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Ulrike Sterblich

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Beschreibung

Mona ist jung, hübsch und gerade nach New York gezogen, um Karriere zu machen. Doch die Stadt, die niemals schläft, hat nicht auf sie gewartet. Dafür lernt sie gleich zwei Männer kennen: den Ostküsten-Aristokraten Sidney und Adam, einen schwarz gelockten Beau aus der Boheme. Hin- und hergerissen lässt sich Mona durch eine Welt treiben, die der aus Berlin vor den Nazis geflohene «Dr. Feelgood» Max Jacobson mit seinen «Vitamin-Spritzen» versorgt. Und so webt sich ein zweiter Faden in die Geschichte: Starfotograf Mark Shaw, Patient bei Dr. Feelgood, liegt eines Tages tot in seiner Wohnung. Ein Gerichtsmediziner beginnt zu recherchieren. Aufzudecken gibt es einiges – und es betrifft die Reichen, Schönen und Mächtigen bis hoch ins Weiße Haus ...

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Seitenzahl: 515

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Ulrike Sterblich

The German Girl

Roman

Über dieses Buch

Die Stadt, die niemals schläft.

Denn dafür gibt es Pillen.

Und mittendrin: das Mädchen aus Berlin.

 

New York 1967. Jugend, Mode und Musik erobern die Welt, und mittendrin: Mona aus Berlin. Sie will hier Karriere machen, als Fotomodell. Doch diese Stadt hat nicht auf sie gewartet, die Konkurrenz ist groß. Dafür lernt Mona gleich zwei Männer kennen, den Ostküsten-Aristokraten Sidney und Adam, einen viel zu schönen Bohemien mit viel zu vielen Problemen. Ein Kakadu fliegt ihr zu, ein rätselhaftes Parfüm gelangt in ihren Besitz, eine Doppelgängerin wird Monas Freundin und nimmt sie mit auf Partys, bei denen nie jemand müde wird – dafür sorgt schon «Dr. Feelgood», der vor den Nazis aus Berlin geflohene Mediziner Max Jacobson mit seinen Pillen und Spritzen. Künstler, Hippies, Millionäre zählen zu seinen Patienten, vielleicht sogar der Mann im Weißen Haus. Und was ist schon schlecht daran, sich gut zu fühlen?

 

Ein intensiver, psychedelisch bunter Roman aus einer nicht allzu fernen Vergangenheit, in der Glücksversprechen und Absturz näher beieinander lagen als je zuvor.

Vita

Ulrike Sterblich, Politologin und Autorin aus Berlin, lebt weiterhin in ihrer Heimatstadt, wo sie auch als Gastgeberin der Talk- und Lesebühne «Berlin Bunny Lectures» bekannt wurde. 2012 erschien ihr erfolgreiches Mauerstadt-Memoir «Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt», über das Wolfgang Herrndorf urteilte: «Zarter, liebevoller, staunender wurde selten eine Jugend, eine Stadt und beider Verschwinden beschrieben.»

 

«The German Girl» ist der erste Roman der Autorin.

Don’t send me no doctor

Fillin’ me up with all of those pills

I got me a man named Doctor Feelgood

Aretha Franklin «Doctor Feelgood»

1974

Im achtzehnten Stock hatte jemand den Fahrstuhlknopf gedrückt. Mit einem Rumpeln setzte sich der Lift in Bewegung und fuhr ohne Zwischenhalt nach oben. Zwei Männer stiegen ein. Der eine war mit 74 Jahren so alt wie das Jahrhundert, sah aber mit seinem dichten schwarzen Haar und der trotz festem, rundem Altherrenbauch muskulösen Statur deutlich jünger aus. Er rückte die klobige schwarze Brille in seinem Gesicht zurecht, eine Brille nach der Mode von vor zwanzig Jahren. Mit dem Zeigefinger der anderen Hand, in der er eine Sporttasche mit Badesachen hielt, drückte er den untersten Fahrstuhlknopf. Sein Begleiter war jünger, trug ein neues, gediegen wirkendes Polohemd und eine elegante Hose, wahrscheinlich maßgeschneidert.

Der große Pool im Untergeschoss war zweifellos das Beste, was dieser zwanzigstöckige Wohnblock in der 86. Straße Ost in Manhattan seinen Bewohnern zu bieten hatte. Jetzt, am frühen Nachmittag war es nicht sehr voll am Pool, aber auch nicht so leer wie um zwei oder drei Uhr in der Nacht. Vier andere Hausbewohner zogen beschaulich ihre Bahnen, auf den Liegestühlen neben dem Becken blätterten zwei ältere Damen (einmal geblümter und einmal gestreifter Badeanzug) in bunten Illustrierten. Als die beiden Männer hereinkamen, stupste die eine die andere an und sagte: «Da kommt der Herr Doktor.»

Sie ließen ihre Illustrierten sinken.

Der Herr Doktor stieg ins Wasser und schwamm drauflos. Das tat er mit erstaunlicher Dynamik, allerdings mangelte es ihm an der Fähigkeit (oder am Interesse), innerhalb seiner Bahn zu bleiben. Mehrfach rempelte er in seine Mitschwimmer hinein und pflügte dann ohne jede Entschuldigung weiter durchs Becken, was man ihm offenbar nicht weiter übelnahm. Vielmehr stiegen die Badenden einer nach dem anderen aus dem Wasser und überließen das Terrain nachsichtig dem Herrn Doktor, der wie immer seine dreißig Runden absolvierte.

Die geblümte Dame blätterte in ihrer Klatschpostille herum, tippte schließlich auf das Paparazzifoto einer Schauspielerin und raunte ihrer Liegestuhlnachbarin zu: «Sie war letzte Woche auch wieder da.»

Die Gestreifte hob ihre Illustrierte höher vors Gesicht wie einen mit Farrah Fawcett bedruckten Schutzschild, hinter dem sie ungestört sagen konnte, was sie dachte (oder was sie wollte, dass die andere dachte, dass sie es dachte): «Aber ich geh da nicht hin! Und wenn der Präsident persönlich ginge …»

Tatsächlich war der Präsident schon hingegangen, wie man hörte. Nicht dieser vielleicht, aber der vorletzte. Der, den man erschossen hatte. Sie tauschten konspirative Blicke aus, wie zwei Mädchen, die beim Herumalbern ertappt wurden und nun so taten, als sei es peinlich.

«Ach, sollen sie doch alle zu ihm gehen, kann ja jeder machen, was er will. Ich gehe jedenfalls nicht.»

Die Geblümte nickte ernst und sagte: «Du weißt doch, meine Schwägerin?»

«Die Verrückte?»

«Nein, also die war auch mal, aber ich meine die mit dem Sohn.»

«Der so hibbelig ist.»

«Genau. Die schwört jedenfalls auf den.» Sie senkte ihre Stimme. «Und der Sohn, der war jetzt auch. Und seitdem? In der Schule? Beste Noten.»

Die Gestreifte verzog das Gesicht hinter dem von Farrah Fawcett. «Ja, aber man weiß doch jetzt …»

«Na sicher. Aber sie sagt, sie hat nur gute Erfahrungen gemacht, auch selbst, weißte, mit ihrer Gürtelrose, hatte sie doch. Sie meint, er wüsste schon genau, was er tut. Tja. Was will man da sagen?»

«Kannst nichts sagen, muss ja jeder selber wissen.»

«Eben.»

Der Doktor war durch mit seinem Pensum. Er verschnaufte einen Moment an der Badeleiter, dann zog er sich mit einem Ruck aus dem Wasser, es lief an ihm herunter, klebte ihm die schwarze Rückenbehaarung an die Haut wie feines Seegras und die blaue Badehose unter seinen Bauch, der ihn im Gesamtbild nicht dick, sondern stattlich aussehen ließ, wie einen alten Boxer, der noch gut jemanden umhauen kann. Die Liegestuhldamen sahen es mit einem nicht ganz unangenehmen Grusel.

«Darf er überhaupt noch praktizieren?»

«Bislang ja.»

«Ist doch ein Ding, oder?»

«Das Verfahren läuft wohl noch. Aber die haben schon alle Panik, dass er die Lizenz verlieren könnte.»

Im Vorbeigehen spritzte der Doktor seinen Begleiter, der auf einer Liege gegenüber gewartet und dabei im Time Magazine gelesen hatte, mit Chlorwasser an.

«Komme gleich», sagte der, er wollte noch eben einen Artikel über Henry Kissinger zu Ende lesen, nahm dann aber doch das Magazin mit einem Finger als Lesezeichen und folgte dem Doktor in die Umkleide.

Die Damen glotzten hinterher.

In der Umkleide las der Begleiter seinen Kissinger weiter, bis der Doktor mit umgeknotetem Handtuch aus der Dusche kam, ihn ansah und sagte: «Du musst Sport treiben. Dir fehlt Bewegung.»

«Ich weiß, Max. Mir fehlt aber auch die Zeit.»

«Zeit ist genug da, man muss sie sich nur nehmen. Sich bewegen, sich fordern. Sport. Regelmäßiger Sport. So hält man die Mitochondrien in den Zellen fit. Die Mitochondrien produzieren die Energie. Das sind deine Kraftwerke. Sie passen sich deinem Energiebedarf an. Angebot und Nachfrage. Fragt man viel Energie bei ihnen an, halten sie anschließend mehr davon bereit. Vergrößern und vermehren sich. Darum Sport. Mitteilung an den Körper: Du wirst gebraucht, du sollst Energie liefern. Das hält jung. Leben ist gleichbedeutend mit Energie. Das Alter ist ein Verlust von Energie.»

Er klingt ähnlich wie Kissinger, dachte der Begleiter. Und wie er sich jetzt seine Brille wieder ins Gesicht schob, da gab es direkt eine Ähnlichkeit, oder? Oder dachte man das nur, weil sie beide aus Deutschland stammten?

«Worüber liest du da? Scheint interessant zu sein.»

«Außenpolitik. Kissinger.»

«Ah!» Der Doktor richtete sich auf, in T-Shirt, Socken und Unterhose, und rief, freudestrahlend auf Deutsch: «Der Kissinger!» Zog sich dann die Hose an und ruckelte seine Füße in die Schuhe. Der Begleiter legte Kissinger zur Seite und band dem Doktor die Schnürsenkel. Sport, Muskeln, Energie und dunkles Haar hin oder her; er kam nicht mehr so gut runter.

«Kissinger!», rief der Doktor noch einmal, als sie wieder in den Fahrstuhl stiegen. «Heinz Alfred Kissinger!»

Sie fuhren zurück nach oben, in den Achtzehnten, wo sich im Apartment des Doktors schon wieder ein paar Bedürftige mehr eingefunden hatten. Ein Politiker unterhielt sich, locker in den Türrahmen gelehnt, mit einer Modedesignerin. Aber auch der Anwalt war aufgetaucht, er saß auf dem Sofa unter der gerahmten Hochzeitscollage und zeigte eine besorgte Miene, wie es so seine Art war.

Der Doktor schritt durchs Zimmer, grüßte knapp nach verschiedenen Seiten hin und zog sich für einen Moment zurück in sein Schlafzimmer.

Er schloss die Tür. Dann streckte er den Rücken durch, ließ die Arme kreisen, rotierte mit angewinkelten Ellenbogen den Oberkörper, machte einige Seitenbeugen. Ließ sich ein wenig vornüberhängen und rollte dann den Rücken langsam wieder auf, Wirbel für Wirbel. Ging rüber zu der hellen Kommode mit den vielen Schubladen, die noch aus dem Potsdamer Haushalt seiner verstorbenen zweiten Frau stammte, Nina, holte eine frische Kanüle aus einem der oberen Schubfächer, setzte sie auf eine Spritze, die eben noch neben einem Brillenputztuch, ein paar leeren Batterien und einer großen Apothekerflasche oben auf der Kommode gelegen hatte, zog die Spritze halb voll mit Flüssigkeit aus der Flasche, setzte sich damit aufs Bett und applizierte sich den Inhalt der Spritze in den Handrücken rechts. Er konnte mit links und rechts gleich gut spritzen, eine seiner vielen erstaunlichen Talente.

Einen Moment lang saß er da und spürte der einsetzenden Wirkung nach. Der Mensch braucht alle Energie, die er kriegen kann, besonders, wenn er selbst viel leisten muss. Auf Basis von Energie wird Arbeit verrichtet.

Deutlich erfrischt, richtete er sich wieder auf, bewegte sich auf die Tür zu, in der ein Spiegel hing, auch so ein altes Ding noch aus Berlin, und in dem Spiegel sah er sie hinter sich am Fenster stehen, Nina. Darüber wunderte er sich nicht allzu sehr, es war ihm schon einige Male passiert, meist so wie jetzt, nach der Spritze. Es erschien ihm interessant. Früher hatte er keine Halluzinationen gekannt. Die Thesen und Ansichten dieses LSD-Professors aus Kalifornien (der selbstverständlich auch schon bei ihm gewesen war und den er sehr in Erstaunen versetzt hatte, als er mit nur einem Piks dessen schlechtes Gehör deutlich verbessern konnte) hatte er immer mit Interesse verfolgt, er selbst sah aber nie irgendein Potenzial in halluzinogenen Substanzen. Sein Bruder war da experimentierfreudiger. Er chauffierte ihn oft von hier nach dort, und einmal, nachdem Max ihn wegen eines Notfalls gerufen hatte, befand er sich offenbar auf einem sogenannten Trip. Plötzlich an einer Ampel rief er «Whoa!» und erklärte auf Nachfrage, leuchtende Früchte hingen da oben, eine Tomate, eine Zitrone und ein Apfel. Dann drehte er sich zu Max nach hinten, lachte hysterisch und rief: «Du bestehst aus unterschiedlichen Teilen, und deine Brille ist nur aufgemalt!»

Zuerst musste er jetzt mit Rose reden, seinem Anwalt. Das musste erledigt sein, sonst saß der da weiter mit Bedenkengesicht und verbreitete Kümmernis und Sorge, was keiner gebrauchen konnte. Max ging auf ihn zu, den Paragraphenreiter mit seinem akkuraten Anzug und der dezent gemusterten Krawatte. Beim Händedruck stellte er zufrieden fest, dass die Energie ganz klar von ihm zum Jüngeren floss, nicht umgekehrt.

Simon Rose lächelte.

«Max! Frisch vom Schwimmen, was? Können wir gleich ungestört reden? Zwanzig Minuten.»

«Natürlich, gehen wir in mein Arbeitszimmer.»

Der Anwalt stand auf und strich sich sorgsam das Jackett glatt.

Typisch Max. Geht schwimmen und lässt alle warten. Rose verstand nicht, dass Max den Ernst der Lage nicht erfasste. Anscheinend hielt er sich für ein Wesen, das außerhalb solch profaner Einschränkungen operierte, wie Gesetze sie darstellten. Galt womöglich auch für Naturgesetze, alles was nicht mit Dr. Max kooperierte, war seinem Genie nur im Weg und konnte gehen.

Das Arbeitszimmer war eine Kammer, in der sich Papier und Zeug stapelten, auf dem Tisch, auf dem Stuhl, auf dem Boden. Der Mülleimer quoll über, die Schubladen standen halb offen, weil sie zu voll waren, um zu schließen. Simon Rose räumte ohne nachzufragen einen Schlüsselbund und einen Apfelgriebsch vom Stuhl und setzte sich.

Der Arzt und der Anwalt saßen so dicht, dass ihre Knie fast aneinanderstießen. Aus einer weichen braunen Ledertasche holte der Anwalt einen Aktenordner hervor. Dann wusste er nicht, wohin mit der Tasche, stopfte sie schließlich unter den Stuhl und schlug den Ordner auf, gleichzeitig darum bemüht, den prekären Abstand zwischen ihren Knien einzuhalten. Die ganze Zeit sah der Doktor ihn an. Als würde er Rose nicht ganz für voll nehmen. Und das nach diesem ganzen Irrsinn, nach einem Jahr voller Anhörungen mit Hunderten Zeugenaussagen, festgehalten auf 4000 Seiten Protokoll.

Rose wollte gleich zum Punkt kommen, aber während er noch Luft holte, sprach erst mal der Doktor.

«Wie geht es dir, Simon?»

«Gut geht es mir, Max, alles okay, danke.»

«Der Magen?»

«Wie immer, ich …»

«Nicht gebessert?»

«Doch, etwas.»

«Hältst du dich an meinen Rat?»

«Ich versuche es.»

«Also nein.»

«Ich trinke wirklich nicht besonders viel, Max.»

«Du sollst gar nichts trinken, vor allem keinen Wein.»

«Ich weiß.»

«Dann halt dich daran.»

Max klang noch kantiger, wenn er im Kommandoton sprach, wobei er natürlich meistens im Kommandoton sprach. Simon Rose hatte mit seinem Sohn im Kino ein paar japanische Godzilla-Filme angesehen. Der Sohn war gerade regelrecht versessen auf Godzilla. Und seitdem … Rose verstand es auch nicht, es gab keine direkte Ähnlichkeit, aber in seinem Kopf existierte plötzlich eine irritierende Verbindung zwischen Max und Godzilla.

«Max!» Es half ja nichts. «Ich habe keine guten Nachrichten.»

Pause. Der Alte sah ihn schon wieder so an. Nicht wie eine Riesenechse, eher wie ein Habicht. Er hatte diesen Blick, vor dem es kein Entkommen gab. Blinzeln musste er anscheinend gar nicht.

«Du weißt, wie viel wir unternommen haben, und wir wissen beide, wie viele Menschen für dich ausgesagt haben und wie viel du ihnen allen bedeutest. Aber es gibt, wie du ebenfalls weißt, leider auch noch die anderen. Die auch geredet haben. Und die Kammer hat ihren Aussagen offenbar mehr Bedeutung beigemessen als deinen Fürsprechern.»

«Und?»

«Du verlierst die Zulassung, Max.»

Simon Rose wusste nicht, wo er hingucken sollte. Max schlug das rechte über das linke Bein, die Schleife am rechten Schuh hatte sich gelöst, die Schnürsenkel hingen herunter. Simons Sohn spielte die Filme hinterher immer mit einer Godzilla-Figur aus Hartgummi nach, stundenlang baute er aus seinen Spielsachen dafür eine kleine Stadt auf, mit Eisenbahn, Häusern und Bäumen, bevölkert von anderen Figuren, darunter Polizisten, Ritter und GI Joe. Und dann kommt Godzilla und wirft alles unter schrillstem Gekreisch um. Keine Chance für GI Joe. Seine Frau sagte, der Junge müsse sich das, was er fürchtet, zu eigen machen, um es zu überwinden.

«Auf welcher Grundlage?», fragte Max.

«Hier ist der Bericht. Da ist alles genau ausgeführt.»

Rose reichte Max die zweiundvierzig Seiten mit dem Abschlussprotokoll des ärztlichen Aufsichtsgremiums. Achtundvierzig Fälle von standeswidrigem Verhalten hatten sie aufgelistet, außerdem Betrug und arglistige Täuschung, aber das sagte Rose jetzt nicht laut.

Max legte den Bericht auf einen ausufernden Papierstapel, der dadurch vollends in Schieflage geriet.

«Ich werde das nicht akzeptieren», sagte er.

«Ich weiß nicht, ob …»

«Wann kann ich mit Louis sprechen?»

Natürlich. Er wollte wie immer lieber mit Louis sprechen. Der große, berühmte Arzt will den großen, berühmten Anwalt.

«Ich sage ihm, er soll sich melden. Er ist nur gerade beschäftigt mit diesem Film.»

«Film?»

«Sie verfilmen seine Memoiren.»

«Aha? Wie schön. Ich hoffe, er ist trotzdem noch mein Anwalt.»

«Ich sage ihm Bescheid.»

Dieses verdammte Zimmer könnte Max vielleicht auch mal lüften, dachte Rose, als sie beide aufstanden, Rose ein wenig betreten, da blieb der Doktor mit dem Schnürsenkel irgendwo hängen und rumpelte gegen den Schreibtisch, sodass der schiefe Papierstapel mit dem Protokoll darauf endgültig kippte und als Papierlawine Richtung Boden stürzte, erst ein großer Schub, zum Schluss in ein paar einzelnen, fröhlich segelnden Blättern.

Ohne sich darum zu scheren, lief Max aus dem Raum, Rose stieg hinter ihm mit seiner Tasche im Arm über den Papierhaufen hinweg. An der Wohnungstür verabschiedeten sie sich.

Im Fahrstuhl dachte Rose darüber nach, dass Max ihm nichts angeboten hatte. Keine Spritze heute. Schon vorher, auf dem Weg zu Max, hatte er sich gefragt, ob er ein Schüsschen nehmen sollte, wenn der es ihm anbot, was er üblicherweise tat.

Heute aber nicht.

Er stieg aus dem Fahrstuhl, immer noch nicht sicher, ob er überhaupt eine Spritze gewollt hätte. Tat ja schon gut immer.

Draußen trafen ihn die Helligkeit und der Lärm der Straße, wie sie einen Menschen mit Schlafmangel eben treffen. Möglicherweise hätte er ausgerechnet heute einen kleinen Schub ja doch gut gebrauchen können. Der Tag drohte lang und anstrengend zu werden. Er musste mit einigen Leuten sprechen, die als Zeugen in Frage kamen für den Mordfall mit diesem Musikproduzenten und seiner Frau. Sehr enervierend. Die beiden waren in ihrer Wohnung überfallen und ausgeraubt worden, sie hatte man vergewaltigt, ihn umgebracht. Dann wurden die Täter gefasst, und einer sagte aus, von der Frau und deren Liebhaber als Killer angeheuert worden zu sein. Jetzt verteidigte Rose die Frau. Schwierig alles. Auch mit Max. Rose kannte sämtliche Aussagen für und gegen ihn. Er hatte jeden Zeugen und jede Zeugin vor dem Komitee selbst befragt, so detailliert, dass es den meisten zu viel war. Er kannte die Berichte von Max’ zahllosen Wundertaten, und er kannte die Horrorstorys vom skrupellosen Speed-Doktor. Er hatte einfache und berühmte Leute befragt, Stars, Modelle, Politiker, Unternehmer, die alle gar nicht genug beteuern konnten, was Max für ein großer Mann sei und dass sie ihm ewig treu und dankbar sein würden, und er hatte andere gehört, die ihn schwer belasteten. Eine ehemalige Sprechstundenhilfe nannte ihn einen gestörten Quacksalber.

Louis holte sich gern mal eine Vitaminspritze ab bei Max, und nach anfänglichem Zögern hatte Rose es dann ebenfalls versucht. Und das war dann schon was. Sehr stimulierend war das. An dem Tag hatte Rose im Büro Arbeit weggeschafft, die er vorher ewig verschleppt hatte, alles wie nebenbei, am Schluss hatte er noch eigenhändig eine Pflanze umgetopft, die ihrem alten Kübel längst entwachsen war, und auf dem Nachhauseweg kaufte er ein Parfüm für seine Frau, nur weil der Flakon ihn so angefunkelt hatte, und dazu noch Karten für eine neue Broadway-Show.

Heute wäre so ein kleiner Kick sicherlich hilfreich gewesen.

Einen Moment lang überlegte Rose, mit dem Fahrstuhl zurück nach oben zu fahren, um sich genau diesen Kick doch noch schnell abzuholen, war sich dann aber wieder unsicher, und wer wusste, wie Max reagieren würde. Also stieg er in sein Auto und kramte nach dem Namen und der Adresse des Arztes, der seine Mandantin nach der vorgeblichen Vergewaltigung durch den Einbrecher untersucht hatte.

Die Praxis lag ganz in der Nähe, nur ein paar Straßen weiter. Dr. Robert Freymann der Name.

In den Sechzigern fing jeder an, sich für jeden zu interessieren.

Andy Warhol

Januar 1969

Seit einer Stunde saß Paul in einer Bar an der Park Avenue und wartete auf Mark. Um pünktlich hier zu sein, war er losgehetzt wie ein Irrer, und weil es nicht anders ging, hatte er sich außerdem einen Job entgehen lassen. Nun hockte er hier und bestellte sein viertes Bier.

Er hätte es lockerer genommen, wäre Mark nicht ein notorischer Zuspätkommer gewesen. Eine seiner vielen schlechten Eigenschaften. Hätte Mark sich erkennbar darum bemüht, zur vereinbarten Zeit am vereinbarten Ort zu sein, hätte Paul ihm das Warten auch mal verziehen. Aber Mark beanspruchte das Recht auf ein eigenes Zeitsystem. Was ihn nicht davon abhielt, Verabredungen mit fester Uhrzeit zu treffen. Und Paul fiel jedes Mal darauf herein. Andere sicher auch. Pat hatte sich jedenfalls immer und immer wieder darüber beklagt, und nun waren sie geschieden.

Er bezahlte und wechselte dabei einen Schein, um Münzen für das Telefon zu haben.

«Schöne Hände», sagte die Frau hinterm Tresen, als er ihr ein Trinkgeld rüberschob.

Leider konnte Paul vom Telefon aus den Gastraum nicht im Auge behalten, und er fürchtete, Mark würde genau jetzt zur Tür hereinkommen, ihn nicht sehen und seinerseits wieder abdrehen. Er ließ das Telefon eine Weile klingeln. Für wen auch immer, für die Katze, für die Bilder an den Wänden.

Weil ihm anschließend nichts Besseres einfiel, machte er sich auf den Weg zu Marks Apartment. Es war bitterkalt und inzwischen auch dunkel, und während er im Gehen seine gefütterten Handschuhe überzog, fragte sich Paul, ob diese Freundschaft eine Zukunft hatte. Es war ja nicht nur die Unzuverlässigkeit. Auch die cholerischen Anfälle, die groteske Selbstbezogenheit und vor allem die komplett außer Kontrolle geratene Paranoia machten den Umgang mit Mark zu einer Achterbahnfahrt, die immer weniger Spaß brachte. Aber er hoffte immer noch, dass sein alter Mark eines Tages zurückkehren würde. Der charmante, großzügige, witzige, talentierte Mark Shaw.

Nicht mehr weit von Marks Haus entfernt hörte Paul einen grässlichen, geradezu ekelhaften Schrei. Direkt hinter sich. Er fuhr herum, die Hand an einer Waffe, die er nicht mehr hatte. Der Schrei war nicht von oben gekommen, nicht aus einem Haus, er hatte ihn direkt hinter sich verortet. Aber da war niemand. Er ging ein paar Schritte zurück bis zu einer Gruppe silbergrauer Mülltonnen, die an der Bordsteinkante standen, als hätten sie sich in einer ausweglosen Situation hilfesuchend aneinandergekuschelt. Zwei strubbelige Katzen sprangen zwischen ihnen hervor, oder eine Katze und ein Kater, und hätte er doch eine Pistole gehabt, hätte Paul sich jetzt vor Schreck in den Fuß geschossen.

Bei Mark brannte Licht. Wie erwartet. Treppen waren Paul lieber als Fahrstühle, und so stieg er nach oben und klingelte an Marks Tür. Niemand öffnete.

Drei Möglichkeiten: Entweder Mark war zu Hause und aufgrund von Damenbesuch indisponiert (typisch), oder Mark war zu Hause und pennte seinen sporadischen valiumunterstützten Erschöpfungsschlaf (auch typisch), oder Mark war nicht zu Hause und hatte einfach nur das Licht brennen lassen. Mit geschulter Hand rüttelte Paul leicht an der Tür und ließ dann ein festeres Stück Papier, die Bordkarte von seinem Flug, die noch in der Manteltasche steckte, den Türschlitz entlanggleiten. Die Tür schien nicht verriegelt. Die meisten Menschen in New York verriegelten ihre Tür auch dann, wenn sie zu Hause waren, ganz bestimmt aber, wenn sie die Wohnung verließen. Option Nummer drei wirkte damit unwahrscheinlich.

Nun, da es kein Wiedersehen mit Mark zu geben schien, leistete Paul sich ein Taxi und ließ sich vor Le Club absetzen. Dass es dafür eigentlich noch etwas früh war, erwies sich als Glücksfall, denn Oleg saß mit dem Geschäftsführer an einem der Tische zu einer Besprechung, und Oleg zu sehen war jetzt fast so gut, wie Mark zu sehen, vielleicht sogar besser, denn im Gegensatz zu Mark war Oleg notorisch gut gelaunt. Außerdem war er sicher nicht oft vor Ort, denn der Club war nur eine Art Hobby, das er zusammen mit seinem Bruder Igor betrieb. Hauptberuflich war Igor Klatschkolumnist und Oleg Modedesigner. Er stand auf, ging auf Paul zu und umarmte ihn.

«Paul. Mein Lieber! Wie schön, dich zu sehen. Wie schön!»

Nichts an diesen in Olegs rollendem, leichtem Singsang vorgetragenen Worten war Gastgeberroutine, er strahlte und freute sich, und das rührte Paul jetzt so sehr, dass ihm eine Träne die Sicht auf Olegs gepflegte Erscheinung verwischte. Oleg ließ Paul einen Drink bringen und wies den Barkeeper an, diesen Mann für den Rest des Abends als Gast des Hauses zu behandeln.

«Paul, erzähl, was treibst du?»

«Ich bin zurückgezogen nach Ohio.»

«Ohio? Da kommst du her?»

«Nicht jeder hat so eine schillernde Biographie wie du, Oleg. Bin aber viel unterwegs.» Paul zog seine Handschuhe aus und legte die Hände nebeneinander auf den Tisch. «Das ist aktuell mein Kapital.»

Fachmännisch musterte Oleg Pauls Hände. «Nach Arbeitspranken sehen die aber nicht aus.»

«Doch. Ich verdinge mich als Handmodell.»

Hatte Paul schon geahnt, dass Oleg darüber in Verzückung geraten würde. Sein sonst etwas verhangener Blick öffnete sich, die fein geschwungenen Lippen unter dem feinen Menjoubärtchen zogen sich weit nach oben, er lachte. Wenn Oleg sich freute, wollte man immer wieder sehen, wie Oleg sich freute. Wenn Oleg sich freute, freute er sich mit jeder Faser. «Ist das wahr?»

«Ich bin schon lange nicht mehr beim Secret Service, und irgendwas muss ich ja machen. Aber ich plane, eine Filmproduktion zu gründen.»

«Das klingt gut, Paul, es ist sicher gut, dass du jetzt etwas anderes machst. Du musstest dich lösen. Wie geht es Mark? Siehst du ihn noch?»

«Lustig, dass du fragst. Er hat mich eben gerade versetzt.»

Traurig schüttelte Oleg den Kopf. «Nie höre ich Gutes von Mark. Es muss sich etwas ändern, er rast auf einen Abgrund zu.»

«Meinst du, es ist so schlimm?»

«Meinst du nicht?»

«Ich habe ihn eine Weile nicht gesehen. Aber ich verstehe es nicht. Mark hat alles, was man sich wünschen kann. Kann man als Fotograf mehr erreichen? Na gut, seine Ehe ist gescheitert. Dafür hat er jetzt unzählige Freundinnen. Ich an seiner Stelle würde mich glücklich schätzen.»

«Weißt du, Paul, es ist eine komische Sache mit dem Glück.» Jetzt blickte Oleg nachdenklich, er legte den Kopf schräg und die Stirn in Falten. Das ist wohl der Blick, mit dem er Grace Kelly, Lana Turner und Rita Hayworth rumbekommen hat, dachte Paul. Warum nur geriet er immer und überall in den Dunstkreis der größten Frauenhelden, die in diesem Land herumliefen? Mit einer ausladenden Geste setzte Oleg hinzu: «Wie bei diesem Kinderspiel, weißt du, Topfschlagen, wo man blind mit einem Löffel in der Gegend herumhaut, und alle gucken zu und rufen: kalt, kalt, wärmer, wieder kalt, eiskalt! Und wenn die anderen Kinder gemein sind, oder dumm, führen sie einen in die falsche Ecke.»

«Ich weiß nicht, Oleg. Man sucht doch nicht blind nach dem Glück, man hat keine Binde vor den Augen.»

Oleg schnippte die Finger und rief triumphierend: «Aber du weißt nicht, wie das Glück aussieht oder wo du es suchen sollst!»

«So schwierig ist das doch nicht. Der gute Drink hier, der macht mich glücklich. Und vielleicht auch der Anblick der schönen Frau, die da gerade reingekommen ist.»

Oleg folgte Pauls Blicken und nickte der Frau zu.

«Drinks und schöne Frauen hat Mark genug. Und dann hat er auch noch Doktor Max und seinen sprudelnden Glücksbrunnen. Trotzdem ist er nicht glücklich, nicht einmal zufrieden!»

Paul stöhnte. «Hör mir auf mit Doktor Max. Das ist kein Glücksbrunnen sondern eine Heimsuchung. Ein Monster ist der, wenn du mich fragst.»

«Völlig richtig, aber hast du es mal probiert?»

«Seine Wunderspritze?»

«Das ist ein unglaubliches Gefühl!» Oleg beugte sich über den Tisch und raunte: «Wie ein Orgasmus, der aber viel länger anhält und dich nicht müde zurücklässt, sondern voller Tatendrang!»

«Jaja, ich weiß. Hab ich oft genug gehört.»

Nichts reizte Paul an einem Superorgasmus aus der Kanüle des verrückten Doktors.

«Sieh mich an», sagte Oleg, und Paul sah ihn an. Die kunstvoll pomadisierte Stirnlocke, die ausgewählte, perfekt sitzende Krawatte aus feinster Seide. «Ich jage auch dem Glück hinterher. Warm, kalt, warm, kalt. Ich glaube, ich mag diese Temperaturwechsel. Vermutlich gefällt es mir, im Kreis zu krabbeln, und alle rufen mir etwas zu. Was soll ich auf den Topf hauen? Dann wäre das Spiel für mich vorbei, ist es nicht so? Wie wäre es, wenn ich dir gleich mal die schöne Frau vorstelle, die da hereingekommen ist? Sie ist eine Miss Germany!»

 

Zu früh erwachte Paul von etwas höchst Merkwürdigem, etwas, das auf der Lehne des breiten und durchaus bequemen Sofas veranstaltet wurde, auf dem er sich wiederfand. Vorher war da schon dieses klackernde Geräusch gewesen, das er noch in seinen Traum eingearbeitet hatte. In dem Traum hatte er in einem geräumigen Indianerzelt gewohnt, das keinen Ausgang hatte, und das Geklacker war von einem eigenartigen Wesen verursacht worden, halb Frau, halb Heuschrecke. Die Augen zu öffnen schien ihm eine furchtbare Zumutung, aber das Geraschel in unmittelbarer Nähe seines Körpers war nun doch zu seltsam, wie sollte er das ignorieren? Gerade als er das dachte, hörte es auf. Dafür hörte er wieder das Klackern, diesmal entfernte es sich. Durch ein halb geöffnetes Auge sah er, wie ein weißer Kakadu den Raum, in dem er lag, zu Fuß durch die Tür verließ. Paul beschloss, das Auge schnell wieder zu schließen.

Vielleicht war er noch einmal eingeschlafen, er war sich nicht ganz sicher, aber jetzt saß Miss Germany neben ihm auf einem Sessel, und es roch nach Kaffee.

«Kaffee?», fragte sie.

Gestern hatte sie ihr Haar hochgesteckt, heute fiel es ihr haselnussbraun über die Schultern. Gestern waren ihre Augen schwarz umrandet und mit einem dicken geschwungenen Lidstrich gekrönt gewesen, heute waren sie ungeschminkt und grüngrau gesprenkelt. Ohne Make-up sah sie zehn Jahre jünger aus. Sie hatte einen Pickel neben der Nase, einen auf der Stirn und eine kleine Lücke zwischen den Vorderzähnen. «Vielen Dank.» Er nahm zur Kenntnis, dass er zwar bei dieser Frau zu Hause aufgewacht, aber vollständig bekleidet war.

«Ist es möglich, dass vorhin ein Kakadu hier drin war?»

«Hat er Sie geweckt?»

«O.k., dann habe das schon mal nicht geträumt.»

«Sie können in Ruhe Ihren Kaffee trinken, und wenn Sie mögen, ist auch noch ein Bagel da, aber in einer halben Stunde muss ich los.»

«Verstehe.»

«Möchten Sie vielleicht eine Aspirin?»

Paul setzte sich auf, nahm einen Schluck Kaffee und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. «Das ist ein sehr guter Kaffee.»

«Ich weiß.»

«Entschuldigung – was genau mache ich hier?»

«Sie wussten letzte Nacht nicht, wo Ihr Hotel ist. Wir wollten uns ein Taxi teilen, und dann wussten Sie nicht, wohin. Sie wirkten sehr derangiert.»

«Ist das wahr? Oh Gott. Das klang bestimmt wie ein billiger Trick, um mitgenommen zu werden. Oder, noch schlimmer, vielleicht war es ein billiger Trick, um mitgenommen zu werden.»

«Vielleicht.»

«Ich entschuldige mich. Ich darf mich nicht so betrinken. Kann ich mal telefonieren?»

Er folgte Miss Germany durch einen Flur in ein anderes Zimmer, in dem sich einiges an Kunst, Bildbänden und eine wirklich imposante Schallplattensammlung befanden.

«Sie haben aber viele Platten.»

«Die gehören meinem Verlobten.»

«Ach so. Und wo ist der?»

«Auf Geschäftsreise. Sehen Sie, da steht das Telefon.»

Während sie langbeinig das Zimmer verließ, nahm Paul den Hörer und wählte Marks Nummer. Diesmal wurde abgenommen, aber es war nicht Mark, der ranging, es war seine Exfrau, Pat. Sie klang aufgelöst.

Mark war tot. Ein Assistent hatte ihn in seiner Wohnung gefunden. Er hatte Pat benachrichtigt, und nun war Mark in die nahe gelegene Universitätsklinik transportiert worden, Abteilung Kühlraum. Im Totenschein stand «Herzversagen».

Nachdem Paul aufgelegt hatte, kam eine Katze zur Tür herein, ihr folgte mit klackernden Schritten der weiße Kakadu. Beide sprangen sie zu ihm aufs Sofa. Dort streckte die Katze sich aus, der Vogel wippte von einem Beinchen aufs andere, legte den Kopf schief und sah ihn mit freundlicher Anteilnahme an. Paul streckte die Hand aus und kraulte ihn.

«Tut mir leid, er ist immer so neugierig.» Miss Germany stand in der Tür.

«Wer?»

«Winnetou.»

«Der Kakadu?»

«Ja. Er verfolgt Sie.»

«Das stört mich nicht. Wie heißt der?»

«Winnetou.»

«Bedeutet das irgendwas?»

«Winnetou ist ein berühmter Indianer.»

«Nie gehört. Von welchem Stamm?»

«Apachen. Ich hole Ihnen jetzt Aspirin und eine Vitamintablette. Sie sehen wirklich blass aus.»

Als sie mit ihren Pillen und einem Glas Wasser zurückkam, saß Paul ganz aufrecht auf dem Sofa und hielt sich mit beiden Händen an der Lehne fest.

«Ich muss zum Flughafen», sagte er.

«Okay. Dann gehen wir gleich zusammen raus.»

«Mir ist nur grad bisschen schwindlig.» Er nahm die beiden Tabletten, die eine Aspirin, das andere ein gestaltloser Klumpen, und spülte beides mit Wasser herunter. Der Kakadu war zum Regal geflattert und saß oben auf den Fotobildbänden, sein knorpeliger linker Fuß krallte sich in ein schmales blaues Exemplar, von dem Paul gleich erkannte, was es war, ohne den Titel zu lesen. Von den Büchern in den Reihen darunter waren einige auf Deutsch, und auf gleich drei Buchrücken stand der Name des Vogels: Winnetou. Paul kam dies alles auf einmal noch unwirklicher vor. War er tatsächlich in dieser Wohnung erwacht und aufgestanden? In der Vergangenheit hatte sich diese Art Zweifel schon oft bestätigt: Er träumte dann wirklich. Wenn es jetzt auch so ist, dachte er, muss ich eigentlich nichts weiter tun. Ich kann einfach warten, bis ich aufwache, dann rufe ich in der echten Wirklichkeit noch mal bei Mark an, er wird abnehmen und entweder beduselt in den Hörer lallen oder aufgeputscht monologisieren, beides prima, beides besser als tot.

Vage Erinnerungen an die Nacht stellten sich ein, auch die eher unwirklich. Wie Miss Germany neben ihm saß, und wie sie ihm plötzlich und intensiv etwas bedeutete, etwas Tröstliches, etwas Vertrautes, etwas, das er gesucht hatte, ohne sich darüber im Klaren zu sein, und was vielleicht am meisten an dem Duft lag, den sie verströmte, auch jetzt roch er es wieder, aber schwächer als vorher im Le Club.

Nein, er war wach. Er war wach, und Mark war tot.

Er stand auf und zog dem Vogel das Fotobuch unter der Kralle weg, worauf der sein verlorenes Gleichgewicht auf Pauls Hand suchte und ihr dabei ein paar Kratzer beibrachte. Mit dem Buch in der Hand musste Paul sich wieder setzen, er starrte auf die Rückseite, strich mit den Daumen über das Foto, auf dem Mark mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einer Sessellehne im Oval Office des Präsidenten saß. Des Präsidenten, der auch tot war. Es war kein großer Zufall, dieses Buch hier zu finden, es stand in den Regalen vieler amerikanischer Haushalte. Eine ganze Weile betrachtete Paul stumm das Bild. Miss Germany sah ihm schweigend dabei zu, dann drehte er den Band herum und schaute die Vorderseite des Buches an.

The John F. Kennedys

Darunter ein Foto von Jack, Jackie und Caroline in Hyannis Port.

By Mark Shaw, A Family Album.

«Stimmt es, dass Sie dabei waren?», fragte Miss Germany.

«Hier? Könnte sein.»

«Ich meine, in Dallas.»

Er sah sie an. Sie war ein normales, hübsches Mädchen mit einer Zahnlücke und ein paar Hautunreinheiten. «Sind Sie wirklich eine Miss Germany?»

«Hat Oleg das gesagt?»

«Hat er gesagt.»

Sie verdrehte die Augen. «Ich bin aus Deutschland und noch nicht verheiratet. Insofern bin ich vielleicht eine Miss Germany. In meiner Heimatstadt war ich mal ‹Miss Funkausstellung›, vielleicht meinte er das.»

«Miss was?»

Sie winkte ab.

«Ich muss zum Flughafen», sagte er und blieb sitzen. Dabei spürte er, wie es ihm langsam, ganz angenehm langsam, besser ging. Wie der Schock sich löste und er wieder denken konnte.

«Ja, ich war dabei», sagte er und betrachtete seine zerkratzte Hand.

«Oje», sagte das Mädchen aus Deutschland. «Soll ich eine Wundcreme holen?»

«Geht schon, ich ziehe gleich meine Handschuhe drüber.»

«Und Sie wissen jetzt, wo Ihr Hotel ist?»

«Das weiß ich. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Sie sind wirklich überaus freundlich.»

Unten vor dem Haus sah Paul sich um. Natürlich wusste er, wo sein Hotel war, aber er wusste nicht, wo er sich gerade befand. Er sah nur, dass es sich um eine gute Gegend handelte, Stadthäuser mit großzügigen Aufgängen säumten eine ruhige, mit Bäumen bestandene Straße. An der nächsten Ecke stellte er mit einem Blick aufs Straßenschild fest, dass er westlich vom Park gelandet war. Danach versuchte er gar nicht erst, seinen Flug noch zu erwischen. Er ging auch nicht zum Hotel, obwohl er das Zimmer räumen musste. Stattdessen machte er sich auf zu Pat.

Ein kleiner Junge öffnete die Tür. Das war wohl David, auch wenn Paul in seinem Gesicht wenig von Mark erkennen konnte. Pats japanische Züge hatten sich einfach stärker durchgesetzt. Sie telefonierte gerade, und während sie das tat, stieg David mit einem Jo-Jo in der Hand hinter ihr aufs Sofa, ließ das Jo-Jo rauf- und runtersausen und sagte: «Mein Daddy ist tot.»

«Kann ich das auch mal versuchen?», fragte Paul. Die Frage überraschte den Jungen. Er sah Paul mit offenem Mund an, dann händigte er ihm wortlos das Jo-Jo aus. Nach zwei bis drei Versuchen war das Gespür für die minimale Bewegung zurück, die dafür sorgte, dass sich das Jo-Jo immer wieder aufrollte. Eine eigenartige Freude, die sich im ganzen Körper ausbreitete, doch der Junge wollte sein Spielzeug zurück, und Pat beendete ihr Telefonat. Während sie ihn umarmte, vermisste Paul die Schwingung des Jo-Jos, die ihn gerade so angenehm hypnotisiert hatte.

«Entschuldige. Aber das war jemand von der Rechtsmedizin.»

«Und was wollte der?»

«David, gehst du mal in dein Zimmer spielen? Mama hat hier etwas zu besprechen.»

«Ich möchte nicht in mein Zimmer. Ich möchte fernsehen.»

Pat drehte am Fernseher herum, bis sie einen Zeichentrickfilm gefunden hatte, dann verließen sie und Paul den Raum und setzten sich in die Küche. Pat atmete durch und schloss kurz die Augen.

«Die Sache ist die.» Sie faltete ihre schmalen Hände vor sich auf dem Tisch. «Wenn jemand zu Hause stirbt, dann muss ein Rechtsmediziner kommen. So ist das Procedere. Da kam also dieser Rechtsmediziner an und hat sich Mark», sie atmete wieder durch, «hat seinen Leichnam angesehen. Er wollte von mir wissen, ob Mark Herzprobleme hatte. Ich wusste nichts darüber und schlug vor, bei seinem Arzt anzurufen. Der Mann rief also bei Dr. Max an, aber Max war nicht da, gar nicht im Land, er ist gerade in Europa. Dann fragte er mich, was die vielen Einstichstellen zu bedeuten hätten.»

Paul nickte. Die Einstichstellen. Wenn Mark behauptete, er spritze sich ein- bis zweimal die Woche, dann lag die Wahrheit eher bei drei- bis viermal. Oder öfter. Man entdeckte es erst, wenn man genauer hinsah, winzige Punkte, überall.

«Ich sagte, das waren die Vitaminspritzen von Dr. Max Jacobson. Da guckte der natürlich etwas komisch. Ich habe versucht, es ihm zu erklären, dass Mark immer viel gearbeitet hat und dass er da manchmal eben einen extra Energieschub brauchte. Das alles, du weißt ja. Dann hat der Arzt Herzversagen als Todesursache eingetragen, und dann wurde Mark, sein Körper, in die Leichenhalle der Universitätsklinik gebracht. Weil es halt die nächste Klinik ist.»

Vom Nebenraum waberten Zeichentrickfilmgeräusche zu ihnen herüber.

«Und nun rief eben gerade der vorgesetzte Pathologe von der Rechtsmedizin an und fragte, ob ich wüsste, warum ein Anwalt eingeschaltet worden ist. Davon wusste ich aber gar nichts, ich dachte, vielleicht eine Verwechslung.»

«Aha?»

«Er sagte, nein, die Familie hätte einen Anwalt eingeschaltet, und der hätte sich gerade bei der New Yorker Gerichtsmedizin gemeldet und darauf bestanden, dass die Familie keine Autopsie wünsche. Dabei war gar keine Autopsie veranlasst worden! Und ich habe wie gesagt mit keinem Anwalt gesprochen, und bislang auch noch mit niemandem aus Marks Familie!»

«Moment, Moment.» Paul atmete durch und massierte sich die Schläfen. Bis hierher hatten die Aspirin und dieser Vitaminklumpen, die ihm die freundliche Miss Germany vorhin verabreicht hatte, außerordentliche Dienste geleistet, er hatte sich frei und klar und wach gefühlt, aber jetzt hämmerte ihm wieder der Schädel. Er wollte Pat etwas fragen, hatte aber vergessen, was. Stattdessen fragte er nach einer Aspirin.

«Du hast gesoffen letzte Nacht.»

«Sieht man mir das an?»

«Man sieht und riecht es.» Sie stand auf und kam dann mit allerhand Zeugs wieder zurück. «Hier erst mal die Aspirin. Und dann würde ich dir noch das empfehlen.» Sie legte ihm zwei dicke, unförmige Pillen auf den Tisch, eine spinatgrün, die andere ockergelb. Die Gelbe sah aus wie die, die er vorhin schon geschluckt hatte, in Gegenwart des weißen Kakaduindianers.

«Sind das Pillen von Max?»

«Von Max kenne ich nur Spritzen. Die sind von einem anderen Arzt, auch ein Deutscher komischerweise, Dr. Freymann.»

«Und was sind das für Pillen?»

«Vitamine. Enzyme, Mineralien, Substanzen, Konzentrate, was weiß ich, die helfen einfach ganz phantastisch gegen Kater.»

«Entschuldige, Pat, jetzt bitte noch mal. Also, der Typ von der Gerichtsmedizin ruft dich an und sagt was? Ein Anwalt hätte ihn kontaktiert?»

«Ein Anwalt, der behauptet, im Auftrag der Familie einer Obduktion zu widersprechen, obwohl die Familie noch gar nichts weiß von einer Obduktion.»

«Aber wer hat den dann eingeschaltet?»

«Paul, ich habe mit dir gesprochen und mit der Arztpraxis. Das war’s.»

«Darf ich mal das Telefon benutzen? Ich muss dringend meinen Flug umbuchen.»

 

Zu verwirrt und erschöpft, um noch irgendetwas zu unternehmen, hatte Paul sich auf den Weg in sein Hotel gemacht, um sich dort in die Bettdecke zu wickeln und Gnade zu finden in der Dunkelheit. Das Hotel war ihm ziemlich leer erschienen, es würde sicher kein Problem sein, die Buchung zu verlängern. Doch als er sich endlich auf seinem Bett ausgestreckt hatte, merkte er, dass nicht nur die tiefe Erschöpfung verschwunden, sondern dass er hellwach war. Keine Müdigkeit, kein Kater, und auch keine Traurigkeit.

Er setzte sich auf und wackelte mit den Zehen. Dann zog er sich wieder an und stieg die Treppen hinunter in die Hotellobby, um zu telefonieren.

«Pat, ich bin’s noch mal. Entschuldige die Störung. Ich dachte nur gerade, wenn du außer mit mir nur mit der Praxis von Dr. Max über Marks Tod gesprochen hast, dann muss der Anwalt wohl von Dr. Max beauftragt worden sein. Einzige Möglichkeit.»

«Nur dass Max gar nicht da ist.»

«Auch in Europa gibt es Telefone. Und Telex. Hast du die Nummer von diesem Pathologen, der dich heute angerufen hat, von der New Yorker Rechtsmedizin?»

Unwahrscheinlich, dass bei der Gerichtsmedizin am Sonntagabend jemand ans Telefon gehen würde, aber er versuchte es trotzdem.

«Forensische Pathologie, Dr. Michael Baden am Apparat.»

«Dr. Baden, mein Name ist Paul Landis. Ich bin ein Freund von Mark Shaw und seiner geschiedenen Frau, mit der Sie sich heute in Kontakt gesetzt hatten, Mrs. Pat Suzuki. Sie hat mir Ihre Nummer gegeben.»

«Ah! Aha? Tatsächlich sitze ich wegen genau dieser Sache hier, um diese Uhrzeit am Sonntag zur Abendessenszeit, meine Frau ist nicht gerade begeistert. Was kann ich für Sie tun?»

«Es ist wegen dieser Sache mit dem Anwalt, der sich bei Ihnen gemeldet hat. Ich war gestern Abend mit Mark Shaw verabredet. Er ist nicht erschienen, deshalb habe ich heute bei ihm angerufen und hatte dann Pat dran. Ich bin dann auch gleich zu ihr, das war gerade, als sie mit Ihnen telefonierte. Wir waren beide etwas ratlos darüber, woher bloß dieser Anwalt kommen sollte, denn Pat hatte überhaupt noch niemandem Bescheid gesagt.»

«Und? Was denken Sie?»

«Von der Logik her kommt eigentlich nur die Praxis von Dr. Jacobson in Frage. Denn die waren ja informiert.»

«Dr. Jacobson ist wer?»

«Mark Shaws Arzt.»

«Warum sollte der einen Anwalt losgeschickt haben?»

«Da fragen Sie mich was.» Paul lehnte sich gegen die Wand. Die in dunklen Grüntönen gehaltene, ausgestorbene Lobby war fahl beleuchtet, und das ebenfalls grüne «Exit»-Leuchtschild flackerte mit leisem Knistern vor sich hin.

«Max Jacobson ist ein etwas spezieller Arzt, würde ich sagen. Für Mark war er eine Art Guru. Er rannte ständig zu ihm in die Praxis und konnte stundenlang über ihn reden. Er hat ihn sogar zum Patenonkel seines Sohnes gemacht.»

«War Mr. Shaw krank?»

«Nein, er hatte nichts, das ist ja die Sache. Die Leute, die meisten, gehen nicht zu Dr. Jacobson, weil sie krank sind.»

«Sondern?»

«Weil sie sich noch besser fühlen wollen als nur gut. Belastbar, dynamisch, selbstbewusst. Verjüngt!»

«Und das macht Dr. Jacobson wie?»

«Mit Spritzen.»

«Was für Spritzen?»

«Genau darüber hätte Mark Ihnen jetzt einen endlosen Vortrag halten können. Ich habe da irgendwann nicht mehr zugehört, aber es ist wohl eine besondere Mischung aus Vitaminen und Enzymen und so Zeugs. Und das wird dann auch noch energetisiert mit irgendwelchen Mineralien, die vorher bestrahlt wurden oder was, fragen Sie mich nicht, aber Dr. Jacobson betreibt dazu ein eigenes Forschungsinstitut, die Constructive Research Foundation, und die arbeiten sogar für die NASA.» Es blieb still in der Leitung, das Schild flackerte und surrte. «Dr. Baden? Sind Sie noch da?»

«Jaja. Das ist hochinteressant. Ich überlege. Dass Mr. Shaw Spritzen bekommen hat, habe ich hier auch in den Unterlagen. Das hatte der Kollege schon vermerkt, wegen der vielen Einstichstellen. Wissen Sie, das Bemerkenswerte ist, es wird ja nicht einfach so eine Autopsie veranlasst. Wird eher selten gemacht. Aber da nun dieser Anwalt angerufen hat – kennen Sie solche komödiantischen Filmszenen, in denen jemand im Übereifer genau das verrät, was er nicht verraten will? Also, so was wie, der Polizist sagt zum Autofahrer: ‹Sie sind etwas zu schnell gefahren, ich verwarne Sie, drosseln Sie Ihr Tempo›, und darauf lallt der Autofahrer: ‹Das werde ich machen, Herr Wachtmeister, aber ich habe nichts getrunken! Wirklich! Bei der Party, von der ich gerade komme, habe ich gar nichts getrunken, auch nicht diesen absolut hervorragenden Gin Fizz, den habe ich auch nicht getrunken, keine vier großen Gläser habe ich davon getrunken, ehrlich!› – Wissen Sie, was ich meine?»

Dr. Baden hatte sich wirklich reingehängt in diese Filmszene, mit verstellten Stimmen und allem, Paul war beeindruckt.

«Ich weiß genau, was Sie meinen, Dr. Baden. Wenn der Ehemann zur Tür reinkommt und die Frau stellt sich gleich vor den Schrank, in dem sich der Liebhaber versteckt hält, und der Mann fragt: ‹Warum stehst du da so komisch vor dem Schrank?», und sie antwortet: ‹Ich? Vor dem Schrank? Vor welchem Schrank?› So etwas!»

«Exakt! Sie verstehen mich, Mr. Landis. Und genau wegen dieses Verhaltens möchte ich nun überhaupt erst eine Autopsie vornehmen!»

«Können Sie mir den Namen dieses Anwalts nennen, der Sie da angerufen hat?»

«Oh, da müsste ich jetzt nachsehen, aber ich weiß, dass er aus Louis Nizers Kanzlei war, also vom Allerfeinsten, warten Sie …»

Es raschelte in der Leitung. Von Louis Nizer, soso. Der hatte auch Oleg schon mal vertreten. Und er hatte das Vorwort zum Abschlussbericht der Warren-Kommission geschrieben, dem Bericht zum Attentat. Paul wünschte, er würde mal für ein paar Stunden nicht daran denken müssen. An den ersten, unklaren Knall, als er noch dachte, da sei vielleicht ein Reifen geplatzt. Daran, wie der Präsident nach einem zweiten Knall langsam zur Seite kippte, wie sein Kollege Clint von ihrem Wagen auf die Limousine des Präsidenten rübersprang, und vor allem daran, wie der Kopf des Präsidenten nach dem dritten Knall zerplatzte. Wie Jackie aufs Heck kletterte und wieder zurück, wie sie losrasten bis zu einem Krankenhaus, wie er dort bei der zitternden Jackie saß, die nicht merken sollte, dass er selbst zitterte. Sein Job war es gewesen, genau das zu verhindern, was gerade passiert war. Etwas mehr als fünf Jahre war das jetzt her.

Auf Anraten eines Psychologen war er mal dorthin zurückgekehrt, nachdem er schon aufgehört hatte beim Secret Service. Er hatte sich ins Gras an der Plaza gesetzt und sich der Erinnerung gestellt. Hatte ihm nicht groß was gebracht. Nichts hatte etwas gebracht. Tatsächlich war all die Jahre Mark seine größte Hilfe gewesen.

«Simon Rose.» Dr. Baden war zurück am Telefon. «Simon Rose von der Kanzlei Phillips, Nizer, Benjamin, Krim & Ballon. Teuerste Kanzlei der Stadt.»

«Es könnte schon sein», sagte Paul aufs Geratewohl, «dass der auch Dr. Jacobson vertritt. Würde mich jedenfalls nicht wundern.»

«Wir machen die Autopsie.»

Nach dem Gespräch holte Paul seinen Mantel aus dem Zimmer und lief beschwingten Schritts durch die kalte Nacht, bis er eine Bar gefunden hatte. Er setzte sich an den Tresen, bestellte einen Drink und fing ein Gespräch mit dem Mann auf dem Nebenhocker an, der eine teure Uhr trug und Whisky auf Eis trank. Bis spät in die Nacht unterhielten sie sich über das Fernsehprogramm, Football, Richard Nixon und woher der dicke rote Kratzer auf Pauls ansonsten so perfekt gepflegten Händen stammte. Paul erzählte vom Kakadu mit dem Indianernamen. Danach schlenderte er zurück ins Hotel, legte sich aufs Bett und wackelte weiter mit den Zehen, was ebenfalls ganz unterhaltsam war.

Und die französische Zeitung «Le Figaro», die selber eine ausgedehnte Jugend-Enquete veranstaltete, kam zu dem Schluß, die Jugend sei zu einer eigenständigen sozialen Kategorie «wie die Arbeiterklasse oder die Bauernschaft» ausgereift: «Vor dem Ersten Weltkrieg gab es ‹Jugend› nicht … Es gab junge Leute … Und das Vorbild blieb der Erwachsene. Heute ist es fast umgekehrt.»

Der Spiegel, Oktober 1967

1967

Für die Einladung zum Essen bei Gloria zog Mona ihr lila Wollkleid an, zu dem sie nun endlich auch ein passendes Unterkleid besaß. Sie hatte es vor ein paar Tagen bei Macy’s gekauft, ein Kompromiss zwischen den sehr edlen Seidenmodellen und den billigen, weniger schönen. Der Stoff war wunderbar, aber die Farbe, ein unauffälliger Hautton, gefiel ihr nicht ganz so gut, was bei einem Unterkleid vielleicht nicht so wichtig war.

Danach hatte sie noch die Parfümabteilung besucht. Bei einem Vorstellungstermin war ihr vor kurzem eine Frau begegnet, im Alter ihrer Mutter vielleicht, eine sehr elegante Amerikanerin von eindrucksvoller Präsenz. Sie trug einen leichten Duft, und Mona kam es so vor, als mache dieser Duft ganz maßgeblich ihre Ausstrahlung aus. Ihr wurde klar, dass sie unbedingt ein Parfüm brauchte. Dass Parfüm so teuer ist, hatte sie aber nicht erwartet. Außerdem war es schwierig, sich über das Angebot zu informieren. Die Verkäuferinnen an den verschiedenen Ständen nebelten sie aus ihren Flakons ein, bis Mona die einzelnen Düfte überhaupt nicht mehr auseinanderhalten konnte. Hier und dort bekam sie auch ein winziges Probefläschchen zugesteckt, aber es schien ihr am Ende sinnlos, sich noch weiter mit Flüssigkeiten vollsprühen zu lassen, die sie sowieso nicht bezahlen konnte, und so wanderte sie, ohne stehen zu bleiben, an den restlichen Parfümtresen vorbei.

Kurz bevor die Parfüm- in die Schmuckabteilung überging, fiel ihr der schlichte kleine Tresen einer ihr bislang nicht bekannten Marke auf, an dem ruhig eine Frau stand, die nicht aussah wie die anderen Parfümdamen. Sie hatte weit auseinanderliegende Augen wie Jackie Kennedy und eine Nase wie Sophia Loren, aber ihre Frisur und ihr Aufzug wirkten ganz aus der Zeit gefallen, wie ein im Originalzustand konservierter Filmstar aus den dreißiger Jahren. Sie schien Mona zu fixieren, aber als die näher an sie herankam, war sie nicht mehr sicher, wo die Frau eigentlich hinsah. Auf dem Verkaufstisch standen nur drei einfache Flakons, beschriftet mit den Etiketten «Wüste», «Ozean» und «Berlin».

«Berlin?» Mona nahm das Fläschchen in die Hand. «Das ist meine Heimatstadt. Wonach riecht denn das?»

Die Verkäuferin nahm ein kleines Stück Stoff zur Hand und gab einen Tropfen «Berlin» darauf, wobei der Blick ihres linken Auges knapp an Mona vorbeiging. Mona wedelte den Stoff vor ihrer Nase, es duftete nicht sehr intensiv, allenfalls ein wenig metallisch.

«Ich rieche kaum etwas.»

«Sie haben Ihre Nase bereits überfordert», sprach die Verkäuferin in einem eigenartigen Singsang, vielleicht kam sie aus den Südstaaten. Sie holte ein Döschen unter dem Tresen hervor, öffnete es und hielt es Mona unter die Nase. In der Dose waren Kaffeebohnen. «Riechen Sie daran.»

Mona roch das Kaffeearoma, es war eine eigenartige Wohltat.

«Kaffee neutralisiert», sagte die Verkäuferin.

Erneut hielt sich Mona den mit «Berlin» bedufteten Stoff an die Nase, es roch immer noch metallisch, aber auch nach Regen. Vielleicht nach Gewitterregen, der in eine satte Sommerhitze platzt.

«Etwas ungewöhnlich», sagte Mona. «Wie sind denn die beiden anderen?»

Wieder holte die Verkäuferin Stoffquadrate und die Kaffeedose hervor und beträufelte den Stoff, während Mona am Kaffee roch, mit «Ozean» und «Wüste». Die Art, wie sie sich bewegte, erinnerte Mona an die Gottesanbeterinnen, die sie mal im Aquarium des Berliner Zoos gesehen hatte. Beide Parfüms dufteten wunderbar. Ohne Zweifel das Beste, was Mona hier bislang präsentiert worden war, kein Vergleich zu dem, was Chanel, Dior, Lanvin, Pucci, Mary Kay, Avon oder Yves Saint Laurent anzubieten hatten. Nur leider noch teurer.

«Ich kann mich so schnell einfach nicht entscheiden, hätten Sie eine Probe von den beiden?»

«Nein.»

«Wonach riechen Sie eigentlich?», fragte Mona, denn auch von dieser Figur in ihrem Katharine-Hepburn-Aufzug ging ein sanfter, reizvoller Duft aus.

«Das haben wir leider nicht mehr im Programm, ein Restbestand.»

Ohne hinzusehen, holte sie wieder etwas aus den Tiefen ihres Verkaufstresens hervor.

«Hier. Es gibt noch diese Probe von ‹Berlin›. Sie sollten sie mitnehmen. Ich glaube, es passt am besten zu Ihnen, auch wenn Ihnen die anderen beiden jetzt zugänglicher erscheinen.» Die Probe war erstaunlich großzügig bemessen, fast so groß wie ein reguläres kleines Fläschchen von Chanel.

Zu Hause, beim Auspacken ihrer Schätze, war Mona zufrieden gewesen. Für eine Weile würde sie mit den eingesammelten Proben gut ausgestattet sein, und wenn sich nach mehrmaligem Tragen dann besser einschätzen ließ, welches Parfüm ihr wirklich gefiel, würde sie irgendwann bestimmt auch das Geld dafür haben. Es konnte ja nicht sein, dass sie zu Hause in Deutschland so viele Angebote gehabt hatte und hier nicht. Sie war doch immer noch dieselbe Mona mit demselben Gesicht und denselben langen Beinen. Irgendwann musste sie doch mal Erfolg haben.

Sie sah auf die Uhr und schaltete das Radio ein, denn es war Zeit für Sidneys Sendung. Wie immer, wenn er die Erkennungsmelodie aus Charlie Parkers «Just Friends» hörte, mit der Sidney seine Sendung begann, führte Winnetou ein eigenartiges Tänzchen auf, das so komisch war und so rührend, dass Mona extra deswegen ein Charlie-Parker-Album gekauft hatte, das sie dann allerdings im Bus hatte liegenlassen, zusammen mit einem ebenfalls frisch erstandenen Block Briefpapier und einer Packung Luftpostumschlägen. Ein paar Wochen später hatte sie sich die Platte deshalb noch einmal zu ihrem Geburtstag schenken lassen, von Sidney natürlich, aber kaum dass sie sich auf dem Plattenspieler drehte, landete Winnetou darauf und wurde zu seinem Entsetzen wild herumgekreiselt. Wie ein Rodeoreiter versuchte er, nicht vom Plattenteller hinuntergewirbelt zu werden, fand mit seinen Krallen aber keinen Halt im Vinyl und flatterte schließlich unter großem Gekreisch aus dem Zimmer. Danach war die Platte zerkratzt und voller Federn.

Seit einer ganzen Weile, seit die Hitze vorbei war und Herbst in der Luft lag, hatte sie Sidney nicht mehr gesehen, und dummerweise vermisste sie ihn manchmal. Während sie vor dem Spiegel saß und sich schminkte, erzählte er mit seiner schönen, sanften Stimme von neuen und alten Platten und spielte einen Song von Marvin Gaye, ein Liebeslied, Keep On Lovin’ Me Honey. Die Stimme gehörte neben seinem guten Geruch zu Sidneys durchaus vorhandenen Reizen. Nach dem Song redete er über die Dünen von West Hampton, was allen anderen Hörern kryptisch und zusammenhangslos, bestenfalls poetisch erscheinen musste, und dann kam Aretha Franklin und sang I Say a Little Prayer, und nachdem sie verklungen war, wiederholte Sidney mit peinlicher Inbrunst die Textzeilen Forever and ever, you’ll stay in my heart, and I will love you.

Nun ging er ihr doch wieder auf die Nerven. Nachdem sie vor fünf Minuten noch gedacht hatte, dass sie ihn eigentlich gern wieder anrufen und seine Stimme durchs Telefon hören würde anstatt durchs Radio, sich vielleicht sogar mal wieder mit ihm treffen wollte, zusammen spazieren, durch den sonnigen, herbstlichen Park, wobei er manchmal ihre Hand nehmen und im Gehen über die Handfläche streichen würde, wie er es oft tat, wusste sie jetzt wieder, warum sie darauf lieber doch verzichten wollte.

Aus der Kommodenschublade holte sie ihre Parfümprobenkollektion und überlegte, welcher Duft es für den Abend sein sollte. «Pretty Peach» von Avon hatte ihr im Laden so gut gefallen, aber beim Öffnen erschien es ihr zu aufdringlich, und sie versuchte es stattdessen mit «Special Recipe» von Mary Quant. Der Verschluss auf dem Miniflakon saß ziemlich fest, und als Mona ihn schließlich rausgeploppt hatte, sprang ihr das ganze Fläschchen aus der Hand, und «Special Recipe» ergoss sich in eine Ritze zwischen zwei Holzdielen. Schade, es roch ganz angenehm. Mona nahm die verbliebenen drei Proben in Augenschein, eine davon war das eigentümlich metallische «Berlin» von der eigentümlich verhuschten Verkäuferin aus einer anderen Zeit. Damit wollte sie eigentlich nicht in den Abend gehen, aber sie wollte noch einmal kurz daran schnuppern. Es würde zu ihr passen, hatte die Frau gesagt, aber hätte sie das auch gesagt, wenn Mona nicht gleich damit herausgeplatzt wäre, dass der Duft so hieß wie ihre Heimat?

Hier und jetzt roch «Berlin» gar nicht mehr so metallisch wie bei Macy’s, sondern, ja wie, nach Brombeere? Brombeere und Blut. Brombeeren pflücken und sich dabei am Brombeerstrauch stechen und dann Brombeeren und Blut gleichzeitig schmecken. Oder war es nur eine plötzliche Erinnerung ans Brombeerpflücken, die sie überkommen und ihrer Nase diktiert hatte, was sie riechen sollte, und der Brombeerduft kam eigentlich aus dem mit «Special Recipe» getränkten Holz heraufgestiegen, und «Berlin» roch nur nach Blut? Wie roch überhaupt Blut? Nicht doch auch metallisch? Um diesen Fragen nachzugehen, tröpfelte sie sich noch ein wenig mehr auf die Handfläche, hielt sie vors Gesicht, dachte, vielleicht riecht es doch eher staubig oder bewölkt, und verrieb den Rest schnell im Nacken, als das Telefon klingelte.

Am Apparat war schon wieder der Mann mit der brüchigen Stimme. Irgendwelche Verkabelungen im New Yorker Telefonnetz schienen Falschanrufe stärker zu befördern als an anderen Orten in der Welt. Auch ihr war es schon passiert, dass sie in einer Woche mehrmals denselben falschen Anschluss erwischte, selbst wenn sie beim wiederholten Versuch die Wählscheibe äußert sorgsam drehte, um sich nicht zu vertun. Bei dem Mann mit der brüchigen Stimme hatte sie allerdings so langsam den Verdacht, er würde sich absichtlich verwählen, denn einmal in der Leitung, ließ er sich nur schwer abwimmeln.

«Ach, Entschuldigung», sagte er anfangs noch, «bin ich schon wieder falsch verbunden? Ich frage mich wirklich, wie das sein kann, rätselhaft, nicht wahr, diese Technik, ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu sehr gestört?»

«Nicht so schlimm, ich …»

«Na, nun ist der Sommer aber wirklich endgültig vorbei, wurde ja auch mal Zeit, war auch wirklich ein Problem mit den Pflanzen bei der Hitze, nu ja, jetzt können wir uns schon wieder auf Winter einstellen, der ist ja auch nicht gerade angenehm hier. Aber ich will Sie nicht weiter aufhalten, sicher haben Sie noch was Schönes vor heute Abend, im Fernsehen kommt ja nicht viel, gestern war’s besser, aber vielleicht sehen Sie das ja auch anders, Geschmackssache, was?»

«Ja, nein, richtig, ich muss tatsächlich gleich los, auf Wiederhören.» Sie wusste inzwischen schon, dass der Mann ein Blumengeschäft am Riverside Drive betrieb.

«Na, dann wünsche ich Ihnen einen unterhaltsamen Abend, und entschuldigen Sie bitte nochmals die Störung, aber Sie wissen ja, wie das ist mit unserem Fernsprechnetz. Umwandlung von Schallwellen in elektrische Signale und wieder zurück, das hat ja auch was Unbegreifliches, finde ich nach wie vor, wo geht’s denn noch hin heute?»

«Ich bin zu einem Essen eingeladen. Ihnen ebenfalls einen guten Abend!»

Auf dem kurzen Weg des Hörers zur Gabel hörte sie noch einmal Sprachfetzen, der Mann redete offenbar unverdrossen weiter. Dann machte sie sich ausgehfertig. Zum ersten Mal verließ sie das Haus in diesem herrlichen neuen Mantel, ein edles Stück aus dicker, dunkelblauer Wolle, Glücksfund in einem Secondhandladen. Wenn es irgendetwas gab, was sie über das Ende des Sommers und die frostigen Abende hinwegtröstete, dann war es der Umstand, dass sie jetzt endlich diesen Mantel anziehen konnte, in dem sie sich sicher und behütet fühlte wie ein zufriedenes blaues Schaf. Das Radio ließ sie weiterlaufen, damit Winnetou sich weniger einsam fühlte. Als sie die Wohnung verließ, spielte Sidney gerade Chet Baker.

Auf der Treppe kam ihr Mrs. Propper entgegen und grüßte sie wie immer auf Deutsch mit «Wie geht’s, wie steht’s», während sich ihr Enkel dahinter am Treppengeländer hochzog, als könne er den Aufstieg mit den Beinen allein nicht bewältigen. Unten vor der Tür war Adam dabei, eine Coladose flachzutreten. Seine dunklen Haare flossen in einer Welle aus der Stirn heraus über den Hinterkopf, und er trug eine Sonnenbrille, obwohl die Sonne bereits hinter den Gebäuden versunken war.

«Toller Mantel», sagte er. Sie hörte es nur halb, denn wenn in ihrem Blickfeld etwas toll aussah, dann war es Adam. Vorgestern hatte sie ihn kennengelernt, erst vor wenigen Stunden hatte er ihre Wohnung verlassen, und nun holte er sie schon wieder ab, hier vor ihrer Tür, und er sah noch phantastischer aus, als sie es in Erinnerung hatte, auf eine ganz eigene, sehr New Yorker Art.

Wohin es ging, wusste Mona nicht, sie war der Gastgeberin erst zweimal begegnet. Das erste Mal bei einer Gartenparty von Sidneys Cousine auf Long Island, wozu Sidney sie vorher lange hatte überreden müssen. Sie mochte es nicht, wenn die Leute dachten, sie und Sidney seien ein Paar. Aber dann war die große Hitze über die Stadt hergefallen, wer eine Gelegenheit hatte, rauszukommen, fuhr raus, und Sidney schlug vor, dass sie im Anschluss an die Party das restliche Wochenende im Strandhaus seiner Mutter in den Hamptons verbringen könnten. Nach allem, was Mona gehört hatte, war es dort wunderschön, und schon lange wollte sie diesen Ort einmal sehen. Auf der Karte streckte sich Long Island von New York City aus nach rechts in den Atlantik hinein wie die Schnauze eines Krokodils und zerfaserte an den Seiten zu vielen kleinen Buchten und Inseln. Es war eine Region mit engem Verhältnis zum Meer.

In Sidneys Wagen fuhren sie über die Williamsburg Bridge, durch Queens und lauter unbekannte Stadtteile, wo es bald gar nicht mehr aussah wie in Manhattan, sondern wie in Filmen, die in amerikanischen Kleinstädten spielten.

Die Cousine bewohnte mit ihrem Mann eine riesige alte Villa, und die Gartenparty war bevölkert von High-Society-Figuren sämtlicher Altersgruppen. Zwischen den ganzen gebügelten Khakis und Polohemden, den teuren Loafers, Perlenketten und Seidentüchern wirkte Sidney gleich viel weniger bourgeois als sonst, fast schon leger. Er stellte Mona den Gastgebern und noch diesem und jenem alten Collegefreund vor, immer korrekt, wie von ihr eingefordert, als «eine Freundin», was von einigen dumm kommentiert wurde: «Wie viele solcher Freundinnen hast du denn, Sid?» oder: «Soll das heißen, ihr seid nicht zusammen und ich darf mit der Dame flirten?»