Drei Leichen im Naturschutzgebiet Stang Bihan - Anton Gögele - E-Book

Drei Leichen im Naturschutzgebiet Stang Bihan E-Book

Anton Gögele

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Beschreibung

August Ötter, ein Schwabe wie aus dem Bilderbuch, stolpert im bretonischen Forêt du Stang Bihan über eine Leiche, die zu seiner Verblüffung mit dem von ihm selbst entwickelten Dreikomponentenleim Puröttil unauflöslich am Boden festgeklebt wurde ... Welches Geheimnis birgt der Wald von Stang Bihan? Und wo steckt dessen mysteriöser neuer Besitzer? Kommissar Durey ermittelt.

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Ähnliche


Anton Gögele

DREI LEICHEN

IM NATURSCHUTZGEBIET STANG BIHAN

Kriminalroman

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Danksagung

1

Ötter hatte unruhig geschlafen und war an diesem Morgen angespannt, was gar nicht zu seiner Eigenart gehörte. Heesterjong hatte sich bei ihm in den ganzen vier Jahren nie mehr gemeldet. Er war ihm damals in seinen Westfrankreichferien begegnet. Diesen Mann hatte er aus zwei Gründen in genauer Erinnerung behalten. Der eine Grund war sein eigenes Ansinnen, mit dem Mann eine geschäftliche Verbindung herstellen zu wollen, der zweite, dass dieser Mensch von seinem Aussehen, seiner Mimik und Gestik her auch nach vielen Jahren für ihn noch unverkennbar sein würde. Heesterjong war ein hochgewachsener Mann mit strohblonden, bis knapp über die Schultern herabhängenden Haaren und stahlblauen Augen mit außergewöhnlich großen Pupillen. Er schien Ötter sehr energiegeladen zu sein; Menschen dieser Art bevorzugte Ötter in Diskussionen, weil sie energetisch ziemlich seinesgleichen zu sein schienen.

Die Fortbewegungsart dieser merkwürdigen Gestalt schien ihm besonders auffallend. Der Mann hatte damals auf ihn gewirkt, als würde ein Kopf voller Ideen den restlichen Teil seines Körpers wie eine Qualle ihre Tentakel hinter sich herziehen oder als würde er wie von hinten über dem Steißbein von jemand anderem gedrückt und bei jedem Schritt wellenartig angeschoben. Offenbar bewirkte diese wellenartige Schubweise oder das vom Kopf aus Gesteuerte, oder was sonst auch immer es sein mochte, beim Gehen in Heesterjongs Knien ein ständiges Wippen und Federn. Ötter fiel an dem Fremden auch noch eine Narbe auf, die sich von der Mitte der rechten Wange senkrecht nach unten bis unters Kinn erstreckte, und dass die linke Schulter extrem hochgezogen war und viel näher am Hals als die rechte, fast so, als wäre sie ohne Schlüsselbein direkt mit dem Hals verbunden. Die Narbe ließ den Mann wagemutig bis tollkühn erscheinen. Und selbst der Name ging dem Badener aus dem Schwarzwald nicht mehr aus dem Kopf. Ötter würde ihn also jederzeit wiedererkennen.

Damals, als Ötter in Kérantérec am Campingplatz Kerleven verweilte und einen Tagesausflug hinüber in den Wald von Stang Bihan auf der Halbinsel vis-à-vis machte, war er dort auf besagtem Gelände dem Norddeutschen begegnet, und sie waren beide in Nullkommanix in eine interessante Diskussion geraten – interessant für ihn, den Biologie- und Chemielehrer, und ihn, den Tüftler in seinem Privatleben.

Der damals ihm noch Fremde hatte ihm gegenüber ganz vertraut und von schierer Begeisterung getragen von einem möglichen Projekt gesprochen, hier draußen auf den Klippen von Stang Bihan eine Erforschungsstation für das Zusammenspiel von Kleinstlebewesen am rauen Meer zu errichten. Der Wald sei erst vor Kurzem zum Naturschutzgebiet erklärt worden. Das sei für ihn einmalig und gerade genau das Richtige, weil man darin dann in Ruhe forschen könne, da die Umwelt an so einem Ort nicht ständig durch Besucher gestört würde, erklärte Heesterjong. Das wirke sich nämlich bis auf die Kleinstlebewesen aus, da ja ihre Jäger, die Nager, Reptilien und Vögel, sonst von den Menschen ständig verscheucht würden. Auch von seiner Forschungsstation würde der größte Teil des Waldes nicht tangiert werden; er denke nur an einen kleinen Eingriff in die unberührte Natur. Jedoch müsse er sehen, wie er dafür die Lizenz erhalte, was wegen des Naturreservats schwierig sei. Es würde ihm aber sicher gelingen; einen Weg dahin werde er schon finden, »Das werde ich schon deichseln«, war sein Ausspruch gewesen, was Ötter imponiert hatte. Dann hatte Heesterjong die Aussage selbst rasch wieder zurückgezogen, die er auf die Schnelle in die Luft gepustet hatte: »Behalten Sie das für sich; ich habe Ihnen nichts erzählt, und das war nur eine kleine Fantasiereise.« Doch Ötter hatte damals nicht den Eindruck, dass das nur eine Floskel gewesen war. Es war ihm alles Gesagte zu durchdacht gewesen.

Ötter hatte damals vermutet, dass er selbst dem anderen die Botschaften nur durch ihm eigene geschickte Unterhaltungsmechanismen entlockt haben musste. Seine unvoreingenommene Offenheit musste dann wohl dem anderen die Zunge gelöst haben, und erst spät schien der es gemerkt zu haben, dass es nicht grundsätzlich gut sei, solche Geheimnisse Fremden gegenüber frei herauszuplaudern. Ötter hatte sich damals schon einen eventuellen Vorteil an dem Projekt erdacht, musste dem anderen wohl auch auf den Leim gegangen sein, denn der andere hatte den Kontakt nach nur wenigen Sätzen sofort wieder abgebrochen und sich nie mehr gemeldet. Erst später war Ötter bewusst geworden, dass dieser Herr ihm selbst ebenfalls ein eigentliches Geheimnis entlockt hatte, seinen Dreikomponentenleim Puröttil, den er etwa ein Jahr zuvor entwickelt hatte. Genau so etwas brauche er, hatte der andere zu verstehen gegeben – mit einem Gesichtsausdruck, der eingestand, in Ötter genau dem richtigen Menschen begegnet zu sein. Ötter hatte ihm erklärt, dass man den bei der Firma, welche von ihm die Lizenz habe, bestellen und die Informationen dazu im Internet leicht abrufen könne. Insgeheim hatte er sich darüber gefreut, wie die Nachfrage an seinem Spezialprodukt zu steigen schien und bis nach Frankreich reichte. Umso mehr hatte er sich etwas vorgenommen: In sicher weniger als drei Jahren käme er selbst wieder nach Frankreich, und da könnten sie sich näher darüber unterhalten. Doch mit der Erklärung musste des Fremden Wissenshunger schon gestillt gewesen sein. Wie hatte der ihm das Geheimnis entlocken können? Er hatte es sich doch nicht auf seine Stirn geschrieben?

Damals, vier Jahre zuvor, schwebte Ötter auch vor, dass er mindestens einmal im Jahr in seinen Ferien vielleicht auch die Möglichkeit hätte, hier an diesem Ferienort ganz offiziell jeweils für ein bis zwei Wochen zu forschen. Diese Möglichkeit vielleicht sogar verbunden mit einem Schüleraustausch zwischen Schülern seiner Klasse und französischen Schülern, denen seine Schule im Schwarzwald desgleichen Möglichkeiten bieten könnte, dort ebenso Interessantes zu erleben. Dafür hätte er genügend Ressourcen zur Verfügung, deren Aufenthalt spannend zu gestalten. Zwar sei Dole du Jura die Partnerstadt von Lahr und erhielt jedes Jahr Schüler aus Lahr im Austausch, aber es gäbe genügend Gründe, mit seiner Schulklasse auch einmal eine Woche in der Bretagne zu verbringen. Bisher war er mit seinen Schülern jedes Jahr eine Woche lang in dieser reizenden Stadt im französischen Jura gewesen. Als Erstes hatten sie dort immer das Museum der schönen Künste besichtig. Ebenso stand am ersten Tag das Kriegerdenkmal auf der Tagesordung und war anschließend Anlass zu einer Diskussion, womit er einer wirklich deutsch-französischen Partnerschaft Genüge tun wollte, was ihm auch immer schon sehr am Herzen gelegen hatte. Dann war eine Paddelfahrt auf dem Doubs an einem Tag im frühen Morgennebel geplant gewesen, ganz je nach Witterung, was allen Schülerinnen und Schülern als besonderes Erlebnis in Erinnerung geblieben war, selbst denen, bei denen sich hinsichtlich Kultur kein großes Interesse regte. Bei schlechtem Wetter hatten sie immer die Kathedrale und Stiftskirche Notre Dame mit ihrem gewaltigen Kreuzschiff besichtigt, sie waren durch die engen, aber hellen Gässchen mit ihren schmucken kleinen Geschäften geschlendert, waren auf den Promenaden spazieren gegangen, hatten den Rhein-Rhône-Kanal, den Markt und viele Hinterhöfe mit ihren Kunst- und Pflanzenschätzen besucht. Entzückende Hinterhöfe, die auch in einem simplen Menschen unglaublichste Fantasien anzuregen vermochten, auch Hinterhöfe, die längst am Zerfallen sind. Sie waren die steilen Treppen auf- und abgestiegen und hinunter zum großen Brunnen gestiefelt, welcher wegen seiner fast unglaublichen Vielfalt der Gestaltungsart und seiner absoluten Einmaligkeit eines Brunnens auch wirklich in jedem Schüler einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Und sie hatten im Rathaushof am letzten Tag in jedem Jahr ein kleines Theaterstück aufgeführt. Einmal hatten sie das sogar in die engen, steilen Gassen verlagert. Natürlich war das allezeit ein reiches Programm gewesen, und nicht alle anderen Klassen hatten mit so etwas auftrumpfen können. Aber warum nicht einmal etwas Neues? Konkurrenz? Warum denn? Konkurrenz belebt das Geschäft, regt an zu Neuem; das konnte für seine Schule nur gut sein. Ötter würde so viele Argumente für eine Woche in der Bretagne aufbieten können, dass diese ihm weder von seiner Schulleitung noch einer höheren Unterrichtsbehörde ausgeschlagen werden könne, dessen war er sich sicher gewesen. Wenn er ein Stück Küstenstreifen einem Ort wie Dole schon vorziehen wollte, so musste es driftige Gründe dafür geben.

Jetzt, wo er wieder hier auf Urlaub war, und diesmal gar nicht in so uneigennütziger Weise, denn eines seiner ersten Ziele war der Wald von Stang Bihan, wollte er sich umschauen, ob aus Heesterjongs Plänen schon etwas gediehen sei und ob er ihn vielleicht antreffen würde. Immerhin war ihm noch am Ankunftstag sofort am Ende der Landzunge zum Meer hin ein Leuchtturm aufgefallen, den es vier Jahre vorher noch nicht gegeben hatte. Wenn man einmal in Kérantérec war und dann auf die bewaldete Halbinsel oder an ihr vorbei in Richtung Concarneau hinüberblickte, konnte einem das nicht entgehen.

Nun war er also beim Verwirklichen seines tiefsten Ansinnens. Er hatte dem Fremden damals viel von sich erzählt, von all seinen Hobbys, von seinem Beruf. Er selbst hatte eigentlich viel mehr gesprochen, was ihm erst jetzt aufgefallen war. An seinen Offenbarungen hatte der andere sich zunächst äußerst interessiert gezeigt, ja regelrecht gelabt. Da könne er Ötters Anregungen und in so vielen seiner unterschiedlichen Angelegenheiten wegen ihrer fachlichen Geschliffenheit sicher sehr gut gebrauchen. Er würde sich gerne in einigen Sondergebieten von ihm beraten lassen und mit ihm gemeinsame Sache machen wollen. Ötter hatte ihm noch seine Anschrift gegeben, während dieser vom anderen nur eine Visitenkarte mit Namen und Beruf, aber ohne Anschrift oder Mailadresse erhalten hatte. Eine Telefonnummer, die auf dem Kärtchen stand, hatte sich als nicht zutreffend erwiesen: »Diese Nummer ist nicht vergeben.« Der angebliche Grund für das Fehlen einer Adresse: Momentan sei er gerade ohne festen Wohnsitz, weil er sich auf der Welt umsehe, wo er seine Vorhaben am besten umsetzen könne. Priorität habe für ihn diese Gegend, weil er sie gut kenne und sich seine Pläne hier am besten verwirklichen ließen. Aber Ötter solle ihn einfach in ein paar Jahren hier besuchen. So sicher hatte das damals geklungen, so, als hätte er damals schon genau gewusst, dass es dieser Platz sein würde, auf dem er das Institut einrichten wolle, und er die Genehmigung mit absoluter Sicherheit erhalte. Ötter hatte dem Fremden fest geglaubt. Schlagartig hatte Heesterjong aber dann sein Gespräch mit einem Satz abgebrochen. Er hatte sich freundlich per Handschlag verabschiedet; er stehe unter massivem Zeitdruck. Wie vom Teufel getrieben, war er dann an der äußersten Spitze der Landzunge die Felsstufen hinabgestiegen zu seinem Boot, das an einem Baum oberhalb der Flutgrenze festgemacht gewesen war. Fort war er dann gewesen, einfach blitzschnell fort. Diese scheinbare Wichtigkeit hatte sich in Ötters Gedächtnis stark eingebrannt.

Daheim hatte Ötter nach seinem Urlaub sofort im Internet nach diesem Haans Heesterjong gesucht. »Haans mit Doppel-A« hatte er ihn noch gut in Erinnerung. Seine Nachforschungen hatten nichts ergeben. Es gab keinen namens Heesterjong; den Namen gab es überhaupt nicht. Dabei hatte der Name für Ötter echt friesisch geklungen, ein bisschen Niederländisch darin, ein bisschen Englisch oder sonstwie Nordisch, so dass er keine Zweifel hatte, trotz mangelnder Anschrift auf der Visitenkarte. Es hatte dem Badener eingeleuchtet, dass man für eine Zeit lang am freiesten sein kann, wenn man sich auch bezüglich Adresse unabhängig macht. Ötter hatte aber trotzdem versucht, über eine Forschungseinrichtung auf Stang Bihan etwas im Internet herauszufinden. Alle Nachforschungen waren jedoch ins Leere gelaufen. Das war jetzt seit seiner Erkundung genau vier Jahre her.

Nun war er nach diesen Jahren wieder in dieser Gegend. In den zwei Jahren zuvor war es ihm aus einer Reihe wichtiger Gründe nicht möglich gewesen, bis in die Bretagne zu kommen. Auch für ihn selbst war diese Region stets das bevorzugte Urlaubsziel. Die rauen Winde machten seinen Kopf frei, weshalb er sich in diesem Landesteil immer am liebsten in Meeresnähe aufhielt. Zwar vertrugen seine Ohren die Stürme nicht so ohne weiteres, doch dafür benutzte er einfach Ohrstöpsel; er hatte Sorge, sein Musikgehör könnte von der Intensität der Winde in Mitleidenschaft gezogen werden. Er hatte vor wenigen Monaten Glück gehabt, in Kérantérec ein kleines Ferienhäuschen kaufen zu können. Vier Jahre vorher war er mit Wohnwagen und Schlauchboot auf dem Campingplatz. Sein Leimpatent und der plötzliche Tod des früheren Ferienhausbesitzers, dessen Kinder er schon kannte, hatten ihm nun diese Chance eröffnet.

In diesem Jahr wollte er nicht nur das kleine Ferienhäuschen genießen; er hatte jetzt auch ein kleines Motorboot, mit dem er schnell die St. Laurent-Bucht überquert haben würde oder nach Concarneau gelangen könnte. Dieses Mal wolle er auch zum Fischerfest gehen, das an seinem zweiten und dritten Ferientag dort stattfindet. Dafür sei das Motorboot natürlich besonders geeignet, denn wie sollte er denn sonst abends von Kérantérec dahin und noch in der gleichen Nacht zurück gelangen. Ein bisschen hatte er die anderen Camper vermisst, mit denen er beim letzten Mal schöne Abende verbracht hatte, aber er würde sie ja auch besuchen kommen, wenn er erst mal seine wichtigsten Vorhaben hinter sich gebracht hätte. Den knappen Kilometer könne er abends vom Campingplatz bis zum Ferienhaus gut zu Fuß zurücklaufen, selbst nach einem oder zwei Gläsern Wein. Noch, hatte er gedacht, habe er viel Zeit, und sicher würde er von einigen Urlaubern, welche jedes Jahr Monate dort verbrächten, dort noch was erfahren, zum Beispiel, wie dieser Turm entstanden sei, vielleicht auch etwas mehr über den Norddeutschen. Aber sicher würde er den Campern dort nicht verraten, dass er auch Absichten habe, dort in ein Projekt einsteigen zu wollen.

2

Nun war Ötter fast da angekommen, wohin es ihn gezogen hatte, beim Leuchtturm, und vielleicht würde er dann Heesterjong im Turm begegnen. Schon am Ankunftstag drängte sich immer wieder die Frage auf: Wie würde der Norddeutsche darauf reagieren, wie er selbst? Doch dieses Mal war ihm etwas dazwischengekommen.

Kaum, dass Ötter am späten Abend nach der anstrengenden Anfahrt sich wohnlich eingerichtet hatte, hatte sein Handy geläutet. Ein Herr Silberthaler hatte sich gemeldet. Er hatte das Lösungsmittel eingefordert, mit dem man den Spezialkleber Puröttil wieder verflüssigen könne. Innerhalb einer Woche wolle er die Lösungsflüssigkeit haben, andernfalls stoße seiner Familie etwas zu. Er selbst melde sich bei ihm wieder in fünf Tagen in irgendeiner Form. Er solle auf jeden Fall die Polizei aus dem Spiel lassen, wenn ihm seine Familie etwas bedeute. Er, Silberthaler, wisse, dass es den Kleber gebe und das Lösungsmittel Puröttilex dazu, welches aber noch nicht käuflich sei. Seine Recherchen, mit denen er auf den Schwarzwälder Druck ausüben wollte, hätten ergeben, dass der Kleber in Nordkorea an einem Flussufer häufig zur Anwendung komme, um Flüchtlinge zu hindern, den Fluss zu überqueren, und neue Deserteure abzuschrecken. Über achtzig Flüchtlinge seien auf diese scheußliche Weise schon zu Tode gekommen, indem sie an Uferstellen plötzlich festklebten.

Ötter war ungut zumute. Er würde jetzt von einem Menschen erpresst, der ihm eine Mitschuld an Morden mittels seines Leims in Nordkorea vorhalte. Ein scheinheiliger Weltverbesserer, welcher aber gleichzeitig ihn nötigt, ihm das Lösungsmittel auszuliefern. Wie konnte dieser Anrufer von seinem Mittel wissen? Ötter hatte das Lösungsmittel noch gar nicht patentieren lassen und fand keine Antwort darauf, wer ihn verraten haben könnte. Seine Versuche mit dem Wieder-Verflüssigen des Klebers hatte er bisher in einer kleinen alten Fabrikhalle in der Nähe von Lahr gemacht. Er konnte sich nicht erinnern, dort jemals Spione gesehen zu haben. Das hätte ihm doch auffallen müssen. Der Kleber war nach seiner Idee dazu gedacht gewesen, schwere Elemente absolut haftfest zu verbinden. Bisher hatte er in seinen Versuchen mit dem Kleber, bereits geklebte Lasten von drei Tonnen anzuheben, gut überstanden gehabt, auch bei unterschiedlichster Witterung. Das Mittel zur Wiederauflösung eines bereits fest haftenden Leims war ihm erst viel später in den Sinn gekommen, und er war sich vor einem Jahr sicher gewesen, dass es auf der Welt keinen zweiten so Verrückten gäbe, der etwas gegen jede Logik entwickele, nämlich ein Lösungsmittel, das seinen Leim wieder in seine ursprünglichen Bausteine auflösen könne. Aber immerhin – ihm war es gelungen. Und natürlich sei so etwas nur auf den ersten Gedanken hin unlogisch; er hatte einige Gründe dafür gefunden, warum es einmal auch sinnvoll sein könne, einen solchen Prozess des Klebens wieder rückgängig zu machen. Er hatte sogar die einzelnen Flüssigkeiten wieder in Tuben zurückziehen können, aus denen er zuvor die Luft herausgepresst hatte. Aber er hatte bislang erst zwei kleinere Eimer mit diesem Puröttilex hergestellt.

Nun hatte er die ganze Nacht schlecht geschlafen und Albträume gehabt und sich schon überlegt, nur drei Tage zu bleiben und dann nach Hause zurückzufahren. Seine Frau hatte er nicht informiert, weil er sie nicht beunruhigen wollte. Die Polizei in Deutschland hätte er am liebsten benachrichtigt, aber die Angst um die Familie war größer gewesen. Ötter ging davon aus, dass der Fremde irgendwo in Deutschland sitze. Zwar hatte er einen leicht französischen Akzent gehabt, aber doch ein schönes, gut verständliches Hochdeutsch gesprochen.

Gleich am Morgen beschäftigten ihn die Gedanken wieder. Er hatte nur ein Brötchen hinabwürgen können und eine Tasse heißen Kaffe hinterhergeschlürft. Danach war er mit seinem Boot aufgebrochen und weit in die Ance St. Laurent hineingeschippert. Hoch genug hatte er das Boot an einer dicken Eisenstange, welche wegen ihrer oben und unten im Beton befestigten Sicherung dafür geschaffen zu sein schien, gleich doppelt verankert, einerseits mit Schifferknoten, anderseits noch mit Kette und Schloss, was er sonst nie gemacht hatte, und er verstand auch nicht, warum er das dieses Mal tat. Er fühlte sich beobachtet und gehetzt.

Nun war er nach einem Fußmarsch durch einen Park und ein Stück Wald auf der Südseite der Landzunge soweit nach vorne gegen Westen gelangt, dass er fast beim Turm angekommen sein musste. Er hatte geglaubt, den Turm teilweise schon zwischen dem Blattgrün durchschimmern zu sehen. Doch dann hatte er einen Toten auf einer Steinbrücke am steilen Abhang zwischen Klippen und Kiefern gesehen. Ihm war, als starrte zwischen dem dunklen Blattwerk des Unterholzes ein erschrockenes hellgrünes Gesicht hervor. Zwischen ihnen beiden lag aber noch schwer begehbarer Weg, welcher sich nur anfangs eben verlaufend oberhalb der Wassergrenze bei Flut sanft in die Landschaft einbettete. Ötter hätte über einen Zaun steigen müssen oder am glitschigen Felshang ins Wasser hinunter. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Eigentlich hatte er sich diesen Tag anders vorgestellt. Der Frankreichurlauber war dieses Mal mit so viel Enthusiasmus in die Bretagne gefahren und hatte es sich in seinem neuen Ferienhaus in Kérantérec so gemütlich eingerichtet gehabt. Bis auf einen Tag hier im Wald hatte er vor vier Jahren seine Erkundungen mehr in Richtung Brest und bis zum westlichsten Zipfel Frankreichs ausgerichtet. Ihn hatten damals die alten, zum Teil zerfallenen Kirchen und Kruzifixe, die Menhire und Dolmen in Finistère interessiert. Damals vor vier Jahren hatte er die ersten Pläne geschmiedet, seiner Schulklasse einmal ein anderes Stück Frankreich zu zeigen als immer nur Dole.

Im vorigen Urlaub hatte Ötter an jenem schicksalhaften Tag der Begegnung mit dem Fremden aus Norddeutschland von der Küste von Kerleven aus mit seinem damaligen Ruderboot über die Ance St. Laurent zum Forêt du Stang Bihan übergesetzt und war durch den Wald, durch den er jetzt gehen wollte, über einen der fünf Wege bis zur Spitze der Landzunge vor bis zum Atlantik gewandert. Eigentlich mehr gewandelt. Seine allzeit und allerorts präsente Neugier machte aus seinen Wanderungen üblicherweise viele kleine Etappen mit Intervallen. Die Bucht selbst hatte einen schlechten Eindruck bei ihm hinterlassen, weil die Leute dort einfach ihre Kutter dahinrosten und verfaulen ließen, was das Landschaftsbild sehr verschandelte. Fische, Kormorane und Reiher hingegen würden sich sicher freuen. Umso mehr hatte es ihm aber die Landschaft des Forsts angetan, so dass er sich schon allein deshalb, und nicht nur wegen der Begegnung mit Heesterjong, geschworen hatte, den Weg nochmals zu gehen. Der Wald war damals, kurz vor Ötters erster Besichtigung, zum Naturpark erklärt worden und seither ein Bannwald. Doch seit jener Zeit hatte sich noch weit mehr als der Leuchtturm verändert. Was sollte übrigens ein so kleiner Leuchtturm am Riff dieser Halbinsel, die sich zwischen den zwei Buchten St. Laurent und St. Jean etwa einen Kilometer weit von Nordost nach Südwest in den Atlantik erstreckt? Diese Bucht reichte zwar nicht weiter ins Meer vor als das übrige Land, aber die Sicht von einem Teil Kérantérecs aus auf Concarneau im Süden, dem Hauptort der Gegend, wurde damit doch geradewegs verwehrt. Ein Leuchtturm an dieser Stelle schien ein absolutes Privatvergnügen zu sein, zumal er zwischen den letzten Bäumen zum Meer hin kaum zwischen den Baumkronen herauslugte.

Auf dem Weg zurück zum Boot war Ötter damals den nördlichsten dieser oberhalb der Klippen liegenden fast parallel verlaufenden fünf Wege durch den prächtigen lichten Mischwald spaziert. Das Unterholz aus Stechpalmen, Seidelbast, Schneeball, Heckenkirschen, Efeu, Hartriegelarten, Liguster und vielen anderen niederen Gehölzen und Stauden bot einer reichhaltigen Fauna Möglichkeiten zum Leben, wie es Schilder angezeigt hatten. Ganz draußen an der Spitze der Landzunge standen auf den gelblich roten Felsen an die zwanzig Kiefern und dazwischen ein paar Fichten und Eichen. Diese Landspitze war am Riff zerklüftet, an der Nordseite hingegen der Erosion stark ausgesetzt. Der Humusboden zwischen den Felsen wurde immer wieder ausgespült. Daher sollten an dieser Stelle auch Steinmauern das prachtvolle Stück Natur schützen. Diese passten seiner Meinung nach farblich überhaupt nicht zu dem rötlichen Felsen und der ockergelben Erde. Und die Erosion ging trotzdem weiter. Hinter diesem vordersten Stück Wäldchen stand nun dieser Leuchtturm auf offensichtlich noch nicht erodiertem Boden.

Bis hinüber zum Campingplatz auf der anderen Flussseite hatte Ötter damals nachts unterschiedliche Eulenarten rufen hören. Im Gehölz solle es laut einer Beschreibung, die er gelesen hatte, Igel, Hasen, Mäuse, Ratten, Iltisse und Hermeline, Füchse, Marder und Wildkatzen gegeben haben. Rehe hätten sich selten dorthin verirrt, da ihre Jungen von den Wildkatzen gerissen wurden. Dort aber, wo Sträucher nicht das ganze Sonnenlicht am Boden verhinderten, gab es eine ausgeprägte Diversität an niederen Stauden und unterschiedlichen Gräsern als Versteckmöglichkeit und als Nahrungsangebot. Wurm- und andere Farne, Heidekraut, Beerenfrüchte, Heil- und Giftpflanzen teilten sich die Bodenflächen zwischen den Bäumen.

Ötter hatte sich im vorigen Urlaub überlegt, eine Nachtwanderung durch den Park zu machen, zu welcher es damals wegen der Schlechtwetterfront dann nicht mehr gekommen war. Der Grund für diese ersehnte Wanderung waren die Eulen, Käuze und Uhus. Am Anfang der Landzunge in Richtung Meer gab es in Stang Bihan in der Nähe eines châteauartigen Anwesens eine waldfreie Fläche, auf welcher auch damals schon über dem nördlichen Abhang zwei kleine schmucke Häuschen gestanden hatten. Beide hatten für diese Region typische blaue Fensterläden. Um die Häuschen herum wucherten Hortensienhecken, welche das Farbenspiel mitsamt den leuchtend gelben Ginstern bereicherten. Auch der Wald trug den Namen der Gegend: la Forêt du Stang Bihan.

An diesem noch sehr jungen Tag also hatte Ötter wieder die Ance St. Laurent aufgesucht, war, wie erwähnt, weit in die Bucht hineingefahren und auf die Landzunge heraufgestiegen, ehe er die schreckliche Entdeckung gemacht hatte.

Nach Sicherung des Bootes war er die wenigen Höhenmeter den Hang zum Wald emporgestiegen. Oben angekommen, hatte er sich gründlich umgesehen, die Veränderungen ins Visier genommen und schnell festgestellt – sein Gedächtnis ließ ihn nur selten in Stich –, dass da ein neues Gebäude in die Gegend gepflanzt worden war, ein kleines, schmuckes, Schlösschen in sehr einfachem Stil, aber doch mit einem Hauch Schlosscharakter. Es stand dort auf einer Wiese, die sich neuerdings viel weiter in den Wald zog, als er es von früher in Erinnerung hatte. Um das kleine neue Château herum waren die Pflanzungen noch mickrig, was Rückschlüsse darauf zuließ, dass noch vor ganz kurzer Zeit Bau- und Pflanzarbeiten durchgeführt worden sein mussten. Ihm schien, als wäre das Schlösschen im Eiltempo aus dem Boden gestampft und dafür ein Stück Wald gerodet worden.

Ötter war noch möglichst nahe an das Gebäude herangegangen, hatte Fotos gemacht und war daraufhin rasch wieder aus der Waldschneise zurückgegangen und auf der südlich liegenden Seite dieser Landzunge bis knapp oberhalb des Wasserspiegels der Ance St. Jean abgestiegen. Dort war er auf dem südlichsten von fünf Wanderwegen, die sich durch den Wald zogen, weiter in Richtung Atlantik spaziert. Der Grund dafür: Dieses Mal hatte ihn, um auf dem direktesten mittleren Weg in Richtung Atlantik zu geraten, eine weitere Neuerung in seinem Bewegungsdrang aufgehalten: ein Zaun, welcher sich hinter den schon vor vier Jahren stehenden Gebäuden und hinter dem Schlösschen in der mit größtenteils mit Rasen begrünten Schneise von der einen zur anderen Bucht spannte, sich oberhalb der Felsen beidseits der Halbinsel landauswärts in Richtung Ozean zog und somit den Zugang zu dreien der fünf Wege durch den Wald verwehrte. Ein Schild knapp vor der Einfriedung in Nähe des Châteaus, von wo aus die Wege wegen der Absperrung für ihn ein offizielles Ende fanden, obwohl die breiten Pfade hinter dem Zaun tatsächlich noch, wenn auch schon verwildernd, weiterführten, trug die Inschrift Réserve naturelle. Auf einer weiteren Tafel darunter stand Privée.

Ötter hatte gerätselt, ob das nun ein amtliches Naturreservat oder ein Privatgrundstück war. Ihn hatte das stutzig gemacht, aber, da er daran ja nichts hatte ändern können, hatte er diesen Gedanken wieder verdrängt. Andere Leute hätte er nicht fragen können, denn um diese frühe Morgenstunde war noch keine weitere Menschenseele hier unterwegs.

Obwohl ihn zwischendurch andere Gedanken plagten, würde er später genauer wissen wollen, was der Widerspruch der beiden Schilder bedeuten solle, aber an diesem Morgen, mittlerweile unter Zeitdruck wegen des absonderlichen Anrufs, hatte er eigentlich nur seine Wanderung fortsetzen wollen. Sein Plan war es, den Leuchtturm über den Landweg zu erreichen, und zwar noch am Vormittag. Einmal hätte er die Wanderung bei Nacht nachholen wollen. Dem war wegen des Zaunes und wegen des Telefonats am Vorabend unerwartet frühzeitig ein Ende gesetzt worden. Da der Zaun ihm den direktesten Weg versperrt hatte, war er den südlichsten der Pfade und unterhalb des dort weiterführenden Zaunes weiter vorwärts Richtung Leuchtturm gegangen. Dieser Weg verlief mal knapp über Meereshöhe, wenn Ebbe war, und teilweise, vor allem auf das südsüdwestliche Ende der Landzunge zu, wieder oberhalb der Klippen. Da wegen der Felsformation der Pfad im letzten Viertel ständig auf und ab führte, konnte er bei Flut auch nicht begangen werden. Ötter kämpfte sich daher oberhalb des Pfades durchs Unterholz, um weiter Richtung Landspitze und Leuchtturm vorzudringen.

Nun stand er dort am oberen Rand zwischen den rosabis hellbraunroten Felsen und dem auf ihnen wachsendem Wildwuchs, den abgebrochenen und herabgefallenen morschen Ästen. Unter ihm ragten die sicher fünfzehn bis zwanzig Meter hohen Felsen teilweise überschüssig in die Bucht. Zwar hatte er gewusst, dass es der einfachste und direkteste Weg gewesen wäre, wieder mit dem Boot die Sankt Laurent-Bucht zurückzufahren und sein Boot dort draußen in Turmnähe irgendwo zu vertäuen, aber er hatte sich noch nie zurückhalten können, wenn ihn ein Abenteuer lockte. So war er bereit, den schwierigen Pfad auf den Felsen zu gehen. Außerdem hätte er draußen wohl keinen Anlegeplatz gefunden, denn die Klippen waren steil und schroff und Wellen hätten sein Boot bei Flut und starkem Wind an diesen leicht zerschellen lassen können.

Ihn hatte damals vor vier Jahren gewundert, wie Heesterjong sein Boot dort festgemacht hatte. Das wollte er auch noch sehen. Vielleicht hatte der sich für sein Boot eine Slipanlage und auf erhöhtem Terrain einen sicheren Platz eingerichtet. Nun wollte er nicht nur den Leuchtturm, sondern auch Heesterjong zu Gesicht bekommen. Sobald er ihn getroffen und eventuell doch noch am Abend das Fischerfest in Concarneau besucht hätte, würde er sich wieder dem leidigen Thema »Notgedrungene verfrühte Heimfahrt nach Lahr« widmen.

Ötter hätte nun am augenblicklichen Standort an einigen Stellen auch leicht über den Zaun klettern und dann einen der vier Wege jenseits der Absperrung nehmen können. Eindeutig Verbotenes zu tun war ihm bis dahin jedoch fremd. So hatte für ihn das auch kein größeres Hindernis bedeutet, sich durch das Dickicht am Hang entlang zu martern, wie ein anderer Mensch dies empfinden würde, um zur Landspitze vorzudringen. Auch wenn der Weg für ihn quälerisch gewesen war, hatte sein Entdeckergeist doch die Oberhand gewonnen und die Schattenseite aus seinem Denken verdrängt gehabt. Dieser südlichste Saumpfad war mittlerweile an seinem Standort völlig zugewachsen. Dort hatte er sich durch so dichtes Laubwerk durchgekämpft, dass er kaum den Untergrund, über den er lief, hatte ausmachen können und ihn mehr mit den Füßen ertastet hatte, was ihn der Sinneswahrnehmung wegen sogar gereizt und vom immer wieder sich in seinen Kopf setzenden Telefonanruf erneut abgelenkt hatte. Da er schon gelesen hatte, dass es auch Vipern in diesem Gebiet gäbe, hatte er darauf verzichtet, die Schuhe auszuziehen, sie an den Rucksack zu hängen und barfuss den Weg zu gehen, obwohl ihm solches Getier beim letzten Mal nicht in die Quere gekommen war. Barfuß gehen hätte ihn den Untergrund unter dem teils dichten Laubwerk noch intensiver ertasten lassen.

Und nun stand er in dieser sonst wunderschönen Gegend des Kantons Cornouaille, dem französischen Cornwall, so nahe bei einem Toten. Jetzt, nachdem er da vorne den Leblosen gesehen hatte, wäre ihm lieber gewesen, er hätte bis hierhin keine Spur von sich selbst hinterlassen. Die letzten zig Meter mussten aber schon vor ihm Menschen dort durchgegangen sein. Er konnte nicht der Einzige gewesen sein, der sich von diesem Wagnis hatte leiten lassen. Immerhin bemerkte er einige abgeknickte Äste mit Spuren neuesten Datums. Das konnte nicht gestern gewesen sein, denn die Äste bluteten noch. Wegen der abgebrochenen Äste hatte er sich darauf gefasst gemacht, noch einem oder mehreren weiteren Menschen am Turm begegnen zu können, und gehofft, er würde durch eine Begegnung mehr über den Turm erfahren. Vielleicht war Heesterjong hier sogar selbst durchgelaufen. Aber warum? Er hat doch andere Möglichkeiten.

Noch hatte Ötter den Leuchtturm, den er aufsuchen wollte, wegen der dichten Bewaldung nicht voll zu Gesicht bekommen. Und jetzt dieser Tote da, der vor ihm auf einem kleinen Steinbrückchen in einer seltsamen Stehhaltung verharrte. Zu dieser Entdeckung aus solcher Entfernung war es auch nur gekommen, weil es Ötters Art war, immer wieder stehen zu bleiben und eine Rundumvisite zu machen, um alles noch Unvertraute ins Auge zu fassen, bevor er weiterging. Auf diese Weise hatte er schon häufig Entdeckungen gemacht, welche ein bevorzugtes Futter für seine Kamera waren, ein erschrocken dastehendes Reh oder Mäuschen, ein Vogel, der noch nicht weiß, in welche Richtung er flüchten soll. Bei aller Neugier, die Ötter sonst stets beflügelte, war der Abenteuergeist im Nu verblasst. Er schauderte. »Ja mei, was isch denn da passiert«, fuhr es ihm durch den Kopf, »des isch ja schrecklich! Wie hängt denn der da so halb zwische de Felse? Aber mit də Füß stoht er fescht am Bode und bewegt sich nimmer. Au der rechte Arm scheint feschtzuklebe. Də hätt i nöd sein möge. So e armer Hund!«

Im allerersten Moment dachte er auch noch an eine Vogelscheuche. Aber was sollte hier im Wald und auf den Felsen eine solche Abschreckung, zumal er sich ja in einem Naturreservat befand. Einen Moment dachte Ötter sogar daran, möglichst schnell wieder zu fliehen. Dieser Moment war im vollen Bewusstsein dessen, dass es sich nur um so einen Leim handeln könnte, wie er ihn herstellte, der den Toten da hatte erstarren lassen. Dann herrschte aber wieder die Vernunft, handeln zu müssen. Bevor der Süddeutsche das Handy aus dem Rucksack hervorholte, schaute er sich die Stelle mit dem Toten, die von ihm wohl an die achtzehn Meter entfernt sein mochte, genauer an, soweit das Laubwerk des Unterholzes dies hier zuließ.

»I gang da nöd hin, bevor nöd die Gendarmen da sind. Erschtens isch es mir zu gruselig, des anzuschaue, deswege bin i nöd daherkomme, fürs Zweite isch es für mi besser, keine eventuelle Spure zu verwische oder von mir welche zu hinterlasse«, schwatzte er laut vor sich hin, wie schon die vorangegangenen Sätze. Aber er hatte dann ein paar Worte zum Mann am Ende der kleinen Brücke hin geschrieen.

»Saget Se emol, was mached denn Se da? Lebet Se eigentlich no? Was isch denn da mit Ihne passiert? Saget Se mir, dass Se no lebe! Dann könnt i wieder beruhigter sein und müsst den Gendarmen nur en Unfall und nöd en Tod melde.« Seine Schreie, die sich wiederholten und noch lauter und heftiger geworden waren, verhallten aber unbeantwortet.

Gleichzeitig bemerkte er, wie die Flut kam und das Wasser Welle um Welle höher stieg. An seiner Umgebung konnte er erkennen, wie hoch in letzter Zeit maximal der Wasserstand reichte. Der starke Westwind und der derzeitige Vollmond bewirkten dieses Mal aber sicher einen wesentlich höheren Wasserstand. Dieses Mal würde er auch auf dem Rückweg durchs Wasser laufen müssen, bevor er wieder den Hang hinansteigen könnte. Er musste sich also auf einen höheren Standplatz begeben, an seiner Stelle möglichst hoch bis zum Zaun. Niedrigere Gehölze, an denen entlang er sich auf den Klippen bisher festhielt, würden dann bis zu ihren Spitzen unter Wasser sein. Bis zum Toten hin müsste er aber noch einmal weiter nach unten steigen und dann wieder hoch; einen anderen Weg ließen die abschüssigen Felsen hier nicht zu, es sei denn, er würde sich über den Zaun auf die andere Seite werfen. Die Stelle, an der sich der Tote befand, schien es Ötter, war etwas höher gelegen als sein eigener Standort. Die einzige zuverlässige Möglichkeit, diesseits des Zaunes bis zu ihm zu gelangen, stand mittlerweile aber schon beinahe metertief unter Wasser. Ausrutscher auf den jetzt glitschigen Felsen wären zu gefährlich gewesen, zu riskant in Anbetracht dessen, dass es hier nicht mehr um Menschenrettung, sondern bloß um Erkennen eines Unfalls mit Todesfolge und um eine Weitermeldung dessen ging. Seltsam: Gerade in Anbetracht dieser Situation wurde ihm bewusst, dass er doch hätte barfuß laufen können, denn hier am Hang konnten sich keine Schlangen aufhalten, da die Flut sie ja immer wieder vertreiben würde. Vielleicht Ringelnattern, die sehr gute Schwimmerinnen sind. Ihn wunderte plötzlich, dass ihn nicht von der anderen Seite des Zaunes schon Hunde anbellten. Das wäre nur logisch gewesen, wenn das Waldgrundstück jetzt tatsächlich privat wäre.

In seinem Sinnieren war ihm das sogar angenehm, dass ihn das Wasser jetzt daran hinderte, bis zum Toten vorzudringen, denn er war froh, noch nicht ganz beim Leblosen angekommen zu sein und somit nicht selbst in einen Täterverdacht zu geraten, denn er selbst war jetzt der einzige Lebende, der sich hier zwischen den Klippen aufhielt. Das würde ihm noch fehlen, dass er sich mit einer Unterstellung auseinandersetzen müsste, er könne einen Menschen getötet haben. Über den Zaun stieg er aus dem gleichen Grund nicht.

»Ja, mit Sicherheit wäre i der Einzige, denn wer macht sich schon aus einer Wanderung en solche Spaß wie i. Der da drübe, der Tote da, der hat au den Weg gwählt. deswege isch also das Aschtwerk geknickt. Aber e normaler Mensch sucht sich doch en normale Weg. Ja, i nöd, i bin wohl ebbes zwische normal und nöd normal.«

Ötter erkannte wohl, dass der Tote in einer seltsamen Standhaltung verzerrt und wie mit dem Boden verhaftet innehielt; genau dieses Innehalten hätte man aus physiologischer Sicht überhaupt gar nicht logisch nachvollziehen können, außer …

»Ja, es kann nur so e Leim gwehe sein …« Dies entlockte ihm beinahe einen Schreckensschrei: »Wie kann e Mensch so zu Tode komme? Was han i mit dem Leim agstellt?«

Das Wasser stand schon dreiviertel Meter unter seinen Füßen. Er holte mit zitternden Händen sein Fernglas aus dem Rucksack hervor, hing den Ranzen an den Zaun, ging Schritt für Schritt am Zaun entlang weiter nach vorne, an der Umhegung sich festhaltend, knickte selbst noch auf dieser Strecke von etwa zehn Metern eine ganze Reihe von hochragenden Ästen ab, um nach Wiedererreichen seines vorherigen Standortes, von dem aus er den Toten entdeckt hatte, die Sachlage noch genauer zu beobachten und um sie gegebenenfalls auch den Gendarmen, die er rufen wollte, besser beschreiben zu können – ja, sofern er dies mit seinem schlechten Französisch überhaupt fertigbrächte. Lehrerkolleginnen, welche Sprachen unterrichteten, konnten natürlich perfekt Französisch. Ihm hatte sein bisheriger etwas magerer Wortschatz ausgereicht. Aber jetzt bedurfte es anderer Worte.

»Zum Glück isch des Laubwerk weiter hinde, wo i nimmer hinkomm, nöd ganz so dicht, wie e Stück weiter obe. Des isch aber grausam, wie der Arme dostoht. De rechte Hand klebt am Bode und mit der linke Hand hat er sich in de Mund gfasst und so muess er grad erstarrt sein. Wirklich e grausames Bild!«

Viele französische Worte würden ihm jetzt fehlen, schon auch wegen der Aufregung, wenn er telefonieren würde. Was nützt es, die Wörter und wenigen Sätze zu beherrschen, die jetzt wichtigen Wörter aber nicht zu verstehbaren Sätzen formulieren und verknüpfen zu können? Und trotzdem musste er anrufen. Einfach nur, dass ein Toter daliege – nein, stehe –, und wo dieser und er selbst sich befänden. Nachdem er sich überlegt hatte, wie er die Botschaft vermitteln wollte, war er über seine eigene körperliche Erstarrung erstaunt. »Ha, i stoh ja fascht gleich da wie der Tote da drübe.« Dabei zog er seinen linken Daumen aus seinem Mund. Der Daumen war im Mund trocken geblieben, die Speichelsekretion zum Erlahmen gekommen.

Zum Glück stieg die Flut jetzt langsamer. Die Nummer von der Gendarmerie hatte er gespeichert. Inzwischen hatte er den Toten noch einmal so genau inspiziert, wie er konnte, und anstatt ihn den Polizisten zu beschreiben, tat er es für sich selbst, in der Hoffnung, er könne das anschließend auch einigermaßen auf Französisch erklären.

»Der stoht da no fescht drinne in seine Schuhe, welche am Bode zu klebe scheine. So stoht er x-beinig und nur halbmannsgroß da wege der andere Hand, die auch den Bode berührt, und der ganze Oberkörper isch ab Hüfte an de Felse und em Kieferstamm glehnt. Sei Gsicht isch zu er Grimasse verzerrt, wie i so ebbes nur selte gsehe han …«

Ötter gingen allerlei Gedanken durch den Kopf, wie es zu diesem grausam Tod gekommen sein mochte. Aus seinem Entsetzen wurde teilweise ein scheußliches Grinsen, wie es Menschen im Schock manchmal passiert. Ihm wurde bei den Überlegungen immer mulmiger, weil sich für ihn herauskristallisierte, was wohl genau passiert sein musste. Er wählte und war verbunden. »Bonjour, ici je monsieur Ötter de Allemagne. Ici être une morte. Parler quelqu’un Allemagne ou bien English?« Er fühlte sich jetzt einfach mit Englisch etwas sicherer, wenn er schon nicht deutsch mit den Polizisten reden konnte.

»Un peu de English.«

Ötter erzählte nun einer weiblichen Polizistin in Englisch auf komplizierteste Weise das Unglaubliche, das er vorgefunden hatte, und bat darum, dass die Gendarmen schnellstmöglich den Fundort aufsuchen mögen und er sich nicht viel länger dort aufhalten wolle. Auf genaues Nachfragen der Frau gab er ihr seinen Namen, seinen Wohnort in Deutschland und sein Feriendomizil durch.

Bis die Polizisten hier sein würden, würde er sich ein Plätzchen zum Hinsetzen suchen und die steigende Flut beobachten. »Des kann mi vielleicht e bissle ablenke.« Jede neue Welle, die vom Meer hereinkam, schien sich aber mehr und mehr in seine verstörte Stimmung einzuschlenzen und einzubranden.