Drogen und soziale Praxis - Teil 2: Das Drogenthema und wie es in Berufsfeldern der sozialen Arbeit auftaucht - Gundula Barsch - E-Book

Drogen und soziale Praxis - Teil 2: Das Drogenthema und wie es in Berufsfeldern der sozialen Arbeit auftaucht E-Book

Gundula Barsch

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Beschreibung

In allen Bereichen sozialer Arbeit lassen Themen finden, die sich aus dem Gebrauch, Missbrauch und abhängiger Konsum psychoaktiver Substanzen ergeben. Diese erscheinen in unterschiedlichen Facetten, fordern aber immer zum professionellen Handeln auf. Dabei bedürfen diese Problemlagen nicht unbedingt und sofort einer hochspezialisierten Hilfe-Angebote, die oft nicht nur räumlich, sondern für die Betroffenen auch mental kaum erreichbar sind. Oft kann eine Eskalation verhindert werden, wenn Drogenprobleme couragiert angesprochen und mit einem passenden Handwerkzeug angegangen werden. Dafür soll dieses Buch ermutigen. Für die Themen Alkoholfolgekrankheiten, verschiedene Formen von Medikamentenabhängigkeit sowie abhängigkeitsbedingte Belastungen für Partnerschaften, Familie und Kinder werden die wichtigsten Zusammenhänge kurz und prägnant dargestellt und Vorschläge für den praktischen Umgang durch Bereiche Sozialer Arbeit dargelegt, die nicht auf die Bearbeitung von Drogenproblemen spezialisiert sind.

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Gundula Barsch

DROGEN UND SOZIALE PRAXIS

Teil 2: DAS DROGENTHEMA UND WIE ES IN BERUFSFELDERN DER SOZIALEN ARBEIT AUFTAUCHT

Für alle, die sich von Drogenproblemen weit weg wähnen und überrascht sind, dass das Thema im Berufsalltag eine große Rolle spielt.

Engelsdorfer Verlag

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar

Erste Auflage

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag

Coverfoto © Pixel - Fotolia.com

Alle Rechte, insbesondere das Recht auf Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung beim Autor. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

1.Alkoholfolgeprobleme: Grundproblem, Handlungsdruck und Handlungsmöglichkeiten von Sozialer Arbeit

1.1Alkoholfolgeprobleme: Weit verbreitet, aber wenig beachtet

1.2Die Rolle von Sozialer Arbeit bei der Prävention und Behandlung von Alkoholfolgekrankheiten

1.2.1Voraussetzungen für professionelles sozialarbeiterisches Handel: Eigene Klärungsprozesse

1.2.2Professionelles Knowhow für sozialarbeiterisches Handeln zu Alkoholfolgekrankheiten

1.2.3Wie die Trinkmengen des Klienten ermitteln?

1.2.4Beratungsansätze zur Reduktion der Trinkmenge

1.3Zusammenschau

1.4Nachlesenswert

2Medikamentenkonsum: Grundproblem, Handlungsdruck und Handlungsmöglichkeiten von Sozialer Arbeit

2.1Der Konsum von Medikamenten: Weit verbreitet, oft selbstverständlich und kaum beachtet

2.2Kann denn Medikamenteneinnahme problematisch sein?

2.3Medikamentenkonsum differenzieren: Langzeitgebrauch, Medikamentenmissbrauch oder abhängig von Medikamenten?

2.3.1Medikamentengebrauch: Eine Medikation bei ernsthaften Erkrankungen

2.3.2Medikamentenmissbrauch: Ein Phänomen mit vielen Facetten

2.3.3Mit Medikamenten als Krücke durch den Alltag

2.3.4Wenn Medikamente zu „Partyhits“ werden

2.3.5Medikamentenabhängig oder langzeitbedürftig?

2.4Die iatrogene Abhängigkeit

2.5Zusammenschau

2.6Nachlesenswert

3Das System einer abhängigkeitsbelasteten Partnerschaft: Grundproblem, Handlungsdruck und Handlungsmöglichkeiten von Sozialer Arbeit

3.1Partnerschaft als System

3.2Der abhängige und der nichtabhängige Partner: Miteinander verstrickt

3.2.1Abhängigkeitsbelastete Partnerschaften als System

3.2.2Rollenverschiebungen in abhängigkeitsbelasteten Partnerschaften

3.3Der Abhängige als Symptomträger

3.4Der Nichtabhängige als Mitbetroffener

3.5Mögliche Umgangsstile in abhängigkeitsbelasteten Partnerschaften

3.6Zusammenschau

3.7Nachlesenswert

4Die abhängigkeitsbelastete Familie: Grundproblem, Handlungsdruck und Handlungsmöglichkeiten von Sozialer Arbeit

4.1Die Familie: Ein Beziehungssystem mit besonderen Aufgaben und Funktionen

4.2Elterliche Abhängigkeit und Konsequenzen für das Familiensystem

4.2.1Problematischer elterlicher Konsum und seine Folgen für die familiale Mikrowelt

4.2.2Problematischer elterlicher Konsum und seine Folgen für die Funktionen der Familie

4.2.3Problematischer elterlicher Konsum und seine Folgen für die Familienmuster

4.2.4Zusammenschau: Elterliche Abhängigkeit und Konsequenzen für das Familiensystem

4.3Familien mit abhängigen Kindern: Grundproblem, Handlungsdruck und Handlungsmöglichkeiten für Soziale Arbeit

4.3.1Große Kinder große Sorgen–vor allem, wenn es um „Drogen“ geht

4.3.2Die familiäre Katastrophe: „Mein Kind nimmt Drogen“

4.3.3Was für ein Unglück, wenn es immer so weitergeht

4.3.4Zusammenschau

4.4Nachlesenswert

5Kinder aus abhängigkeitsbelasteten Familien: Grundproblem, Handlungsdruck und Handlungsmöglichkeiten von Sozialer Arbeit

5.1Die Auswirkungen elterliche Abhängigkeit auf die Kinder

5.1.1Punkte besonderer Achtsamkeit in Bezug auf die körperliche Entwicklung

5.1.2Punkte besonderer Achtsamkeit in Bezug auf die psychische Entwicklung

5.1.3Punkte besonderer Achtsamkeit in Bezug auf die intellektuelle Entwicklung

5.1.4Punkte besonderer Achtsamkeit in Bezug auf die soziale und moralische Entwicklung

5.2Ressourcen und Resilienzen: Empowerment-Modelle und deren Bedeutung für die Arbeit mit Kindern aus abhängigkeitsbelasteten Familien

5.2.1Resilienzen: Die Art, wie man mit seinen Lebensumständen umgeht

5.2.2Schutzfaktoren für Kinder aus abhängigkeitsbelasteten Familien

5.3Ziele der Arbeit mit Kindern aus abhängigkeitsbelasteten Familien

5.4Zusammenschau

5.5Nachlesenswert

6Anlage: K.E.I.M.-Prüfbögen

Endnoten

Vorwort

Wenn in der Ausbildung von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen das Thema „Soziale Arbeit zu den Themen Drogen und Abhängigkeit“ auf dem Plan steht, scheiden sich die Geister. Die einen finden es spannend und können sich gut vorstellen, in den Arbeitsfeldern von Drogen- und Suchtkrankenhilfe tätig zu werden. Für die anderen ist dieses Thema wenig fassbar – in Anbetracht der kolportiert wenigen Erfolge, die man in diesem Arbeitsbereich erreichen könne, auch ein unattraktives Tätigkeitsfeld. Deshalb erscheint es zunächst uneinsichtig, sich überhaupt damit auseinandersetzen zu müssen. Vor allem für diejenigen, die glauben, dass sich Drogenproblemlagen auf wenige Arbeitsbereiche beschränken, ist dieses Buch gedacht. Es soll dafür sensibilisieren, dass sich Gebrauch, Missbrauch und abhängiger Konsum psychoaktiver Substanzen nicht von anderen Lebensthemen separieren lassen. Sie erscheinen in unterschiedlichen Facetten und fordern in allen Bereichen Sozialer Arbeit zum Handeln auf. Dabei bedürfen diese Problemlagen nicht unbedingt und sofort einer hochspezialisierten Hilfe – Angebote, die oft nicht nur räumlich, sondern für die Betroffenen auch mental kaum erreichbar sind. Oft kann eine Eskalation verhindert werden, wenn Drogenprobleme couragiert angesprochen und mit einem passenden Handwerkzeug angegangen werden. Auch dafür soll mit diesem Buch ermutigt werden.

Wenn im Weiteren die Rede auf Akteure kommt, die zu Drogenthemen reagieren können und sollen, wird regelmäßig auf den Begriff „Soziale Arbeit“ zurückgegriffen. Damit ist zweifellos zunächst eine Institution angesprochen: „Das Insgesamt von Einrichtungen und Dienstleistungen, welche über die privaten, individuellen Anstrengungen zur Daseinsvorsorge hinaus ein menschenwürdiges Leben sichern und gegen Risiken und Notlagen im Lebenszyklus und Arbeitsprozess schützen sollen“ (C.W. Müller, zit. in Kreft/Mielenz (1996): Wörterbuch Soziale Arbeit, Beltz, S. 510). Es mutet deshalb sehr unpersönlich an, nicht klar diejenigen zu benennen, die zur Mitwirkung aufgefordert sind. Da sich aber kein einzelnes Arbeitsfeld benennen und auch kein spezielles Grundmuster des Umgangs mit diesen Themen ausweisen lässt, blieb keine andere Wahl, als auf diesen sehr abstrakten Begriff zurückzugreifen – dies aber immer in der Hoffnung, dass sich möglichst alle angesprochen fühlen.

März 2014

Gundula Barsch

1.Alkoholfolgeprobleme: Grundproblem, Handlungsdruck und Handlungsmöglichkeiten von Sozialer Arbeit

1.1Alkoholfolgeprobleme: Weit verbreitet, aber wenig beachtet

Folgekrankheiten oft übersehen

Der Konsum von Alkohol durch Erwachsene wird in öffentlichen Debatten in der Regel mit dem Verweis auf die Gefahr einer Suchtentwicklung problematisiert. Das ist für die meisten Menschen eine deutliche Mahnung. Zwar kann das Phänomen „Alkoholabhängigkeit“ von Nicht-Experten selten sachgerecht beschrieben werden. Die über Presse, Funk und Fernsehen vermittelten Informationen haben aber dafür gesorgt, dass regelmäßiger und sehr starker Alkoholkonsum mit einer furchteinflößenden, außer Kontrolle geratenen Entwicklung in Verbindung gebracht wird, die in extremer physischer, psychischer und sozialer Verelendung endet.

Übersehen wird dabei allerdings, dass die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit eine relativ seltene, wenn auch sehr leidvolle Konsequenz übermäßigen Alkoholkonsums ist. Weit verbreiteter, allerdings im Bewusstsein der Menschen weniger präsent ist, dass ein regelmäßig zu hoher Alkoholkonsum erhebliche Folgen für die physische und psychische Gesundheit hat. Diese können sich schleichend auch dann einstellen, wenn der Konsum sozial völlig unproblematisch ist und so auch von Außenstehenden beurteilt wird.

Merkenswert: Das Entstehen von Alkoholfolgekrankheiten ist nicht zwangsweise daran gebunden, dass der Betroffene alkoholabhängig ist. Es kann zwar einerseits davon ausgegangen werden, dass Alkoholabhängige in der Regel auch behandlungsbedürftige Folgekrankheiten entwickelt haben. Andererseits können aber auch Menschen, die keineswegs sozial auffällig Alkohol konsumieren, unter Alkoholfolgekrankheiten leiden, wenn der Alkoholkonsum regelmäßig eine empfohlene Menge übersteigt.

Folgekrankheiten: Risiko eines regelmäßig zu hohen Alkoholkonsums

Die gesundheitlichen Risiken eines regelmäßig zu hohen Alkoholkonsums ergeben sich aus den toxischen und neurotoxischen Wirkungen, die Alkohol auf alle menschlichen Körperzellen hat. Folgerichtig besteht die Gefahr eines regelmäßig zu hohen Alkoholkonsums in Schädigungen, die an diversen Organen und in verschiedenen Bereichen des Nervensystems auftreten. Ein verbreiteter Irrtum ist, dass allein die Leber, als unser wichtigstes Entgiftungsorgan, durch Alkoholkonsum belastet wird. Richtig ist, dass der Alkohol mit dem Blut durch den Körper zirkuliert und durch seine Wasser-und Fettlöslichkeit selbst die Blut-Hirnschranke überwindet. Er gelangt also in jede Körperzelle und kann diese schädigen.

Die durch regelmäßigen Alkoholkonsum verursachten Folgekrankheiten variieren in Abhängigkeit von individueller Anfälligkeit. Letztlich sind je nach Neigung mehr oder weniger schnell ganze Organe und Organsysteme von den negativen Auswirkungen zu hohen Alkoholkonsums betroffen. Dies erklärt, warum Krankheiten, die auf regelmäßig zu hohen Alkoholkonsum zurückgeführt werden müssen, quasi an allen Organen und in allen Bereichen des Nervensystems gefunden werden können (vgl. Abbildung). Sie reichen von Veränderungen der Haut, über Störungen des Magen-Darm-Traktes, der Milz und Bauchspeicheldrüse bis hin zu Schädigungen des Nervensystems, die sich insbesondere an den Extremitäten und in deutlichen Einschränkungen der Hirnleistungen bemerkbar machen können. Auch für einen bedeutenden Teil der Krebserkrankungen im Mund- und Rachenraum, an der Speiseröhre, am Magen, Darm sowie an Leber und Bauchspeicheldrüse werden Alkoholfolgekrankheiten verantwortlich gemacht.

Merkenswert: Alkoholfolgekrankheiten können ernstzunehmende gesundheitliche Folgen verursachen, die bis zu letalen Erkrankungen reichen und sowohl die Lebensqualität (z. B. bei Gelenkserkrankungen) als auch die Lebenserwartung einschränken.

Alkoholfolgekrankheiten: Schwer als solche auszumachen

Eine Besonderheit der Alkoholfolgeerkrankungen ist, dass sie sich relativ unspezifisch bemerkbar machen. Die auftretenden Symptome können in der Regel auf sehr unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden. Deshalb wird nicht unbedingt zuerst an einen regelmäßig zu hohen Alkoholkonsum als Auslöser der jeweiligen Störung gedacht. Wenn auch der Volksmund oft über die Belastungen der Leber durch starken Alkoholkonsum witzelt, lassen sich selbst auffällige Leberbefunde durch andere Erkrankungen ebenfalls erklären. Wenn also nicht andere Anzeichen des Patienten (z. B. eine regelmäßige Alkoholfahne) unübersehbar auf diese Vermutung verweisen, geht die medizinische Klärung in der Regel zunächst anderen möglichen Ursachen nach.

Abbildung: Alkoholfolgekrankheiten (Winter, Stoiber, Engel 1987, S. 36)

Oft unerkannt: Ursache Alkohol

Für fast alle Alkoholfolgekrankheiten gilt, dass sie sich hinter vielen Krankheitsbildern verstecken können. Unter Mediziner werden sie deshalb auch als die „Affen unter den Krankheiten“ bezeichnet. Angedeutet wird damit, dass die tatsächlich ursächlichen Bezüge kaum zu ermittelt sind, wenn nicht gleichzeitig das Trinkverhalten der Patienten mit in den Blick genommen wird. Darauf verzichten aber viele Mediziner. Nicht nur, weil die pro Patient zur Verfügung stehende Zeit dafür nicht ausreicht und/oder entsprechende Leistungen nicht honoriert werden. Oft ist es den Ärzten auch unangenehm, den Alkoholkonsum ihrer Patienten anzusprechen und sich dazu kritisch zu äußern. Die Angst vor einem Vertrauensverlust, aber auch das Risiko, dass sich dieser Patient zukünftig von einem anderen ärztlichen Kollegen behandeln lassen könnte, verhindern oft ein couragiertes Handeln. Und dies selbst dann, wenn verschiedene Zeichen unmissverständlich auf eine Alkoholfolgekrankheit weisen.

Merkenswert: Die ätiologische Unklarheit der Beschwerden sorgt dafür, dass Alkoholfolgekrankheiten in der Regel nicht zweifelsfrei als solche erkannt werden können. Um regelmäßig zu hohen Alkoholkonsum als Ursache der Störung/Erkrankungen feststellen zu können, ist immer auch das Trinkverhalten des Betroffenen in den Blick zu nehmen. Die Tatsache, dass damit oft Tabugrenzen tangiert werden, erklärt, weshalb Prävention und Behandlung von Alkoholfolgekrankheiten Herausforderungen sind.

Zu hohe Trinkmengen sind weit verbreitet, aber kaum erkannt

Riskant hoher Alkoholkonsum ist mit unserer Trinkkultur durchaus vereinbar. In unserer Gesellschaft ist der Konsum von Alkohol in so viele Aktivitäten und Anlässe eingebunden, dass in der Regel weder vom Konsumenten selbst noch vom sozialen Umfeld wahrgenommen wird, dass die täglich getrunkenen Mengen ein problematisches Maß haben.

Zwar unterscheiden sich in den sozialen Schichten, Gruppen und kulturellen Milieus die Anlässe und Gelegenheiten, bei denen mehr oder weniger stark Alkohol getrunken wird. Aber allen Bevölkerungsgruppen ist gemeinsam, dass kaum jemand Anstoß an der Alltäglichkeit des Trinkens nimmt, so dass sich sozial völlig unauffällig, oft sogar getrieben durch einen sozial mehr oder weniger stark formulierten Trinkzwang Alkoholmengen summieren, die mit einem erheblichen Risiko für das Entstehen einer Alkoholfolgekrankheit einher gehen.

Merkenswert: In unserer Gesellschaft ist das Trinken von Alkohol unreflektiert und selbstverständlich in viele Lebensbereiche und Aktivitäten eingeordnet. Oftmals unbemerkt summieren sich die täglich getrunkenen alkoholischen Getränke zu einer Alkoholmenge, die ein unproblematisches Maß weit überschreitet.

Diese Besonderheit unserer Trinkkultur sorgt dafür, dass das Risiko einer Alkoholfolgekrankheit weit und in allen sozialen Gruppen, Schichten und kulturellen Milieus gleichermaßen stark verbreitet ist.

1.2Die Rolle von Sozialer Arbeit bei der Prävention und Behandlung von Alkoholfolgekrankheiten

Wenig Wissen zu Folgekrankheiten

Das Wissen über Alkoholfolgeerkrankungen und Möglichkeiten, diese zu verhindern, ist in der Bevölkerung vergleichsweise wenig verbreitet. Insofern stehen neben Ärzten, Pflegediensten und medizinischem Personal auch Sozialarbeiter in der Verantwortung, in ihren Arbeitsfeldern für Alkoholfolgekrankheiten zu sensibilisieren und ihre Klienten zu einem Risikomanagement beim Umgang mit Alkohol zu befähigen.

Die Berufsgruppe der Sozialarbeiter ist dafür auf besondere Weise prädestiniert: Sie entwickelt in Zuge einer oft langandauernden Beratungs- und Betreuungstätigkeit einen sehr persönlichen, vertrauensvollen Kontakt zu ihren Klienten und gewinnt dabei auch detaillierte Einblicke in deren persönliche Lebensgewohnheiten. Sozialarbeiter erfahren deshalb oft auch aus erster Hand etwas über Trinkgewohnheiten, können sich einen Überblick über regelmäßig konsumierte Trinkmengen verschaffen und aus diesen Positionen heraus am ehesten Zusammenhänge zwischen dem Alkoholkonsum und gesundheitlichen Beschwerden herstellen.

Merkenswert: Wie kaum eine andere Berufsgruppe verfügen Sozialarbeiter über Möglichkeiten, sich in Bezug auf die Prävention von Alkoholfolgekrankheiten zu engagieren:

Sie können

erstens

durch eine frühzeitige Intervention die Entwicklung von Alkoholfolgekrankheiten ausbremsen.

Zweitens

kann Soziale Arbeit durch ein gezieltes Hinlenken in ärztliche Betreuung dazu motivieren, bereits bestehende Alkoholfolgekrankheiten einer sachgerechten Behandlung zuzuführen.

Soziale Arbeit sollte schließlich

drittens

bei unklaren Beschwerden an eine möglicherweise alkoholbedingte Verursachung denken und an einer Aufklärung der tatsächlichen Gründe der Symptome mitwirken.

Es sind also drei sehr verschiedene Bereiche, in denen Soziale Arbeit einen Beitrag leisten kann, zusammen mit den Klienten Gesundungsprozesse schnell und zielsicher in Gang zu setzen.

1.2.1Voraussetzungen für professionelles sozialarbeiterisches Handel: Eigene Klärungsprozesse

Die Mitwirkung an der Prävention und Behandlung von Alkoholfolgeerkrankungen setzt allerdings voraus, dass sich jeder Sozialarbeiter klare Positionen erarbeitet, wie er sich zum Thema „Alkoholfolgekrankheiten“ verhalten will. Dieser individuelle Klärungsprozess ist oft schwerer als vermutet und hat verschiedene Themen/Ebenen.

Erstens

bewegen sich auch Sozialarbeiter in der extremen Ambivalenz, mit der der Alkoholkonsum in unserer Gesellschaft verhandelt wird: In der Regel wird er verklemmt zwischen der hohen positiven Bewertung des „Trinkens“ an sich und der starken Abwertung von „Trinkern/Säufern“ diskutiert. Sozialarbeiter müssen sich zu diesem Spannungsbogen verhalten und mit realitätsgerechten Positionen Modelle anbieten, die Genuss, Spaß und Vergnügen erlauben, für negative physische, psychische und soziale Konsequenzen sensibilisieren und auf ein sachgerechtes Risikomanagement verweisen.

Zweitens

muss ein Sozialarbeiter darauf vorbereitet sein, dass derjenige, der den Alkoholkonsum anderer thematisiert, immer auch riskiert, dass das eigene Trinken ebenfalls angesprochen wird. In solchen Situationen lenken Verweise auf einen asketischabstinenten Trinkstil auf Ausnahmen, die in unserer Kultur selten vorkommen, von der Masse der Menschen aber weder erstrebt noch geschätzt werden. Sie sind in den notwendigen Auseinandersetzungsprozessen deshalb oft auch nicht hilfreich. Auch hier sind realitätsgerechte Modelle nützlicher.

Drittens

muss ein Sozialarbeiter damit rechnen, dass sein Bemühen um Prävention und Behandlung von Alkoholfolgekrankheiten mit der Begründung zurückgewiesen wird, dass der Alkoholkonsum eine „rein private Angelegenheit“ sei, weshalb der Klient strikt jeden Hinweis als Einmischung zurückweist. Dies geschieht immer dann mit großer Wahrscheinlichkeit, wenn auf Seiten des Sozialarbeiters fachliches Wissen fehlt und deshalb eine Veränderung des Trinkens mit moralischen Attitüden eingefordert wird, die das Recht auf Genuss in Frage stellen und stattdessen Askese fordern. Derartige Zurückweisungen lassen sich oft mit dem Verweis aufweichen, dass viele Menschen gar nicht wissen, dass übermäßiger Alkoholkonsum Alkoholfolgeerkrankungen auslösen kann. Auch eine Aufklärung zu dem verbreiteten Irrtum, nachdem Alkoholfolgekrankheiten nur auftreten würden, wenn jemand zugleich alkoholabhängig sei, könnte die Bereitschaft fördern, sich mit Unterstützung des Sozialarbeiters mit dem eigenen Trinkverhalten auseinanderzusetzen.

Erkennbar wird, dass Einsicht und Mitwirkung an einer Änderung des Trinkens sehr davon abhängen, dass die Hinweise und Motive des Sozialarbeiters zum Thema Alkoholkonsum sachlogisch und weitestgehend ohne moralische Vorwürfe vorgetragen werden.

1.2.2Professionelles Knowhow für sozialarbeiterisches Handeln zu Alkoholfolgekrankheiten

Für ein erfolgreiches Engagement bei der Prävention und Behandlung von Alkoholfolgekrankheiten ist ein professionelles Knowhow erforderlich, das sich aus inhaltlichen und methodischen Bausteinen zusammensetzt. Dazu gehören:

Erstens

das Wissen über Trinkmengen, deren Einhaltung empfohlen wird, um das Risiko von Alkoholfolgekrankheiten klein zu halten.

Zweitens

Kenntnisse dazu, wie sich Trinkmengen grob abschätzen, aber auch detaillierter ermitteln lassen.

Drittens

methodisches Handwerkzeug, um einen Überblick über die Trinkgewohnheiten des Klienten ermitteln zu können.

Viertens

Beratungsansätze, mit denen Klienten befähigt werden, ihre Trinkmengen zu reduzieren.

Diese Bausteine professionellen Knowhows sollten nicht darüber hinweg täuschen, dass die Voraussetzungen professionellen Agierens überschaubar sind und von jedem Sozialarbeiter in kurzer Zeit angeeignet werden können. Ein Verweis auf mangelnde Zeit oder Überlastung kann als Grund für eine Unterlassung kaum akzeptiert werden.

Was sind empfohlene Trinkmengen?

Bereits im ersten Band dieser Reihe wurde erörtert, welche Einseitigkeiten sich ergeben, wenn einzig am Kriterium der konsumierten Substanzmenge ein Urteil gefällt würde, ob ein Missbrauch vorliegt oder nicht (vgl. Drogen und soziale Praxis, Bd. 1, 2010, S. 93-108). Mit dem Fokus auf Alkoholfolgekrankheiten werden jedoch in der Tat rein medizinische Aspekte des Alkoholkonsums in den Blick gerückt. Insofern ist auch die Frage berechtigt, ab welcher Menge ein regelmäßiger Alkoholkonsum Erkrankungen auszulösen vermag. Die Antwort darauf könnte sehr simple und eindeutig sein, ist sie aber nicht!

Empfehlungen müssen realitätsgerecht sein

In den letzten dreißig Jahren haben sich die Limit-Empfehlungen für den regelmäßigen Alkoholkonsum von Männern, Frauen und Jugendlichen mehrfach geändert. Sie sind dabei immer weiter nach unten korrigiert worden. Weltweit kursieren heute diverse Angaben zu medizinisch begründeten Mengengrenzen, deren Einhaltung empfohlen wird, um das Risiko körperlicher Folgeerkrankungen zu vermeiden:

Die Empfehlungen der WHO für unschädlichen Alkoholkonsum betragen für gesunde Männer täglich 40 g und für gesunde Frauen und Jugendliche 20 g reinen Alkohol.

Die Britische Ärzteschaft (Britisch Medical Association) definiert eine kritische Tagesmenge reinen Alkohols von 30 g für gesunde Männer und 20 g für gesunde Frauen.

Die amerikanische Gesundheitsbehörde National Institut on Alcohol Abuse and Alcoholism (NIAA) verweist sogar auf eine kritische Menge von 24 g bei gesunden Männern und 12 g bei gesunden Frauen (zit. nach Klingemann et al. 2004).

Deutlich wird, dass sich die Empfehlungen zu Grenzwerten für einen Alkoholkonsum, durch den das Entstehen alkoholbedingter somatischer Erkrankungen verhindert werden kann, gravierend unterscheiden.

Empfehlungen zu Trinkmengen sind immer auch Ideologie

Dies ist keineswegs nur auf einen veränderten Wissensstand zurückzuführen. Zu bedenken ist zugleich, dass solche Richtlinien auf angenommenen Wahrscheinlichkeiten basieren, mit der die benannten Ereignisse eintreten könnten. Die sehr unterschiedlichen Empfehlungen berufen sich also auf verschiedene Erkrankungswahrscheinlichkeiten. Konsequent zu Ende gedacht könnten derartige Empfehlungen also beispielsweise auch darin gipfeln, überhaupt keinen Alkohol zu trinken. Dann wäre zu 100 % ausgeschlossen, dass sich die vorliegenden Erkrankungen auf den Konsum von Alkohol zurückführen lassen. Popularisierte Mengenempfehlungen sind also immer auch von Normativen, sozialen Konventionen und Ideologien mitbestimmt.

Merkenswert: Unter den Experten gibt es keineswegs Einigkeit bei den Empfehlungen zu Mengen für einen regelmäßigen und dennoch unschädlichen Alkoholkonsum. Die popularisierten Limits unterscheiden sich zum Teil gravierend. Sozialarbeiter müssen deshalb entscheiden, welche Empfehlungen sie ihrer Arbeit zugrunde legen wollen.

Auch hier kann als Empfehlung gelten, sich an realitätsgerechten Limits zu orientieren1. Dies beinhaltet immer auch die Chance darauf verweisen zu können, dass durchaus auch Grenzwerte popularisiert werden, die weit limitierender sind, als die gewählten.

Methoden, um Trinkmengen zu bestimmen

Das Bedürfnis, einen Überblick über die jeweils getrunkene Menge Alkohol zu behalten, ist schon alt und hat sich quasi in unseren Trinkgefäßen „festgeschrieben“. „So verfügte im 10. Jahrhundert der angelsächsische König Edgar, an den Trinkgefäßen sollten Eichmarkierungen angebracht und jeder bestraft werden, der in einem Schluck über diese Markierung hinaus trinke.“ (Legnaro 1981, S. 90)

Trinkeinheiten – die Methode fürs Grobe

Noch heute lässt sich die Grundidee einer Normierung des Trinkens in der Ausgestaltung der traditionellen Trinkgefäße für die verschiedenen alkoholprozentigen Getränke wiederfinden: Jeder weiß, dass Alkoholika traditionell in jeweils unterschiedlichen Trinkgefäßen (Bierkrug, Weinglas, Sektglas, Likörbecher, Cognacschwenker) gereicht werden. Diese enthalten zwar eine unterschiedliche Menge; bezogen auf die jeweils in dem Getränk enthaltene Menge reinen Alkohols beinhalten aber alle Gläser, wenn sie normal gefüllt werden, etwa 10-12 Gramm.

Die traditionellen Trinkgefäße vereinheitlichen also, unabhängig von der Art des Getränkes, den getrunkenen reinen Alkohol auf eine Menge von 10-12 g reinen Alkohol. Man spricht deshalb auch von Trinkeinheiten. Diese Einheit ist in der Regel auch diejenige Menge, die physiologisch eine kleinste spürbare Wirkung auszulösen vermag.

Unsere Trinkkultur kommt also dem Vorhaben entgegen, die jeweils konsumierte Menge Alkohol grob zu schätzen. Über die jeweils traditionell verwendeten Trinkgefäße ist dies relativ leicht möglich.

Werden also beispielsweise die Empfehlungen der Britischen Ärzteschaft zu Limits für regelmäßigen täglichen Alkoholkonsum zugrunde gelegt, so dürften gesunde Männer drei Gläser, gesunde Frauen und Jugendliche zwei Gläser Alkohol pro Tag trinken. Damit gingen sie dann nur ein geringes Risiko ein, an Alkoholfolgekrankheiten zu erkranken.

Anzumerken ist jedoch, dass dabei nicht zwischen den verschiedenen Alkoholika und den damit verbundenen Trinkstilen unterschieden wird. Mit Blick auf mögliche Alkoholfolgekrankheiten sollte jedoch bedacht werden, dass der Blutalkoholgehalt beim Trinken oder besser gesagt Kippen hochprozentiger Getränke sehr schnell sehr hoch ansteigt, woraus sich ein höheres Schädigungspotential ergibt. Im Gegensatz dazu werden geringprozentige Getränke allein wegen ihrer Flüssigkeitsmenge in der Regel langsamer getrunken und bewirken folgerichtig auch keine so hohen Spitzen im Blutalkoholspiegel. Unter diesen Aspekt betrachtet sind sie also etwas schonender für den Körper.

Merkenswert: Die Methode der Trinkmengenkalkulation über Trinkeinheiten ist bestechend einfach. Sie eignet sich zumindest, um eine grobe Kalkulation über die getrunkene Menge reinen Alkohols vorzunehmen. Sie bietet sich zudem hervorragend als alltagstaugliches Verfahren für alle an, die sich unkompliziert einen Überblick über ihre Trinkmengen verschaffen wollen. In diesem Sinne kann die Ermittlung von Trinkeinheiten als Methode auch Klienten empfohlen werden, die sich unsicher sind, ob sie mit ihrem regelmäßigen Alkoholkonsum bereits ungewollt gesundheitliche Folgeerkrankungen riskieren oder nicht.

Zur Fehlerquelle wird in diesem Verfahren jedoch vor allem die Tatsache, dass durch die Alkoholindustrie Getränke auf den Markt gebracht werden, die heute einen weit höheren Alkoholgehalt haben als die traditionsreichen Vorgänger: Man denke an Weine, die ursprünglich 10-12 Volumenprozent hatten, heute aber mit bis zu 15-16 Volumenprozent ausgebaut werden. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch bei den Bieren, bei Cocktails etc. Insofern sind Verfahren zur exakteren Bestimmung der konsumierten Mengen reinen Alkohols durchaus sinnvoll und wichtig.

Trinkmengen bestimmen: Mit UNITS wird es exakter

Auch in vielen Bereichen Sozialer Arbeit reichen grob ermittelte Trinkmengen nicht aus: Zu denken ist z. B. an Situationen, in denen Interaktionen zwischen Medikamenten und Alkohol bedacht werden müssen oder wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt absolute Nüchternheit erforderlich ist. Auch mit Blick auf das Risiko von Alkoholfolgekrankheiten ist ein exakterer Überblick über die konsumierten Alkoholmengen wichtig.

Angesichts der schon genannten praktischen Probleme, ist von der Britischen Ärzteschaft ein Verfahren entwickelt worden, mit dem die getrunkene Menge reinen Alkohols exakter ermittelt werden kann, weil das jeweils konsumierte Getränk mit seinen Alkoholprozenten in die Berechnungen einbezogen wird. Dieses Verfahren rechnet nach UNITS (übersetzt: Einheiten).

Merkenswert: Für die Darstellung der getrunkenen Mengen reinen Alkohols ist eine exakte Ermittlung wichtig, bei der auch der sehr unterschiedliche Alkoholgehalt der jeweils konsumierten Getränke berücksichtigt wird. Dafür kann auf die Berechnung sogenannter UNITS zurückgegriffen werden.

Bezogen auf die Empfehlungen Britischer Ärzte zu Trinklimits werden für gesunde Männer 3-4 Units und für gesunde Frauen und Jugendliche 2-3 Units als Grenzen gesehen, in denen das Risiko einer Alkoholfolgekrankheit nur gering ist.

Units errechnen ist einfach und unkompliziert

Units lassen sich nach folgender Formel berechnen:

Der Konsum einer Flasche Radeberger Bier ließe sich also wie folgt in Units umrechnen:

Wie viel reiner Alkohol ist wo drin?

Im Grunde ist auch diese Art der Ermittlung von Trinkmengen unkompliziert, der Rechenweg einfach und die eigentliche Berechnung nicht aufwendig. Zumal heute in fast jedem Handy ein Taschenrechner verfügbar ist. Einzige, aber wichtige Voraussetzung ist, dass es Informationen dazu gibt, wie hochprozentig das jeweils konsumierte Getränk tatsächlich ist.

Eine Zusammenstellung der Alkoholika, die auf dem Markt verfügbar sind, ist jedoch schnell getan. Mit Hilfe von Listen, die von den Klienten selbst z. B. per Internet zusammengestellt werden, könnte ein Überblick über die verschiedenen Getränke sogar darüber informieren, wie hochprozentig konkrete Alkoholika tatsächlich sind und welche Alternativen sich anbieten, um weniger reinen Alkohol zu sich zu nehmen.

Merkenswert: Die Methode der Bestimmung von Trinkmengen über berechnete Units bietet sich an, wenn ein exakterer und detaillierterer Überblick über die täglich getrunkene Menge reinen Alkohols wichtig wird.

In der Berechnung von Units wird der sehr unterschiedliche Wirkstoffgehalt von Alkoholika berücksichtigt. Deshalb zwingt diese Methode dazu, sich mit den weit auseinanderdriftenden Anteilen von Alkohol in ein und derselben Getränkesorte (Bier, Wein, Spirituosen) auseinanderzusetzen. Dies öffnet die Augen dafür, dass der Alkoholgehalt oft unerwartet hoch ist und schafft eine gute Grundlage, den eigenen Konsum selbstkritischer in den Blick zu nehmen.

1.2.3Wie die Trinkmengen des Klienten ermitteln?

Nachdem im Methodenkoffer bereits das Wissen um Alkoholfolgekrankheiten und Empfehlungen zu Trinkmengenlimits liegen, braucht es nun eine Herangehensweise, mit der sich der regelmäßige Alkoholkonsum einer Person sehr konkret ermitteln lässt. Erforderlich ist eine Methode, die möglichst exakte und damit solide Informationen erbringt.

Viele Mengen Alkohol werden übersehen

Oberflächlichkeit nach der Methode „Pi mal Daumen“ hilft nicht weiter, denn die Ermittlung der tatsächlich getrunkenen Mengen Alkohol ist ohnehin schwierig. So sorgt die Einbindung des Alkoholtrinkens in viele soziale Situationen in Form einer mehr oder weniger beachteten Begleitaktivität dafür, dass gerade bei kleinen Mengen oft nicht daran gedacht und auch nicht registriert wird, dass die Substanz „Alkohol“ konsumiert wird.

Zudem gilt auch beim Alkoholkonsum, dass es kaum eine Regelmäßigkeit ohne Ausnahmen gibt. Und gerade diese Ausnahmen - das Glas Sekt zum Geburtstag eines Kollegen, die Jim-Beam-Cola im Kino, der doppelte Eierlikör auf dem Schokoladeneis, das Bier nach der Sauna, der Kräuterschnaps nach dem Eisbein – sind es, die oft unbeachtet bleiben. Diese kommen zu dem regelmäßigen Feierabendbier dazu, können sich schließlich zu erstaunlichen Größen summieren und für das Überschreiten empfohlener Limits sorgen. Insofern wird erst mit der Berücksichtigung wirklich aller konsumierten Alkoholika in der Gesamtrechnung deutlich, wie die oft überraschenden Grenzüberschreitungen zustande kommen.

Exakte Buchführung macht es möglich

Länger als nur für ein paar Tage

Die Ermittlung der Trinkmengen setzt voraus, dass sowohl alle konsumierten Mengen als auch die jeweilige Art des getrunkenen Getränks sorgfältig notiert werden. Diese „Buchführung“ kann natürlich durch den Konsumenten selbst am besten vorgenommen werden; zumindest seine Mitwirkung ist unerlässlich, selbst wenn der Sozialarbeiter gemeinsam mit dem Klienten den oft unreflektierten Trinkgewohnheiten auf die Spur kommen will.

Das Registrieren der getrunkenen Mengen Alkohol sollte mindestens über drei bis vier Wochen erfolgen. Auf diese Weise wird es möglich, sowohl Wochen mit vielen Konsumtagen als auch solche mit wenig oder gar keinem Alkoholkonsum in den Blick zu nehmen. Allerdings empfiehlt es sich, die registrierten Trinkmengen wöchentlich auszuwerten. Auf diese Weise gelingt es besser, sich selbst in Bezug auf die wohl regelmäßig vorkommenden wöchentlichen Schwankungen in den konsumierten Alkoholmengen zu beobachten.

Bei einer solchen Wochenschau können Familienmitglieder oder Freunde, die einen Einblick in das Trinkverhalten des Einzelnen haben, eine gute Hilfe sein. Gerade die Einbindung des Trinkens als Beiwerk vieler sozialer Situationen erschwert es, auch den versteckten und unabsichtlich übersehenen Trinkmengen auf die Spur zu kommen.

Die Idee des Trinktagebuchs

Für die nötige Buchführung eignet sich eine tabellarische Übersicht, die im Rahmen von Therapieansätzen zum „Kontrollierten Trinken“ als Trinktagebuch verwendet wird (vgl. Körkel 2007). Zur Anwendung kommt dabei ein Aufzeichnungsbogen, der nach Woche und Wochentag unterteilt ist und dazu auffordert, jedes getrunkene alkoholische Getränk zu registrieren. Gefragt wird dabei, wann, wo, was und wie viel getrunken wurde (siehe Tabelle). Durch das Abfragen erinnert das Trinktagebuch also an viele Diätempfehlungen, die zum Beispiel dazu anregen, sich einen Überblick über die verzehrten Lebensmittel und deren Kaloriengehalt zu erarbeiten.

Für die Auswertung sind die konkreten Angaben zum Alkoholgehalt des jeweils konsumierten Getränks zu ermitteln. Dann sind alle Informationen zusammengetragen, auf deren Basis sich ermitteln lässt, wie viel Units mit jedem einzelnen Trinkakt konsumiert wurden und zu wie viel Units sich diese pro Tag summieren.

Tabelle: Muster eines Trinktagebuches

Merkenswert: Die Ermittlung der tatsächlich getrunkenen Menge Alkohol ist fast immer schwierig. Die Selbstverständlichkeit, mit der das Trinken in viele soziale Situationen unbedacht eingebunden ist, erschwert es, einen Überblick darüber zu erhalten und nicht versehentlich bestimmte Konsummengen zu übersehen. Das Führen eines Trinktagebuches kann helfen, bewusster darauf zu achten, in welchen Situationen und an welchen Orten welche Sorte Alkohol in welchen Mengen getrunken wird.

Die Summation der Mengen pro Tag, pro Woche und pro Monat ermöglicht, die allgemein üblichen Schwankungen in den konsumierten Mengen festzuhalten und davon ausgehend festzustellen, wie die oft überraschenden Überschreitungen der empfohlenen Trinklimits zustande kommen.

1.2.4Beratungsansätze zur Reduktion der Trinkmenge

Mit dem Führen des vorgeschlagenen Trinktagebuchs entsteht eine Informationsbasis, die sich hervorragend eignet, auf den individuellen Fall bezogene Strategien zur Reduktion der Trinkmengen zu entwickeln.

Wenn der Klient über seinen Alkoholkonsum sorgfältig Buch führt, dann lassen sich aus den tagebuchartigen Aufzeichnungen sehr unterschiedliche Informationen zu den Trinkgewohnheiten entnehmen und Empfehlungen für Veränderungen ableiten:

Erstens

ist mit Blick auf die Vermeidung von Alkoholfolgekrankheiten die wichtigste, aus dem Trinktagebuch ableitbare Information, wieweit es dem Einzelnen gelingt, die empfohlenen Trinkmengenlimits einzuhalten.

Mit einem exakt geführten Trinktagebuch lässt sich aber

zweitens

auch die Aussage belegen, dass diese Trinklimits überschritten werden, in welchem Umfang und wie oft. Auf diese Aussagen wird oft spontan ungläubig reagiert. Insofern helfen die zusammengetragenen Daten mit ihren klaren und unmissverständlichen Aussagen, die zudem frei von moralischen Vorwürfen sind und ausschließlich einer Sachlogik folgen, Einsichtsfähigkeit zu entwickeln

In einem nächsten Schritt kann die Auswertung des Trinktagebuchs d

rittens

aber auch dazu dienen, unreflektierte Gewohnheiten in Bezug auf das Alkoholtrinken aufzudecken und deren Bedeutung für das Trinkverhalten insgesamt herauszuarbeiten. Insbesondere wenn die Trinklimits deutlich überschritten werden, kann es hilfreich sein herauszufinden, wo, wann und in welchen Trinksituationen so viel Alkohol getrunken wird, dass die Limits regelmäßig überschritten werden.

Das Trinktagebuch ist

viertens

auch eine Hilfe bei der Erarbeitung von Strategien, um die Trinkmengen deutlich zu reduzieren. So kann gemeinsam mit dem Klienten darüber nachgedacht werden, welche Trinkmengen sich ohne viel Anstrengung durch Äquivalente ablösen lassen: Indem z. B nach einer sportlichen Aktivität gegen den Durst nicht mehr Bier, sondern Apfelsaftschorle oder ein Gemisch aus Bier und Sprite getrunken wird; indem statt einem großen Glas Wein ein kleines getrunken wird; indem das Feierabendbier auf die wieder verfügbaren kleinen Flaschen reduziert wird; indem hochprozentige Bier- und Weinsorten durch niedrigprozentige abgelöst werden usw.

Schließlich kann

fünftens

das Trinktagebuch auch genutzt werden, um die Art und Weise der Umsetzung der erdachten Strategien zu dokumentieren. Mit einem exakt geführten Tagebuch wird nicht nur festgehalten, wo es gelungen ist, den erarbeiteten Plan einzuhalten und wo dies weniger gut gelungen ist. Es gibt auch Hinweise darauf, wie ein erneuter Versuch aussehen könnte, die empfohlenen Trinkmengenlimits einzuhalten, ohne das Gefühl enormer Verzichtsleistungen zu provozieren.

Wenn die Debatte offen geführt werden kann, kommt bei der Arbeit mit dem Trinktagebuch in der Regel ein großer Einfallsreichtum zustande. Dieser kreist legitimer Weise darum, wie sich den empfohlenen Mengenlimits ohne einschneidenden Verzicht genähert werden kann. Eine starke Motivation und Handlungsbereitschaft kann gerade von der Tatsache ausgehen, dass in diesem Nachdenken die Berechtigung von Genuss nicht in Abrede gestellt wird und durch den Klienten Strategien für eine Trinkmengenreduktion ersonnen werden, die diesem realistisch und praktikabel erscheinen.

Merkenswert: Auf der Basis eines sorgfältig geführten Trinktagebuches lassen sich Beratungsstrategien entwickeln, die auf sehr verschiedene Weise Hilfe und Unterstützung bei der Entwicklung eines Trinkens geben, das den empfohlenen Trinkmengen zur Vermeidung von Alkoholfolgekrankheiten entspricht. Diese Strategien beschränken sich nicht allein auf die Kontrolle der getrunkenen Alkoholmengen über den Tag, die Woche und den Monat. Trinktagebücher können zugleich eine Sensibilisierung der Wahrnehmung und eine kritische Reflexion des eigenen Trinkens fördern. Mit dem Trinktagebuch lassen sich aber auch Beratungen durchführen, die auf die Entwicklung von Strategien für erfolgversprechende Veränderungen des Trinkens und deren Umsetzung zielen. Mit einem Trinktagebuch kann auch dokumentiert werden, wieweit die erstrebten Veränderungen realisiert werden konnten, an welcher Stelle dies noch nicht gelungen ist. Schließlich ergeben sich auch Hinweise darauf, in welche Richtung die anfangs entwickelten Strategien zu korrigieren sind, damit sie erfolgreich umsetzbar werden.

Das Potential dieser Methode erschließt sich jedoch nur, wenn es in ein passendes professionelles Handeln eingebunden wird, das sich den Grundideen der Befähigung des Klienten, des Selbstmanagements und des Empowerments verpflichtet fühlt und wegrückt von unproduktiven Kontrollbedürfnissen, paternalistischen Beweggründen und einer mangelhaften Bereitschaft, die mit dem Alkohol verbundenen positiven Gründe anzuerkennen und zu akzeptieren.

1.3Zusammenschau