrengungen, die hinter dem kleinen Ding lagen, machten sich nun doch bemerkbar. Denise trug die Kleine auf ihren Armen nach oben, während Schwester Regine, Tante Ma und Nick rasch das große Zimmer für die Nacht herrichteten. Irmela und Pünktchen bezogen die Betten und im Handumdrehen wurde Ati in einen Pyjama gesteckt.

Zufrieden lag die Kleine in ihrem Gitterbett. Noch ehe Bea und Raldi, die nicht weniger müde waren, sich ausgezogen und niedergelegt hatten, war das Lockenköpfchen schon eingeschlafen. Ati lag auf dem Bauch, hatte die Ärmchen weit von sich gestreckt und bot selbst im Schlaf ein Bild intensiver Vitalität und Unbekümmertheit.

*

»Eine verrückte Geschichte«, stellte Alexander von Schoenecker zu später Stunde fest. »Die Polizei hat keine Vermisstenmeldung erhalten, und der Vater scheint noch immer nicht von seiner Fahrt nach Heidelberg zurückgekehrt zu sein. Man sollte meinen, dass es auffällt, wenn irgendwo drei so lebenslustige Kinder abhanden kommen.«

Denise saß jetzt ihrem Mann und Nick in der Halle von Gut Schoeneich gegenüber. Nick fasste seine Ansicht zusammen: »Ob sie ausgesetzt worden sind, Mutti? Ich wette, da steckt etwas dahinter.«

»Bea und Raldi sind schon Schulkinder«, gab Denise zu bedenken. »Wir müssen annehmen, dass das, was sie sagen, den Tatsachen entspricht. Morgen können wir den Versuch unternehmen, in der Volksschule von Maibach nachzufragen. Möglicherweise ist dort Näheres über die Eltern bekannt. Ich bin ganz sicher, dass das Geheimnis sich aufklären wird.«

»Warten wir es ab«, erwiderte Nick. »Mir kommt es jedenfalls sehr seltsam vor.«

Alexander nickte dem Jungen zu. »In gewisser Weise hast du recht, Nick. Es wäre beinahe etwas für die Zeitung. Aber darauf legt Mutti bestimmt keinen Wert.«

Denise nickte und stand auf. Sie ging nach oben, um nachzuschauen, ob Henrik endlich schlafe.

Doch sie fand ihren Jüngsten hellwach.

»Du musst schlafen, Henrik. Wir haben doch schon längst gebetet, und es ist heute sowieso sehr spät geworden für dich.«

»Ich muss an die drei neuen Kinder in Sophienlust denken, Mutti«, antwortete der kleine Bub mit ernstem Gesichtchen. »Warum ist ihre Mutti weg? So eine Mutti gibt es doch gar nicht, die einfach weggeht. Wenn dem Vati nun etwas passiert ist? Er ist mit dem Auto nach Heidelberg gefahren. Mit dem Auto gibt es leicht einmal einen Unfall.«

Denise nahm Henrik in den Arm und spürte beglückt die Wärme seines kleinen, gesunden Körpers.

»Du würdest bestimmt nicht von uns fortgehen, Mutti«, flüsterte Henrik zärtlich. »Weil du uns liebhast.«

Denise küsste ihren Jüngsten auf das weiche Haar. »Wir kennen die Gründe dieser Mutter nicht, Henrik. Es könnte sein, dass sie krank ist, ohne dass die drei etwas davon wissen.«

»Ach so. Daran habe ich nicht gedacht. Rufe doch einmal Sascha in Heidelberg an, ob er etwas weiß. Der Vati der drei ist nach Heidelberg gefahren, hat Raldi gesagt.«

»Heidelberg ist eine große Stadt, Henrik. Unser Sascha kennt die Studenten, mit denen er die Vorlesungen an der Universität besucht, und seine Professoren. Aber woher soll er wissen, wo Herr Dr. Holte steckt? Das ist nicht möglich.«

»Stimmt. Das habe ich mir nicht überlegt.«

»Schlaf jetzt, Henrik. Morgen sehen wir weiter.« Denise bettete den Jungen auf sein Kissen, breitete die Decke über ihn und wartete geduldig, bis ihm die Augen zufielen. Lautlos erhob sie sich dann und verließ das Zimmer.

»Du bist lange oben gewesen«, begrüßte Alexander seine Frau, als Denise die Treppe herunterkam. »Ist etwas nicht in Ordnung mit Henrik?«

»Er konnte nicht einschlafen, weil er sich über die drei fremden Kinder so aufgeregt hat. Da bin ich bei ihm geblieben.«

»Man kann sich aber auch darüber aufregen«, nahm Nick seinen kleinen Bruder in Schutz. »Mir lässt die Sache auch keine Ruhe. Hast du schon einmal mit Andrea darüber gesprochen?«

»Nein, Junge. Dazu war bis jetzt keine Zeit.« Denise warf einen Blick auf ihre Uhr. »Jetzt schlafen sie in Bachenau wohl schon. Wir werden es Andrea und Hans-Joachim morgen erzählen.«

Andrea hatte von der Schulbank weg den jungen Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn geheiratet. Inzwischen war sie bereits Mutter eines kleinen Jungen geworden. Peterle war der ungekrönte König der gesamten Familie. Andrea liebte Tiere und Kinder, wie es in Sophienlust jedermann tat. Auf dem weitläufigen Grundstück, auf dem sich das Wohnhaus mit der Praxis befand, hatte sie ein Heim für kranke oder verlassene Tiere gegründet. Dieses Tierheim, ›Waldi und Co.‹ genannt, spielte in Sophienlust eine wichtige Rolle. Der Weg nach Buchenau war nicht weit. So blieb Andreas enge Bindung an das Kinderheim auch nach ihrer Heirat bestehen. Deshalb hatte Nick es für selbstverständlich gehalten, dass auch sie vom Einzug der drei kleinen Gäste im Herrenhaus von Sophienlust erfahren müsse.

»Hans-Joachim kommt viel herum durch seine Tätigkeit als Tierarzt«, meinte Nick nachdenklich. »Vielleicht kennt er Herrn Dr. Holte.«

»Na ja, falls es dort einmal einen kranken Kanarienvogel oder Hamster gegeben haben sollte, besteht die Möglichkeit. Wir werden auf alle Fälle auch diese Spur verfolgen«, sagte Alexander von Schoenecker.

»Für heute Abend müssen wir uns damit zufriedengeben, dass die drei Geschwister satt und sauber in Sophienlust im Bett liegen. Und du solltest auch allmählich daran denken, dass es Schlafenszeit ist.«