Drei Stunden - Anders Roslund - E-Book

Drei Stunden E-Book

Anders Roslund

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Beschreibung

Die Piet-Hoffmann-Trilogie: Schwedischer Bestsellerstoff mit Explosionsgefahr!

In einem Stockholmer Krankenhaus wurde eine Leiche in die Obduktion eingeschleust – niemand weiß, wer der Tote ist. Als plötzlich weitere Leichen am selben Ort gefunden werden, ahnt Kommissar Ewert Grens: Jemand versucht elegant seine Spuren zu verwischen. Die Fährte führt zu einem Massengrab, wo außerdem ein Handy auftaucht, auf dem Fingerabdrücke gesichert werden: die des Doppelagenten Piet Hoffmann. Ewert Grens muss erneut gegen seinen Freund ermitteln – doch wo steckt dieser?

Alle Bände der Reihe:
Drei Sekunden
Drei Minuten
Drei Stunden

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Seitenzahl: 628

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Buch

Eines Morgens wird Ewert Grens in ein Stockholmer Krankenhaus bestellt. In der Obduktion ist eine Leiche aufgetaucht, zu der keine Akte existiert. Der Fall gibt Rätsel auf. Wer ist der Tote und wer hat ihn dort eingeschleust? Underdessen ist Geheimagent Piet Hoffmann erneut untergetaucht. Er muss einen allerletzten Auftrag ausführen, bevor er sein altes Leben für immer hinter sich lassen kann. Zofia und die Kinder vermissen Piet. Als er endlich zu ihnen nach Schweden zurückkehrt, ahnt er nicht, dass seine Familie ihm bald entrissen werden wird …

Autoren

Anders Roslund, der für seinen investigativen Journalismus mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde, ist einer der anerkanntesten skandinavischen Krimiautoren unserer Zeit und Teil des international erfolgreichen Autorenduos Roslund & Hellström, das viele wichtige Preise erhielt, u. a. den CWA International Dagger, den Skandinavischen Krimipreis und den Preis der schwedischen Krimiautoren. Die Thriller um ihren Undercoveragenten Piet Hoffmann werden gerade in Hollywood verfilmt.

Börge Hellström ist 2017, noch vor Fertigstellung der Piet-Hoffmann-Reihe, verstorben. Abgesehen von seiner Autorentätigkeit war er ein gefragter Berater in schwedischen Fernsehsendungen zum Thema Drogenabhängigkeit und Jugendliche im Strafvollzug.

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ROSLUND / HELLSTRÖM

DREISTUNDEN

THRILLER

Deutsch von Kerstin Schöps

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Tre timmar« bei Piratförlaget, Stockholm.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.1. Auflage

Copyright © 2018 by Anders Roslund

Published by agreement with Salomonsson Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Redaktion: Joern Rauser

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotiv: mauritius images/Alamy RF/RooM the Agency Mobile

KW · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN978-3-641-23170-5V002www.blanvalet.de

In Gedenken anBörge Hellström,meinen lieben Kollegen und Freund.

ERSTERTEIL

DER, DERNEBENmir liegt, ist vor ein paar Tagen gestorben. Wenn ich ihn berühre, wenn ich meine linke Hand so weit es geht ausstrecke und seine Wange berühre, ist sie kalt und leblos, so wie sich der Tod anfühlt.

Aber der, der auf der anderen Seite liegt, ist schon lange tot. Fast vom Beginn der Reise an. Er war einer der Ersten, den Ältesten bleibt am wenigsten. Und der, der unter mir liegt, also direkt in der nächsten Schicht unter mir, hat noch bis vor ein paar Stunden schwer und langsam geatmet, aber dann hat meine Unterlage, die mich ans Meer erinnerte, damit aufgehört, so sanft zu schaukeln.

So still.

Abgesehen von einem Kratzen an der hinteren Wand, als würde etwas Spitzes über Metall gezogen werden.

Ich würde gerne rufen, fragen.

Aber der Sauerstoff reicht wahrscheinlich nicht.

Ich habe noch Hoffnung – vielleicht ist da jemand, der nicht aufgegeben hat.

SOSCHÖN.

Ein weißer, Dampf ausstoßender und sanft dahingleitender Schärenkreuzer auf dem glatten Wasser der Ostsee fuhr dort unten vorbei. Möwen und Seeschwalben folgten ihm, jagten den Schaumkämmen hinterher, tauchten ab und zu ein und flogen dann mit ihrer zappelnden Beute im Schnabel davon. Ein Junimorgen mit zaghafter Sonne, die das etwas zerknitterte Gesicht wärmte – das Leben konnte fast nicht besser sein.

Ewert Grens saß auf dem Stein, auf dem er jeden Samstagmorgen saß.

Ein mittelgroßer, relativ flacher Felsen, den die Zeit geschliffen und geformt und zuvor an genau diese Stelle geschoben hatte, damit sich ein groß gewachsener und mittlerweile gealterter Körper dort niederlassen konnte.

Sein Sitzplatz direkt beim Pflegeheim und vor dem Fenster, das so lange ihr Fenster gewesen ist. Dort hatte sie jeden Tag gesessen, fast dreißig Jahre lang hatte sie von dort aus nach einem Leben Ausschau gehalten, an dem sie selbst nicht mehr hatte teilnehmen können. Ihrem gemeinsamen Leben. Jetzt lebte ein anderer Mensch in ihrem Zimmer, den er aber nicht kannte.

»Kommissar Grens?«

Er zuckte zusammen. Die Stimme. Das war die Stimme aus der Vergangenheit.

»Einen Augenblick, ich komme zu Ihnen runter.«

Sie hieß Susann, hatte vor vielen Jahren als Altenpflegerin angefangen und sich rührend um Anni gekümmert. Dann hatte sie Medizin studiert, war schließlich Oberärztin geworden und hatte sich auf Geriatrie spezialisiert. Sie kam mit großen, kraftvollen Schritten aus dem neuen Eingang des Pflegeheims an der Schmalseite des Gebäudes auf ihn zu und stellte sich vor ihn, versperrte ihm die Sicht.

»Als wir uns das letzte Mal unterhalten haben, hatten Sie zwölf Samstage hintereinander unter ihrem Fenster gesessen. Damals habe ich beschlossen, Sie nicht daran zu hindern. Aber das ist … ist das jetzt vier Jahre her? Und Sie sitzen immer noch hier.«

»Ich bin schon zwischendurch aufgestanden.«

»Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen damals gesagt habe? Dass Sie sich damit großen Schaden zufügen? Dass Sie Ihre Trauer zum Lebensinhalt gemacht haben, für die Trauer leben und nicht mit ihr? Dass Ihre schlimmste Befürchtung schon eingetreten ist.«

»Ich erinnere mich genau – an jedes einzelne Wort.«

»Aber die Worte scheinen Sie nicht besonders beeindruckt zu haben.«

Ewert Grens tat das, was er immer tat – er sah zu dem Fenster hoch, in dem eine Lampe brannte. Um diese Tageszeit hatte Anni immer geschlafen. Sie hatte immer gern lange geschlafen, obwohl ihre Tage ausschließlich aus Ruhe bestanden.

»Ich weiß, dass sie nicht mehr lebt.«

»Was ich damals auch noch gesagt habe, Herr Kommissar, war, dass ich Sie hier niemals wiedersehen möchte.«

Er stand von seinem Felsen auf, der wie ein Stuhl geschnitten war.

»Und ich weiß, dass Sie es nur gut mit mir gemeint haben.«

Er lächelte.

»Aber ich werde auch in Zukunft hier sitzen. Jeden Samstagmorgen in der Dämmerung, auch die nächsten vier Jahre.«

Er ließ die junge Frau stehen, die so viel klüger war, als er es jemals gewesen ist und sein würde, und ging zu seinem Wagen auf dem kleinen, noch verwaisten Parkplatz. Gerade wollte er seine Tür öffnen, als er sich besann und sich noch einmal zu ihr umdrehte.

»Weil es verhindert, dass ich verrückt werde. Verstehen Sie das?«, rief er ihr zu.

Sie sah ihn lange an, die eine Hand auf dem Geländer, das zum Eingang führte. Dachte nach. Dann nickte sie und ging rein.

Grens fuhr über die Insel, die vor Stockholm lag und erst langsam aus dem Schlaf erwachte, und auf die Lidingöbro, wo er auf dem Rückweg immer anhielt, auf dem Seitenstreifen mitten auf der Brücke, um ein letztes Mal in dem glitzernden Wasser zu versinken. Er hatte schon das Fenster heruntergekurbelt und den morgenmüden Wind im Gesicht gespürt, als das Funkgerät auf dem Armaturenbrett knackte und einen Anruf meldete.

»Ewert?«

Ausgerechnet. Wilson, sein Chef, der eigentlich über genügend Verstand verfügen müsste, ihn jetzt nicht zu stören.

»Hallo, Ewert?«

Er ließ ihn rufen. Das hier war seine Stunde.

»Ewert, ich habe versucht, dich auf dem Handy zu erreichen, das ist ausgeschaltet. Wenn du das hier hörst, geh dran oder ruf mich an. Ich habe einen Notruf reinbekommen und möchte, dass du das machst. Und zwar nur du.«

Rechts neben dem Funkgerät befand sich der Kassettenspieler, nach dem er wochenlang gesucht hatte, als sein Vorgänger beschlossen hatte, seine letzten Töne von sich gegeben zu haben. Der Markt ertrank nämlich leider nicht in Angeboten für funktionierende Kassettenspieler für PKW, er war sogar schon Verkäufern begegnet, die gar nicht wussten, wovon er sprach. Schließlich war eine Schrottfirma außerhalb von Strängnäs seine Rettung gewesen. Zwei Lieder. So lange würde er dort sitzen bleiben. So lange saß er immer dort. Mit oder ohne Notruf.

Liebeskummer lohnt sich nicht, my darlingSchade um die Tränen in der Nacht

Siw Malmkvist. Ein Mischtape nur mit Liedern von ihr. Tunna skivor – Liebeskummer lohnt sich nicht, mein Darling war sein absoluter Favorit, dann kam För sent skall syndarn vakna, eine vergessene Perle.

Als du mich das erste Mal im Stich gelassen hast, ging ich heim und weinte auf meiner Chaiselongue

Ihre schöne Sechzigerjahre-Stimme beruhigte ihn, über die Texte mochten die Menschen in seiner Umgebung zwar lachen, aber alle kannten sie, und sie gehörten irgendwie dazu, denn er achtete gar nicht mehr auf die Verse, die zum Teil unsinnig waren, sondern lehnte sich an ihnen an.

»Ewert? Antworte …«

Wieder störte das Funkgerät. Wilson.

»… verdammt!«

Siw Malmkvist hatte ihre Lieder fertig gesungen, seine kurze Pause mitten auf der Brücke war beendet – wie auch der morgendliche Besuch auf seinem Felsen in Annis ehemaliger Welt – und hatte ihn mit ausreichend Kraft für den Tag und die nächste Woche ausgestattet.

Darum antwortete er.

»Ja, Grens hier.«

»Ewert, verdammt, wo bist du gewesen …«

»Ich wiederhole, Grens hier.«

Erik Wilson verstummte, Grens hörte, wie sich sein Vorgesetzter räusperte, zweimal sogar, und dann in einer veränderten Tonlage weitersprach.

»Ewert, ich möchte, dass du jetzt direkt zum Krankenhaus Södersjukhus fährst. Ohne hier in Kronoberg vorbeizukommen. Um genauer zu sein, du sollst direkt in die Leichenhalle fahren.«

Ewert Grens hatte die Brücke verlassen und fuhr auf der Ringstraße um die Stadt herum, was viel schneller gehen würde.

»In die Leichenhalle?«

»Die Sektionsassistentin hat dort vor einer halben Stunde eine Leiche entdeckt. Eine männliche.«

»Das klingt eigentlich … ganz okay. Weil die doch dort untergebracht werden, oder? Die Toten. War das alles?«

»Es ist ein Toter zu viel.«

»Du sprichst in Rätseln, Wilson.«

»Es ist eine Leiche zu viel.«

»Dadurch ist es jetzt nicht verständlicher geworden.«

»Als die Sektionsassistentin – deren Schicht kurz nach sechs angefangen hat – ihre erste Runde durch den Kühlraum machte, fiel ihr auf, dass da etwas nicht stimmte. Als dieses Gefühl auch bei der zweiten Runde nicht verschwand, hat sie die Toten durchgezählt. Als sie gestern Abend gegangen war, hatte sie siebzehn Leichen gezählt. Im Laufe des Abends und der Nacht sind fünf hinzugekommen. Es dürften also nur zweiundzwanzig Körper vorhanden sein.«

»Ja?«

»Dreiundzwanzig. Aber es waren dreiundzwanzig Leichen, wie oft sie auch durchzählte.«

Kommissar Grens fuhr auf die Überholspur und erhöhte seine Geschwindigkeit.

»Dort liegt also einer, Ewert, der nicht da sein dürfte. Eine Leiche, die niemand registriert hat. Ein Toter ohne Identität und ohne Geschichte. Einer, den es überhaupt nicht gibt.«

NOCHEINENATEMZUG.

Wenn ich ganz langsam einatme, dann den Atem solange es geht anhalte und nur ganz wenig wieder ausatme, vielleicht hält die Luft dann länger.

Ich glaube, wir liegen hier schon seit drei, vier, vielleicht auch schon seit fünf Tagen. Es ist vollkommen dunkel, das kleine Loch, durch das sie uns am Anfang beobachtet haben, ist jetzt weg. Und ich habe die Zeit verloren, aus Sekunden sind Stunden geworden und Tage – Morgen und Abend sind gleich dunkel.

Schon länger habe ich keine Bewegung mehr gespürt.

Das letzte Mal, das war in dem Augenblick, als die Kiste, in der wir liegen, hochgehoben wurde und eine Weile in der Luft schwebte, hin und her schaukelte, bis sie schwer auf dem Boden aufschlug, wobei der Aufprall von den vielen Schichten aus Körpern unter mir aufgefangen wurde.

Ein riesiger Sarg, der zur letzten Ruhe in ein Loch gesenkt wird. So hatte sich das angefühlt.

IMFLURDERNotaufnahme standen die Patienten dicht an dicht an den Wänden, weil die Stühle im Wartezimmer alle besetzt waren, dazwischen hatten die Schwestern Betten mit Verletzten geschoben, die in keinem Behandlungszimmer Platz hatten. Einer dieser Morgen eben. Schießerei, Überfall und eine Massenkarambolage auf der südlichen Ringstraße. Ewert Grens hätte den Haupteingang nehmen sollen, hatte aber aus alter Gewohnheit bei der Notaufnahme zwischen zwei Rettungswagen geparkt. In einem der Operationssäle der Notaufnahme hatte er das letzte Mal eine vorrübergehende Sonderkommission eingerichtet, nachdem der Notruf direkt aus der Leichenhalle gekommen war. Aus Verzweiflung hatte eine Prostituierte damals alle Räume mit Sprengsätzen versehen und die Ärzte und Studenten als Geiseln genommen. Wieder hetzte er durch die vertrauten Flure, aber sein Gefühl war jetzt ein anderes. Damals war es um Leben und Tod gegangen. In diesem Fall war der Tod längst eingetreten und hatte den Weg dorthin sogar allein gefunden.

Eine Leiche zu viel.

Ein Toter zu viel.

»Guten Morgen.«

Die Sektionsassistentin, eine Frau um die fünfzig, wartete wie versprochen vor der schweren Eisentür der Leichenhalle auf ihn. Ihre Augen strahlten Wärme und Neugier aus, ihre Lippen umspielte ein sanftes Lächeln. Grens konnte nicht fassen, wie jemand, dessen Beruf darin bestand, Menschen zu zerschneiden und zu zersägen, selbst so voller Leben stecken konnte.

»Laura – ich hatte angerufen.«

Sie trug einen weißen Kittel mit einer Art Plastikschürze als zweiter Haut und einen Mundschutz, der unter ihrem Kinn hing. Sie streckte ihm die Hand hin, nachdem sie sich das doppelte Paar Schutzhandschuhe ausgezogen hatte.

»Keine Sorge, ich bin noch lupenrein sauber, die erste Obduktion muss ein bisschen warten.«

Grens erwiderte den Händedruck und wurde gleich aufgefordert, ihr einen schmalen Gang hinunter zu folgen, an einem Büro und einem Archivraum vorbei. Dann standen sie im Obduktionssaal.

»Es war ein Morgen wie jeder andere. Eine Tasse Kaffee – oder, wenn ich ehrlich sein soll, waren es sogar mehrere. Dann habe ich die Unterlagen der Neuzugänge überprüft, um die Patienten auf Eisenwannen in die Kühlfächer umzusetzen. Ich nenne sie Patienten. Weil … Tote, Leichen oder auch nur Körper, ich weiß nicht, ich finde, das klingt so unwürdig.«

Sie öffnete die Tür zu dem bedeutend größeren Raum hinter dem Obduktionssaal. Dem Kühlraum. Scharfes Licht und acht Grad, zumindest laut Thermometer, das auf einem der Arbeitstische lag. Die Eisenwannen, von denen sie gesprochen hatte, waren aus Stahl und kamen in eine der Kühlboxen, die jeweils über zwölf Fächer auf drei Ebenen verfügten. Die Kühlboxen standen auf Rädern, sodass man auch sie dicht an die weiß gekachelten Wände schieben konnte.

»Drei ältere Männer, eine junge Frau und ein sechsjähriges Kind. Das waren die Neuzugänge. Ich habe sie einen nach dem anderen in den Kühlfächern untergebracht. Dafür gibt es einen Kran, damit wir uns den Rücken nicht kaputt machen.«

Ein sonderbarer Geruch.

Der im Obduktionssaal noch aufdringlicher gewesen war.

Fleisch. Genauso roch es. Nach Fleisch.

»Es war ein Morgen wie jeder andere. Bis ich sie in die Kühlfächer umgesetzt habe und mir … ja, bis mir klar wurde, dass es zu viele sind. Also, zu viele Patienten.«

Die Kühlbox, vor der sie standen, hatte vier belegte Fächer von insgesamt acht. Leblose Körper in weiße Laken gehüllt, auf denen kleine rote Namenszettel befestigt waren.

»Ich habe dreimal durchgezählt. Habe immer wieder meine Unterlagen mit den Einträgen im Rechner verglichen, aber es stimmte nicht. Einer war zu viel. Also habe ich sie alle rausgezogen, so wie den hier, die Namensschilder kontrolliert, dann das Gesicht und schließlich – wenn das nicht ausreichte – die besonderen Kennzeichen abgeglichen.«

Sie lächelte. Ein Lächeln in dieser Umgebung und unter solchen Umständen hätte bei jedem anderen morbide oder sogar wahnsinnig wirken können. Aber nicht ihr Lächeln. Ewert Grens stand neben einem Menschen, der Ruhe ausstrahlen wollte. Der begriff, dass sich die Besucher der Leichenhalle selten wohl fühlten. Und es gelang ihr, ihr Lächeln war warm und aufrichtig, und tatsächlich entspannte er sich. Normalerweise versuchte er bei seinen Aufenthalten in den Leichenhallen der Stadt – und als Kriminalkommissar einer Großstadt musste er häufiger im Haus der Toten vorbeischauen – sein Unbehagen mit Übersprunghandlungen zu vertuschen und packte dann durchaus mal einen Fuß oder sagte etwas Lustiges oder sogar Sarkastisches. Aber das musste er jetzt nicht. Als sie eine der Eisenwannen herauszog, ganz rechts unten, auf der der weiß umhüllte Körper eines ausgewachsenen Menschen lag, begleitete ihn ihre Ruhe.

»Hier liegen die, die noch nicht obduziert wurden. Die muss ich vorbereiten, die Organe entfernen, damit der Pathologe die Todesursache ermitteln kann.«

Grens hatte die rostfreien Schalen gesehen, in denen alles aufbewahrt wurde, bevor man es dann zurück in den Körper legte – alle Einzelteile, die zusammen einen Menschen ausmachten.

»Hier. Das ist der Patient, der nicht unser Patient ist. Der dieser eine zu viel ist.«

Sie zog das weiße Laken zur Seite. Und dort lag er. Dunkelhäutig mit einer Pigmentveränderung am Hals, das war deutlich zu sehen, obwohl die Haut Kraft und Leben verloren hatte. Er trug sein Haar ganz kurz und war ziemlich abgemagert, um die dreißig. Zumindest war das Grens Schätzung, aber der Tod spielte der Zeit nicht selten einen Streich.

»Nackt, wie die anderen auch. In ein Laken gehüllt, wie die anderen auch. Sogar ein roter Namenszettel ist angebracht worden, allerdings mit einer unleserlichen Handschrift. Aber er ist weder von mir noch von einem der Kollegen angenommen und registriert worden. Und definitiv hat er gestern auf keiner der Bahren gelegen. Ich habe sie zwar nicht gezählt, aber ich weiß es. Das ist mein Job. Mir bedeuten diese Patienten genau so viel wie die lebenden Patienten den Krankenschwestern und Ärzten oben auf den Stationen. Ich nehme sie ernst.«

Die Sektionsassistentin Laura legte ihre Hand auf Grens Arm. Vielleicht, um ihren Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen. Vielleicht war sie auch verunsichert, weil sie nicht verstand, was sie da vor sich sah. Oder weil sie wusste, dass diese Geste ihre Besucher beruhigte. Ganz gleich, aus welchem Beweggrund sie gehandelt hatte, Grens ließ ihre Hand dort liegen, obwohl er immer sehr bemüht war, jede Form von Körperkontakt zu vermeiden.

In einem Raum voller Toten. Allein. Und es fühlte sich fast gut an.

»Ist das schon einmal passiert?«

»Was denn, Herr Kommissar?«

»So ein unidentifizierter Körper?«

»Noch nie.«

Er beugte sich zu dem Gesicht hinunter, das ihn nicht mehr sehen konnte, hob dann eine Ecke des Lakens an und entblößte den ganzen Körper.

Unverletzt. Zumindest äußerlich.

Ein auf den ersten Blick gesunder Mensch, der keiner äußerlichen Gewalt ausgesetzt wurde.

Ewert Grens sah sich in dem kalten, unpersönlichen Raum um.

Wer bist du?

Warum bist du gestorben?

Und … wie zum Teufel bist du hierhergekommen?

ICHHABEIHRENNamen gerufen.

Alyson. Alyson.

Ich weiß, dass wir nicht sprechen dürfen. Das haben sie gesagt. Aber ich musste, denn seit Tagen habe ich keine Atemzüge gehört, und auch das metallische Kratzen ist verstummt, außerdem war aus Geruch Gestank geworden, Verwesung, ich war gezwungen zu rufen.

Alyson.

Sie antwortete nicht.

Darum habe ich nochmal gerufen, nach allen, meine Stimme ist sofort verschluckt worden. Und ich habe keine Antwort bekommen.

Vielleicht trauen sie sich nicht.

Vielleicht bin ich ganz allein, obwohl wir so viele sind.

Vielleicht bin ich sogar der Einzige, der noch lebt.

WASFÜREINmerkwürdiger Morgen.

Was so schön angefangen hatte, an seinem ganz persönlichen Platz auf einem Stein vor Annis ehemaligem Fenster, hatte sich in eine Reise verwandelt, dem Transport eines toten Unbekannten von einem Leichenhaus ins andere zu folgen. Aus dem Notruf am frühen Morgen war eine polizeiliche Ermittlung geworden und musste deshalb in der Gerichtsmedizin in Solna fortgesetzt werden.

Rund eine Stunde später stand Ewert Grens unter einer Lampe, deren scharfes Licht auf eine Pritsche aus glänzendem Material gerichtet war, auf einen jungen Männerkörper, der noch keinen Namen hatte.

»Vollständig ausgebreitete Leichenflecke. Maximale Leichenstarre. Aber der Ringmuskel am Auge reagiert deutlich auf Strom. Und hier, Ewert …«

Ludvig Errfors, der Gerichtsmediziner, der im Lauf der Jahre zu einem der wenigen gehörte, auf die sich Grens verlassen konnte, führte die Spritze an das Auge des Namenlosen, drückte sie in die Pupille, füllte sie und leerte den Inhalt in ein Teströhrchen.

»… wenn ich den Kaliumgehalt des Glaskörpers messe, kann ich erkennen, dass er erhöht ist. Ich tippe auf … ungefähr einen Tag. Fünfundzwanzig, vielleicht dreißig Stunden. Davor hat er seinen letzten Atemzug getan.«

So schnell ging es, Ruhe durch Unruhe zu ersetzen.

Der angenehme Friede, den Ewert Grens beim Anblick der warm lächelnden Sektionsassistentin empfunden hatte, wurde von der Rastlosigkeit zerschlagen, die sein ständiger Begleiter geworden war.

»Wann er gestorben ist, verrät mir aber nicht das Geringste darüber, wer er ist.«

»Im Weiß der Augen und unter den Augenlidern sind kleine Einblutungen.«

»Ja?«

»Er ist erstickt, Ewert.«

»Wie er gestorben ist, verrät mir auch nicht das Geringste darüber, wer er ist.«

Und als sich die Unruhe und die Rastlosigkeit in die Wut verwandelten, die immer in ihm lauerte, wandte er sich von der Pritsche und dem hellen Licht ab und marschierte in einem Raum auf und ab, der noch mehr nach Fleisch roch als der vorherige, schlug mit der Hand hart auf einen Rolltisch, der ebenso glänzte wie alles andere auch, erzeugte ein metallisches Geräusch, das widerhallte.

»Verdammt, Errfors – gib mir etwas, das auf seine Identität verweist! Das mir verrät, woher er kommt. Wer er ist.«

Der Gerichtsmediziner stand noch immer über das leblose Gesicht gebeugt, genauso entspannt wie zuvor, weder überrascht noch verängstigt. Sie hatten zusammen schon mehrere hundert Leichen begutachtet, aus der Furcht des Kommissars vor dem eigenen Tod wurde in diesen Räumen, wie bei so vielen anderen, Aggressivität, zwei Seiten desselben Gefühls.

»Afrika.«

»Afrika ist ziemlich groß.«

»Ziemlich weit im Westen, Ewert, und ziemlich weit im Norden. Aber er kommt nicht aus den Ländern, die direkt an den Atlantik und das Mittelmeer grenzen.«

Der unruhig hin und her marschierende Kommissar hatte die rechte Hand zu einem weiteren Schlag gehoben, diesmal auf einen Haufen von Plastikschürzen zielend, eine Bewegung, die in der Luft gefror, als Ludvig Errfors die beiden Kiefer des Namenlosen mit Kraft auseinanderdrückte und auf eine weiße Zahnreihe im Oberkiefer zeigte.

»Siehst du das? Die Flecken auf dem Zahnschmelz? Das ist Fluorose. Er ist in einer Gegend aufgewachsen, in der das Grundwasser einen sehr hohen Gehalt an Fluorid aufweist.«

Ewert Grens trat näher. Weiße Punkte auf weißen Zähnen. Große Punkte. Überall.

»Fluorid ist eigentlich gut für die Zähne, Ewert, es baut die Zähne auf – aber in einem solchen Ausmaß wird es schädlich.«

»Einen hohen Fluoridgehalt gibt es doch irgendwie überall.«

»Aber nicht so hoch. Und wenn wir uns den Rest anschauen, dann haben wir …«

Der Gerichtsmediziner klopfte mit einem Metallstab die Zähne ab.

»… gesunde, starke Zähne. Bis wir hierhin kommen.«

Zwei Eckzähne. In einer Farbnuance, die alles andere als weiß war.

»Wir nennen das bis zum Grund abgebrannt. So stark von Karies betroffen, dass man sie nicht mehr retten kann. Wäre er zu einem Zahnarzt gegangen, hätte man sie ihm gezogen. Aber das hat er nicht getan. Er war bei keinem Zahnarzt. Noch nie in seinem Leben.«

Er presste die Kiefer wieder zusammen, auch das schien viel Kraft zu erfordern.

»Ich habe das bei mehreren Obduktionen von Menschen erlebt, die in Afrika aufgewachsen sind. Phantastische Zähne trotz null Zahnpflege. Und zugleich massive Schäden an einigen. Dies, in Verbindung mit der Fluorose – die weißen Flecken auf dem Zahnschmelz – und natürlich auch mit seinem Aussehen, deutet auf Westafrika hin, möglicherweise Zentralafrika.«

Ewert Grens blieb lange an der Seite des Gerichtsmediziners, länger als eigentlich erlaubt, wenn eine menschliche Leiche sukzessiv zerlegt wird. Viel mehr Informationen gab es an und für sich nicht zu sammeln. Er hatte die mögliche Todesursache erfahren – Tod durch Ersticken. Den möglichen Todeszeitpunkt – vor fünfundzwanzig Stunden. Und die mögliche Herkunft – Westafrika. Aber es gelang ihm noch nicht, sich vom Anblick des Toten loszureißen. In anderen Fällen war es ihm schon passiert, dass ihn die Toten gemustert hatten, während er sie betrachtet hatte. In diesem Fall sah es aber nicht so aus. Es war eher so, als würde er eine Art Verantwortung für diesen jungen Mann verspüren, der mit einem falschen Namenszettel ausgestattet in ein Leichenschauhaus gebracht worden war. Und während er bei dem Toten verweilte, der ihm weder die Frage beantworten konnte, wer er war, noch wie er dorthin gekommen war, hatte er eingesehen, dass es zwar Strafen dafür gab, einem Menschen das Leben zu nehmen, dass es aber mehr oder weniger risikofrei war, ihm auch den Tod zu nehmen. Und dass es nicht so sein sollte. Und am Ende in der Verantwortung eines Kommissars lag, diesem jungen Mann seinen Tod zurückzugeben.

Das gerichtsmedizinische Institut von Solna lag ein paar Kilometer vom Norra-Friedhof entfernt, und auf seinem Weg ins Zentrum von Stockholm, ins Polizeirevier, hielt er an dem großen Friedhof an, der früher einmal der schrecklichste Ort von allen gewesen war. Wo die schlimmste Befürchtung schon eingetreten war. Er hatte sich nicht an diesen Ort getraut. Aber das tat er jetzt. An das Grab, das eines von dreißigtausend war und sich in der Abteilung 19B befand und die Nummer 603 trug. Ein einfaches weißes Kreuz und ein Messingschild, auf das ihr Name eingraviert war. ANNIGRENS. Er nahm ein paar Blätter auf, die der Wind dorthin geweht hatte, füllte die Gießkanne und goss die Rosen, das Heidekraut und die beiden Pflanzen mit den rosafarbenen Blüten. Er saß auf der Parkbank, starrte auf ein Stück Rasen und dachte an das Gesicht, das auf dem kalten Obduktionstisch lag. Und er fragte sich, ob es wohl jemanden gab, der den jungen Mann ebenso sehr vermisste, wie er – Grens – seine Frau vermisste.

Die unerwartete Hektik des morgendlichen Verkehrs hatte sich in die vorübergehende Stille des nachmittäglichen Verkehrs verwandelt, und es dauerte nur wenige Minuten vom Friedhof nach Kungsholmen und einem freien Parkplatz direkt vor dem Revier Kronoberg.

Ewert Grens erste Schritte im Flur der Ermittlungsbehörde Stockholm, seiner Abteilung, führten zum Getränkeautomaten und Knopf Nummer 38, schwarz, zwei große Becher. Er leerte den einen sofort, füllte nach und ging weiter zum nächsten Halt, der Tür von Mariana Hermanssons Zimmer.

»Guten Tag.«

Ihr Dienstzimmer betrat er selten. Das hatte sich so eingebürgert. Die um einiges jüngere Kollegin, auf deren Einstellung er so stolz war und die, ohne es selbst zu wissen, eine Art Tochterersatz für ihn war, hatte die Grenzen ihrer Integrität gezogen, und diese verliefen ungefähr genau an ihrer Türschwelle.

»Keine der als vermisst gemeldeten Personen aus dem schwedischen Fahndungsregister passt auf seine Beschreibung, Ewert. Ich habe auch in Kopenhagen, Helsinki und Oslo nachgefragt. Ohne Ergebnis.«

Er hatte die beiden während der Fahrt zum Leichenschauhaus angerufen, Mariana, die bereits an ihrem Arbeitsplatz vor den Papierstapeln der rund zwanzig parallel geführten Ermittlungen saß, und Sven, der kurz zuvor den Frühstückstisch in seinem Reihenhaus, mit Anita auf der einen und Jonas auf der anderen Seite, verlassen hatte.

Grens war auf dem Weg zu seinem Dienstzimmer.

»Sven?«

Die beiden einzigen Kollegen, die er leiden konnte.

Und die einzigen Kollegen, die ihn leiden konnten.

»Ich habe auf dem Weg im C-Haus und bei Interpol vorbeigeschaut, Ewert, wie du mich gebeten hast.«

»Ja, und?«

»Auch dort nichts. Weder in Sachen Zahnabdruck noch Fingerabdrücke. Keine andere Polizeibehörde auf der Welt sucht nach ihm.«

Noch drei Türen bis zu seinem Zimmer, er stellte die beiden Kaffeebecher auf den wackligen Tisch neben dem Sofa, das einmal dunkelbraun gewesen war und Streifen gehabt hatte. Der Kassettenrekorder stand auf dem Regal mit den abgeschlossenen Ermittlungen und den Büchern über Polizeiethik, die noch immer geliefert wurden, obwohl er sie nie las. Er hatte gerade Tweedle Dee von Siw Malmkvist eingelegt und sich auf dem Sofa ausgestreckt, das inzwischen viel zu weich für seinen schweren Körper war, als ein Gesicht in der Öffnung seiner eigenen Tür auftauchte. Mit Falten, die ihn an den Badezimmerspiegel erinnerten, in den Grens jeden Morgen sah. Nils Krantz, der Kriminaltechniker, der schon genauso lange im Haus arbeitete wie er selbst.

»Hast du gerade Zeit, Ewert?«

»Noch nicht.«

»Zwei Minuten und …?«

»Zwei Minuten und fünfundvierzig Sekunden.«

Krantz setzte sich auf den Besucherstuhl auf der anderen Seite des Tisches. Und wartete. Bis Siw fertiggesungen hatte. Ihm war im Laufe der Zeit auch schon mal der Kragen geplatzt, und dann hatte er mit dem Kommissar darüber gestritten, wie bescheuert es war, dringende Ermittlungsarbeit ruhen zu lassen, bis Musik aus den Sechzigern verklungen war. Aber inzwischen nahm er es hin, denn so ging es schneller.

Tweedle-deedeli-dee.

Ewert Grens streckte sich auf dem Sofa aus, dann drehte er sich zur Seite, um seinen Besucher besser zu sehen.

»Ihre allererste Aufnahme. Ever. Wusstest du das?«

»Ich möchte, dass du dich gerade hinsetzt, Ewert. Dann kannst du besser lesen.«

Der Kriminaltechniker hatte ein Blatt Papier dabei.

Er legte es auf den Tisch, schob es Grens hin.

»Ich habe mir die Leiche unten bei Errfors schon einmal angesehen. Um Zeit zu gewinnen. Die Daten zu seiner DNA bekommst du frühestens heute Abend, wahrscheinlich erst morgen. Aber ich habe etwas anderes gefunden. Etwas, das … nicht stimmt.«

Krantz zog seine Lesebrille aus der Brusttasche seines Jacketts und reichte sie Grens.

»Lies das. Fünfte Zeile. Ich habe klare, um nicht zu sagen umfassende Spuren dieses Stoffes an mehreren Stellen entdeckt. Im Haar des Toten. Auf der Haut im Gesicht. Auf den Händen. Am unteren Rücken und ganz unten am Schienbein. Das heißt, auf allen Flächen, die nicht von den Klamotten geschützt wurden, bevor ihn jemand umgebracht, ausgezogen und zugedeckt hat.«

Der Zeigefinger des Kriminaltechnikers war leicht gekrümmt, darunter aber konnte man das Wort erkennen, das mit schwarzer Tinte unterstrichen war.

Ammoniumphosphat.

Grens zuckte mit den Schultern.

»Und was bedeutet das?«

»Feuerlöscher.«

»Feuer … löscher?«

»Ammoniumphosphat ist der wohl wirksamste Hauptbestandteil – und deshalb einer der häufigsten – von Flammschutzmitteln, die Feuer bekämpfen, indem sie es abkühlen.«

»Jetzt verstehe ich noch weniger. Brandverletzungen? Solche Leichen sehen doch meistens viel schlimmer aus.«

Der Kriminaltechniker streckte die offene Hand aus, wartete, bis Grens die Lesebrille abgenommen und sie ihm zurückgegeben hatte.

»Und genau das stimmt ja auch nicht – sein Körper weist nicht die geringste Spur auf, die darauf hinweisen würde, dass er sich auch nur in der Nähe einer offenen Flamme aufgehalten hat.«

Nachdem Krantz kurz darauf ging, um mit dem nächsten Fall weiterzumachen, der ebenfalls dringend war, denn alle Fälle waren das, lag Ewert Grens auf dem Sofa und lauschte der Musik aus einer anderen Zeit. Er lauschte und überlegte. Er dachte an das Leichenschauhaus – und daran, dass es seit seinem ersten Tag als frischgebackener Polizist ein natürlicher Teil seines Lebens gewesen war. Aber noch nie hatte er den Fall einer Leiche gehabt, die sich dort nicht hätte befinden dürfen.

Die von selbst dorthin gelangt war.

Die weder einen Namen noch eine Geschichte hatte.

Die niemand war.

ALYSON.

Ich erinnere mich, dass sie geflüstert hat.

Wir waren nicht besonders weit gekommen, die meisten lebten noch, ihre vorsichtige Stimme wanderte in der Finsternis zwischen den Atemzügen, suchte mich, und ich flüsterte zurück.

Alyson.

Ich bekam keine Antwort.

Ich habe noch immer keine Antwort bekommen.

»EWERTGRENS?«

»Mit wem spreche ich bitte?«

»Ist da Kriminalkommissar Ewert Grens?«

»Das kommt drauf an, wer anruft.«

Grens hatte geschlafen, als das Telefon klingelte. Viertel vor fünf. Er sah aus dem Fenster, Morgendämmerung.

»Um was geht es? Wer sind Sie?«

»Laura. Ich war die Frau, die …«

»Ich weiß, wer Laura ist.«

Er setzte sich auf dem durchgelegenen Sofa auf. Er hatte das getan, was junge Kollegen als »klischeehaftes Übernachten im Büro« bezeichneten. Die hatten keinen blassen Schimmer. Man konnte Ewert Grens niemals beschuldigen, klischeehaft an seinem Arbeitsplatz zu übernachten, weil eine Ermittlung ihn dazu veranlasste, dort zu bleiben – er war es verdammt nochmal, der das überhaupt erst erfunden hatte! Klischees, das waren die anderen, alles nur Plagiate. Ein Original konnte kein Klischee sein.

»Ich weiß, wer Sie sind, Sie haben gelächelt.«

»Wie bitte?«

»Sie … ja, Sie haben gelächelt. Ein schönes Lächeln. Dadurch habe ich ganz vergessen, dass ich mich inmitten von Leichen befand, die zerschnitten werden sollen.«

»Nun, wenn das so ist – könnten Sie vielleicht vorbeikommen? Trotz der Uhrzeit?«

»Wo vorbei?«

»Im Leichenschauhaus des Söder-Krankenhauses. Es ist schon wieder passiert. Ich habe einen toten Patienten zu viel.«

Durch Stockholm zu fahren, wenn ab und zu die Kirchenglocken fünfmal schlagen, kann unglaublich schön sein. Ein solcher Morgen war es. Ewert Grens genoss die Aussicht von der Västerbro, musste nicht ein einziges Mal auf der Hornsgatan und am Ringvägen bremsen. Sogar das Krankenhaus, das ehrlich gesagt keinen höheren künstlerischen oder architektonischen Ansprüchen genügte, wirkte einladend, als die Sonne die oberen Stockwerke golden färbte. Wie beim letzten Mal parkte er zwischen den Krankenwagen am Eingang der Notaufnahme, eilte wieder durch die müden Flure, aber mit weniger Verletzten – in dieser Nacht hatte es kaum Autounfälle und Schießereien gegeben.

Laura stand vor der Stahltür des Leichenschauhauses und wartete auf ihn – mit demselben warmen Lächeln, das ihn aufrichtete, ihn leichter machte. Inzwischen wusste er auch, dass es nicht berechnend war, aufgesetzt – sie hatte keine Ahnung gehabt, was er meinte, als er es vorhin am Telefon erwähnt hatte.

»Guten Morgen, Herr Kommissar. Oder ist es überhaupt schon Morgen? Vielleicht eher späte Nacht?«

»Morgen. Glaube ich. So oder so, Sie haben heute sehr früh angefangen.«

»Ich konnte nicht schlafen. Und dachte zuerst, es liegt daran, dass ich in Verzug bin und heute mehr Patienten als sonst vorbereiten und öffnen muss. Gestern kam ja eine Menge dazwischen – die zusätzliche Leiche, Ihr Besuch und die vielen Fragen von der Leitung des Krankenhauses.«

Sie nickte ihm zu, gab ihm zu verstehen, dass er ihr folgen solle, und sie gingen durch den schmalen Gang, der in den Obduktionssaal und die Kühlkammer führte.

»Aber daran lag es nicht. Es war … ja, eher ein Gefühl.«

»Ein Gefühl?«

»Ja, ich weiß auch nicht recht, ich kann es kaum erklären, aber es war, als wüsste ich, dass sich das, was gestern passiert ist, heute wiederholen würde.«

Laura lächelte nicht mehr, sie sah auf einmal ziemlich traurig aus.

»Oder besser gesagt, Herr Kommissar, dass es sich schon wiederholt hatte.«

Sie ging zu der Kühlbox, in der auch der junge Mann untergebracht gewesen war, dort war Platz für zwölf Leichen in zwölf gleich großen Fächern.

»Ich habe sie alle durchgezählt – die hier liegen, und die in der zweiten Kühlbox liegen. Obwohl ich es eigentlich gar nicht hätte tun müssen.«

Sie zog eine der Metallbahren heraus, ganz links in der mittleren Reihe.

»Ich wusste einfach, dass es eine Leiche zu viel sein würde.«

In ein weißes Laken gehüllt, genau wie der junge Mann, und ebenso wie alle anderen.

Auf Höhe des Bauches war ein roter Namenszettel befestigt, mit ebenso unleserlichem Gekritzel wie schon am gestrigen Morgen.

»Und so sieht sie aus.«

Acht Grad.

Das Thermometer im Kühlraum hing einfach da, Grens las es ganz automatisch ab.

»Sie ist auch nicht registriert worden. Weder von mir noch von einem Kollegen im Krankenhaus. Aber hier liegt sie, als ob … ja, als wollte jemand, dass man sich um sie kümmert, richtig kümmert – verstehen Sie? Sie hat auch keinen Namen und keine Geschichte. Und ist so unglaublich jung. Auch wenn der Tod ihre Farbe und ihre Ausstrahlung gestohlen hat – aber man kann erkennen, wie schön sie gewesen sein muss.«

Ewert Grens musterte den nackten Körper, der zum Vorschein kam, als die Sektionsassistentin das Laken anhob und zur Seite nahm. Sie gehörten zusammen. Die junge Frau, die jetzt vor ihm lag, und der junge Mann, der am Vortag hier gelegen hatte. Hautfarbe, Haarfarbe, Gesichtsform, beide äußerlich unverletzt, beide sowohl ihres Lebens als auch ihres Todes beraubt.

Jemand hat auch dich entsorgt.

Jemand hat dich durch die Eisentür gezogen oder getragen, am Büro, Archiv und Obduktionssaal vorbei, bis hierher, in die Kühlkammer.

Jemand hat ein Laken von dem Stapel da drüben genommen und dich damit zugedeckt, damit man dich nicht sieht; hat einen Namenszettel aus der Plastikkiste an der Wand geholt und ihn an dir befestigt, ohne deinen richtigen Namen darauf zu schreiben.

Jemand hat dich mit merkwürdiger Fürsorge dort versteckt, wo du hingehörst, hat sich die Mühe gemacht, dass man sich um dich als Tote richtig kümmert – zugleich wurdest du wie Müll weggeworfen, in der Hoffnung, dass du verschwindest.

»Laura – ich möchte, dass Sie eine Liste mit den Namen aller Personen erstellen, die einen Schlüssel für diesen Raum haben.«

»Sie haben doch gestern schon eine Liste bekommen.«

»Ja. Und ich möchte heute eine, die noch länger ist. Ich und meine engsten Kollegen werden dann jeden Einzelnen, der darauf steht, vernehmen. Ganz egal, ob wir das schon einmal gemacht haben. Und nachdem Sie mir die Liste gegeben haben, setzen Sie sich mit mir ins Büro und erzählen mir noch einmal, wie Ihr Tag hier aussieht, wie Sie den ersten Schnitt setzen und wie Sie die Rippen freilegen, wie Sie Ihren Kaffee trinken und wie es abläuft, wenn eine Lieferung ankommt, wie oft das Telefon klingelt und wie das Klingeln in den verschiedenen Räumen widerhallt. Jedes alltägliche Detail, das Sie für unnötig oder für uninteressant halten. Weil Sie in den zwanzig Jahren, die Sie hier arbeiten, so etwas noch nie erlebt haben, und weil ich in meinen vierzig Berufsjahren so etwas auch noch nie erlebt habe, müssen wir Fragen stellen und Gedanken wagen und über Sachen sprechen, wie wir es noch nie getan haben. Wenn wir wollen, dass ein junger Mann und eine junge Frau ihren Tod zurückbekommen.«

Laura bedeckte den leblosen Körper und schob die Bahre in das viereckige Fach aus Stahl zurück, in dem man ihn aufbewahren würde, bis er – wie der Leichnam am Vortag – formal in eine Ermittlung umgewandelt und dann in die Gerichtsmedizin transportiert, untersucht und als Beweisstück behandelt werden musste.

Unterdessen stand Grens neben ihr und suchte den Blickkontakt.

Wartete.

Als sie sich zu ihm umdrehte, sah er, dass sie ihr Lächeln doch verloren hatte – schließlich war das Unerklärliche ja noch größer geworden.

ICHWILLNICHT.

Aber langsam einatmen und ganz langsam wieder ausatmen genügt nicht.

Die Luft geht zur Neige. Der Sauerstoff geht aus.

Ich habe nicht erwartet, dass ich so viel Angst haben würde. Dass sie stärker und größer werden würde, je näher ich ihm komme. Es reicht nicht mehr, die linke Hand zu der Wange auszustrecken, die alles Leben verloren hat; oder die rechte Hand zu ihm, der schon ganz am Anfang gestorben ist. Es reicht nicht mehr, seine steifen Finger zu halten.

Ich will nicht sterben.

Ich will nicht wissen, ob sich der Tod im Inneren genauso kalt und stumm anfühlt.

ESWAREINwenig kühl an den Füßen.

Ewert Grens saß auf seinem Balkon im obersten Stockwerk des Gebäudes mit Sicht auf den Sveavägen. Mitternacht, trotz der Dunkelheit war es hell, Frühsommer, der die Stunden freundlicher machte. Er war barfuß mit einem Glas Wasser hinausgegangen, um frische Luft zu atmen, und dann war er draußen geblieben, hatte sich auf den Klappstuhl sinken lassen.

Inzwischen verbrachte er die Abende und Nächte zu Hause, fürchtete sich nicht mehr davor, sich ins Bett zu legen und in ein schwarzes Loch zu fallen. Aber in dieser Nacht würde er nicht schlafen können. So wie Laura trug er ein Gefühl in sich, das schwer zu greifen war. Ihr Gefühl hatte sie zu einer weiteren Leiche geführt. Sein eigenes Gefühl beschäftigte sich mit Eingängen. Ausgängen. Wie zum Teufel jemand mit einer Leiche in ein Leichenschauhaus eindrang, ohne dabei bemerkt zu werden. Und das gleich zweimal hintereinander.

Zusammen mit Sven und Mariana hatte er die Aufzeichnungen sämtlicher Überwachungskameras des Krankenhauses durchgesehen. Die Letzte davon war die im Flur, der zur Eisentür führte. Keine Sequenz, kein einziges Bild zeigte eine Person, die unbefugt Leichen herumtrug. Dann hatten sie, ausgehend von Lauras Liste, sämtliche Schlüsselbesitzer in Kategorien eingeteilt – Gerichtsmediziner, Wachtmeister, Putzkräfte, Kaffeemaschinenauffüller, Handwerker, Sicherheitskräfte – und jeden Einzelnen davon verhört. Keiner hatte ein offenkundiges Motiv. Keiner war ohne Alibi.

Er beugte sich über die Balkonbrüstung. Ein jüngeres Paar spazierte unten auf der Straße vorbei, Arm in Arm, so wie Verliebte es früher oft getan hatten.

Zu seiner Zeit. Zu Annis Zeit.

Ihrer gemeinsamen Zeit.

Am späten Nachmittag – nach ergebnisloser Durchsicht der Kameraaufzeichnungen und ebenso ergebnislosen Vernehmungen – hatte ein Bote den Ausdruck von Errfors’ Obduktionsprotokoll gebracht.

Die Patientin weist multiple subkutane Hämatome an den Fingerknöcheln beider Hände sowie an den Ellbogen und Knien auf, dazu befinden sich im Augenweiß und unter den Augenlidern kleine petechiale Blutungen.

Die Frau ohne Namen und Geschichte hatte gekämpft – hatte gegen etwas geschlagen oder war möglicherweise von jemandem geschlagen worden – dasselbe galt für den namenlosen Mann.

Geschätzter Todeszeitpunkt, unter Berücksichtigung der Körpertemperatur und Leichenstarre, circa sechsunddreißig Stunden vor der Obduktion.

Und erstickt, genau wie er.

Bei der Untersuchung der Mundhöhle wurde eine große Menge geronnenes Blut gefunden und ein pflaumengroßes Stück von der Zungenspitze. Die Ränder der Zunge weisen Unebenheiten auf, wie von Zahnabdrücken. Zusammengenommen deutet dies darauf hin, dass die Patientin durch Ersticken starb und bei zunehmender Panik mit akuter Atemnot zu kämpfen hatte.

Ewert Grens sog die Luft ein, die er so selbstverständlich einatmete.

Panik.

Ihre Angst hatte sie dazu getrieben, ein Stück ihrer Zunge abzubeißen, der letzte Augenblick in ihrem Leben war um eine einzige Sache gekreist – noch einen Atemzug.

Er atmete unbewusst mehrmals tief ein, behielt die Stadtluft lange, sehr lange in der Lunge, als wolle er etwas spüren, das zumindest entfernt dem ähnelte, was sie durchgemacht hatte. Eine lange Reihe von Fahrradfahrern fuhr unten auf der Straße vorbei, während er die Luft anhielt, dann zwei schwarze PKW, die glänzend und teuer aussahen und viel zu schnell fuhren, vermutlich war es eine Art Wettrennen zweier Wahnsinniger, und dann war es eine Weile lang einfach bloß leer – nur wenige Orte und Momente konnten so von Verlassenheit geprägt sein wie eine Großstadt, in der es plötzlich still wurde.

Nils Krantz’ Bericht entsprach auch fast einer Kopie der Beobachtungen vom Vortag. Der Kriminaltechniker hatte sowohl Blut als auch Spucke für eine DNA-Analyse in die Rechtsmedizin geschickt. Er hatte Zahn- und Fingerabdrücke genommen, die weder in schwedischen noch in internationalen Polizeiregistern zu einem Treffer führten. Und – diese letzten Zeilen veranlassten Ewert Grens dazu, barfuß auf den Balkon zu treten – er hatte erneut zahlreiche Fragmente von Ammoniumphosphat im Haar und auf der Haut der Toten gefunden. Der Hauptbestandteil des Löschmittels, das Flammen dadurch bekämpfte, dass es sie abkühlte.

Obwohl auch bei ihr keinerlei Hinweise darauf entdeckt werden konnten, dass sie sich in der Nähe eines Feuers aufgehalten hätte.

Ihr seid mit nur einem Tag Abstand gestorben, du vor ihm.

Ihr seid beide an Sauerstoffmangel gestorben.

Ihr seid am selben Ort gestorben, voller Panik.

Ewert Grens konnte nicht ruhig bleiben, er fing an, auf dem Balkon Kreise zu drehen, Runde um Runde. Die altbekannte Unruhe. Die Rastlosigkeit. Aber auch das andere Gefühl, das sich aufdrängte und störte, Eingang und Ausgang. Dass niemand dabei gesehen wurde, wie er eine Leiche durch die Gegend schleppte. Nach dem Notruf wegen der ersten Leiche hatte er ja ein Muster wiedererkannt. Ohne zu wissen, was.

Vielleicht wusste er es jetzt.

Falls ja, dann war dieses Wissen mehrere Jahre alt, und auch damals hatte es ihn zu einer toten Frau geführt.

Sein erster Anruf galt einer Person, die ihr Lächeln verloren hatte.

»Habe ich Sie geweckt?«

Die Sektionsassistentin hatte geschlafen, das konnte er deutlich an ihrer Antwort hören, ihre Stimme zitterte bei den ersten Worten.

»Ausgleichende Gerechtigkeit. Gestern früh habe ich Sie ja um fünf Uhr gestört.«

»Haben Sie es weit bis zu Ihrem Arbeitsplatz?«

»Nicht besonders weit. Und um diese Tageszeit dauert es nur eine Viertelstunde mit dem Auto.«

»Dann möchte ich, dass wir uns dort treffen. Ich würde mich gern noch einmal umsehen.«

Laura fragte nicht, warum, sagte nur bis gleich, und das mit einer Stimme, die bereits viel klarer klang, und dann legte sie auf.

Ihm gefiel das sehr. Sie war wie er.

Der zweite Anruf ging an den Chef der Hundepatrouillen, der dritte und vierte an Sven und Mariana. Beide waren daran gewöhnt, dass er sie zu jeder Zeit anrufen konnte, um sie an einen Tatort zu rufen, was bedeutete, dass sie sich oftmals gerade erst hingelegt hatten.

Als er ein paar Minuten später zum Söder-Krankenhaus fuhr, wählte er den Umweg über Kronoberg und den Archivraum, der bis zum Rand voll war mit alten und abgeschlossenen Fällen – in einem Kellergeschoss, das ebenso verlassen und dunkel wie der Rest des Polizeigebäudes war. Er brauchte eine bestimmte Karte. Die ihm zu einer anderen Zeit bei einer anderen Ermittlung eine neue Welt gezeigt hatte.

Er hatte in die falsche Richtung gedacht.

Er hatte vorausgesetzt, dass der Transport von außen durch die Eingänge des Krankenhauses erfolgt war, über die unendlichen Flure und durch die schwere Eisentür, die Grenze zur Leichenhalle.

Stattdessen waren die Leichen beide Male aus der anderen Richtung gekommen.

Von innen.

DASLEICHENSCHAUHAUSDESSöder-Krankenhauses war das größte und zugleich gepflegteste, das Ewert Grens je betreten hatte. Nach vier Jahrzehnten als Polizist hatte er bei seinen Ermittlungen die Tür von Kühlkammern in ganz Schweden aufgestoßen – manche erinnerten an geräumige Schränke mit Platz für ein paar dicht übereinandergestapelte Leichen, andere waren völlig überfüllt und darum von mieser Hygiene und beschleunigten Verwesungsprozessen gezeichnet. Als er jetzt mit Sven und Mariana zu seiner Rechten und Laura zu seiner Linken Meter für Meter der klinisch sauberen Halle, Boden, Wände und Decken, untersuchte, war es, als würden sie einerseits in einer Großküche herumspazieren, die nur mit rostfreiem Stahl und weißen Fliesen ausgestattet war, und andererseits durch düstere Räume, die in hartem Neonlicht badeten. Aber weder im ersten Teil mit den Stahlkammern, die Platz für vierundzwanzig jener Körper boten, die Laura Patienten nannte, noch im zweiten Teil mit weiteren sechsunddreißig quadratischen Fächern, in denen die Leblosen ruhen konnten, noch in dem nahezu kreisförmigen Bereich mit braunen Holzschubladen, in denen Organe aufbewahrt wurden, fand er das, was er sich als Lösung erhofft hatte.

Auch nicht im Obduktionssaal, in dem die eigentliche Arbeit durchgeführt wurde.

Und ebenso wenig im Aufbahrungsraum, in dem die Angehörigen den Toten ein letztes Mal sahen.

Und weder in dem Raum mit den Leichenhemden noch im Archiv, im Pausenraum, im Umkleidezimmer oder im Büro.

Als er aber durch den schmaleren und dunkleren Flur zwischen Kühlkammer und Obduktionssaal ging, entdeckte er etwas – und auf einmal veränderte sich alles. Es war ein Bereich, an dem ein Besucher normalerweise einfach vorbeiging, ein eingekeilter Waschraum, in dem ein Waschbecken stand, wo die Leichen vorher und die größeren Werkzeuge hinterher gereinigt wurden, und eine Spülmaschine zur Säuberung der Messer und der kleineren Werkzeuge. Denn ganz am Ende des Raumes, hinter dem Autoklav, der aussah wie ein gigantischer Druckkocher und Bakterienbekämpfer, der er auch war, befand sich so etwas wie eine Tür. Im Farbton der Wand gehalten. Und erst als er davorstand, wurden die Umrisse deutlich, erst als er dagegen klopfte, hörte er das dumpfe Geräusch von schwerem Eisen.

»Was ist das hier?«

Grens wandte sich zu Laura um, die an der Spüle stand und den tropfenden Wasserhahn fest zudrehte.

»Ein Schutzraum.«

»Ein Schutzraum? In einem Leichenschauhaus? Damit diejenigen, die hier liegen, im Falle eines Krieges nicht Gefahr laufen – noch einmal zu sterben?«

Die Sektionsassistentin sah zuerst auf die Tür, dann zu Grens hin.

Und zuckte mit den Schultern.

»Ich habe immer angenommen, dass es die Tür zu einem Schutzraum ist. Weil sie so aussieht. Aber ich war noch nie da drin. Ich habe in all den Jahren nicht einmal erlebt, dass sie offen stand.«

Ewert Grens spürte, wie seine Wangen und sein Hals rot anliefen.

Das geschah in der Regel, wenn das Herz schneller schlug.

Wie immer, wenn eine Ermittlung eine neue Wendung nahm und er genau wusste, wohin sie führen würde.

DIEMASSIVEEISENTÜRwar mit zwei separaten Schlössern versehen. Der Nachtwächter des Krankenhauses hatte trotz langen Suchens nur den Schlüssel für das eine davon gefunden – das obere. Doch anstatt genervt zu sein, zu fluchen oder gegen Sachen zu treten oder alles gleichzeitig zu machen, überraschte Ewert Grens seine Umgebung, indem er schweigend lächelte – zufrieden.

»Gut.«

»Gut? Ewert?«

Sven Sundkvist hatte lange genug mit dem hochgeschossenen und unberechenbaren Kriminalkommissar gearbeitet, um seine Reaktionsvariationen auf Enttäuschungen zu kennen.

Stille und Zufriedenheit gehörten nicht dazu.

»Kannst du dich nicht erinnern, Sven? So funktionieren diese Türen doch. Nur die Armee und der Rettungsdienst haben Zugang zu dem zweiten Schlüssel. Das bestätigt uns, dass es tatsächlich so eine Tür ist. Dass wir schon bald das erste Rätsel gelöst haben werden – nämlich, wie die Leichen hier reingekommen sind.«

Mariana Hermansson hatte etwa zeitgleich eine schnelle Entscheidung getroffen. Da sämtliche Schlüsseldienste bereits im Einsatz oder zu weit weg waren, hatte sie einen Spengstoffspezialisten der City-Polizei geweckt und herbestellt. Normalerweise war es sein Job zu verhindern, dass es zu einer Explosion kam. Jetzt aber sollte er das Gegenteil tun – nämlich dafür sorgen, dass eine absolut perfekte Sprengladung ausgelöst wurde.

Es war eine schöne Explosion. Sofern eine Explosion das sein kann. Der Türrahmen löste sich von der Wand, als bestünde er aus dünnem Karton und wäre gerade und sauber mit einem Papiermesser ausgeschnitten worden, ohne Staub und ohne Splitter. Und dann kippte er nach hinten, nach draußen, weg.

Zurück blieb ein rechteckiges Loch.

Dahinter sahen sie nur Dunkelheit.

Etwas roch nach feuchter Kleidung und verbranntem Laub.

EINTUNNEL.

Sie betraten einen Tunnel.

Der mutmaßliche Transportweg für jene Person, die tote Körper entsorgte.

So war Stockholm erbaut worden. Fast sämtliche öffentliche Gebäude waren mit ähnlichen Türen versehen worden. Eingang, Ausgang zum Tunnelsystem der Hauptstadt. Kilometerlange Betonrohre, groß genug, damit Menschen sich darin fortbewegen konnten, die meisten gehend, einige kriechend. Verschiedene Tunnel, die alle zusammenliefen. Die Abwasserkanäle, die stellenweise mit dem militärischen System verbunden waren, das wiederum mit dem Stromsystem und dem Kommunikationssystem und dem Fernwärmesystem verlinkt war. Ganze Welten, die getrennt für sich von den jeweils Verantwortlichen auf Karten festgehalten worden waren, von denen aber nur die wenigen Outsider, die in den Tunneln lebten – Kriminelle, seelisch Angeschlagene oder Flüchtende – , wussten, wie sie untereinander verbunden waren. Ein unterirdisches Stockholm, so groß wie das, was darüber lag. Ein einzelnes System, beispielsweise das der Abwasserkanäle – eine der Karten, die Grens auf dem Weg hierher aus dem Archiv der Polizei geholt hatte – konnte aus bis zu einhundert Kilometern Tunnel bestehen.

»Jemand hat sich einen Wegweiser gekauft, einen dieser verdammten selbsternannten Guides, die hier unten das Regiment führen. Jemand, der durch einen der vielen hundert Eingänge, die es in der ganzen Stadt gibt, nach unten gelangt sein kann. Jemand, der in einen ganz normalen Gulli gestiegen ist oder die Verbindungsgänge der U-Bahn genommen hat oder eine andere Tür in einem öffentlichen Gebäude oder …«

Ewert Grens wandte sich an Mariana.

»… apropos. Die Hunde? Was ist mit ihnen?«

»Drei Minuten. Dann sind sie da.«

Mariana Hermansson wandte sich ihrerseits an die Sektionsassistentin, die bis dahin stumm danebengestanden hatte. Eine Frau, die es nicht störte, allein unter Toten zu sein. Die aber nicht daran gewöhnt war, dass die Wände ihres Arbeitsplatzes gesprengt wurden.

»Laura, das war doch Ihr Name, stimmt’s?«

Laura nickte vorsichtig und zeigte zumindest den Hauch ihres warmen, aufrichtigen Lächelns.

»Ja. Laura.«

»Ich glaube, ich kann sehen, was Sie denken. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Wir reden hier von speziell ausgebildeten Hunden. Mit speziell ausgebildeten Hundeführern. Sie werden sich nicht um die Toten kümmern.«

»Die Patienten.«

»Wie bitte?«

»Ich nenne sie so. Und ich behandle sie auch so.«

Mariana musterte die Frau und merkte, dass sie diese auf beruflicher Ebene bewunderte, sie war in der Lage, den wohl schlimmsten Job der Welt auszuführen.

»Laura – die Hunde werden die Patienten nicht stören. Ich verspreche es Ihnen. Sie befinden sich jetzt gleich nebenan, im Korridor des Krankenhauses, und riechen an den Laken, in die der junge Mann und die junge Frau eingewickelt waren, und an abgeschnittenen Haarbüscheln sowie an Spuren von Ammoniumphosphat, das sich auf der Haut der beiden Leichen befand.«

Genau so kam es.

Die beiden Hunde, ein kräftiger und eifriger Deutscher Schäferhund, pechschwarz, fast glänzend, und ein Belgischer Schäferhund, bräunlich mit grauen Flecken, durchquerten den Obduktionssaal, liefen an den Schubladen mit den Organen vorbei und sahen sich nicht einmal um. Sie trugen bereits das Geschirr der Suchhunde, die langen Leinen waren allerdings noch zusammengerollt. Sie waren vollkommen auf den nächsten Befehl der Hundeführer konzentriert.

Und sofort wurde deutlich, dass sie schon an der Öffnung in der Wand, am Eingang zu dem zweieinhalb Meter breiten Tunnel einen Geruch identifizierten, bei dem sie winselten und mit dem Schwanz wedelten.

Ewert Grens hatte recht gehabt.

Die Person, die die Leichen hierhergebracht hatte, war von dort gekommen.

WARM. UNDFEUCHT.

Ungefähr achtzehn Grad, das ganze Jahr über.

Tief unter Stockholms Asphalt. Unter den Straßen, auf denen die Menschen zwischen Cafés und Bettlern schlenderten, wo sich Autos und Busse vor roten Ampeln stauten.

Ewert Grens versuchte, die Tatsache so gut es ging zu verdrängen, dass er ein vierundsechzigjähriger Mann und nicht mehr in bester Verfassung war. Auf den beiden ersten Tunnelabschnitten im Abwasserkanalsystem konnte er noch stehen und aufrecht gehen. Auch seine Augen brannten nicht besonders, wenn die Kontraste zwischen der vollständigen Finsternis und dem herumirrenden Licht der Taschenlampen verschwammen. Das monotone Bellen der Hunde erinnerte ihn daran, so schwer es auch war, sich in jedem neuen Tunnel ein wenig tiefer zu beugen, ganz gleich, wie furchtbar der Gestank war, der ihnen entgegenschlug. Und ganz gleich, wie unheimlich das Geräusch blinder Ratten war, die auf der Flucht vor ihnen waren, sie mussten weiter, immer weiter, um sich dem zu nähern, der anderen Menschen erst das Leben und dann den Tod genommen hatte.

»Wie geht es Ihnen, Kommissar?«

Einer der Hundeführer hatte sein immer lauteres Keuchen registriert, vielleicht auch den Hustenfall, den zu verbergen er versucht hatte.

»Kümmern Sie sich um Ihren Kram.«

»Wir sollten es vielleicht ein bisschen ruhiger angehen lassen. Auch wenn die Hunde deutlich und stark ziehen.«

»Wenn wir es tatsächlich anders angehen wollen, dann nur schneller, zahlreicher, mehr – ich will die Dreckskerle erwischen, die Leichen entsorgen.«

Die Leinen, die im Geschirr der Hunde eingehakt waren, spannten sich in voller Länge, die empfindlichen Nasen der Tiere schnüffelten intensiv, während der Tunnel immer schmaler und schmaler wurde. Als sie zum ersten Mal zu verstehen gaben, dass die Spur die Richtung änderte und die Verfolger in einen angrenzenden Verbindungsgang abbiegen mussten, gab es eine kurze Besprechung. Über die Schlüssel, die man benötigte, um von einem Tunnelsystem ins andere zu gelangen, verfügten nur sehr wenige Individuen – und zwar jene, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen entschieden hatten, ihr Leben hier zu verbringen, die sich in der unterirdischen Welt eingerichtet hatten, um nicht oben in der anderen Gesellschaft leben zu müssen.

Genau diejenigen, die – davon war Grens überzeugt – angeheuert worden waren, um dem- oder derjenigen zu helfen, die Leichen zu entsorgen; und diese Leute krochen nur aus den Löchern, die ihnen als Wohnungen dienten, wenn sie Lust dazu hatten.

Deshalb hatte er zuvor auch den Sprengstoffspezialisten angewiesen, bei der Suche in den Tunneln dabei zu sein.

Um die Tür, die das Abwassersystem mit dem militärischen System verband, genauso geschickt zu sprengen wie die Tür im Leichenschauhaus, ein Rechteck in der Tunnelwand, das sich jetzt auflöste und sich in einen offenen Eingang verwandelte.

Der Verbindungsgang war niedriger und roch stärker, einfach nach allem. Aber als sie ihn heil durchquert hatten, bellten die Hunde genauso aufgeregt auf der anderen Seite weiter, zerrten an den Leinen und wollten vorwärts. Ewert Grens war zu warm angezogen und schwitzte von den Haarspitzen bis zu den Zehen, während seine Hüfte und seine Knie so stark schmerzten, dass er eigentlich nicht mehr gehen konnte, und die Atemzüge stachen ihm wie kleine Messer in die Brust, wenn die Luft nicht ausreichte.

Aber nicht ums Verrecken denke ich jetzt daran aufzugeben.

Witterung, du Dreckskerl.

Die Hunde haben sie aufgenommen, und ich genauso.

Hier hast du den Tod herumgetragen. Und wir sind dir auf den Fersen.

Ab und zu, wenn sie an den kleinen Einbuchtungen in den Tunnelwänden vorbeikamen, drängten sich flüchtige Bilder von seinem letzten Besuch hier unten auf – von den Ermittlungen, die ihn vor einigen Jahren zu dem Loch geführt hatten, in einen Raum, das ein Zuhause war – für ein vierzehnjähriges Mädchen, das unter der Straße lebte. Vier Paletten übereinander, und sie hatte einen Tisch, auf den sie ein rotweißes Tuch legen konnte, das sie sorgfältig zurechtzupfte, damit es ganz gerade lag, so wie sich das für Tischdecken gehörte. Damals waren Sven und ihm in fast jedem der Tunnel Menschen begegnet. Das hatte sich inzwischen geändert. Die Eingänge waren im Laufe der Jahre stärker bewacht worden, und es war schwieriger, hierherzugelangen, da die Behörden versuchten, eine Welt auszuschließen und zu kontrollieren, für die sich eigentlich niemand interessierte.

Grens drehte sich zu Sven um – Sven, der sich viel müheloser bewegte als er, der überhaupt nicht schwitzte, seine Atmung war kaum zu hören.

Sie mussten sich nur ansehen, mussten nichts sagen – sie erinnerten sich beide.

Die Löcher, aus denen Wohnungen geworden waren, die Gerüche, die in jeder Stofffaser hängen blieben und nicht verschwinden wollten, ganz egal, wie oft ihre Uniformen auch gewaschen wurden, die Dunkelheit, die sich so anders anfühlt, wenn sie Schutz bietet und keine Angst macht. Bilder, die keiner von ihnen loswurde. Aber sie erleichterten die beiden auch, weil sie mit dieser Welt vertraut und jetzt hier unten auf der Suche nach einem Mörder waren.

Auf Aufforderung der unablässig bellenden Hunde durchbrachen sie die Türen zu zwei weiteren Verbindungsgängen – der erste brachte sie in einen Tunnel des Fernwärmesystems, der andere führte sie wieder zurück zu den Abwasserkanälen. Nach knapp einer Stunde erreichten sie das Stadtzentrum und liefen, der Karte der Stockholmer Wasserwerke zufolge, die Grens manchmal ins Licht der Taschenlampe hielt, unter der Kirche Santa Clara hindurch. Eine halbe Stunde später bogen sie in der großen Tunnelkreuzung unter dem Östermalmstorg nach Nordosten ab. Und eine weitere halbe Stunde später überquerten sie unterhalb des Asphalts und des Verkehrs den Valhallavägen, noch immer in Richtung Nordosten, auf den Stadtteil Gärdet zu.

»Herr Kommissar?«

Der Hundeführer des schwarzen und glänzenden Schäferhundes – der sich anfangs wegen des hohen Tempos um Grens Sorgen gemacht hatte – war stehengeblieben und musste die Leine hart halten, damit sein Hund das auch begriff.

»Ja?«

»Das kann noch lange so weitergehen. Die Hunde schlagen die ganze Zeit an.«

»Und?«

»Vielleicht sollte der Herr Kommissar eine Pause machen.«

»Und du solltest dich vielleicht um dein eigenes Zeug kümmern.«

»Herr Kommissar …«

»Du kannst mich auch duzen.«

»Du … deine Atmung ist so stark, und nicht mehr rhythmisch. Das klingt gar nicht gut.«

»Erstens kann es dir scheißegal sein, wie ich atme. Das ist mein Problem. Und zweitens, wenn wir dieselbe Richtung beibehalten, wenn wir noch eine Weile in diesem Tunnel bleiben, dann ist es nicht mehr weit. Der Karte zufolge endet er im Värta-Hafen. Danach kommt nur Wasser und das Meer.«

Ewert Grens war nicht ganz sicher, es war schwierig, physische Eindrücke einzuordnen, wenn der ganze Körper bebte und schmerzte und ihn von innen anschrie. Aber es fühlte sich an, als würden sie – trotz seiner Proteste – nach dem kurzen Halt mit verminderter Geschwindigkeit weitergehen. Und als er in der ewigen Finsternis kurz darauf über ein hervorstehendes Rohr stolperte und Mariana und Sven scheinbar darum wetteiferten, ihm aufzuhelfen, und ihn synchron beschworen, sich auszuruhen, und zwar jetzt gleich, war das offenbar das Zeichen, sich von da an noch langsamer zu bewegen.

Plötzlich blieb der vorderste Hund stehen.

Dann der zweite.

Und beide bellten lauter als vorher, zerrten an ihrem Geschirr.

»Da.«

Der Hundeführer legte die Hand auf eine runde Metallstange, die an die Tunnelwand geschraubt war, und lehnte sich dagegen. Darunter war eine weitere befestigt, und darunter noch eine, eine regelmäßige Reihe mit dreißig Zentimetern Zwischenraum bis zum Boden des Tunnels.

»Die Hunde irren sich nicht, Herr Kommissar. Das ist der Eingang, nach dem wir suchen.«

Denn die runden Metallstangen führten auch nach oben. Wie eine Leiter. Tritt für Tritt konnte man daran hochklettern. Sich festhalten. Ewert Grens wusste, was sie dort oben erwartete. Ein ganz gewöhnlicher Gulli, ein gusseiserner Deckel, der wie ein runder Fleck mitten auf dem Asphalt einer ganz gewöhnlichen Straße lag.

Mehr Zeit zum Denken blieb ihm nicht.

Eine Hand packte ihn an der Schulter und schob ihn entschlossen zur Seite.

»Ich gehe vor. Und du wartest hier.«

Mariana hielt sein Jackett fest.

»Hörst du mich, Ewert? Ich klettere da hoch. Ich öffne den Gullideckel und seh mich um. Und wenn es stimmt, wenn ich zu dem Schluss komme, dass wir am richtigen Ort sind und alle nach oben sollen, erst dann kommst du hinterher.«

»Du gibst mir keine Befehle, Mariana, ich gebe hier die Befehle.«

Sie ließ ihn nicht los. Ihr Griff schien sogar noch entschlossener zu werden.

»Ewert – ich verwende jetzt mal deine Worte: Was ich tue, geht dich einen Dreck an. Hast du eine Ahnung, wie du aussiehst? Ist dir klar, wie du dich anhörst? Du bleibst hier. Und kommst erst nach, wenn ich dir das Zeichen dazu gebe.«

Dann ging sie. Auf die Leiter zu, stieg an den Metallstangen nach oben, einen Tritt nach dem anderen.

Und hätte sie sich umgedreht, dann hätte sie gesehen, dass ihr Chef ein wenig lächelte. Vor Stolz.

Das Erste, was sie bemerkte, war die Luft, die mit jedem Meter an Feuchtigkeit verlor, sodass es leichter wurde zu atmen. Nach und nach veränderte sich auch der Geruch, an den sie sich fast gewöhnt hatte: weniger Schimmel und Ausscheidungen und mehr Abgase. Die Öffnung, in der sie langsam nach oben kletterte, war kreisförmig und gerade so breit, dass sie mit den Ellbogen und Knien gegen die Wände stieß, wenn sie von einer Metallstange auf die nächste stieg.