Drifter - Ulrike Sterblich - E-Book
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Ulrike Sterblich

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Beschreibung

«Das ist ein Erweckungsbuch. Man schreibt sich Sätze heraus, um sie auswendig zu lernen und dann ständig vor sich hin zu murmeln. Das reinste Vergnügen!» Karen Duve Wenzel und Killer sind Freunde seit Ewigkeiten und stehen mitten im Leben, Killer als PR-Chef einer großen Firma, Wenzel betreut die Social-Media-Kanäle eines TV-Senders. Doch alles ändert sich, als Vica in ihr Leben tritt: eine Frau in goldenem Kleid, meist begleitet von zwei treuen Adjutanten und einem riesigen Zottelhund. Mit jeder Begegnung ploppen neue Fragen auf: Woher weiß sie so viel über Wenzel und Killer? Wieso besitzt sie ein Exemplar des neuen Buchs von Drifter, einer ominösen Schriftstellerfigur, obwohl es überhaupt noch nicht auf dem Markt ist? Und wo hat ihr Hund das Tanzen gelernt? Als Vica schließlich auch noch den Wohnblock ihrer Kindheit in Beschlag nimmt, gerät die Welt der beiden Freunde ins Wanken. Virtuos, ja geradezu fantastisch erzählt Ulrike Sterblich von zwei Freunden, deren Wirklichkeit sich zunehmend verschiebt.

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Seitenzahl: 306

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Ulrike Sterblich

Drifter

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Wenzel und Killer sind Freunde seit Ewigkeiten und stehen mitten im Leben, Killer als PR-Chef einer großen Firma, Wenzel betreut die Social-Media-Kanäle eines TV-Senders. Doch alles ändert sich, als Vica in ihr Leben tritt: eine Frau in goldenem Kleid, meist begleitet von zwei treuen Adjutanten und einem riesigen Zottelhund. Mit jeder Begegnung ploppen neue Fragen auf: Woher weiß sie so viel über Wenzel und Killer? Wieso besitzt sie ein Exemplar des neuen Buchs von Drifter, einer ominösen Schriftstellerfigur, obwohl es überhaupt noch nicht auf dem Markt ist? Und wo hat ihr Hund das Tanzen gelernt? Als Vica schließlich auch noch den Wohnblock ihrer Kindheit in Beschlag nimmt, gerät die Welt der beiden Freunde ins Wanken. Virtuos, ja geradezu fantastisch erzählt Ulrike Sterblich von zwei Freunden, deren Wirklichkeit sich zunehmend verschiebt.

Vita

Ulrike Sterblich, Politologin und Autorin aus Berlin, lebt weiterhin in ihrer Heimatstadt, wo sie auch als Gastgeberin der Talk- und Lesebühne «Berlin Bunny Lectures» bekannt wurde. 2012 erschien ihr erfolgreiches Mauerstadt-Memoir «Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt», über das Wolfgang Herrndorf urteilte: «Zarter, liebevoller, staunender wurde selten eine Jugend, eine Stadt und beider Verschwinden beschrieben.»

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung classicpaintings/Alamy Stock Photo

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01513-5

www.rowohlt.de

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

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Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

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Dieses eBook entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Navigationspunkte und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut.

 

 

www.rowohlt.de

«Everybody knows that our cities

Were built to be destroyed

You get annoyed, you buy a flat

You hide behind the mat

But I know she was born

To do everything wrong with all of that»

 

Caetano Veloso, «Maria Bethânia»

Der Blitz

Das erste Mal sah ich sie in der S-Bahn. Sie saß uns gegenüber, als Killer und ich an diesem verwünschten Tag rausfuhren zur Pferderennbahn.

War so eine Schnapsidee von ihm gewesen, wortwörtlich, als wir anstießen auf seine Beförderung. «Warst du schon mal beim Pferderennen?», hatte er gefragt, und ich hatte gesagt: «Glaube nicht.» Ich hatte schon so viele Filme mit Pferderennszenen gesehen, dass ich mir nicht hundertprozentig sicher war, woher all diese Bilder kamen, ob nicht eines davon vielleicht doch erlebte Erinnerung war.

Killer stieg gerade auf zum PR-Chef bei diesem Lebensmittelgiganten, für den er da arbeitete. «Dann bin ich PR-Direktor anstelle des PR-Direktors!», verkündete er, und tatsächlich war es eine unverschämt steile Karriere, ein echter Killer-Erfolg. Im Grunde nicht anders zu erwarten natürlich. Vorher war Killer bei einem Getränkehersteller gewesen, wo er auch schon einen zügigen Aufstieg hingelegt hatte, aber für seinen Geschmack eben nicht zügig genug, außerdem hielt er seinen dortigen Chef für unfähig und hatte sich munter mit ihm angelegt. Es fiel ihm nicht schwer, sich daraufhin umzuorientieren, und beim neuen Arbeitgeber hatten sie das Killer-Potenzial sofort erkannt.

In spendabler Feierstimmung hatte Killer am Fahrkartenautomaten ein Gruppen-Tagesticket für uns beide gelöst, wo doch zwei Einzeltickets gereicht hätten, so ging das schon mal los («Geben Sie mir Ihr bestes Ticket», hatte er zum Automaten gesagt).

Und dann, in der S-Bahn, sah ich sie also. Schwer zu sagen, was mir zuerst auffiel: der absurd riesige Zottelhund mit dem glitzernden Halsband, der zu ihren Füßen saß, ihr langes goldenes Kleid oder das Buch, in dem sie eher nachlässig herumblätterte, als darin zu lesen. Entscheidend war wohl das Gesamtensemble, mit Kleid und Hund als Hingucker, ohne die ich auf das Buch vielleicht gar nicht geachtet hätte. Das Buch aber war das Spektakel. Es war ein mir unbekanntes Buch von Drifter, der Titel lautete Elektrokröte. Ich sah ganz genau hin, ich starrte, kniff die Augen zusammen. Es gab keinen Zweifel – «K:B Drifter» stand auf dem Cover und auf dem Buchrücken ebenso. Illustriert war es nicht mit einer Kröte, wohl aber mit einem kleinteiligen elektrischen Schaltkreis, wie aus dem Inneren eines konventionellen HiFi-Verstärkers, fotorealistisch gemalt. Ein sehr schönes Cover. Elektrokröte. Das klang nicht nach Drifters sonstigen Titeln, von denen es bislang drei gab: Hätte ich was zum Anziehen, würde ich gern mal ausgehen, Endlich zeigst du dein wahres Gesicht, Kassierer und Der Shitstorm gegen die heilige Johanna. Damit kannte ich mich aus. Der Anblick verwirrte mich sehr. Wie konnte ein neuer Drifter in den Handel gelangt sein, ohne dass ich und meine ganze Drifter-Bezugsgruppe etwas davon mitbekommen hatten?

Mein Blick wanderte zu dem Hund, den ich seltsam anrührend fand. Ich hatte keine Ahnung, was für einer das war. Bei Hunden konnte ich nur die prominenten Standards zuordnen (Dackel, Pudel, Schäferhund), und der da gehörte zu keiner mir bekannten Kategorie. Er war groß wie eine Riesendogge (okay, Dogge konnte ich auch noch), aber komplett anders, ein freundliches Zottelvieh, mehr Lama als Hund eigentlich, und seine Größe schien ihm selbst unangenehm zu sein, als wollte er sich lieber klein machen, mit leicht bekümmertem Blick, der sagte: «Kann ich doch auch nichts für.» Besonders eindrucksvoll waren seine langen, tollpatschigen Pfoten, mehr überdimensionierte Hasenläufe als Hundefüße.

Ein paar Tage später fand ich es schwierig, mich zu erinnern, ob sie eher Mitte zwanzig war oder Ende vierzig oder irgendwas dazwischen. Sie hatte diese jugendliche Alterslosigkeit, die Verrückte oft haben. Womit ich nicht sagen möchte, dass Vica verrückt war. Nicht im konventionellen Sinne verrückt jedenfalls. Groß und athletisch war sie, mit einem dunklen Pagenschnitt und grünem Silberblick. Silberblick zum goldenen Kleid. Über dem goldenen Kleid trug sie ein schwarzes Jackett.

Irgendwann schaute sie auf. Sah mich direkt an, zumindest mit dem rechten Auge, beim linken wusste man nicht genau, es führte ein Eigenleben, ich würde sagen, sie schaute freundlich interessiert, wie man ein putziges Tierchen ansieht. Ich wollte etwas sagen oder eher fragen, nach dem Buch natürlich, da rief aber Killer schon: «Komm, wir müssen raus», und zog mich vom Sitz. Ihr Blick verfolgte diese kleine Szene, und bevor wir ausstiegen, zeichnete sie mit dem Finger von unten nach oben etwas in die Luft.

Ich bin mir ganz sicher, es war ein Blitz.

Durch flirrendes Licht und steigende Temperaturen schlenderten wir über eine breite Allee Richtung Rennbahn. Vor uns alberte eine Gruppe von drei Mädchen in bunten Kleidern und mit Hüten herum, und ich ärgerte mich, kein Foto von dem Buch gemacht zu haben. Die Mädchen blieben immer wieder stehen, um über ihre Hüte zu lachen, Hüte zu tauschen, sich mit Hüten zu fotografieren, sodass sich unser Abstand zu ihnen kontinuierlich verringerte, wir zu ihnen aufschlossen. Killer stieß mich in die Rippen und sagte: «Ich mag die Hellblonde und du?»

«Sie nerven mich alle sechs.»

«Wenzel, jetzt komm.»

«Wird man auch ohne Hut auf die Rennbahn gelassen?», rief Killer ihnen zu.

Die Mädchen sahen sich an, machten Gesichter, eine kicherte und rief: «Nein!»

«Nur wenn man mitrennt», sagte die Hellblonde.

«Mitrennt?», fragte Killer. «Als Pferd?»

«Ja, genau. Als Pferd.»

«Na, das is ja eine spaßige Idee.» Wieder stieß er mich an. «Vielleicht ja was für dich, Wenzi?»

Ich hatte keine Lust, mich angesprochen zu fühlen.

«Sieht nicht so aus, als ob dein Freund ein Pferd sein will», gackerte eine andere, und Killer, alte Labertasche, die er war, legte seinen Arm um meine Schulter und sagte: «Er hat nur bisschen Liebeskummer. Ihr müsst mir helfen, ihn mal abzulenken!»

Die Wahrheit ist, dass ich komplett versunken war in dem bisschen Liebeskummer, dass kein Teil von mir noch hervorlugte aus dem sumpfigen Selbstmitleid, in dem ich verzweifelt herumruderte zu dieser Zeit. Ich wachte morgens auf, und mein erster Gedanke war: Pissekacke. Im Schlaf hatte ich alles so schön vergessen, im Schlaf hatte eine andere Realität mein Bewusstsein übernommen, ich hatte perfiderweise sogar besonders schöne Träume in dieser Zeit. In diesen Träumen hatte ich das Gefühl, durch eine Welt voller Möglichkeiten zu wandern. Morgens rutschte ich dann nach ein paar wenigen Übergangsmomenten aus der gnädigen Amnesie zügig und direkt wieder zurück in den Sumpf. («In den schönen Zeiten ist das morgendliche Erwachen das Schönste am Tag. In den schlimmen ist es das Schlimmste», schreibt Drifter in Hätte ich was zum Anziehen.)

Um uns alle bei Laune zu halten, organisierte Killer gleich zwei Flaschen Sekt und setzte Geld auf irgendein Pferd, natürlich «auf Sieg». Das Geld verlor er. Nach dem ersten Glas Sekt strengten mich unsere Begleiterinnen noch mehr an als vorher schon, aber nach dem zweiten oder dritten ging’s. Die Sonne schmetterte freigiebig Licht und Hitze, der Himmel irisierte tiefblau, ein Blau, wie man es selten sieht in unseren Breiten, ein griechisches, ägäisches Blau. Darunter rannten die Pferde beharrlich im Kreis, sie manisch antreibende schmale Männlein auf ihren Rücken, immer und immer wieder. Ein Rennen glich dem anderen: Die Pferde liefen los, einige waren schneller als andere, eines am Ende das Schnellste, das Feld fächerte sich auf, manchmal fiel eines ganz weit zurück. Wir setzten auf Namen, die uns gefielen oder genau nicht gefielen, auf Spandau Loreley, Tropicana, und Doctor Mabuse. Eine unserer Begleiterinnen gewann 70 Euro mit Tarantino, einem überambitionierten Schimmel, der loslegte, als hätte er persönlich irgendetwas davon. Killer und ich verloren konsequent unser Geld, alles, was wir dabeihatten, ich achtzig, er etwas mehr als zweihundert Euro, der Rest ging für die Getränke drauf, drei Flaschen Sekt und noch ein paar Biere. Ein paar Wolken erschienen wie Störenfriede in dem griechischen Blau, sie bewegten sich schnell, auf Krawall gebürstet.

«Guckt mal dahinten», sagte die Hellblonde, von der Killer zwischenzeitlich bemerkt hatte, dass sie als Comicfigur ein Fisch wäre. Es war Killers spezielles Talent, Menschen einer Comicfigur oder einem Tier zuzuordnen. (Ich war seiner Meinung nach Daffy Duck, was ich bis auf mein leichtes Lispeln nicht nachvollziehen konnte, aber alle, die es hörten, fingen nach einem Augenblick des Erstaunens an zu lachen: «Stimmt, jetzt sehe ich es auch, du bist Daffy Duck!») Dahinten hatte sich jedenfalls eine finstere Wolkenfront aufgetürmt, ein Monster von einem Unwetter, wie es aussah, ein fast schon erhabener Anblick. Killer war begeistert.

Da entstand plötzlich Unruhe auf der Rennbahn. Zwei Pferde waren kollidiert und gestürzt, schnell wurde ein Sichtschutz aufgestellt, hinter dem die Tiere wohl verarztet wurden. «Oh nein!», rief der hellblonde Fisch, und Killer legte seine Hand auf ihre Schulter und meinte: «Die werden sicher wieder fit gemacht.»

«Mitnichten», sagte ich. «Rennpferde mit gebrochenen Knochen werden eingeschläfert.»

Alle vier sahen sie mich schockiert an, als könnte ich etwas dafür.

«Don’t shoot the messenger», sagte ich.

«Vielleicht hat sich keiner was gebrochen», sagte die Hellblonde, und Killer pflichtete ihr bei, was mich nervte, bezog er doch sein ansehnliches Gehalt von Leuten, die haufenweise Tiere abschlachteten. Ich drehte die Schraube also mutwillig fester und sagte: «Die werden dann bestimmt auch zu Wurst verarbeitet in deiner Wurstfabrik.» Leider, von Alkohol wurde ich manchmal so.

«Unsinn, Wenzel, wir machen keine Pferdewurst.»

«Das wäre aber gut, denn die Pferde wurden immerhin nicht extra in beengten Ställen gemästet und dann geschlachtet, sondern werden ja wie gesagt jetzt ohnehin eingeschläfert, da könnte man das Fleisch sinnvoll verwenden und dafür zwei Schweine laufen lassen.»

«Also, ich will keine Pferdewurst essen», sagte die eine, deren sehr gerade Haltung mich an Gesine erinnerte, wobei sie aber nicht Gesine war, so gar nicht, und ich entgegnete: «Und warum nicht?»

«Ich mag Pferde.»

«Und Schweine magst du nicht?»

Killer stöhnte. «Wenzel, bitte.»

«Nee, Schweine mag ich nicht.»

Während das Geschehen auf der Rennbahn weiter stagnierte, legte das Unwetter an Dynamik zu. Nach und nach leerten sich die Zuschauertribünen. Keine Ahnung, ob meine Pferdewursteinlassung daran schuld war, dass auch die drei Hüte sich davonmachten, und zwar, ohne dass Killer eine Telefonnummer vom blonden Fisch abgreifen konnte. Aber Killer mochte ein Großmaul sein (oft) und ein Angeber (manchmal) – ein schnell eingeschnappter Übelnehmer war er nicht. («Man sollte das Universum nicht persönlich nehmen», schreibt Drifter, irgendwo). Und wenn er es denn darauf angelegt hätte, hätte er die Nummer schon auch bekommen, schließlich war er der Killer. The Killman.

«’tschuldige», blökte ich, ziemlich knülle, nachdem sie weg waren, und überhaupt die meisten weg waren, wir da aber noch saßen, jeder mit einer noch halb vollen Flasche Bier und unseren Wettzetteln. «Du mal wieder», sagte Killer nur, dann beobachteten wir den Fortgang der Dinge, was uns der bislang interessanteste Teil des Spektakels schien – die Auflösung des Spektakels. Verdrängt von einem neuen Spektakel. Die Zuschauertribünen leuchteten in einem bedrohlich ockerfarbenen Licht, als auch wir schließlich die Mitteltreppe hinuntertrudelten, an verlassenen Sitzreihen vorbei, während es hinter uns grollte und die Rennbahn von rasenden Wolkenschatten heimgesucht wurde, die aussahen, als seien sie immer schon die eigentliche Bedrohung gewesen, vor der die Pferde gerannt waren, so schnell sie konnten. («Die Menschen bringen den Wolken nicht die angemessene Wertschätzung entgegen», schreibt Drifter. «Sie sind wandernde Sonnenschirme, über ihnen gleißendes Licht.») Noch fiel kein Regen, aber er lag schon in der Luft.

Unten angekommen, schwenkte Killer seine Bierflasche und prostete dem Gewitter zu, machte einen Satz über das Geländer und galoppierte übermütig über die Rennstrecke, der Idiot.

 

Wegen der Sache mit dem Liebeskummer noch mal. Gesine und ich hatten in etwa zur gleichen Zeit beim Sender angefangen, ich neben dem schleppend dahinmäandernden Studium, sie mit einem Eins-a-Abschluss von der Journalistenschule in der Tasche. Mir fiel sie gleich auf, selbstbewusst und stilsicher, wie sie war. Auch erkannte ich sofort die höhere Tochter, was leider immer wieder ein Trauma bei mir aufscheuchte. In meiner Jugend hatte ich in den Sommerferien regelmäßig an der kirchlich organisierten Jugendfahrt zur Nordsee teilgenommen. Bei den Jüngeren fuhren nur die aus den einfacheren Verhältnissen mit, deren Eltern beide arbeiten mussten und die froh waren, wenn die Kinder in den Ferien kostengünstig versorgt waren und was Schönes erleben konnten. Bei den Älteren aber gab es immer auch einige von den anderen, die auch im Einzugsgebiet der Gemeinde wohnten, deren Eltern Anwälte waren und Apotheker und Wissenschaftler, und die keine Lust mehr dazu hatten, mit den Eltern zu verreisen. Eine von denen war Leila. Wir waren beide fünfzehn und verliebten uns während dieser drei Wochen, ganz teeniezart und unbehelligt von allem. Leila schminkte sich nicht, sie hatte Bücher zum Lesen dabei, und alles, was sie sagte, klang immer klar und überzeugend. Sie kannte sich aus mit Geschichte und Meeresbiologie, hatte aber auch die angesagtere Musik im Player. Ich weiß nicht, was sie in mir sah, aber es gelang mir, sie zum Lachen zu bringen. Beim großen Räuber-und-Gendarm-Spiel war ich erst enttäuscht, dass sie im Team der Gendarmen landete und ich bei den Räubern, aber dann jagte sie mich, rannte mir hinterher, ich rannte der Form halber weg, sie blieb dran, sie war schnell, und ich musste nicht extra langsam rennen, damit sie dranbleiben konnte. Irgendwann stolperte ich theatralisch eine Düne hinab, ließ mich durch den Sand rollen, und Leila rollte hinterher. Am Fuß der Düne lagen wir in der Sonne, sie griff meinen Arm und sagte: «Gefangen.»

Wahrscheinlich war das unter den top fünf der glücklichsten Momente meines Lebens. Wenn nicht sogar top drei. Oder die Nummer eins. Leider ist mir die Erinnerung daran etwas verdorben, weil das Glück nur dort funktionierte, wo der Sand und die Dünen uns abschirmten von dem, was wir sonst waren, da, wo wir herkamen.

Nachdem wir dorthin zurückgekehrt waren, in unsere wirklichen Leben, gingen wir einmal ins Kino, schlenderten hinterher noch durch die Straßen und holten uns Eistee vom Späti, und ich hatte das Gefühl, dass mein Leben gerade beginnt. Als Nächstes rief ich sie an, und sie sagte, sie treffe sich mit ein paar Freunden im Park und ich sollte doch dazukommen. Da saß ich dann und merkte, wie ich nicht dazugehörte. Nicht einfach nur, weil man sich nicht kannte, sondern auf eine fundamentale Art, auf eine ganz beschissene Art.

Es gab keine Trennung. Einmal sahen wir uns noch, bei ihr zu Hause, Treppenhaus mit rotem Sisalläufer, hohe Decken mit Stuck, Wohnzimmer bis unter die Decke voll mit Bücherregalen, wir saßen bei ihr auf dem Boden und lösten Kreuzworträtsel, und sie war lieb, aber irgendwie verdruckst. Dann telefonierten wir, sie bisschen kurz angebunden, die Textnachrichten wurden weniger, dann beantwortete sie meine Nachrichten kaum noch oder reichlich knapp. Irgendwann ließ mein eigener Stolz mich den Kontakt abbrechen beziehungsweise es nicht weiter versuchen.

Seitdem hatte ich vielleicht dazugelernt. Als Erster in der Familie hatte ich eine Universität besucht, sogar mit einem herrlich nutzlosen Studium. Gut, das habe ich abgebrochen, aber dennoch war ich inzwischen einigermaßen belesen, kannte mich ausreichend aus in Kunst, Film und Musik, konnte mich grammatikalisch korrekt ausdrücken und bewohnte selbst eine beinahe elegante Wohnung mit ein paar Bücherregalen. Und dennoch. Dennoch gab es weiterhin das Gefühl, dass es eine unsichtbare Wand gab zwischen uns Kleinbürgerkindern und denen, die schon mit Kunst, Kultur und Wissenschaft aufgewachsen waren in den weitläufigen Wohnungen mit den Bücherregalen. Subtile Codes, einen Habitus, der viele Erscheinungsformen hatte, sich aber kaum imitieren ließ. Ich hatte da feine Antennen.

Es gelang mir, Gesine auf mich aufmerksam zu machen. Mal ein Lächeln, mal eine kluge oder witzige Bemerkung. Ein bisschen Charme kann ich schon aufbringen, wenn ich mir Mühe gebe. Irgendwann fing ich einen Blick von ihr ein, der mir vielversprechend schien, und bei der ersten Weihnachtsfeier ging ich nach einem Wodka-Lemon auf sie zu. So fing das an.

Es wurde keine geglückte Beziehung daraus, eigentlich wurde gar keine «Beziehung» daraus, und ich hätte es wohl ahnen sollen. Es war ein abschüssiges Unternehmen, von Sympathie und Anziehung schlitterte es ungebremst hinein in sinnlose Gespräche, Tränen, Sich-aus-dem-Weg-Gehen, Sehnsucht, betrunkene Textnachrichten. Ich gab die Hoffnung nie auf. Beruflich legte Gesine während dieser Zeit einen soliden Aufstieg hin. Sie war kompetent, klug und schnell, konnte analysieren und hatte Ideen, und weil sie sich obendrein auch noch artikulieren konnte und attraktiv war, stand sie ratzfatz auch vor der Kamera, interviewte Politiker und moderierte unser TV-Bürgerforum. Zwischenzeitlich war sie für die Hauptnachrichten im Gespräch, aber darauf hatte sie gar keine Lust, das war ihr zu festgelegt.

Ich hingegen schaffte es, mich an jenen Ort zu manövrieren, wo man bei minderer Bezahlung einen schleichenden Menschenhass entwickeln und sonst nicht viel bewegen konnte: ins Community-Team. Da, wo das Publikum betreut werden wollte, die Call-in-Formate, die sozialen Medien, die Kommentarspalten auf unserer Webseite. Manchmal organisierten wir auch ein kleines Event, eine Podiumsveranstaltung oder eine Redaktionsbesichtigung mit anschließendem Q&A. Veranstaltungen, bei denen immer einer wissen wollte, warum «die Medien» die Dinge nicht exakt so darstellten, wie er es gerne hätte.

Jedenfalls, nach längerer Funkstille und ausbleibenden Zufallsbegegnungen im Sender (die immer unwahrscheinlicher wurden, seitdem das Community-Team in einen dunklen Seitenflügel ausgelagert worden war) hatte ich mich mal wieder bei ihr gemeldet. Eine Info-Rundmail mit dem Betreff «Reparatur des linken Fahrstuhls» nahm ich zum Anlass für eine Nachricht: Hast du den Fahrstuhl kaputt gemacht?

Für diesen Text brauchte ich eine halbe Stunde. Sie antwortete mit einem Tränenlachemoji. Zwei Tage später tauchte sie dann unvermittelt in unseren tristen Räumen auf und sah sich interessiert um. Dann setzte sie sich auf meinen Tisch und sagte: «Ich hab Premierenkarten.»

Wir sahen den neuen Film eines älteren Regisseurs, in dem es viel um Sex ging. Danach waren wir noch was trinken. Zu Hause hatte ich vorher schon eins a aufgeräumt und das Bett frisch bezogen. Ich war mir sicher gewesen, dass sie noch mit zu mir gehen würde, ich hatte es deutlich gefühlt, und so war es ja auch immer gelaufen. Irgendwann wollte sie mich dann doch wieder.

Aber ich plante noch mehr: Killer hatte mir Fotos von einem herrlichen kleinen Hotel an einem herrlichen, klaren See geschickt. Dahin wollte ich sie übers Wochenende entführen. Jetzt gleich dranbleiben, gleich noch eins draufsetzen, gemeinsame Erlebnisse schaffen.

Wir saßen da also zusammen in der Bar, und es war alles ganz wunderbar, alles schon da und zum Greifen nah, die ganze Chemie, der ganze Magnetismus. Ich zeigte ihr die Bilder von dem Hotel. Sie war begeistert. «Wahnsinn», sagte sie. «Das ist wirklich wunderschön.»

«Willst du da hin?»

«Unbedingt!» Sie tippte mir mit einem Finger ans Kinn und sagte: «Du weißt, was mir gefällt.»

Der Satz kribbelte. «Unbedingt.»

«Schickst du mir die Adresse?»

Die brauchst du nicht, wollte ich einwenden, ich buche das für uns. Aber sie setzte noch etwas hinzu: «Donato hat bald Geburtstag, das schenke ich ihm.» Ich verstand nicht.

«Wem?»

«Donato.»

«Wer ist das?»

Jetzt war sie überrascht. «Ich dachte, das wüsstest du.»

Was bitte für ein Donato? Warum so ein Kackname?

Ich war so ein Depp. So ein dämlicher Trottel war ich.

Am nächsten Tag überhörte ich, während zwei Kolleginnen auf ihre Bildschirme guckten, dass zwischen ihnen mehrmals der Name «Donato» fiel. «So gut schaut er aus!», rief die eine. Ich drehte mich herum und sah auf der Webseite eines Klatschmagazins das Bild eines braun gebrannten Mannes auf Skiern.

Am Nachmittag stieß ich zu einer Plauderei in der Teeküche – man redete über Donato. Schließlich, in unseren eigenen Abendnachrichten: Donato.

Es stimmte tatsächlich, es war genau so: Ich war der Einzige weit und breit, der noch nichts von Donato mitbekommen hatte. Zentraler Grund: Ich interessierte mich nicht für Wintersport. Null. Gar nicht. Wenn im Fernsehen Wintersport übertragen wurde, überfiel mich ein überwältigendes Desinteresse, eine große Müdigkeit. Lähmung fast.

Verstohlen rief ich die Webseite auf, bei der sich die Kolleginnen zuvor informiert hatten, scrollte, fand ihn und las: Doppeltes Glück: Donato Cruzeiro Glauber wurde nicht nur zum zweiten Mal in Folge Sieger des großen Ski-Abfahrtsrennens am Hahnenkamm in Kitzbühel, er hat auch die Liebe gefunden mit seiner Freundin, der deutschen Journalistin Gesine Tusche. Doppelte Gratulation! Daneben wieder das Foto des braun gebrannten Mannes auf Skiern, darunter ein Bild desselben Mannes in festlichem Outfit, Arm in Arm mit Gesine.

Sieger, Kitzbühel, Hahnenkamm, Liebe gefunden – ich hatte keine Ansprüche anzumelden. Gesine war offenbar mit einem Skirennfahrer liiert, mit einem amtierenden Sieger von irgendwas in Kitzbühel. Und ich war nur Wenzel Zahn, Kommentarspaltenscherge und als Comicfigur Daffy Duck.

 

In den nachfolgenden Wochen tauchte Gesine bei Sportbällen und Charity-Events auf, was ich ebenso verspätet wie zwanghaft masochistisch über die Boulevardmedien verfolgte. Donato Cruzeiro Glauber hielt ihre Hand, beide strahlten sie als hätten sie Glühwürmchen gefrühstückt. Ich sah mir sogar eine Talkshow an, in der DCG, wie man ihn bei uns im Sender jetzt nannte (und was meiner Meinung nach klang wie ein gefährliches Umweltgift) mit leicht schweizerischem, vielleicht Südtiroler oder auch irgendeinem Fantasie-Akzent sprach. Er klang reflektiert, bedächtig und nicht auf diese grässliche Art rhetorisch mediengeschult wie andere Sportprofis. Er sah glänzend aus und war unfassbar sympathisch. Viel sympathischer als der ebenfalls eingeladene Schriftsteller, der sich aufs Verkünden unumstößlicher Altersweisheiten verlegt hatte, und die Schauspielerin, die nach dem Auftritt des Schriftstellers nicht oberflächlich erscheinen wollte und fortan in Kalendersprüchen redete («Man muss schon an Wunder glauben, wenn man Wunderbares erleben will!» – großer Applaus).

DCG wurde mit einem kurzen Einspieler vorgestellt, in dem noch einmal sein siegreiches Hahnenkammrennen zu sehen war. «Hahnenkammrennen» war ein Begriff, der mir noch wenige Tage zuvor gar nichts gesagt hatte. Inzwischen wusste ich Bescheid. Es fand auf der sogenannten Streif in Kitzbühel statt und galt als das schwierigste, herausforderndste und gefährlichste Skirennen der Welt, wobei Skiabfahrt sowieso schon als die gefährlichste Wintersportdisziplin galt. In einer der größten Draufgängersportarten war DCG also der amtierende Champ.

Möglicherweise hatte er damit sogar noch größere Champ-Qualitäten als Killer. Es ließ sich jedenfalls nicht ausschließen.

Ich hatte aber auch gelernt, dass Skiabfahrtsläufer die gesamte Wintersaison über irgendwo Rennen absolvierten. In Österreich, Skandinavien, Kanada, USA, Korea, Japan. Und im Sommer mussten sie trainieren wie bekloppt, denn bei einer einzelnen Abfahrt, und ganz besonders bei der am Hahnenkamm, wirkten so ungeheure Kräfte auf den Körper, wie sie sich auch im härtesten Training kaum simulieren ließen. Skifahrer, die Zeit hatten, länger als ein paar Tage mit ihren Frauen, Freundinnen oder Familien zu verbringen, waren verletzte Skifahrer. Weshalb Gesine sich dann also andere Begleitung organisieren musste zu Filmpremieren.

Die Talkrunde wurde von einem altgedienten TV-Dinosaurier moderiert, der exakt schon so da saß, als meine Mutter diese Sendung früher geguckt hatte, komplett konserviert, aber ergänzend hatte man ihm jetzt, wohl, um zu beweisen, dass Fernsehen auch auf der Höhe der Zeit sein kann und so, eine junge Influencerin an die Seite gesetzt, die nun das Gespräch mit DCG führte. Sie schien genauso charmiert von ihm wie ich und fragte ihn gerade, ob man ein Draufgängertyp sein musste, um Abfahrtskiprofi zu werden. Er lächelte, ein bisschen unsicher, überlegte, lächelte wieder, schüttelte den Kopf, das Ganze bereits eine performative Absage ans Draufgängertum, und antwortete: «Nein.»

«Aber ziemlich kurz vor Ihrem Lauf waren schon zwei Konkurrenten gestürzt, der Norweger Donovan Svenson hat sich sogar ziemlich übel verletzt, das muss einen doch nervös machen, dieses Risiko direkt vor Augen, oder etwa nicht?»

DCG nickte bedächtig. «Das war wirklich schlimm, mit dem Donovan. Das ist immer schlimm, wenn sich einer wehtut, das kann dem ja auch die Karriere kosten.»

«Ja, eben! Und dann stürzt man sich danach trotzdem diesen unglaublichen Hang hinunter, da muss man doch schon besonders gestrickt sein dafür.»

«Den Hang hinunterstürzen, das ist genau richtig gesagt, ja. Man fährt eigentlich nicht, man stürzt sich da hinein.»

«Also doch Draufgängertum!»

«Nein. Nein, nein.»

«Was geht da vor in Ihnen?»

«Ja, ich bin dann voll konzentriert auf den Lauf.»

«Den Hahnenkamm zu gewinnen, das ist ja wohl das Größte, oder?»

«Ja, das ist schon großartig.»

«Ein paar Wettkämpfe stehen noch an in dieser Saison, dann haben Sie es geschafft. Womit werden Sie den Sommer verbringen?»

«Ja, da wird schon trotzdem trainiert. Es gibt Gletscher, da kann man noch recht lang fahren, aber auch ohne Schnee und Ski wird natürlich trainiert. Ich mag auch wandern und klettern.»

«Macht Ihnen eigentlich der Klimawandel sorgen? Spüren Sie das als Wintersportprofi?»

Jetzt tat sich etwas bei DCG, andere Gesichtsmuskeln wurden aktiviert, seine Augen weiter, er begann zu gestikulieren: «Das ist für den Skisport schon eine Katastrophe, ja? Das ist alles viel schwieriger geworden, die ganzen Wetterbedingungen und alles. Meine Kinder werden nicht mehr so Ski fahren können wie ich.»

Aha. Dachte er also schon ans Kinderkriegen. Verlobung, Heirat, Familie. Wie seine Freundin das wohl sah? Sicher saß sie jetzt zu Hause auf ihrem Sofa oder Gymnastikball und sah sich das auch an. Sah dasselbe wie ich. Jetzt gerade. Es war schön, zu wissen, dass wir gerade dasselbe taten, Gesine und ich. Gesine und ich.

 

Weit war Killer nicht gekommen mit seinem Galopp. Mitten in die ausgelassen alberne Darbietung hinein, die Bäume verrenkten sich schon in den Orkanböen, krachte ein Donner, der klang, als stürzten sämtliche Tribünen hinter uns zusammen, was Killer dazu veranlasste, anzuhalten und mit gespieltem Schrecken zurückzugaloppieren. Gerade wollte ich mich umwenden, Schutz suchen vor dem zweifellos jetzt gleich herniederprasselnden Sturzregen, da sah ich aus dem Augenwinkel noch das Leuchten. Dann, wie Killer durch die Luft flog. Einfach ein paar Meter fortgeschleudert, wie im Film, wenn Leute von einer Detonation weggefegt werden. Einen Moment lang stand ich selbst, also: wie vom Donner gerührt, dann rannte ich hin zu Killer, der sich zu meiner unendlichen Erleichterung bereits wieder berappelte, und half ihm, auf die Beine zu kommen.

Ich starrte auf seine Haare, die ihm zu Berge standen, als hätten sie die Orientierung verloren, bevor der einsetzende Regen sie ihm zurück an den Kopf klatschte. Er sah sich um, dann mich an, er verzog den Mund und sagte, klar und deutlich: «Alter.»

Leicht benommen tapste er neben mir und von mir gestützt bis zurück zu den leeren Tribünen, wo wir vor dem Regen geschützt waren und ich ihn auf eine Bank setzte. Killer fuhr sich mit beiden Händen durch die nassen Haare und saß dann vornübergebeugt so da. Auf dem Geländer vor uns landete eine Krähe und betrachtete uns mit einer Art investigativem Interesse.

«Ich rufe den Notarzt», sagte ich.

«Lass bitte.»

«Ich glaube, du wurdest vom Blitz getroffen!»

«Bitte niemanden rufen. Ich geh morgen zum Arzt. Aber jetzt bitte niemanden rufen.»

«Wie fühlst du dich denn?»

«Geht.»

Immer noch auf die Knie gestützt, blickte er durch den von Sturmböen hin und her gescheuchten Regen, als suchte er dort etwas. Der Ort, an dem vorhin noch Pferde im Kreis herumgerannt waren, war jetzt der Ort, an dem etwas geschehen war, von dem ich, Killer und jedes Kind wusste, dass es passieren konnte, dass es so etwas gab. Was praktisch aber doch nie vorkam. Ein Unglück von so sprichwörtlicher Seltenheit, dass es eine beinahe schon mythologische Dimension hatte, hier und jetzt und mit diesem Menschen, der mit mythologischen Dimensionen sonst keinerlei Umgang pflegte.

«Aber ich rufe ein Taxi», sagte ich.

«Hörst du das auch?», fragte Killer und schaute nach oben, zur Tribünenüberdachung.

«Was genau?»

«So Zwitschern oder so?»

«Ich höre den Regen.»

Im Taxi hörte Killer es weiter zwitschern, beziehungsweise ein «surrendes Stimmengewirr».

«Wahrscheinlich ein Tinnitus», vermutete ich. «Würde mich jetzt nicht wundern.»

Der Arzt hatte ein Kardiogramm erstellt und Blut abgenommen. «Vorläufig erhöhter Blutdruck», erklärte Killer. «Das ist wohl zu erwarten. Sonst war aber nicht viel.»

«Und deine Haare sehen anders aus.» Dunkel und wellig waren sie gewesen, jetzt kupferstichig, wie ausgebleicht, und krisselig. Wahrscheinlich waren sie einfach angesengt.

«Die Haare und das hier.» Killer zog sein Shirt hoch. Auf Brust und Bauch war in roten Linien eine Struktur gezeichnet, die selbst aussah wie eine Ansammlung von Blitzen oder auch wie die Verästelungen eines Baumes. «Ist am ganzen Körper.»

Der Anblick war verstörend, und erst in diesem Moment fiel sie mir wieder ein. «Erinnerst du dich an die Frau, die uns gestern in der S-Bahn gegenübersaß?»

«Nein?»

«Dunkler Pagenschnitt, schwarze Jacke, goldenes Kleid, mit riesigem Zottelhund? Mir fiel sie auf, weil sie ein Buch von einem Schriftsteller dabeihatte, von dem ich alles zu kennen meine, aber das Buch kannte ich nicht.» Ich sah Killer an in Erwartung eines wie üblich sarkastischen Kommentars zu meinem seiner Meinung nach anachronistischen und überaus langweiligen Interesse an Literatur, aber er sagte nichts, er hörte mir weiter zu. «Als wir ausgestiegen sind, hat sie zu mir hochgesehen, und dann zeichnete sie mit dem Finger einen Blitz in die Luft. So: –» Ein Schauer kroch mir den Rücken hoch, die Haare an meinen Armen stellten sich auf, während ich die Bewegung aus der Erinnerung heraus wiederholte.

Killer wirkte nicht beeindruckt. Er nickte verständnisvoll, als ginge es hier um mein und nicht um sein Problem, und erklärte: «Man neigt dazu, Verbindungen zu ziehen zwischen Ereignissen. Außerdem, guck mal hier.»

Das Gewitter hatte es auf die Titelseiten mehrerer Zeitungen geschafft, eine davon lag vor uns auf dem Tisch. Der Starkregen hatte Tunnel, Unterführungen und ein paar U-Bahnhöfe unterspült, Sturmböen hatten Bäume umgeknickt, und es hatte ungewöhnliche und hochfrequente Blitzaktivitäten gegeben, darunter einige «Superblitze», die sonst eigentlich vor allem im Winter und nicht über Land, sondern über dem Meer vorkommen.

«Das war nicht mal vorhergesagt», meinte ich.

«Keine Ahnung. Bin kein großer Wetterberichtsverfolger.»

«Ich aber. Gehst du schon wieder arbeiten?»

«Bin die Woche krankgeschrieben.»

«Und der Tinnitus?»

«Kommt und geht. Letzte Nacht bin ich einmal wach geworden von Musik und dachte, verdammt, jetzt hör ich schon wieder Zeug, aber dann war es wirklich Musik. Von der Nachbarin.»

«Der Architektin?»

«Genau.»

Neben Killer wohnte eine Architektin, die auf Killer stand und sich gern Dinge einfallen ließ, um ihn anzulocken, und sei es nur, dass sie ihre Musik zu laut aufdrehte, nachts, in der Hoffnung, er komme irgendwann, sich beschweren.

Neben mir wohnte Frau Güterich. Frau Güterich war viel unterwegs, beruflich und privat. Sie war zwar schon fast siebzig, betätigte sich aber immer noch als Managerin für mehrere Musikerinnen. Sie betreute eine Pianistin, eine Geigerin, einen Sänger, eine Gitarristin und ein kleines Tango-Orchester. Ihr Sohn lebte in Amsterdam, ihre Tochter derzeit in Lomé, Togo, war aber auf dem Sprung nach Mumbai, fürs Goethe-Institut. Aktuell machte Frau Güterich aber «einfach mal Urlaub» bei einer Freundin in Portugal. Darüber, was Frau Güterich tat, war ich immer gut informiert, zum einen, weil sie ausdauernd redete, zum anderen, weil ich in ihrer Abwesenheit ihren Briefkasten leerte und ihre Pflanzen goss.

Tatsächlich hielt ich mich gern in Frau Güterichs Wohnung auf, die heller war als meine und geschmackvoll eingerichtet, und ich goss auch gern ihre Pflanzen, besonders draußen auf dem großen Eck-Balkon. Eine zartrosa Klematis rankte sich um das Geländer, und in diversen Kästen und Kübeln wuchsen Blumen, Kräuter und blühende Büsche. Im Sommer musste ich die Gießkanne mehrmals füllen, bevor ich einmal durch war. Das Wasser versickerte in der Erde, ein Teil verdunstete an heißen Tagen vor meinen Augen, der Rest wurde von den Pflanzen gierig aufgesogen. Es erstaunte mich, was für eine angenehme und befriedigende Arbeit dieses Gießen war. Wie gut und frisch es roch, wenn das Wasser die Erde durchnässte und die Pflanzen danach grüner und praller wirkten. Hätte ich die entsprechenden Hörfähigkeiten, könnte ich eine Art zufriedenes Gurgeln hören, vielleicht auch einen hellen Gesang, wie von Kindern, die beim Spielen selbstvergessen vor sich hin summen.

Nach getaner Arbeit setzte ich mich gern noch eine Weile zu ihnen auf den Liegestuhl, wo wir gemeinsam die Sonne genossen, die Pflanzen und ich. Für ein paar Minuten lief das ganz gut, ein berückender Moment des pflanzenhaften Daseins stellte sich ein, bevor, ohne dass ich recht wusste, wie, wieder der Projektor ansprang und der übliche Film von Gedanken, Ideen, Plänen und allerlei diffusen Empfindungen meine Aufmerksamkeit beanspruchte: Was war mit Killer, ich wollte doch eine Internetrecherche zum Thema Blitzschlag machen, ein paar besonders ärgerliche Kommentare einiger besonders fleißiger Dauerkommentatoren spukten mir zum wiederholten Male durchs Hirn, und zum wiederholten Male formulierte ich eine ausgefeilte Replik, die ich niemals würde posten können, parallel schlich sich ein Gesine-Schmerz quer durch meine Brust, ebenso ein Bild von DCG, wie er die Faust zum Sieg reckt, die Überlegung, wo er wohl gerade sei, ob hier oder weit weg; was gibt es heute zu essen, wie viel Akku hat mein Smarti, muss gleich noch mal die Nachrichtenlage checken, habe ich diese blöde Mahnung schon bezahlt, und was meinte Julie Rutzbach damals bei der Abifeier, als sie das da sagte, was war es noch mal genau?

Wie meistens, wenn ich mich zwischen zwei oder mehr Zuständen mental eingekeilt fühlte, spielte ich als Übersprungshandlung eine Runde FreeCell, eine Patience-Variante, bei der es galt, alle 52 Karten nach Farben zu ordnen, angefangen mit dem Ass. Das Spiel hatte eine ungeheuer attraktive Dynamik, wie es sich langsam immer weiter auflöste, wie schließlich alle Karten auf ihre passenden Stapel sausten, die Herzen, die Karos, die Kreuze, die Piks. Es bündelte meine Konzentration gerade so weit, dass all die vorbeihuschenden Gedanken in Schach gehalten wurden, ich aber nicht allzu angestrengt nachdenken musste, sondern entspannt fokussiert war. Ob das als Meditation durchgehen konnte? Eine weibliche Amsel setzte sich auf das Balkongeländer und beobachtete mich ohne Scheu, fast schon ein bisschen schamlos. Drehte sich herum und zwitscherte etwas, worauf ein Amselmann angeflogen kam und sich danebensetzte. Anschließend guckten sie beide. «Komm mal her und sieh dir den Typen an», hatte sie offenbar gerufen. («Du sollst keine anderen Götter haben neben den Amseln», schreibt Drifter in der Heiligen Johanna.)

Anstatt danach zurück in meine Wohnung zu gehen, beschloss ich, erst mal irgendwo Kaffee zu trinken, und textete Killer, dass ich es bin, wenn es in fünf Minuten bei ihm klingelt.

«OK», schrieb er zurück. Als ich dann vor seiner Tür stand, dauerte es eine ganze Weile, bis er mir durch die Sprechanlage erklärte, dass er runterkommen würde. Das war nicht ungewöhnlich, wir trafen uns nur selten in unseren Wohnungen und gingen lieber einen Kaffee oder ein Bier trinken, spielten Tischtennis oder aßen irgendwo eine Pizza.

«Hab nich viel Zeit», sagte er. «Meine Mutter kommt heute aus dem Krankenhaus.»

Killers Mutter kannte ich mein Leben lang. Ich kannte sie besser, als ich zum Beispiel meine zwei Tanten kannte. Früher hatte ich mir immer gewünscht, unsere Mütter wären so eng befreundet wie wir auch, und verstand nicht, warum das