Wohin ich immer gehe - Nadine Schneider - E-Book

Wohin ich immer gehe E-Book

Nadine Schneider

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Beschreibung

Inzwischen hat Johannes ein neues Leben: eine eigene Wohnung, einen Job und Giulia, eine Kollegin, deren Familie ihm die seine ersetzt. Nur was aus David geworden ist, weiß er nicht. Dabei wollten die beiden doch gemeinsam gehen, und gehen heißt: ihr Land verlassen, aus Ceau?escus Rumänien fliehen, ihren Familien den Rücken kehren. Um die Donau durchschwimmen zu können, haben sie beide einen drückend heißen Sommer lang trainiert, und was dabei zwischen ihnen vorgefallen ist, ist ein weiteres Geheimnis, das sie teilen. Doch irgendwann war David verschwunden, und Johannes ist ohne ihn gegangen, um neu anzufangen. Bis ihn eines Tages die Nachricht vom Tod seines Vaters erreicht und ihn zur Rückkehr zwingt. Die Gelegenheit, sich endgültig zu verabschieden, wird für Johannes zugleich eine Chance, noch einmal nach David zu suchen.Mit großer Ruhe, eindringlich und berührend, dabei klar und souverän erzählt Nadine Schneider von den kleinen Erschütterungen der großen Geschichte und den feinen Rissen, die sie in den Biografien von Menschen hinterlässt. Menschen, die auf unsicherem Grund stehen, weil ihre Geschichte an Orte zurückreicht, wo die Vergangenheit noch nicht vorbei ist.

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Seitenzahl: 227

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Die Arbeit an diesem Buch wurde mit einemLiteraturstipendium des Berliner Senats gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 Jung und Jung, Salzburg und Wien

Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung,Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehaltenUmschlagbild: Austin Quintana »Cohesion, hands«Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.comeISBN 978-3-99027-182-7

NADINE SCHNEIDER

Wohin ich immer gehe

Roman

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Dank

1

Johannes hatte einen wiederkehrenden Traum. Er träumte, dass sie ihn im Wasser erschossen. Dass sie ihn trafen, während er untergetaucht war, und er nicht mehr genug Kraft hatte, an die Oberfläche zurückzuschwimmen. In dem Moment, als sich die Kugel in seinen Rücken bohrte, wusste er, dass er sterben würde. Er spürte ein Stechen zwischen den Schulterblättern und bog sich nach hinten. Öffnete den Mund, atmete Wasser ein, dachte, ich sterbe, und wachte auf. Nichts an dem Traum, weder der Schmerz, der danach seltsam wirklich nachhallte, noch das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, ängstigte ihn so wie dieser letzte Gedanke, bevor er hochschreckte: Ich sterbe.

Sie hatten ihn nicht erwischt in jener Nacht, in der er die Donau durchquerte. Es war bewölkt gewesen und ein leichter Wind ließ die Büsche am Ufer unablässig rauschen. Johannes starrte auf die dunklen Wellen, die gegen die Felsen schlugen. Nur ab und zu erhellte sie ein Streifen Licht, wenn sich eine durchlässigere Wolke vor die Mondsichel schob. Er fragte sich, was das mit dem Wind zu bedeuten hatte und was die Wellen am Ufer darüber verrieten, wie das Wasser in der Mitte war.

Obwohl es eine milde Nacht war, schlotterte er. Irgendetwas steckte bleischwer am unteren Ende seiner Speiseröhre und wollte, dass er sich zusammenkrümmte und schlief bis in den späten Morgen. Dann hätte er einfach wieder nach Hause fahren können, so als hätte es diese Nacht niemals gegeben.

In den zwei Stunden, die er geduckt im Gebüsch abgewartet hatte, war das Boot vier Mal vorübergefahren. Es blieb ihm also eine knappe halbe Stunde, um auf die gegenüberliegende Seite zu gelangen, bevor die tastenden Lichter, die dem Motorengeräusch vorausgingen, wieder auftauchten. Erst als er den Bootsmotor gehört hatte, war ihm bewusst geworden, wie breit die Donau hier war. Das Knattern war kaum bis zu ihm in sein Versteck gedrungen.

Und doch war es eine der engsten Stellen. Die Felshänge kamen einander hier so nahe, als wären sie es, die die Schiffe am Durchkommen hindern wollten. Dabei war es der Fluss. Johannes hatte nie verstanden, warum der Abschnitt »Eisernes Tor« genannt wurde. Es war doch ein Tor aus Wasser, aus Strömungen und verborgenen Strudeln und in gegensätzliche Richtungen schlagenden Wellen. Es war das Wasser, das die Schiffe gegen die Felsen trieb. Das Wasser war das Tor und dieses Tor war alles andere als eisern. Es war wendig und bewegt und täuschte einem vor, es wäre nach allen Seiten offen. Es war viel schlimmer, als es ein Tor aus Eisen gewesen wäre.

David hatte Johannes einmal gesagt, er müsse besser schwimmen lernen. Als Johannes ihn daraufhin fragte, ob er mehr üben solle, schüttelte David den Kopf.

»Es ist nichts, was man mit mehr Übung lernen kann«, hatte er gesagt. »Es ist so, dass du Angst hast vor dem Wasser. Die müsstest du verlernen. Mit so viel Angst kann man keinen Fluss durchqueren.«

Johannes sah zu, wie das Boot wendete. Die Lichter drehten nach Osten und strichen durch die Dunkelheit, um bald darauf hinter einer leichten Biegung zu verschwinden.

Er erhob sich. Zog Jacke, T-Shirt und Schuhe aus. Die Schnürsenkel fädelte er in die Gürtelschlaufen der Hose und verknotete sie, so fest er konnte. Die Schuhe würden schwer werden im Wasser, aber er würde sie brauchen auf der anderen Seite. Er hoffte, dass er sie brauchen würde. Den Schwimmreifen hatte er bereits aufgeblasen. Es war einer für Kinder, ein Souvenir vom Schwarzen Meer, David hatte ihn ihm gegeben. Es war das Einzige, was Johannes von David besaß.

Er legte sich den Reifen um den Hals. Als er die steile Böschung hinunterstieg, rutschten Steine unter seinen Füßen weg, er verlor das Gleichgewicht. Stützte sich ab und schürfte sich die Handballen auf. Er ignorierte, dass seine Hände brannten, und versuchte, sich zu konzentrieren, in der Hoffnung, die Konzentration würde die Angst verschwinden lassen. Sie dumpfer machen. Es funktionierte nicht.

Einen halben Schritt vom Wasser blieb er sitzen und hielt sich, den Arm nach hinten ausgestreckt, an einem Vorsprung fest. Obwohl ihm die Zeit dafür fehlte, atmete er tief ein und aus und tat, was er sich für diesen Moment vorgenommen hatte: Er dachte an seine Großmutter. Daran, wie sie ein Jahr lang nur gesessen war, wie sie dünner, fahler und unglücklicher geworden war und kein Wort darüber verloren hatte. Still rückte sie dem Tod jeden Tag ein Stück näher. Sie wirkte furchtlos dabei.

Er klemmte sich den Reifen unter den Arm und robbte mit den Füßen voran ins Flussbett. Die Kälte umschloss seine Waden und sein Herz zog sich zusammen. Er richtete sich auf und tastete sich schwankend weiter, prüfte bei jedem Schritt, ob er auf dem nächsten Stein genug Halt finden würde, bevor er auftrat. Als das Wasser gerade tief genug war, ging er in die Hocke. Er stieß sich ab und fing, mit dem Oberkörper auf dem Reifen, an zu schwimmen. Kurz berührten seine Zehen noch die Steine am Grund in Ufernähe, dann trat er ins Leere. Nadelspitz stach die Kälte in seine Muskeln, sodass er befürchtete, sie würden verkrampfen. Doch er zwang sich, gleichmäßige Bewegungen zu machen und dabei möglichst tief zu atmen.

Nach einer Weile wandte Johannes sich um und sah, dass die Böschung bereits erstaunlich weit hinter ihm lag. Es musste eine Strömung geben, die ihn mit sich zog, in die Mitte des Flusses. Der Wind war auch hier draußen zu spüren, doch das Rauschen in den Büschen am Ufer war verstummt. Johannes hörte jetzt nichts als das Plätschern der Wellen und sein angestrengtes Atmen. Müdigkeit überkam ihn. Er wollte sich ausruhen, nur kurz die Augen schließen und sich schaukeln lassen. Er hatte ja den Reifen und das Wasser war ruhiger als erwartet. Es war unmöglich, dass er einschlafen, vom Reifen rutschen und hochschrecken würde, um sich schlagend und ohne Orientierung, das schwarze Wasser nicht zu unterscheiden vom Nachthimmel, sodass er einen Moment lang nicht wüsste, ob er im Himmel oder im Wasser ertränke.

Wie eine Hand packte ihn die Strömung und zog ihn ruckartig nach links, in die Richtung, aus der das Boot kommen würde. Er begann, dagegen anzuschwimmen, und Wasser schlug ihm ins Gesicht. Er presste die Lippen zusammen, doch mit der nächsten Welle drang es ihm in Nase und Augen. Er hustete und spuckte. Bunte Punkte flimmerten in der Dunkelheit. Er hörte auf zu schwimmen, umklammerte den Reifen und rang nach Atem. Gleichzeitig spürte er, dass die Strömung ihn losgelassen hatte. Die flackernden Punkte verblassten. Sein Herz raste. Er musste sich beruhigen, sonst würde er nicht weiterschwimmen können.

Kraftlos ruderte er mit den Armen und drehte sich ein Mal um sich selbst. Der Mond war hinter Wolken und die Lichtreflexionen auf dem Wasser waren ganz verschwunden. In allen Richtungen nichts als Schwärze. Er musste irgendwo in der Mitte des Flusses sein, die beiden Ufer gleich weit entfernt und versunken in Dunkelheit.

Johannes krallte die Finger in den Reifen. Auf einmal bemerkte er das Gewicht der Schuhe an den Hüften und dass seine Füße taub geworden waren. Die Wärme, die er gespürt hatte, als er gegen die Strömung ankämpfte, wich allmählich aus seinen Gliedern.

Ich schaffe es nicht, dachte er. Er dachte es zum ersten Mal. Und obwohl er sich gleich darauf sagte, dass er das nicht denken durfte, begann sich der Satz zu verselbstständigen, nahm im Rhythmus seines Atems, seines Herzschlags Fahrt auf und raste durch sein Hirn, mit einer Lautstärke, als würde Johannes ihn sich selbst ins Ohr sagen. Für einen Augenblick war er sich nicht sicher, ob er nicht wirklich sprach. Ob er den Satz nicht in die Nacht sagte, lauter werdend, stockend, sich wiederholend, wie das Rütteln und Knattern eines Motors.

In einiger Entfernung huschte ein Lichtstrahl über das Wasser. Es folgte ein zweiter, der die Böschung vor ihm beleuchtete. Vielleicht fünfzig Meter entfernt lag das Ufer. Das richtige Ufer. Die Strömung hatte ihn weit bis zur anderen Seite getrieben. Und in die Nähe des Bootes. Bald würden die Lichter ihn streifen.

Er schätzte die Entfernung bis zu den ersten Felsen, hinter denen er sich verstecken konnte. Den Reifen ließ er los. Er wollte Luft holen, doch dann vernahm er einen Ruf in der Ferne. Johannes tauchte unter.

Noch lange hatte er das Rauschen des Wassers im Ohr. Vielleicht würde ihm das Geräusch bleiben, vielleicht würde er es mitnehmen, es vor dem Zubettgehen hören, nach dem Aufwachen, damit es ihn daran erinnerte, dass der Fluss auf seltsame Weise nachsichtig mit ihm gewesen war. Er hatte ihn mit sich gerissen, aber er hatte ihn an das richtige Ufer gebracht. Johannes hatte sich nach der Donau umgesehen, mehrmals, bevor sie ganz von Bäumen und Sträuchern verdeckt gewesen war. Er hatte sich umgeblickt und sich gefragt, womit er dieses Glück verdient hatte. Das Eiserne Tor. Es war ihm zum Lachen zumute. Das Eiserne Tor hatte sich einfach geöffnet, für ihn. Du bist doch ein Sonntagskind, dachte er, die Großmutter hatte recht gehabt.

Johannes hatte eiskalte Füße. Bei jedem Schritt quoll ein Schwall Wasser aus seinen Schuhen. Es war nicht mehr lange bis zum Morgen, die Vögel sangen schon wie verrückt. Nur das Licht wollte im Wald nicht heller werden, alles war in Schatten gehüllt. Johannes hoffte und fürchtete zugleich, dass man ihn schnell finden würde. Er fürchtete, dass man ihn anschreien, ihn schlagen würde. Dass er die einzigen vollständigen Sätze, die er auf Serbisch beherrschte, vergessen hätte, sobald er die Grenzsoldaten sah. Gleichzeitig hoffte er, dass er sich daran würde erinnern können. Dass sie ihn seine Sätze aufsagen ließen und ihn fortbrächten. Er hoffte, dass er im Gefängnis etwas zu trinken bekäme. Und ein, zwei Stunden Schlaf.

Aber noch war es menschenleer im Wald. Johannes kam nur langsam voran, der steile Anstieg vom Ufer hinauf hatte ihn angestrengt. Der Weg, den er jetzt ging, war flacher und konnte nicht weit entfernt sein von der Straße. Er hatte von dort noch kein einziges Auto gehört. Die Arme um den bebenden Körper geschlungen, achtete er darauf, wo er hintrat. Er hatte plötzlich Angst, sich zu verletzen, sodass er nicht weitergehen konnte.

Er hielt den Kopf gesenkt. Nach und nach wurde es heller um ihn, vor Erschöpfung bemerkte er es kaum. Ihm fiel nicht auf, dass man schon den Tau in den Spinnennetzen zwischen den Zweigen erkennen konnte. Hätte er nach oben geschaut, hätte er sehen können, dass der Himmel ein leuchtendes Graublau angenommen hatte. Aber Johannes hob den Blick erst, als er einen dumpfen Aufprall vernahm.

Er duckte sich. Der Wald lichtete sich hier ein wenig, sodass die Strahlen der Sonne zwischen die Bäume fielen. Der Gesang der Vögel war ohrenbetäubend, Johannes hörte dennoch den Aufprall ein zweites und ein drittes Mal.

Er fuhr sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen. Er dachte an Bären und Wölfe, an streunende Hunde. Dann an Menschen. Er rief sich seinen serbischen Satz ins Gedächtnis. »Ich bin Deutscher aus Rumänien, ich möchte zur deutschen Botschaft in Belgrad.« Das hatte David ihm beigebracht. So wie er ihm gesagt hatte, er solle seine Schuhe mit ans andere Ufer nehmen und aufhören, Angst vor dem Wasser zu haben, mit so viel Angst schaffe man es nicht. David hatte ihm auch gesagt, ab wann man sich lieber nicht mehr verstecken sollte. Ab wann man mit leeren Händen gut sichtbar und aufrecht aus seinem Versteck treten sollte.

Johannes richtete sich auf. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Als er weiterging, erkannte er, dass sich der Wald zu einer kleinen Lichtung hin öffnete. Dort bewegte sich etwas. Er fragte sich, warum er keine Stimmen hörte, dann sah er zwischen zwei Bäumen den gebeugten Kopf eines Rehs. Danach den zierlichen Körper und die zum Sprung angelegten Beine, bevor das Tier aus seinem Sichtfeld verschwand und er den dumpfen Aufprall noch einmal vernahm.

Es waren keine Menschen auf der Lichtung. Johannes senkte die Arme, ging mit leisen Schritten weiter und blieb schließlich hinter einem Baum stehen.

Die Lichtung war keine Wiese, wie er erwartet hatte, der Boden zwischen den Bäumen war sandig. Sandig wie am Meer. Nur vereinzelt durchzogen Grasbüschel und Wurzeln die unebene Fläche, auf der fünf oder sechs Rehe spielten. Johannes dachte sofort »spielen«, denn sie standen nicht, liefen nicht, sie grasten auch nicht und selbst das Wort »springen« erschien ihm zu plump. Ohne aufeinander zu achten, jedes für sich, krümmten sie ihre Rücken und schnellten mit angezogenen Beinen in die Höhe. Sie landeten weich im Sand, in dem ihre Hufe versanken, knickten ein und ließen sich mit dem ganzen Gewicht zur Seite fallen. In Wolken wirbelte Staub auf, sodass es aussah, als läge ein feiner Nebel über der Lichtung. Die Tiere streckten die Hälse, rieben die Köpfe am Boden, wälzten sich auf den Rücken und erhoben sich dann wieder. Bevor sie zum nächsten Sprung ansetzten, schüttelten sie sich, mit einem Geräusch, das an Flügelflattern erinnerte. Sie wiegten die Köpfe, drehten die Ohren, ein Zittern lief über ihre Flanken und Staub fiel aus ihrem rotbraunen Fell. Immer wieder begannen sie damit, stießen sich ab und stürzten dann wie erleichtert in den Sand, so als nähmen sie an einem heißen Tag ein Bad in kaltem Wasser.

Johannes konnte den Blick nicht abwenden. Kein einziges Mal sah er eines der Tiere ein anderes berühren, sah er ein Stolpern, Wanken oder Mühsal, wenn es sich von dem weichen Untergrund erhob. Selbstvergessen sahen die Rehe aus. Kraftvoll und selbstvergessen, und Johannes fragte sich, wie das möglich war. Wie ein scheues Tier, das gejagt wurde, selbstvergessen sein konnte. Wie es sich gebärden konnte, als wäre es allein auf der Welt.

2

Er hätte die Schrift unter allen anderen auf der Welt wiedererkannt. So schrieb nur sie. Und auch ihre Mutter und deren Mutter hatten so geschrieben. Auf die Rückseite von Fotos: Monat, Jahr, Ort. Nur die Namen der Menschen fehlten immer, so als müsste man auch noch in dreißig Jahren wissen, wer da an einem Meer stand, vor einem Haus, neben einem großen Fass Wein. Oder bis zu den Knien in einem Weiher, mit strahlendem Gesicht, eine Ente unter dem Arm. Johannes hatte nie gewusst, was es mit diesem Foto auf sich hatte. Dass es ihm ausgerechnet jetzt in den Sinn kam. Dieser verschmitzte Ausdruck im Blick seines Vaters, Mai, 1947, bei Temeswar. Sein Vater ein spindeldürrer Junge, noch nicht ganz ein Mann, dessen Gesicht und Körperhaltung überhaupt nichts davon verrieten, wie er später sein würde.

Johannes zwang sich, den Umschlag nicht im Treppenhaus zu öffnen. Er steckte ihn in die Manteltasche, schloss den Briefkasten ab und nahm die Treppe statt des Aufzugs. Er war sie schon eine Weile nicht mehr gegangen, zum ersten Mal seit Langem fiel ihm der Geruch wieder auf. Der Geruch von altem Holz, das feucht ist, aber nicht feucht genug, um zu modern, sondern nur um einen merken zu lassen, dass man in einem alten Haus wohnt. Sein Herz schlug schnell vom Treppensteigen. Es passte zum Zittern seiner Hände und dem Schweiß unter seinen Armen. Woher hatte sie seine Adresse, wie hatte sie ihn gefunden?

Nach nur zwei Stockwerken musste er kurz stehen bleiben, ihm war ein wenig schwindelig. Er war nicht sportlich und außerdem leicht erkältet, wie fast schon den ganzen Winter. Er griff sich ans Ohr und rieb mit der Spitze des Zeigefingers am Rand der Ohrmuschel. Es fühlte sich noch immer dumpf an. Ob es sich auch dumpf anhörte, konnte er nicht mit Sicherheit sagen.

Kurz bevor er oben war, nahm er zwei Stufen auf einmal, dann stürzte er zur Wohnungstür. Nachdem er in den Flur getreten war, zog er ungeduldig den Mantel aus, schnürte die Schuhe auf und ging mit dem Brief in die Küche. Er fragte sich, ob er sich hinsetzen sollte. Wenn niemand da war, der zu einem sagte: »Setz dich lieber hin«, sollte man sich diesen Gefallen vielleicht selbst tun. Er tat ihn sich nicht.

Er riss das Kuvert auf, nur ein einzelnes Blatt steckte darin. Dein Vater ist umgefallen und nicht mehr aufgestanden. Das Begräbnis ist am 3. Deine Mutter

Ihre Schrift war kerzengerade, mit wenigen schwachen Schwüngen. Die Kugelschreibertinte hatte tiefe Gräben im Papier hinterlassen. Die Nachricht war mit ruhiger Hand geschrieben, obwohl der Mutter dabei der Tod über die Schulter geschaut hatte.

Jetzt erst setzte er sich, dann strich er das Papier auf dem Küchentisch glatt. 22. März 1993. Kein Ort, keine Namen, nur die zwei Zeilen in ihrer beherrschten Schrift. In Gedanken fing Johannes an, Urlaub zu nehmen, Koffer zu packen, und das alles war, als hätte er diesen Ernstfall seit Jahren schon geprobt. Er ärgerte sich darüber. Er ärgerte sich, dass die Worte der Mutter die Zeit, die vergangen war, so leicht überbrückten, ihn so mühelos fanden, in seiner Wohnung, in seinem Zuhause, sodass er nun zitternd und schwitzend in seiner Küche saß. Vielleicht hatte sie immer gewusst, wo er war. Vielleicht hatte sie gewusst, was er arbeitete, in welcher Straße er wohnte, dass er unverheiratet war und keine Kinder hatte, weil irgendwo in der Stadt ein Onkel soundsovielten Grades wohnte, der nachgeforscht und ihn ausfindig gemacht hatte und sie seitdem auf dem Laufenden hielt. Und solange Johannes noch lebte, solange er nicht krank war oder auf der Straße schlafen musste, keinen Unfall hatte und ihm sonst kein Unglück zustieß, genügte es, ihn aus der Ferne zu beobachten. Mit dem gekränkten Blick der Zurückgebliebenen, die nicht zugeben wollte, dass er sie kümmerte.

Morgen schon würde er in der Arbeit Bescheid geben. In spätestens drei Tagen losfahren. Was bedeutete, dass er seine Familie noch diese Woche wiedersehen würde. Bei dem Gedanken wurde ihm übel.

Er rückte den Stuhl nach hinten, stand auf und trat ans Fenster. Die Bäume draußen waren kahl, aber schon voller Knospen, die sich noch nicht öffnen wollten. Es war ein kalter, blasser Tag, der Himmel mit Wolken überzogen, durch die schwach die Sonne schien. Johannes hatte aufgehört zu schwitzen und fror in dem feuchten Pullover. Er legte eine Hand auf die Heizung und drehte sie dann auf. Der Vater war gestorben, bevor es Frühling geworden war.

»Die Anpassung nächste Woche macht dann meine Kollegin«, sagte Johannes laut. Er lächelte. Das laute Sprechen war für die Kunden, das Lächeln für deren Begleitung, damit die sich nicht daran stießen, wenn er die Stimme erhob.

Es war ein falsches Lächeln, Johannes glaubte nicht, dass die Augen mitmachten. Er hatte selten das ehrliche Bedürfnis, der Begleitung seiner Kunden zuzulächeln, in der Regel wollte er sie hinausschicken. Auch heute war es so gewesen, wie schon bei den früheren Terminen mit diesen kleinen, krummen Leuten, die gerade aufstanden, um sein Sprechzimmer zu verlassen. Wie Geschwister sahen sie aus.

»Meine Frau hört nicht«, hatte der Mann bei ihrem ersten Gespräch gesagt, noch bevor sie sich richtig gesetzt hatten, noch bevor Johannes eine höfliche Frage hätte formulieren können. Die Frau war still geblieben. Nickte zu den von ihrem Mann beschriebenen Symptomen und schaute nur ein Mal wie aus Versehen von ihrem Schoß auf. Ihr Blick traf den von Johannes. Sie rieb sich mit dem Zeigefinger das untere Augenlid und sah zur Seite.

Johannes hatte Mühe gehabt, bei dem Vorgespräch überhaupt etwas von ihr zu erfahren. Er war froh, wenn er in den Anpasskabinen mit seinen Kunden alleine war. Manche sprachen dort so viel, als hätten sie wochenlang schweigen müssen, denn die Schwerhörigkeit machte einige fast stumm. Die Welt wurde lauter, der Fernseher, das Radio, die Menschen um sie herum, sie hingegen wurden immer leiser. Johannes konnte ihnen tausendmal erzählen, wie gut sich die Geräte in den letzten Jahren entwickelt hatten, er konnte ihnen noch so oft erklären, dass das Gehirn sich an die Schwerhörigkeit gewöhnt und das Hören dadurch regelrecht verlernt, dass eine Hörhilfe diesen Zustand wieder etwas verbessern könne. Das alles änderte nichts daran, dass die Leute sich schämten. Sie schämten sich, wenn sie in sein Sprechzimmer kamen. Wenn er ihnen Töne vorspielte und sie feststellen mussten, dass sie sie nicht hörten. Sie schämten sich, wenn er ihnen die Ergebnisse erklärte. Und am meisten schämten sie sich, wenn sie den Laden mit einem Hörgerät verließen.

Vielleicht hatte sich auch sein Vater geschämt. Womöglich waren das schweigsame Sitzen am Abend, dessen Dauer sich am Inhalt der Schnapsflasche bemaß, das Schwanken beim Aufstehen, die tränenden Augen, die Ungeduld und der Unwille allem und jedem gegenüber einfach nur Ausdruck von Scham gewesen.

»Sind Sie denn nicht da?«

Johannes wandte sich der Frau zu, die noch immer in der Tür zu seinem Sprechzimmer stand.

»Bitte?«

Sie schloss beide Hände um den Riemen ihrer Tasche.

»Wenn Ihre Kollegin die Anpassung macht«, sagte sie, »sind Sie dann nicht da?«

»Leider nein. Ich verreise ein paar Tage.«

»Ach so.« Die Frau sah zur Seite. »Schönen Urlaub dann. Und frohe Ostern.«

»Danke.« Johannes lächelte.

Am Wochenende waren die Uhren umgestellt worden, abends blieb es jetzt auf einmal hell. Der März war für Johannes ein Monat des Ausharrens, er wünschte sich, die Zeit in der Wohnung so lange aussitzen zu können, bis die Helligkeit am Abend zum Rest der Welt passte. Denn jetzt stimmte der Frühling noch nicht. Die Sonne schien zu kalt und grell auf die kahlen Bäume und Sträucher und die aschgrauen Wiesen.

Als Johannes in das Haus mit dem braun gestrichenen Sockel gezogen war, war Frühsommer gewesen. Das Haus hatte wie eines gewirkt, an dessen Geruch man sich schnell gewöhnte, in dessen Sauberkeit man sich nach einer Reise zurücksehnte, wie eines, in dem es sonntags Kaffee und Kuchen und laute Enkelkinder gab. Doch in Johannes’ erstem Winter in Nürnberg hatte es dann ausgesehen, als würden darin lauter alte Leute auf Besuch warten.

Er war froh um den kleinen Garten, den ihm seine Nachbarn regelmäßig überließen. Im Frühjahr, wenn sie nach Spanien reisten, kniete Johannes drei Wochen lang jeden Nachmittag in kahlen Beeten und säte Samen aus. Er pflanzte Kohlrabi, Rüben, Zuckererbsen, Kopfsalat und setzte sogar Kartoffeln, klopfte die Erde darüber glatt und rechte sie dann locker auf. Er schnitt Brombeersträucher zurück und düngte das kleine Rasenstück vor dem Gartenhäuschen. Mit bloßen Händen fuhr er über die verlausten Zweige des Oleanders und übergoss sie mit verdünnter Seife. Der Oleander erholte sich.

Johannes wäre gern ein Stadtmensch geworden, hätte sich gern keinen Deut um dieses kleine Stück Erde geschert. Er hätte gern wie ein Schrebergärtner im Frühling Gartenzwerge abgestaubt und ein paar Blumen gepflanzt, aber er konnte nicht. Als ihm seine Nachbarn den Garten das erste Mal anvertrauten, fragte er, was er damit machen dürfe.

»Alles, alles dürfen Sie damit machen«, antworteten sie und strahlten, als sie Johannes Monate später eine Tüte voller winziger Kartoffeln brachten. Die Kartoffeln waren mundgerecht, man musste sie nicht einmal schneiden.

»Ich bin zurück, bevor Sie nach Spanien fliegen«, sagte er zwei Tage, bevor er aufbrechen wollte, zu seiner Nachbarin. Sie stand in ihrer Wohnungstür und schaute ihn besorgt an.

»Passen Sie auf sich auf dort«, sagte sie.

»Es wird nicht mehr so sein wie früher«, sagte er.

Sie hob die Augenbrauen und zog gleichzeitig die Mundwinkel nach unten. »Na hoffentlich.« Dann legte sie die Hand über das goldene Kreuz, das in den Falten ihrer Bluse hing.

Johannes schaute auf ihre Mundwinkel und dann auf ihre langen Finger und die sorgfältig gefeilten und lackierten Nägel, die über der Kette mit dem Kruzifix lagen. Und er fragte sich, ob sie mit ihm verwandt sein könnte.

3

Er nahm die U-Bahn fast zwei Stunden früher als sonst. Der Wagen, in dem er saß, war leer. Durch das Fenster am Ende des Gangs beobachtete er, wie im nächsten Abschnitt eine Kindergartengruppe einstieg. Er sah bunte Rucksäcke und gemusterte Winterjacken, Münder, die sich unablässig bewegten. Eine Kindergärtnerin, die einen Finger an die Lippen legte. Bei ihm im Abteil blieb es still, so als schaute er durch die Scheibe einen Film ohne Ton.

Er dachte wieder an die Mundwinkel der Nachbarin. An ihren Jahrmarkter Dialekt, den er sofort erkannt hatte, als sie kurz nach seinem Einzug mit Honigschnitten bei ihm geklingelt hatte. Etwas in seiner Brust hatte sich zusammengezogen, als sie ihn auf Schwäbisch fragte, woher er komme. Er log und nannte einen Ort nahe der ungarischen Grenze. Zu seiner Erleichterung hatte sie gesagt, dass sie dort niemanden kenne.

Johannes drückte Mittel- und Zeigefinger auf den geschwollenen Lymphknoten hinter seinem rechten Ohr, dann zwang er sich, die Hand in den Schoß zu legen. Er schloss die Augen.

Man konnte seine Familie verlassen, man konnte hunderte von Kilometern zwischen sich und die Orte seiner Kindheit bringen, man konnte gut vergessen üben, mit einem tückischen Fluss im Rücken, der einen trennte von den ganzen Verwandten und Verschwägerten, von den Blutsbanden, den Wie-aus-dem-Gesicht-Geschnittenen, aber eine Familie ließ sich so leicht nicht loswerden. Sie hatte ihre eigenen Wege und früher oder später begegnete man ihr auf einem dieser Wege wieder. Zum Beispiel, wenn man eines Tages in den Spiegel schaute und sah, dass man einen Zug um den Mund hatte, der einen an jemanden erinnerte. Man drückte an den Wangen herum und fragte sich, wann das passiert war. Oder man hatte Gedanken, die vorher nie dagewesen waren, die nichts anderes als vererbt sein konnten. Dann dachte man plötzlich, man habe zu wenig Geld, man müsse irgendwann verarmen. Man dachte, jemand wolle einem Böses, wolle einem in den Rücken fallen, und mit einem Mal saß man im Kopf wieder in seinem Dorf und fühlte sich aus allen Fenstern beobachtet.

Johannes kannte das alles und es ängstigte ihn nicht. Er dachte, dass er es ihnen lassen könnte. Dass sie ihn ruhig verfolgen sollten, dass er es ihnen schuldete, weil er fortgegangen war. Deshalb nahm er die kreisenden Gedanken hin, die ihn nicht schlafen ließen, sah sie sich am nächsten Morgen an und erkannte, woher sie kamen. Und er hielt an schlechten Gewohnheiten und eingefahrenen Verhaltensweisen fest, selbst an solchen, die ihn quälten. Er hatte ja nicht ahnen können, dass das noch lange nicht alles war. Dass seine Familie noch einen Trumpf im Ärmel hatte. Weil er noch jung war, hatte er einfach nicht daran gedacht.

Kurz vor Weihnachten hatte Johannes’ Chef wie jedes Jahr die Mitarbeiter aller Filialen zum Essen eingeladen. Johannes und Giulia waren früh gegangen und hatten in Kauf genommen, dass man ihnen grinsend und mit großen Augen die Hand zum Abschied gab, um ihnen dann noch einen schönen Abend zu zweit zu wünschen. Draußen auf der Straße lachten sie darüber.

Nach der Hitze in dem überfüllten Lokal tat die Kälte gut. Johannes hielt die Nase in die Armbeuge, sein Mantel roch nach Zigarettenrauch und gebratenem Fleisch. Der Geruch mischte sich in den Geschmack von Ouzo und Knoblauch in seinem Mund.

»Mir ist schlecht«, sagte Giulia und hielt sich den Bauch. »Warum müssen wir eigentlich immer zum Griechen gehen?«

»Ich hab Magenbitter zu Hause.«