Drei Kilometer - Nadine Schneider - E-Book

Drei Kilometer E-Book

Nadine Schneider

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Beschreibung

Rumänien 1989: Die Hitze ist drückend, das Getreide steht hoch, sonst würde man bis zur Grenze sehen können. Der Gedanke an Flucht liegt verlockend und quälend nahe, noch weiß niemand, was kommt und was in ein paar Monaten Geschichte sein wird. In einem Dorf im Banat, weit weg von Bukarest, dem Machtzentrum desCeau?escu-Regimes, erlebt Anna einen Spätsommer von dramatischer und doch stiller Intensität. Sie ist hin- und hergerissen, nicht zuletzt zwischen Hans, ihrem Geliebten, und Misch, dem gemeinsamen Freund. Bei wem will sie bleiben? Mit wem will sie gehen? Und ist Hans tatsächlich ein Spitzel, wie Misch vermutet? Mit diesen Fragen bewegt sich Anna plötzlich gefährlich nahe an der Grenze zwischen Treue und Verrat.Atmosphärisch dicht und schnörkellos erzählt Nadine Schneider von den persönlichen Verstrickungen in einer Zeit vor dem politischen Umsturz. Und davon, was es braucht, um zu bleiben - oder was es bedeutet, sein Land zu verlassen, für sich und die, die man zurücklässt.

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Seitenzahl: 182

Veröffentlichungsjahr: 2019

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© 2019 Jung und Jung, Salzburg und Wien

Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung,Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten.Umschlagbild: Undine LöhfelmUmschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.comeISBN 978-3-99027-172-8

NADINE SCHNEIDER

Drei Kilometer

Roman

Für meine Eltern

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Dank

I

Der Fahrtwind war der schönste Begleiter. Strich mir durchs Haar und kühlte meine Stirn. Und hielt wenigstens die Klappe. Hans redete ununterbrochen, die immergleiche Litanei. Dass es nun wirklich Zeit war abzuhauen, denn was gab es hier schon? Nichts als schlechte Freunde, die von einem auf den anderen Tag verschwanden, und noch schlechteren Schnaps, der sich seit Jahren in unsere Eingeweide fraß und Nester für die Krankheiten baute, die wir im Alter haben würden.

Ich hörte nicht weiter hin. Die Felder rauschten an mir vorbei. Die Silhouetten freistehender Bäume blitzten auf und verschwanden wieder, als würden sie einen Geheimcode in die Nacht diktieren.

Ich hatte das Gefühl, dass noch etwas geschehen musste, bevor die Nacht vorüber war. Meine Fingerspitzen kribbelten vor Übermut. Ich ließ den Lenker los und griff in die warme Spätsommerluft. Schaute zu Misch, der im bleichen Mondlicht neben mir fuhr. Er musste sturzbetrunken sein, doch ich bemerkte kein Schwanken in seinem Blick oder seinen Bewegungen.

Zumindest für eines war ich dem Schnaps dankbar: Er machte meinen Kopf für wenige Stunden etwas klarer, flocht meine Verwirrung auseinander. Wenn man in einer Lüge lebte, musste man sich der Wahrheit wenigstens ab und zu einmal stellen. Wie sollte man sonst noch ein überzeugender Schwindler sein?

Bei Hans schien der Schnaps diese Wirkung nicht zu haben. Was er gerade von sich gab, war genauso wirr und ziellos wie sonst auch. Und wie immer bemerkte er nicht, dass ihm keiner richtig zuhörte. Am liebsten unterhielt er sich selbst, lobte seinen eigenen Scharfsinn und schenkte seinen Worten ein zustimmendes Nicken. Es war einfach nur Glück, dass ihn keiner ernst nahm. Andere hätte dieses Gerede schon längst Kopf und Kragen gekostet.

Dabei war Hans kein schlechter Mensch. Es gab Leute mit schlimmeren Eigenschaften als der, sich selbst viel zu wichtig zu nehmen. Wäre er ein schlechter Mensch gewesen, hätte ich ihn vielleicht hassen können. Doch ich konnte ihn nur einfach nicht lieben.

Ich stellte mir vor, Hans wäre noch auf der Kirchweih geblieben und Misch und ich wären allein. Würden anhalten, und ich könnte sein Gesicht in meine Hände nehmen. Es mitnehmen hinter meine Augen, wo es unberührt bleiben würde von den kleinen Katastrophen eines langweiligen Lebens. Nur in Gedanken bleiben die Dinge schön.

»Es gibt nicht mal mehr Butter!« Hans sprach laut, seine Stimme übertönte das Knirschen der Räder auf dem Schotter. »Wo sind denn die ganzen Sachen aus dem Fernsehen? Davon könnte man drei Dörfer sattkriegen. Und was ist, wenn es stimmt? Wenn er wirklich alles plattwalzen lässt? Es sind nur drei Kilometer! Drei Kilometer bis zur Freiheit. Warum machen wir es nicht heute Nacht?«

Weder Misch noch ich gaben ihm Antwort, es wäre sinnlos gewesen. Hans hörte nicht zu. Misch hätte schon hundertmal abhauen können, er hatte einen Plan, den Willen und die Kraft. Er blieb unseretwegen, auch wenn er es nicht zugeben wollte. Er wartete darauf, dass Hans seine Drohungen wahrmachte und ich ihm folgte.

Aber ich wollte nicht weg. Ich wollte mir nichts anderes vorstellen außer heißen Augusttagen und Wintern, in denen sich die Kälte fest gegen die Fenster drückte. Nichts außer dem Frühling, wenn die alten Frauen ihre Bänke vor den Häusern bezogen und ich das kratzige Singen ihrer Stimmen hörte, die nichts erzählten, was mich interessierte. In einem Tonfall, der immer klang wie eine Tür, die sich für jemanden öffnete, der sehr lange fort gewesen war.

An trägen Nachmittagen hatte mich das Erzählen der Alten oft gewiegt, während durch das Fenster weiches Licht fiel und die Möbel bedeckte wie Blütenstaub. Was sollte denn werden mit meiner Mutter und meinem Vater, deren Rücken gekrümmt waren vom vielen Bücken? Wie tief würde sie mein Fortgehen beugen? Und die Hunde? Würden sie sich nicht heiser bellen, wenn ich nicht Tag für Tag durch das quietschende Tor trat? Wie sollten ausgerechnet sie verstehen, warum ich weg war?

»Pass auf!« Misch griff nach meinem Arm, und ich legte die Hände schnell zurück auf den Lenker, bevor ich das Gleichgewicht verlor.

»Sie ist betrunken!« Hans lachte und trat in die Pedale, bis er mit mir auf gleicher Höhe war.

Ich schaute geradeaus. »Ich brauch eine Pause«, sagte ich. Bis nach Hause war es nicht mehr weit, doch ich war aufgewühlt und würde ohnehin nicht schlafen können.

Am Maisfeld hielt ich an. Ein Baum fasste mit dünnen Zweigen nach dem Himmel. Wir stellten unsere Räder ab, und Hans ging einige Schritte ins Feld, um zu pinkeln. Misch und ich setzten uns unter den Baum. Meine Hände waren warm geworden während der Fahrt, ich grub die Finger in die kühle Erde.

»Weißt du schon, wann du gehst?«, fragte ich.

»Nein, noch nicht. Es ist alles geplant, aber entschließen kann ich mich trotzdem nicht.«

Wir redeten über nichts anderes mehr. Nichts sonst beschäftigte uns, als so lange zu laufen, bis das Gefühl der Erleichterung unsere Kehlen zu einem Lachen weiten würde. Unsere Kehlen waren eng geworden, seitdem wir zu bestimmten Menschen nur noch Bestimmtes sagen durften.

Dass Misch uns eingeweiht hatte, war ungewöhnlich. Die meisten verschwanden einfach. Katharina, Josef, Paul. Sie waren Namen geworden, die mich verfolgten. Die mich an jeder Ecke stellen konnten, um mich daran zu erinnern, dass Freunde von mir vielleicht tot waren, vielleicht im Gefängnis oder vielleicht am Leben und glücklicher als ich. Ich hatte keine Ahnung von Deutschland, wo sie alle hinwollten. Wenn ich »Deutschland« hörte, dachte ich an endlose Reihen von Häusern in gepflasterten Straßen, unter denen jedes Grün begraben war. Es gab Fotos, die meine Tante uns geschickt hatte. Die Tante, die vor Freude geweint hatte, als sie nach sieben Jahren einen blauen Brief erhielt und endlich mit dem Warten aufhören konnte, das bei ihr fast schon zu einer Charaktereigenschaft geworden war. Auf einem Bild standen sie und meine Cousinen vor einer Haustür, die unserer nicht unähnlich war. Aber zu dieser Tür stellte ich mir ein Gebäude vor, das in schwindelnde Höhen wuchs. Vor dem Himmel türmten sich Mauern, hinter denen Menschen wohnten und versuchten, ihre Heimat zu vergessen. Meine Cousine durfte nur eine ihrer Puppen mitnehmen, als sie gingen. Ich erinnerte mich an ihre Tränen. »Wir sehen uns bald wieder«, hatte ich gesagt, doch ich hatte sie zwei Jahre nicht gesehen, und auf dem Foto war sie mir fremd. Ihr Blick erzählte von der Einsamkeit verregneter Nachmittage, wenn draußen vor dem Fenster fremde Kinder spielen.

Hans’ Bruder war nach Amerika gegangen. Obwohl Hans Briefe von ihm bekam, sprach er nie über ihn. Es war, als hätten sie seinen Bruder tatsächlich in einer Nacht an der Grenze zu Tode geprügelt, wie alle befürchtet hatten.

Im Baum über unseren Köpfen raschelte es. Misch sah mich an, ich schlang die Arme um die Knie.

»Denk nicht so viel nach, es wird schon gut gehen. Es ist nicht so gefährlich, wie alle denken. Man muss es nur richtig planen.«

Misch war ein schlechter Lügner. Mit ihm wäre ich überall hingegangen, doch noch lieber wäre ich mit ihm dageblieben und im Sommer mit unseren klapprigen Rädern über die Dörfer gefahren.

In der Ferne krähte ein erster Hahn. Ich hob den Kopf. »Wo bleibt eigentlich Hans?«

Die Nacht schien auf einmal dunkler geworden zu sein, als ich versuchte, im Maisfeld etwas zu erkennen. Misch und ich standen auf. Wir trauten uns nicht zu rufen, wir liefen einfach los. Durch das Rascheln der Maispflanzen hörte ich Mischs Atem. Ich fürchtete, jeden Moment kalte Signaldrähte an den Schienbeinen zu spüren. Vielleicht hatten sie einen ihrer Hunde losgelassen, dessen gieriges Hecheln uns bereits folgte.

Drei Kilometer waren nicht weit, und wir hatten nicht darauf geachtet, wie lange Hans weg war. Durchs Maisfeld flohen viele, aber kaum einer war so dumm und lief betrunken in die Dunkelheit. Er würde es nicht schaffen, das wusste ich. Ohne es wirklich zu wollen, schaffte man es nicht. Unentschlossenheit war wie eine Leuchtrakete.

Mischs Finger schlossen sich um mein Handgelenk. Ich hörte das Lachen einer vertrauten Stimme. »Es lebe die Sozialistische Republik Rumänien! Es lebe die Rumänische Kommunistische Partei!« Immer und immer wieder rief Hans es in die Nacht, in die Stille, die nach den Dorffesten über den Straßen lag. Mit wenigen Schritten war ich bei ihm und drückte ihm die Hand auf den Mund. Lautlos bebte seine Brust. Hans weinte, und auch ich weinte stumm, weil ihm nichts passiert war.

Ioana versaute den Vinetesalat. Sie fuchtelte beim Reden mit dem Holzmesser herum, dann schnitt sie ungeduldig in die weichen Auberginen. Ich konnte sehen, wie Schalenstücke in der Schüssel mit dem Fruchtfleisch landeten. Meine Großmutter sah es ebenfalls und sagte nichts.

Durch die Blätter der Weinlaube fiel Licht. Wenn der Wind in die Reben über unseren Köpfen fuhr, wechselten die Blumen auf der Plastiktischdecke ihre Farbe im Spiel von Sonne und Schatten. Ich kauerte in einem Gartenstuhl, die Augen halb offen, und wartete auf die nächste Brise. Schweißperlen standen auf meiner Nase.

»Der Hans steht vor dem Tor.« Meine Mutter trat an den Tisch, warf einen Blick in die Auberginenschüssel und dann auf Ioana.

»Schick ihn weg.« Ich war heiser, beim Sprechen wurde mir schlecht.

Meine Mutter wischte sich die Hände an der fleckigen Schürze. »Anna. Er war heute schon dreimal da.«

»Ich weiß. Schick ihn bitte weg.«

Ich ignorierte Ioana, die mich anstarrte. Keine von ihnen fragte nach. Vielleicht hatten sie Angst um uns, und die Angst machte sie milde.

Für heute war es mir egal, für heute war mir Hans egal. Er konnte sich noch zehnmal vor unser Tor stellen, wenn er wollte, es war Sonntag, und sonntags konnte ich mich verstecken. Mich hinter ihren Blicken verstecken, und sie durften sich einbilden, ein Auge auf mich zu haben.

Ioana zuckte mit den Schultern und senkte den Kopf wieder über ihre Arbeit. Meine Großmutter schloss seufzend die Augen. Sie beschränkte sich aufs Zuhören in letzter Zeit, so als hätte sie ihre Worte aufgebraucht. Ab und zu sagte sie »Kind« und meinte damit mich und noch tausend andere Dinge. »Kind« hatte sie gesagt, als Hans das erste Mal vor dem Tor gestanden war, und ich hatte verstanden, was sie mir sagen wollte. Aber heute war Sonntag, und Hans sollte bleiben, wo er war.

Ich zog die Beine enger an den Körper. Das Klackern des Holzmessers und der ruhige Atem meiner Großmutter mischten sich in das Sirren der Fliegen, die um die Sickergrube im Hof flogen. Auch meine Großmutter versteckte sich im Sonntag, halb schlafend und die dicken Hände fest über dem Bauch verschränkt. Früher hatte sie noch gesummt, jetzt ließ sie auch das bleiben. Und sie war von der Holzbank unter dem Küchenfenster auf den Klappstuhl umgezogen, dort konnte man sich besser anlehnen.

Ioana hatte mit uns zu Mittag gegessen. Als Kind hatte ich gedacht, sie sei die Schwester meiner Mutter, denn ich sagte »Tante« zu ihr, und sie sahen einander ähnlich. Beide hatten schwarzes, dünnes Haar und eng zusammenstehende Augen. Das Haus rechts von Ioanas Haus war jetzt verlassen und auch die zwei Häuser, die unserem gegenüberlagen. Ioana erzählte uns, sie müsse manchmal mitten in der Nacht aufstehen, weil sie glaube, das Tor nebenan gehört zu haben. Oder sie träume, sie schaue aus ihrem Fenster und eines der Häuser wäre erleuchtet. Nicht so, wie sie es kannte, sondern als hielte jemand die Sonne darin gefangen. Und wenn sie die Schatten sah, die das Haus auf die Straße warf, erkannte sie, dass Menschen in den Fenstern standen. Doch dann schaute sie auf das Haus zurück, und da war nur das Licht, das aus leeren Fenstern fiel. Der Traum machte ihr Angst.

»Ioana, die Schalen!« Jetzt hatte meine Mutter doch etwas gesagt. Sie und Ioana fingen an, die Schalenstücke aus dem grauen Fruchtfleisch zu fischen. Ioana schimpfte. Sie fluchte ausgiebig, begann mit dem versauten Salat und hörte mit allen Müttern und Göttern des großen Genies der Karpaten auf.

Meine Großmutter sah mich an und schüttelte den Kopf. Ich merkte, dass sie ein Lachen unterdrückte.

Die Straßenbahn brachte mich in die Stadt, das Versteckspiel war vorbei. In meiner Hand baumelte trostlos eine Mohnblume.

Hans hatte an den Gleisen gestanden, übernächtigt sah er aus, und anstatt etwas zu sagen, drückte er mir die Blume in die Hand, und ich konnte nichts anderes tun, als zu lächeln. Wenn Hans den Mund aufmachte, musste ich ihn manchmal hassen, doch heute war er so still, dass ich gezwungen war, seine Gedanken zu erraten. Ich riet absichtlich falsch. Andernfalls hätte ich seine Hand in der Straßenbahn nicht nehmen können, und ich bildete mir ein, dass er das brauchte, bevor er für Stunden in der Fabrik verschwand.

Wir gingen die grob verputzte Friedhofsmauer entlang, auf der Straße, von der aus man auf das Fabrikgelände abbog. Noch war es ruhig, nur hin und wieder störte ein Auto die morgendliche Stille.

Hans hätte auf die Universität gehen können. Bevor sein Bruder abgehauen war. Mit seinem Bruder gingen auch Hans’ Wünsche, zumindest seine wirklichen. Nicht die, die sich in die Lücken der alten Wünsche zwängten, sodass jeder sehen konnte, dass sie dort nicht hingehörten. Hans hatte außer seinem Bruder keine Geschwister, und jetzt fütterte er auf dem Hof seiner Eltern die Schweine und fuhr den Mähdrescher und tat auch sonst alles, wofür ihm neben der Arbeit Zeit blieb. Das war nichts Schlimmes, Hans hatte das auch früher neben der Schule getan, und er tat es gerne. Das Problem war, dass er nicht in die Stadt fahren wollte, um den ganzen Tag Aluminiumplatten an eine Fräse zu verfüttern. Hans wollte in die Stadt fahren, um zu studieren, doch diesen Wunsch hatte sein Bruder mitgenommen.

Ohne ein Wort zu sagen, ohne einen Brief zu hinterlassen, war er einfach verschwunden. Trotzdem konnte man ihm nichts vorwerfen. Man konnte niemandem vorwerfen, dass er frei sein wollte. Und so war es mit allen, die fortgingen, sie waren nicht verantwortlich für die Leere, die nach ihrem Verschwinden die Häuser besetzte. Sie konnten nichts für das Gefühl gemachter Betten am Morgen, denn sie waren ja weg und hatten nicht die Absicht, etwas dazulassen. Etwas, das ihren Platz einnahm und als stummer Gast in die Suppe starrte, die in einem überzähligen Teller kalt wurde.

»Bis später«, sagte Hans, als wir uns trennten, um zu den Umkleiden zu gehen.

Es war das erste Mal an diesem Morgen, dass er den Mund aufmachte. In manchen Momenten sah ich ihn mit völliger Klarheit. Dann wurde mir bewusst, dass sein Bruder ein Gespenst für ihn dagelassen hatte, das schwer an seinem Arm hing. Lieber Hans. Das Versteckspiel hatte mich weich gemacht. Meine Großmutter hatte »Kind« gesagt, und ich hatte besser hingehört, als ich wollte.

Mittags trafen wir meine Mutter in der Markthalle, wo sie an einem kleinen Stand Gemüse verkaufte. Die Sonne brannte auf das Wellblechdach der Halle, die Luft war stickig. Verborgen hinter den Kisten mit Tomaten und Auberginen saß meine Großmutter. Hans ging zu ihr und griff nach ihrer Hand. Er sagte etwas, und meine Großmutter lachte auf. Ich konnte die wenigen Zähne ihres Unterkiefers sehen. Ihre Stimme knarrte so herrlich, so unerwartet, dass ich plötzlich nicht mehr sicher war, ob sie wirklich angefangen hatte zuzuhören oder vielleicht nur aufgehört hatte zu reden.

»Und, streitet ihr euch noch?«, fragte mich meine Mutter.

»Wir haben uns nicht gestritten, Mama.«

Sie schüttelte den Kopf und fing an zu erzählen. Dass der und der da gewesen sei und das und das gesagt habe. Ich nickte und sah meine Großmutter an. Sie lachte wie ein Kind, und Hans hielt ihre Hand.

Als wir nach Feierabend die Fabrik verließen, kamen Hans die Worte, die er den Tag über zurückgehalten haben musste. Ich fragte mich, was meine Großmutter am Mittag so hatte lachen lassen. Ihr hatte er bestimmt nicht erzählt, dass der kleine, haarige Vorarbeiter ständig in seinem Büro verschwand, wahrscheinlich, um seinen Bericht für die Securitate zu schreiben.

An der Straßenbahnhaltestelle stand Misch, er wartete auf uns. Hans strahlte, als er ihn sah, offenbar hatten sie sich ausgesprochen. Oder auch nicht. Misch war mit Hans schon immer nachsichtig gewesen. Als sie Kinder gewesen waren, hatte Hans den Küken am Hof von Mischs Eltern einmal Schnaps zu trinken gegeben. Am Anfang lachten sie noch über die Federkugeln, wie sie durchs Heu stolperten und ständig umfielen, doch irgendwann waren die Küken nicht mehr aufgestanden.

Misch hing sehr an den Tieren. Seine Eltern hatten versucht, ihn schon früh an das Schlachten zu gewöhnen. Doch er hatte geschrien wie am Spieß, lauter noch als die Schweine, deren Blut Schwall um Schwall den Trog füllte, und da hatte er nicht mehr zusehen müssen. Misch ging auch später noch ins Haus, wenn geschlachtet wurde, und wenn er zurückkam, war er blass.

Das mit den Küken war Hans’ Idee gewesen, er versprach, dass nichts Schlimmes passieren würde. Misch hätte jeden anderen verprügelt und nie wieder ein Wort mit ihm gesprochen. Doch damals, als die Küken wie Stofftiere im Heu lagen, ging er einfach aus dem Stall in die Wohnküche und bat seine Mutter, Hans nach Hause zu schicken.

Am nächsten Tag hämmerte es im Hof. Mischs Mutter sah, wie Hans ein Schild an den Verschlag mit den Hühnern nagelte: Bitte niemals mit Schnaps füttern. Danach sprachen sie nicht mehr darüber, und so war es zwischen den beiden irgendwie immer.

In der Straßenbahn redeten sie über Hans’ Geburtstag. Darüber, was sie alles brauchen würden und was sie mit wem tauschen müssten, um an Bier zu kommen.

»Ich war heute auf dem Markt.« Misch sah mich an, und ich dachte an den Heimweg von der Kirchweih. Der verdammte Schnaps. Noch immer tat mir der Kopf davon weh.

»Ich war später dort als ihr, ich hab euch verpasst«, fuhr er fort. »Pass bloß auf, ich glaube, deine Großmutter ist in Hans verliebt.«

Die beiden lachten so laut, dass die Leute in der Straßenbahn sich zu ihnen umdrehten. Mir fiel ein, dass ich die Mohnblume in der Arbeit hatte liegen lassen.

Die Zeit der besetzten Bänke ging langsam zu Ende. Vor den Häusern war es leer und still, die Leute saßen in den Küchen. Dampfende Brühe und feuchte Gesichter, die vorsichtig in die Löffel pusteten.

Ich konnte Hans’ Mutter durch eines der Fenster des gedrungenen Hauses bereits von der Straße aus sehen. Sie war eine geschäftige Frau, die immer in Bewegung war. Doch an diesem Abend stand sie reglos da, mit dem Rücken zum Fenster, und starrte auf einen Punkt im Zimmer, der unseren Augen verborgen war. Ich schaute Hans an, er schien nichts bemerkt zu haben. Oder er kannte das schon und hatte sich daran gewöhnt, dass es Gedanken gab, die seine Mutter manchmal festhielten.

Hans schob das Tor auf und ging mit langen Schritten über den Hof. Seine Mutter hatte uns gehört und erschien in der Tür, ihre Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. »Setzt euch«, sagte sie und verschwand wieder im Haus, um kurz darauf mit zwei randvollen Gläsern Milch zurückzukommen. Wir setzten uns auf die Bank, ich nippte an der fettigen Milch und hörte dem Gespräch der beiden zu, das immer gleich abzulaufen schien. Sie fragte ihn nach seiner Arbeit, und er sagte, alles sei wie immer gewesen. Dann schwiegen sie, bis seine Mutter die Hände zusammenschlug und unter einem Vorwand ins Haus zurückging.

Als wir in der Küche Geschirr klappern hörten, griff Hans nach meinem Glas und trank es in schnellen Zügen aus. »Danke«, sagte ich, und er lachte über meinen schuldbewussten Blick. Er wischte sich über den Mund und stand auf. »Komm mal mit, wir haben ein neues Lamm.« Erstaunt sah ich, wie er in Richtung Stall ging und mich hinter sich herwinkte. Er wusste, dass mich das Lamm nicht interessierte. Was er da tat, war ein fast vergessenes Spiel, das wir früher oft gespielt hatten, um seiner Mutter zu entwischen. »Komm, ich zeig dir die Küken.« Und dann standen wir in einer dunklen Ecke des Stalls, Stroh kratze an meinem Rücken, und Hans’ Hände zitterten unter mein Kleid. Es kam mir vor, als wäre es ein halbes Leben her, dass diese Dinge eine solche Aufregung für uns bedeutet hatten. Vom ersten Moment an, als Hans und ich zusammen waren, schien sich die Zeit beschleunigt zu haben. Und auf einmal liebten wir wie Greise. Schweigend und mit müder Nachsicht.

Ich kam mir albern vor, aber ich folgte Hans in den hinteren Teil des Hofes. Wir gingen durch die Holztür des kleinen Stalls, in dem die Schafe nachts untergebracht waren. Der Tiergeruch war dicht, ich atmete schwerer. Verschlafene Körper bewegten sich im Heu, und ein Schnaufen drang durch das Dämmerlicht. Eine Leiter führte zum Strohlager. Hans nahm die Sprossen nach oben, ich stieg nach ihm hinauf. Zwischen den Strohballen stand die Hitze des Tages, es war beinahe schon dunkel. Ich kniff die Augen zusammen und sah, wie Hans begann, Nägel aus der Holzwand zu ziehen. Schließlich löste er ein langes Brett und warf es ins Stroh. Dahinter holte er zwei Rucksäcke hervor. »Wir fahren nach Cruceni am Sonntag«, sagte er.

Ich schaute auf die Rucksäcke und dann auf Hans. »Was?«

»Nach Cruceni.« Hans nickte energisch. »Wir nehmen den Zug. Wir sagen, dass wir einen Verwandten besuchen. In den Rucksäcken ist alles, was wir brauchen.« Er machte eine kurze Pause und sagte dann schneller: »Meine Mutter hat einen Cousin in Cruceni. Sein Sohn ist von dort abgehauen, es soll sicher sein. Viel sicherer als von hier aus, und auch weniger gut bewacht.«

»Spinnst du?« Ich schüttelte den Kopf.

Hans starrte mich an. »Wie lang sollen wir denn noch warten?« Er warf die Rucksäcke zu Boden und verschränkte die Arme. »Wenn der Mais weg ist, brauchen wir es auch nicht mehr machen.«

Ich ballte die Hände zu Fäusten und versuchte, ruhig zu bleiben. »Hans«, sagte ich, »in Deutschland wirst du auch nicht studieren können.«