Drei Tage und ein Leben - Pierre Lemaitre - E-Book

Drei Tage und ein Leben E-Book

Pierre Lemaitre

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Beschreibung

Der neue Bestseller des Goncourt-Preisträgers Pierre Lemaitre »Innerhalb weniger Minuten hat sein Leben die Richtung geändert. Er ist ein Mörder. Doch die beiden Bilder passen nicht zusammen, man kann nicht zwölf Jahre alt und ein Mörder sein.« Ende Dezember 1999 verschwindet im französischen Ort Beauval ein sechsjähriger Junge. Eine großangelegte Suchaktion wird gestartet, Nachbarn und Freunde durchkämmen den angrenzenden Wald nach Spuren des vermissten Rémi. Doch am dritten Tag fegt ein Jahrhundertsturm über das kleine Dorf hinweg und zwingt die Einwohner von Beauval zurück in ihre Häuser. Während dieser drei Tage bangt der zwölfjährige Antoine darum, entdeckt zu werden. Denn nur er weiß, was an jenem Tag wirklich geschah. Und nur er könnte davon erzählen. Mit großer Sensibilität spürt Pierre Lemaitre dem grausamen Schicksal seines jungen Protagonisten nach und stellt die Frage, wie es sich mit einer lebenslangen Schuld leben lässt. »Mit seinem ausgeprägten Gespür für Tempo und Gefühl rollt Pierre Lemaitre den Schicksalsfaden einer Tragödie ab.« LIRE

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Seitenzahl: 277

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Pierre Lemaitre

Drei Tage und ein Leben

Roman

Aus dem Französischen von Tobias Scheffel

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Trois jours et une vie«

© Editions Albin Michel, Paris 2016

Für die deutsche Ausgabe

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München

Unter Verwendung eines Fotos von © Anselme Servain/Arcangel

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN978-3-608-98106-3

E-Book: ISBN 978-3-608-10876-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Pascaline

Für meinen Freund Camille Trumer,

mit Zuneigung

1999

1

Ende Dezember 1999 ging eine überraschende Reihe tragischer Ereignisse auf Beauval nieder, darunter an erster Stelle natürlich das Verschwinden des kleinen Rémi Desmedt. In dieser waldreichen Gegend, in der das Leben langsamen Rhythmen folgt, löste das plötzliche Verschwinden des Kindes Bestürzung aus und wurde von einigen Einwohnern sogar als Vorzeichen der kommenden Katastrophen angesehen.

Für Antoine, der im Mittelpunkt des Dramas stand, begann alles mit dem Tod des Hundes. Odysseus. Versuchen Sie nicht herauszufinden, weshalb sein Besitzer, Monsieur Desmedt, dem spindeldürren, fahlgelb-weißen Mischling mit den langen Beinen den Namen eines griechischen Helden gegeben hatte, das wird nur eines der Rätsel in dieser Geschichte sein.

Die Desmedts waren die Nachbarn, und Antoine, damals zwölf, hing umso mehr an diesem Hund, als seine Mutter Haustiere immer abgelehnt hatte, keine Katze, kein Hund, kein Hamster, nichts, das macht nur Dreck.

Odysseus kam bereitwillig ans Gartentor, wenn Antoine ihn rief, oft folgte er der Bande von Freunden zum Weiher oder in die Wälder der Umgebung, und wenn Antoine allein dorthin ging, nahm er ihn immer mit. Er ertappte sich dabei, dass er mit Odysseus redete wie mit einem Gefährten. Der Hund neigte ernst und konzentriert den Kopf, dann haute er plötzlich ab, ein Zeichen, dass die Stunde der Vertraulichkeiten zu Ende war.

Den Spätsommer hatte Antoine zum großen Teil damit verbracht, mit den Klassenkameraden im Wald, auf der Anhöhe von Saint-Eustache, eine Hütte zu bauen. Die Idee stammte von Antoine, und Theo hatte sie wie gewöhnlich als seine ausgegeben und sich so die Führung der Operationen gesichert. Die Autorität des Jungen über die kleine Bande war dem Umstand zu verdanken, dass er zugleich der Größte von allen und Sohn des Bürgermeisters war. Das sind Dinge, die in einer Stadt wie Beauval zählen (man verabscheut die Leute, die man regelmäßig wiederwählt, sieht den Bürgermeister aber als heiligen Schutzpatron und seinen Sohn als Kronprinzen; diese soziale Rangordnung entsteht in den Läden, weitet sich auf die Vereine aus und erreicht über Kapillarwirkung die Schulhöfe). Außerdem war Theo Weiser der schlechteste Schüler seiner Klasse, was in den Augen seiner Kameraden als Beweis für Charakter galt. Versetzte sein Vater ihm eine Tracht Prügel – was nicht selten war –, trug Theo stolz die blauen Flecken zur Schau wie einen Tribut, den größere Geister dem Konformismus ihrer Umgebung eben zahlen müssen. Er machte auch nicht gerade wenig Eindruck auf die Mädchen, weshalb er von den Jungen gefürchtet und bewundert, aber nicht geliebt wurde. Antoine selbst verlangte nichts und war auf nichts neidisch. Der Bau der Hütte genügte zu seinem Glück, er brauchte nicht Chef zu sein.

Alles hatte sich geändert, als Kevin eine PlayStation zum Geburtstag bekommen hatte. Der Wald von Saint-Eustache hatte rasch seinen Reiz verloren, alle trafen sich zum Spielen bei Kevin, dessen Mutter sagte, das sei ihr lieber als die Wälder und der Weiher, die sie immer für gefährlich gehalten hatte. Antoines Mutter dagegen missbilligte diese Mittwoche auf dem Sofa, ihr verblödet noch mit dem Zeug; schließlich verbot sie ihm hinzugehen. Antoine rebellierte gegen die Entscheidung, weniger, weil ihm die Videospiele gefallen hätten, als wegen der Treffen mit den Freunden, um die er gebracht war. Mittwochs und samstags fühlte er sich allein.

Er verbrachte ziemlich viel Zeit mit Émilie, der Tochter der Mouchottes, ebenfalls zwölf, blond wie ein Küken, lockiges Haar, lebhafte Augen, ein echtes kleines Biest, so eines, dem man nichts abschlägt, selbst Theo war in sie verknallt, aber mit einem Mädchen zu spielen, ist eben nicht das Gleiche.

Antoine kehrte also in den Wald von Saint-Eustache zurück und nahm den Bau einer Hütte in Angriff, diesmal aber in der Luft, im Geäst einer Buche, in drei Meter Höhe. Er hielt den Plan geheim und genoss schon im Voraus seinen Sieg, sobald die Freunde, der PlayStation überdrüssig, in den Wald zurückkommen und den Bau entdecken würden.

Die Arbeit nahm viel Zeit in Anspruch. Im Sägewerk sammelte er Planenreste zusammen, um die Öffnungen vor Regen zu schützen, Teerpappenstücke für das Dach, Stoffe zum Verschönern, er baute Nischen, um seine Schätze unterzubringen, er kam nie zum Ende, schon allein deshalb nicht, da ihn das Fehlen eines Gesamtplans zu zahlreichen Neuanfängen zwang. Wochenlang füllte diese Hütte all seine Zeit und seine Gedanken aus, machte das Geheimnis schwer zu bewahren. Zwar erwähnte er in der Schule eine Überraschung, die mehr als einen von ihnen sprachlos vor Bewunderung machen würde, aber er erzielte damit kaum Erfolg. Zu dieser Zeit war die Bande buchstäblich elektrisiert von der angekündigten neuen Tomb-Raider-Version, es gab nichts anderes mehr.

Während der ganzen Zeit, in der sich Antoine seinem Werk widmete, war der Hund Odysseus sein Gefährte. Nicht, dass er zu viel nutze gewesen wäre, aber er war da. Seine Anwesenheit brachte Antoine auf die Idee eines Hundefahrstuhls, der es Odysseus erlauben würde, ihm Gesellschaft zu leisten, wenn er in seine Hütte hinaufstieg. Rückkehr zum Sägewerk, um eine Rolle zu entwenden, dann ein paar Meter Seil und schließlich alles Nötige, um eine Plattform herzustellen. Dieser Lastenaufzug, der dem Bauwerk den letzten Schliff verlieh und zeigte, wie ambitioniert es war, erforderte viele Stunden der Entwicklung, von denen er einen großen Teil damit verbrachte, dem Hund hinterherzulaufen, den die Aussicht abzuheben vom ersten Versuch an in Panik versetzte. Die Plattform blieb nur mit Hilfe eines Stocks in der Waagerechten, der dazu diente, die linke Ecke zu stabilisieren. Das war nicht ganz zufriedenstellend, aber Odysseus gelangte doch nach oben. Während des gesamten Aufstiegs stieß er ein erbärmliches Quieken aus, und sobald Antoine ihm gefolgt war, drückte er sich zitternd an ihn. Das nutzte Antoine, um seinen Geruch einzuatmen und ihn zu streicheln, er schloss vor Wohlbehagen die Augen. Der Abstieg war immer leichter, da Odysseus nie wartete, bis er auf Bodenhöhe war, sondern schon vorher auf die Erde sprang.

Antoine versah den Ort mit Dingen, die er auf dem Speicher eingesammelt hatte, eine Taschenlampe, eine Decke, etwas zu lesen und zu schreiben, also alles, was erforderlich war, um in Autarkie zu leben, oder zumindest fast.

Aus all dem darf man nicht schließen, dass Antoine von einzelgängerischem Temperament gewesen wäre. In diesem Moment war er es zwangsläufig, durch den Umstand, dass seine Mutter Videospiele nicht ausstehen konnte. Sein Leben war voll von Gesetzen und Vorschriften, die Madame Courtin ebenso regelmäßig wie kreativ verkündete. Sie hatte ein unbeugsames Temperament und war nach ihrer Scheidung zu einer Frau mit Prinzipien geworden, wie so oft bei alleinerziehenden Müttern.

Sechs Jahre zuvor hatte Antoines Vater einen Wechsel der Stelle genutzt, um einen Wechsel der Frau vorzunehmen. Er hatte seinen Antrag auf Versetzung nach Deutschland mit dem Antrag auf Scheidung verbunden, der Blanche Courtin schwer getroffen hatte, was umso überraschender war, als die Ehe nie gut funktioniert hatte und die intimen Beziehungen zwischen den Eheleuten nach Antoines Geburt auf dramatische Weise selten geworden waren. Monsieur Courtin war seit seinem Auszug nie wieder nach Beauval zurückgekehrt. Er schickte pünktlich Geschenke, die kontinuierlich nicht den Wünschen seines Sohnes entsprachen, schickte Geschenke für Sechzehnjährige, als er acht war, für Sechsjährige, als er elf war. Ein Mal war Antoine zu ihm nach Stuttgart gefahren, sie hatten sich drei lange Tage feindselig angeblickt und das Experiment in gegenseitigem Einvernehmen niemals wiederholt. Monsieur Courtin war ebenso wenig dazu geschaffen, einen Sohn zu haben, wie seine Frau, einen Mann zu haben.

Diese bestürzende Episode brachte Antoine seiner Mutter näher. Bei seiner Rückkehr aus Deutschland setzte er den schwerfälligen, langsamen Rhythmus ihres Lebens mit dem gleich, was er für ihre Einsamkeit, ihren Kummer hielt, und sah sie in einem neuen, unbestimmt tragischen Licht. Und natürlich fühlte er sich, wie es bei jedem beliebigen Jungen seines Alters der Fall gewesen wäre, am Ende für sie verantwortlich. Mochte sie auch eine enervierende (und bisweilen eindeutig schwierige) Frau sein, so glaubte er in ihr doch etwas Entschuldbares zu sehen, das alles überwog, den Alltag und die Fehler, den Charakter, die Umstände … Für Antoine war es undenkbar, seine Mutter noch unglücklicher zu machen, als er sie sich vorstellte. Von dieser Gewissheit löste er sich nie.

In Verbindung mit seiner wenig mitteilsamen Natur machte all das aus Antoine ein insgesamt leicht depressives Kind, was durch das Auftauchen von Kevins PlayStation nur noch verstärkt wurde. In dem Dreieck aus abwesendem Vater, strenger Mutter und fremd gewordenen Freunden nahm der Hund Odysseus offensichtlich einen zentralen Platz ein.

Dessen Tod sowie die Art und Weise, wie er geschah, stellten für Antoine ein besonders brutales Ereignis dar.

Monsieur Desmedt, der Besitzer von Odysseus, war ein wortkarger, jähzorniger Mann, robust wie eine Eiche, mit buschigen Brauen und dem Gesicht eines wütenden Samurai, immer davon überzeugt, recht zu haben, einer, den man nicht leicht dazu bringt, die Meinung zu ändern. Und ein Raufbold. Nie war er etwas anderes gewesen als Arbeiter bei Weiser, Holzspielzeug seit 1921, dem größten Unternehmen in Beauval, wo seine Laufbahn von Auseinandersetzungen und Streitereien begleitet war. Zwei Jahre zuvor war er sogar freigestellt worden, weil er Monsieur Mouchotte, seinen Werkmeister, vor allen Kollegen geohrfeigt hatte.

Er hatte eine fünfzehn Jahre alte Tochter, Valentine, die in Saint-Hilaire eine Friseurlehre machte, und einen Sohn, Rémi, sechs Jahre alt, der Antoine grenzenlos bewunderte und ihm folgte, wann immer er konnte.

Der kleine Rémi war im Übrigen keine Last. Ganz nach dem Modell seines Vaters gebaut, war er bereits kompakt wie ein künftiger Holzfäller, er war mühelos fähig, mit Antoine nach Saint-Eustache hinaufzulaufen und sogar bis zum Weiher. Madame Desmedt hielt Antoine, und nicht zu Unrecht, für einen verantwortungsbewussten Jungen, dem man Rémi überlassen konnte, wenn die Gelegenheit sich bot. Ohnehin genoss das Kind eine große Bewegungsfreiheit. Beauval ist eine Stadt von bescheidener Größe, im selben Viertel kennen sich alle oder fast alle. Ob die Kinder im Sägewerk spielen oder in den Wald gehen, ob sie sich bei Marmont oder Fuzelières austoben, immer sind sie im Blick eines Erwachsenen, der dort arbeitet oder vorüberkommt.

Antoine, dem es schwerfiel, sein Geheimnis zu bewahren, hatte Rémi eines Tages mitgenommen, um ihm die schwebende Hütte zu zeigen. Das Kind hatte seine Bewunderung für das technische Meisterwerk nicht zurückhalten können, absolut begeistert war es mehrmals mit dem Fahrstuhl auf und ab gefahren. Danach ein ernstes Gespräch, hör mal zu, Rémi, das ist ein Geheimnis, niemand darf von der Hütte wissen. Bis sie ganz fertig ist, verstehst du? Kann ich mich auf dich verlassen? Wir erzählen niemandem was davon, o. k.? Rémi hatte es hoch und heilig versprochen, großes Indianerehrenwort, und soweit Antoine wusste, hatte er Wort gehalten. Mit Antoine ein Geheimnis zu teilen, bedeutete für ihn, zu den Großen zu gehören, bedeutete, selbst ein Großer zu sein. Er hatte gezeigt, dass er vertrauenswürdig war.

Der 22. Dezember war ein recht milder Tag, ein paar Grad wärmer als zu dieser Jahreszeit normal.

Antoine war natürlich aufgeregt wegen des bevorstehenden Weihnachtsfests (er hoffte sehr, dass sein Vater seinen Brief diesmal aufmerksam lesen und ihm eine PlayStation schicken würde), fühlte sich aber noch ein bisschen einsamer als gewöhnlich.

Da er es nicht mehr aushielt, hatte er es gewagt: Er hatte Émilie von der Hütte im Wald erzählt.

Ein Jahr zuvor hatte Antoine das Masturbieren entdeckt, und diese Betätigung erfolgte seitdem mehrmals täglich.

Immer wieder hatte er sich im Wald mit einer Hand an einen Baum gestützt, die Jeans über den Knöcheln, und sich in Gedanken an Émilie erleichtert. Ihm war bewusst geworden, dass er im Grunde alles für sie vollbracht hatte, dass er ein Nest gebaut hatte, in das er sie gerne führen wollte.

Ein paar Tage zuvor hatte sie ihn in den Wald begleitet, skeptisch hatte sie die Konstruktion gemustert – da sollte man hinaufklettern? Sie war dem Ingenieurswesen nicht sehr zugetan und eigentlich in der Absicht gekommen, mit Antoine zu flirten, nur mühsam konnte sie sich vorstellen, das in drei Metern Höhe über dem Boden tun zu müssen. Sie hatte sich einen Moment geziert und eine blonde Locke um den Zeigefinger gezwirbelt, und da Antoine, gekränkt von ihrer Reaktion, nicht in Stimmung schien, bei dem Spiel mitzumachen, war sie wieder gegangen.

Ihr Besuch hatte bei Antoine einen schalen Geschmack im Mund hinterlassen, Émilie würde den anderen davon erzählen, er fühlte sich irgendwie lächerlich.

Er war aus Saint-Eustache zurückgekehrt, und nicht einmal die Weihnachtsatmosphäre, die Aussicht auf sein Geschenk konnten ihn dazu bringen, ihn den Misserfolg bei Émilie vergessen zu lassen, der sich in seinem Kopf allmählich in Erniedrigung verwandelte.

Tatsächlich war die Feierstimmung in Beauval weitgehend von Sorge durchdrungen. Weihnachtsdekorationen, Tanne auf dem Marktplatz, Konzert des städtischen Gesangvereins usw. – die Stadt huldigte wie jedes Jahr den Feierlichkeiten zum Jahresende, dies aber mit einer gewissen Zurückhaltung, seit die Firma Weiser gefährdet war und damit alle ein wenig gefährdete. Dass das Interesse des breiten Publikums an Holzspielzeug zurückging, war offenkundig. Man stützte sich auf die Fabrik für Hampelmänner, Kreisel und Holzeisenbahnen aus Esche, aber schenkte seinen Kindern Spielkonsolen. Man spürte sehr wohl, dass etwas nicht rund lief, dass die Zukunft bedroht war. Gerüchte über eine Verkleinerung des Betriebs von Weiser gingen immer wieder um. Die Zahl der Beschäftigten war bereits von siebzig auf fünfundsechzig reduziert worden, dann auf sechzig, dann auf zweiundfünfzig. Monsieur Mouchotte, der Werkmeister, war zwei Jahre zuvor entlassen worden und hatte immer noch nichts Neues gefunden. Selbst Monsieur Desmedt lebte in Sorge, obwohl er zu den Betriebsältesten gehörte. Er befürchtete, wie viele andere seinen Namen auf der nächsten Liste zu lesen, von der manche behaupteten, sie komme kurz nach den Feiertagen …

An diesem Tag überquerte der Hund Odysseus kurz vor 18 Uhr auf Höhe der Apotheke die Hauptstraße von Beauval und wurde von einem Wagen umgefahren. Der Fahrer hielt nicht an.

Man trug den Hund zu den Desmedts. Die Nachricht verbreitete sich. Antoine kam angerannt. Odysseus lag im Garten und atmete schwer. Er wandte den Kopf zu Antoine, der starr am Gartentor stehenblieb. Da ein Bein und Rippen gebrochen waren, musste das Tier dringend zum Tierarzt. Monsieur Desmedt hatte die Hände in den Taschen, sah seinen Hund lange an, ging ins Haus, kam mit seinem Gewehr wieder zurück und schoss ihm aus nächster Nähe eine Patrone in den Bauch. Dann stopfte er den Kadaver des Hundes in einen Plastiksack für Bauschutt. Sache erledigt.

Alles war so schnell gegangen, dass Antoine mit offenem Mund dastand, unfähig, auch nur das geringste Wort hervorzubringen. Übrigens hätte er keinen Gesprächspartner gehabt. Monsieur Desmedt war wieder ins Haus gegangen und hatte die Tür geschlossen. Der graue Sack mit den Überresten von Odysseus lag am Ende des Gartens bei den anderen Säcken, die voller Gips- und Zementreste waren, da Monsieur Desmedt in der Woche zuvor seinen Kaninchenstall abgerissen hatte, um einen neuen zu bauen.

Erschlagen ging Antoine nach Hause.

Sein Kummer war so groß, dass er am Abend nicht die Kraft fand, seiner Mutter davon zu erzählen, der das Ereignis sowieso entgangen war. Mit zugeschnürter Kehle und schrecklich schwerem Herzen sah er die Szene immer wieder vor sich, das Gewehr, den Kopf von Odysseus, vor allem seine Augen, die massige Gestalt von Monsieur Desmedt … Unfähig, etwas zu sagen, ja auch nur zu essen, behauptete er, ihm sei nicht gut, ging in sein Zimmer hinauf und weinte lang. Von unten fragte seine Mutter: »Alles in Ordnung, Antoine?« Er war überrascht, dass es ihm gelang, ein recht deutliches »Ja, geht schon!« herauszubringen, das Madame Courtin genügte. Er schlief erst sehr spät ein, im Traum wurde er von toten Hunden und Gewehren heimgesucht, er erwachte wie gerädert.

Donnerstags brach Madame Courtin sehr früh zur Arbeit auf dem Markt auf. Von allen kleinen Jobs, die sie über das Jahr verteilt hier und da ergattern konnte, war das der einzige, den sie wirklich hasste. Wegen Monsieur Kowalski. Ein Geizkragen, sagte sie, der seinen Angestellten den Minimaltarif zahlte, immer zu spät, und ihnen Waren, die er hätte wegwerfen müssen, zum halben Preis verkaufte. Bei Tagesanbruch aufstehen wegen ein paar Kröten! Aber sie tat es seit fast fünfzehn Jahren trotzdem. Pflichtbewusstsein. Sie redete schon am Vortag darüber, das machte sie krank. Monsieur Kowalski war groß und mager, mit einem knochigen Gesicht, eingefallenen Wangen, schmalen Lippen und glühenden Augen, sehnig wie eine Katze – er entsprach nur wenig dem Bild, das man sich von einem Fleischer und Geflügelhändler macht. Antoine, der ihm regelmäßig begegnete, fand, er habe ein Gesicht zum Fürchten. In Marmont hatte er eine Fleischerei gekauft, die er seit dem Tod seiner Ehefrau, zwei Jahre nach seiner Ankunft in der Gegend, mit zwei Gehilfen führte. »Will nie einstellen«, brummelte Madame Courtin, »findet immer, wir sind schon genug.« Er hatte einen Stand auf dem Markt von Marmont und machte jeden Donnerstag mit seinem Verkaufswagen eine Runde durch mehrere Dörfer, die in Beauval endete. Monsieur Kowalskis langgezogenes, ausgemergeltes Gesicht bot Anlass für Witze unter den Kindern, die ihm den Spitznamen Frankenstein gegeben hatten.

An jenem Morgen nahm Madame Courtin wie jeden Donnerstag den ersten Bus nach Marmont. Antoine, der schon wach war, hörte, wie sie vorsichtig die Türe schloss; er stand auf, sah aus dem Fenster seines Zimmers, sah den Garten von Monsieur Desmedt. Dort, in einer Ecke, die er nicht erkennen konnte, lag der Bauschuttsack, der …

Wieder überwältigten ihn die Tränen. Nicht allein der Tod von Odysseus machte ihn untröstlich, auch der schmerzhafte Widerhall all der Einsamkeit der letzten Monate, den dieser in ihm auslöste, eine gewaltige Summe von Misserfolgen und Enttäuschungen.

Da seine Mutter nie vor dem frühen Nachmittag nach Hause kam, schrieb sie die Aufgaben des Tages auf eine große Schiefertafel, die in der Küche hing. Es gab immer Dinge im Haushalt zu erledigen, Besorgungen oder Einkäufe im kleinen Supermarkt sowie endlose Ermahnungen, räum dein Zimmer auf, im Kühlschrank liegt Schinken für dich, iss wenigstens einen Joghurt und ein bisschen Obst usw.

Auch wenn Madame Courtin alles penibel vorbereitete, fand sie immer etwas für ihn zu tun, daran mangelte es ihr nie. Seit über einer Woche schielte Antoine im Wandschrank nach dem Päckchen, das sein Vater geschickt hatte und das in seiner Verpackung der Größe einer PlayStation entsprach, aber er war nicht bei der Sache. Der Tod des Hundes ließ ihm wegen der brutalen und plötzlichen Weise, mit der er erfolgt war, keine Ruhe. Er machte sich an die Arbeit. Er erledigte die Einkäufe, ohne mit jemandem zu sprechen, dem Bäcker antwortete er nur mit einem Nicken, er wäre unfähig gewesen, ein Wort zu sagen.

Am frühen Nachmittag hatte er nur einen einzigen Wunsch – sich nach Saint-Eustache flüchten.

Er sammelte ein, was er nicht gegessen hatte, um es irgendwo im Vorbeigehen wegzuwerfen. Vor dem Haus der Desmedts zwang er sich, nicht in die Gartenecke zu sehen, wo die Müllsäcke gestapelt wurden, er lief schneller, sein Herz schlug zum Zerspringen, die Nähe belebte seinen Schmerz neu. Er ballte die Fäuste, rannte los und blieb erst vor dem Baum mit seiner Hütte wieder stehen. Als er zu Atem gekommen war, hob er die Augen. Die Schutzhütte, der er so viele Stunden gewidmet hatte, erschien ihm von erschreckender Hässlichkeit. Diese Planen-, Stoff-, Teerpappenreste erinnerten an Wellblechhütten. Er sah Émilies verdrossenes Gesicht vor diesem Bau vor sich. Wütend kletterte er auf den Baum und zerstörte alles, warf die Holzstücke, die Bretter weit weg. Als sämtliche Teile verstreut waren, stieg er atemlos wieder hinunter. Er lehnte sich an den Baum, ließ sich zu Boden gleiten und fragte sich lange, was er tun solle. Das Leben bereitete keine Freude mehr.

Odysseus fehlte ihm.

Stattdessen kam Rémi.

Von weitem sah Antoine seine kleine Gestalt näherkommen. Er lief vorsichtig, als hätte er Angst, Pilze zu zertreten. Schließlich stand er vor Antoine, der, den Kopf zwischen den Armen, von Schluchzern geschüttelt wurde, blieb dort mit hängenden Armen stehen. Er sah hoch in den Baum, bemerkte, dass alles zerstört worden war, öffnete den Mund, wurde aber unvermittelt unterbrochen.

»Warum hat dein Vater das gemacht?«, brüllte Antoine. »Sag! Warum hat er das gemacht?«

Er war vor Wut aufgesprungen. Rémi sah ihn starr an, mit weit aufgerissenen Augen, hörte die Vorwürfe, ohne sie recht zu verstehen, weil man ihm zu Hause nur gesagt hatte, Odysseus sei weggelaufen, was er in regelmäßigen Abständen tat.

Von einem unüberwindlichen Gefühl der Ungerechtigkeit erfüllt, war Antoine plötzlich nicht mehr er selbst. Der Effekt der Erstarrung, den Odysseus’ Tod ausgelöst hatte, verwandelte sich in diesem Moment in Raserei. Blind vor Zorn packte er den Stock, der vor kurzem noch den Lastenaufzug gestützt hatte, schwenkte ihn, als wäre Rémi ein Hund und er der Besitzer.

Rémi, der ihn nie in einem solchen Zustand gesehen hatte, war verängstigt.

Er wandte sich um, machte einen Schritt.

Da nahm Antoine den Stock in beide Hände und schlug voller Wut auf das Kind ein. Der Stock traf die rechte Schläfe. Rémi brach zusammen, Antoine ging näher, streckte die Hand aus, schüttelte ihn an der Schulter.

»Rémi?«

Er musste betäubt sein. Antoine drehte ihn um, wollte ihm die Wangen tätscheln, aber als das Kind auf dem Rücken lag, sah er dessen offene Augen.

Starr und glasig.

Und eine Gewissheit durchzog ihn: Rémi war tot.

2

Der Stock ist ihm gerade aus den Händen gefallen. Er betrachtet den Körper des Kindes direkt vor sich. In dessen Haltung liegt etwas so Seltsames, er wüsste nicht zu sagen, was, eine Selbstaufgabe … Was habe ich getan? Und jetzt, was tun? Hilfe holen? Nein, er kann ihn da nicht aufgeben, nein, er muss ihn mitnehmen, nach Beauval rennen, schnellstens zu Doktor Dieulafoy.

»Keine Angst«, murmelt Antoine. »Wir bringen dich ins Krankenhaus.«

Er hat sehr leise gesprochen, wie zu sich selbst.

Er beugt sich nieder, schiebt die Arme unter den Körper des Kindes und richtet sich auf. Er spürt nicht, wie anstrengend das ist, und das ist nur gut, denn er wird einen ganz schönen Weg zurücklegen müssen …

Er rennt los, aber Rémis Körper in seinen Armen ist plötzlich sehr schwer. Antoine bleibt stehen. Nein, nicht schwer, schlaff ist er. Der Kopf ist ganz nach hinten gekippt, die Arme hängen am Körper herunter, die Füße baumeln wie die eines Hampelmannes. Es ist, als trüge er einen Sack.

Antoines Wille weicht mit einem Mal, er beugt die Knie, ist gezwungen, Rémi wieder auf den Boden zu legen.

Ist er wirklich … tot?

Bei dieser Frage blockiert Antoines Gehirn, nichts funktioniert mehr, die Ideen kommen nicht mehr durch.

Er geht um Rémi herum, um sein Gesicht zu betrachten. Sich hinzukauern erfordert eine schreckliche Anstrengung. Er mustert die Farbe der Haut, den halb offen stehenden Mund … Er streckt den Arm aus, aber es gelingt ihm nicht, das Gesicht des Kindes zu berühren, eine unsichtbare Mauer ist zwischen ihnen gewachsen, seine Hand stößt sich an einem nicht fassbaren Hindernis, er kann ihn nicht erreichen.

In Antoines Kopf nehmen allmählich die Konsequenzen Gestalt an.

Er ist aufgestanden und geht weinend auf und ab, es gelingt ihm nicht mehr, Rémis Körper anzusehen. Er geht hin und her, mit geballten Fäusten, heißem Kopf, angespannten Muskeln, was soll er tun, die Tränen strömen so heftig, dass er nicht mehr gut sieht, er wischt sie mit dem Ärmel ab.

Plötzlich überwältigt ihn eine Welle der Hoffnung, Rémi hat sich gerührt!

Antoine möchte am liebsten den Wald zum Zeugen anrufen: Er hat sich gerührt, da, nicht? Habt ihr gesehen? Er beugt sich über ihn.

Aber nein, nicht das kleinste Zucken, nichts.

Nur die Stelle, wo der Stock ihn getroffen hat, ändert die Farbe, sie ist jetzt dunkelrot geworden, ein breites Mal, das den ganzen Backenknochen umschließt und sich auszubreiten scheint wie ein Weinfleck auf einem Tischtuch.

Antoine braucht Klarheit, muss wissen, ob Rémi atmet. Das hat er einmal erlebt, im Fernsehen, da hielt einer jemandem einen Spiegel vor die Lippen, um zu sehen, ob er beschlägt. Aber hier, von wegen, Spiegel …

Es bleibt nichts anderes übrig: Antoine versucht, sich zu konzentrieren, er beugt sich über den Körper, hält das Ohr an Rémis Mund, aber die Geräusche des Waldes und das Pochen seines Herzens verhindern, dass er etwas hört.

Er muss es also anders angehen. Antoine sperrt die Augen auf, streckt mit gespreizten Fingern die Hand zu Rémis Brust, seinem Fruit-of-the-Loom-T-Shirt hin. Beim Kontakt mit dem Stoff verspürt Antoine Erleichterung: Wärme! Er lebt! Seine Hand legt sich daher entschlossen auf den Bauch des Kindes. Wo ist das Herz? Er sucht nach seinem eigenen, um es zu lokalisieren. Es liegt weiter oben, weiter links, er hatte es nicht da vermutet, er dachte … Und vor lauter Tasten vergisst er plötzlich, was er gerade tut. So, die linke Hand spürt sein eigenes Herz, und die rechte ist an derselben Stelle auf Rémis Oberkörper. Unter der einen schlägt es kräftig, aber unter der anderen nichts. Er drückt, tastet hier und da, aber nein, er legt beide Hände ordentlich flach auf, nichts schlägt. Das Herz ist tot.

Es überkommt ihn, er versetzt Rémi eine Ohrfeige. Mit vollem Schwung. Warum bist du tot, hä? Warum bist du tot?

Unter den Schlägen pendelt der Kopf hin und her. Antoine hält inne. Was tut er da! Rémi schlagen … der tot ist!

Erschüttert steht er auf.

Was tun? Immer wieder stellt er sich dieselbe Frage, seine Gedanken kommen keinen Schritt weiter.

Er nimmt sein Hin und Her vor dem Körper wieder auf, knetet die Hände, wischt sich die Tränen ab, ein endloser Sturzbach.

Er muss sich stellen. Der Polizei. Was wird er sagen? Ich war mit Rémi zusammen, ich habe ihn mit einem Stockschlag getötet?

Und außerdem, wem soll er das alles sagen, die Gendarmerie ist in Marmont, das ist acht Kilometer von Beauval entfernt … Seine Mutter wird es von den Gendarmen erfahren. Sie wird darüber sterben, sie wird es nie ertragen, Mutter eines Mörders zu sein. Und wie wird sein Vater reagieren? Er wird Päckchen schicken …

Antoine ist im Gefängnis. Eine schmale Zelle mit drei älteren Jungen, sie sind für ihre Brutalität bekannt. Sie ähneln den Figuren aus Oz, er hat heimlich ein paar Folgen gesehen, ein Typ heißt Vernon Schillinger, grauenhaft, er hat eine Vorliebe für kleine Jungs. Im Gefängnis wird Antoine so einem gegenüberstehen, das ist sicher.

Und wer wird ihn besuchen kommen? Da zieht alles an ihm vorbei, die Freunde, Émilie, Theo, Kevin, der Direktor der Schule … Und das Bild von Monsieur Desmedt drängt sich nach vorn, sein plumper Körper, der Blaumann, das eckige Gesicht, die grauen Augen!

Nein, Antoine wird nicht ins Gefängnis gehen, dafür wird er gar nicht die Zeit haben; sobald Monsieur Desmedt es erfährt, bringt er ihn um, ganz sicher, so wie er es mit seinem Hund getan hat, ein Gewehrschuss in den Bauch.

Antoine sieht auf die Uhr. 14 Uhr 30, Mittag in der Sonne. Er ist schweißnass.

Er muss eine Entscheidung treffen, aber etwas sagt ihm, dass er das schon getan hat: Er wird nach Hause gehen, nichts sagen, in sein Zimmer hinaufgehen, als hätte er es nie verlassen, wer wird erraten, dass er es war? Bis jemand Rémis Verschwinden bemerkt, werden … Innerlich rechnet er, aber alles gerät durcheinander, er zählt an den Fingern ab, aber was soll er zählen? Wie lange wird es dauern, bis man Rémi finden wird? Stunden? Tage? Außerdem hat man Rémi so oft mit Antoine und seinen Freunden gesehen, die Polizei wird sie befragen … Vielleicht sitzen sie jetzt gerade alle zusammen bei Kevin vor der PlayStation, nur er fehlt, Antoine, und deshalb werden sich alle Blicke auf ihn richten.

Nein, er muss dafür sorgen, dass man Rémi nicht findet.

Das Bild des Müllsacks mit dem toten Hund darin geht ihm durch den Kopf.

Ihn loswerden.

Rémi ist verschwunden, niemand weiß, was aus ihm geworden ist, genau, das ist die Lösung, man wird ihn suchen, und niemand wird auf die Idee kommen …

Antoine läuft weiter neben dem Körper auf und ab, den er nicht mehr ansehen will, das versetzt ihn in panische Angst, das hindert ihn daran, klar zu denken.

Und wenn Rémi seiner Mutter gesagt hat, er würde Antoine in Saint-Eustache treffen?

Vielleicht wird er schon gesucht, bald wird er die Stimmen hören: »Rémi! Antoine!«

Antoine spürt, wie die Falle über ihm zuschnappt. Die Tränen steigen ihm wieder in die Augen. Er ist verloren.

Der Körper muss versteckt werden, aber wo? Wie? Hätte er die Hütte nicht zerstört, hätte er Rémi hinaufschaffen können, da oben hätte ihn niemand gesucht. Die Raben hätten ihn gefressen.

Das Ausmaß der Katastrophe hat ihn niedergeschmettert. Innerhalb weniger Minuten hat sein Leben die Richtung geändert. Er ist ein Mörder.

Die beiden Bilder passen nicht zusammen, man kann nicht zwölf Jahre alt und ein Mörder sein …

Ihn überwältigt schwindelerregender Kummer.

Und die Zeit vergeht, und Antoine weiß immer noch nicht, was er tun soll, in Beauval wird man sich jetzt Sorgen machen. Der Weiher! Man wird denken, er sei ertrunken!

Nein, der Körper wird auf dem Wasser treiben. Antoine hat nichts, um ihn zu versenken. Wenn man ihn rausfischt, wird man den Hieb auf den Kopf bemerken. Wird man denken, er sei allein gefallen, er habe sich gestoßen?

Antoine ist völlig aufgeschmissen.

Die große Buche! Antoine sieht sie plötzlich vor sich, als stünde er vor ihr.

Die große Buche ist ein riesiger Baum, der vor Jahren umgestürzt ist. Eines Tages ist er umgefallen, einfach so, ohne Ankündigung, wie ein alter Mensch, der plötzlich stirbt, und hat dabei seinen Sockel aus Wurzeln mitgerissen, ein gewaltiger Erdfladen, hoch wie ein Mensch. Er hat weitere Bäume mit sich gezogen, das Geäst bildet ein dichtes Gewirr von Zweigen, wo sie vor langer Zeit eine ganze Weile mit den Freunden zum Spielen hingegangen sind; inzwischen haben sie den Spaß an dem Ort verloren, keiner weiß, warum … Die Buche ist auf den Eingang zu einer Art Bau oder so etwas gefallen, ein sehr breites Loch, in das sie sich selbst vor dem Sturz nie hineingetraut hatten, niemand weiß, wo es hinführt, nicht einmal, ob es tief ist, aber Antoine sieht keine andere Lösung.

Seine Entscheidung ist getroffen, er dreht sich um.

Rémis Gesicht hat sich nochmal verändert, es ist grau, der Bluterguss wird größer, immer dunkler. Und der Mund öffnet sich immer weiter. Antoine fühlt sich mies. Nie wird er die Kraft haben, dahin zu laufen, ans andere Ende von Saint-Eustache, schon unter normalen Umständen braucht man dafür fast eine Viertelstunde.

Er wusste nicht, was ihm noch an Tränen blieb. Sie rinnen, fallen in schweren Tropfen, er schnäuzt sich in die Finger, wischt sich mit Blättern ab, nähert sich dem Körper des Kindes, beugt sich darüber, greift dessen Handgelenke. Sie sind schmal, warm, weich, wie schlafende kleine Tiere.

Antoine wendet den Kopf ab und beginnt, ihn zu ziehen …

Er legt keine sechs Meter zurück, schon stößt er auf Hindernisse, Baumstümpfe, Zweige. Der Wald von Saint-Eustache hat seit Urzeiten keinen Besitzer mehr, er ist ein unglaubliches Durcheinander aus dichtem Gestrüpp, zusammengedrängten Bäumen, die teils übereinandergestürzt sind, aus Gesträuch und Hochwald, einen Körper zu ziehen ist unmöglich, er wird ihn tragen müssen.

Antoine kann sich nicht dazu durchringen.

Um ihn herum knarzt der Wald wie ein altes Schiff. Er tänzelt von einem Fuß auf den anderen. Wie soll er seinen Mut zusammennehmen?

Er weiß nicht, woher die Kraft kommt, aber mit einem Mal bückt er sich, packt Rémi und lädt ihn sich in einem einzigen Schwung auf den Rücken. Und er beginnt zu laufen, läuft sehr schnell, läuft um die Stämme herum, wenn er nicht über sie hinwegsteigen kann.

Beim ersten falschen Schritt bleibt er mit dem Fuß an einer Wurzel hängen und fällt hin, Rémis Körper über sich, schwer wie ein Krake, lasch, einhüllend, Antoine stößt einen Schrei aus und schiebt ihn weg, heult auf, erhebt sich wieder und drückt sich gegen einen Baum, versucht zu Atem zu kommen … Er dachte, so eine Leiche sei starr, er hat Bilder davon gesehen, tote Menschen, starr wie eine Tür. Aber im Gegenteil, die hier ist schlaff, als hätte sie keine Knochen.

Antoine versucht, sich Mut zuzusprechen. Los jetzt, du musst den Körper verstecken, ihn verschwinden lassen, danach wird alles gut. Er geht zu ihm, schließt die Augen, packt Rémis Arme, bückt sich, hievt ihn sich wieder über die Schultern und läuft los, vorsichtig. Als er ihn so auf dem Rücken trägt, fühlt er sich, als wäre er ein Feuerwehrmann, der jemanden aus einem Feuer rettet. Peter Parker, der Mary Jane trägt.

Es ist ziemlich kalt, aber er ist schweißgebadet. Und erschöpft, seine Füße sind tonnenschwer, die Schultern hängen herab. Und doch muss er schneller gehen, in Beauval macht man sich schon Sorgen.

Und seine Mutter wird bald nach Hause kommen.

Und Madame Desmedt wird bei ihr klingeln und fragen, wo Rémi ist.

Und wenn er nach Hause kommt, wird man ihn dasselbe fragen, er wird antworten, nein, Rémi hab ich nicht gesehen, ich war …

Wo war er?