Du bist ein weiter Baum - Barbara Senckel - E-Book

Du bist ein weiter Baum E-Book

Barbara Senckel

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  • Herausgeber: C. H. Beck
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Zum Buch

"Du bist ein weiter Baum", sagte eines Tages eine schöpferisch begabte, geistig behinderte Frau zu ihrer wesentlich jüngeren Betreuerin. Die Betreuerin spürte, daß ihr damit etwas Wichtiges mitgeteilt wurde, das ihr Verhältnis zueinander betraf. "Was meinst du damit, wieso bin ich ein weiter Baum?" fragte sie und erhielt zur Antwort: "Ein Baum ist groß, und da wohnen viele Vögel drin. Der Wind rauscht in den Zweigen, und die Sonne scheint. Du bist ein weiter Baum." Mit dem Bild des Baumes erläuterte die behinderte Frau, wie sie die Beziehung zu ihrer Betreuerin empfand.

Barbara Senckel geht in diesem Buch der Frage nach, wie eine Beziehung zu geistig behinderten Menschen zu gestalten ist, damit sie heilsam wirkt und die Persönlichkeitsentwicklung fördert. An ausführlichen Beispielen aus der Praxis zeigt sie, wie schwere psychische Störungen durch Beziehung gemildert werden können.

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Seitenzahl: 521

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Barbara Senckel

Du bist einweiter Baum

Entwicklungschancenfür geistig behinderteMenschen durchBeziehung

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck München

Zum Buch

„Du bist ein weiter Baum“, sagte eines Tages eine schöpferisch begabte, geistig behinderte Frau zu ihrer wesentlich jüngeren Betreuerin. Die Betreuerin spürte, daß ihr damit etwas Wichtiges mitgeteilt wurde, das ihr Verhältnis zueinander betraf. „Was meinst du damit, wieso bin ich ein weiter Baum?“ fragte sie und erhielt zur Antwort: „Ein Baum ist groß, und da wohnen viele Vögel drin. Der Wind rauscht in den Zweigen, und die Sonne scheint. Du bist ein weiter Baum.“ Mit dem Bild des Baumes erläuterte die behinderte Frau, wie sie die Beziehung zu ihrer Betreuerin empfand.

Barbara Senckel geht in diesem Buch der Frage nach, wie eine Beziehung zu geistig behinderten Menschen zu gestalten ist, damit sie heilsam wirkt und die Persönlichkeitsentwicklung fördert. An ausführlichen Beispielen aus der Praxis zeigt sie, wie schwere psychische Störungen durch Beziehung gemildert werden können.

Über die Autorin

Barbara Senckel, geb. 1948, hat Germanistik, Psychologie und Philosophie studiert. Sie begründete die Entwicklungsfreundliche Beziehung nach Dr. Senckel® und war von 1986 bis 2014 Dozentin an der Ludwig Schlaich Akademie in Waiblingen für die Fachbereiche Heilerziehungspflege und Heilpädagogik. Von ihr sind im Verlag C.H.Beck erschienen: Mit geistig Behinderten leben und arbeiten (102015) und Wie Kinder sich die Welt erschließen (2004).

in memoriamWalther Killy

INHALT

 

Einleitung

Erster Teil:

Konzepte

Erstes Kapitel: Psychische Störungen

1. Diagnostische Probleme

2. Entwicklungsbedingungen psychischer Störungen

Geistige Behinderung

Beziehungsstörung

Traumatische Ereignisse

Institutionelle Faktoren

Zusammenfassung

Zweites Kapitel: Psychotherapeutische Ansätze

VERHALTENSTHERAPIE

1. Störungs- und Therapieverständnis

2. Lerntheorien

3. Prinzipien der Verhaltensmodifikation

Situationsgestaltung

Verstärkung

Bestrafung

Sozialer Ausschluß (Time-out)

Methoden des Verhaltensaufbaus

Neuere verhaltenstherapeutische Methoden

 

GESTALTTHERAPIE MIT BEHINDERTEN

 

1. Störungs- und Therapieverständnis

 

2. Die therapeutische Beziehung

 

3. Gestalttherapeutische Grundsätze

 

4. Ablauf des therapeutischen Prozesses

 

PSYCHOANALYTISCH ORIENTIERTE THERAPIE

 

1. Störungs- und Therapieverständnis

 

2. Prinzipien des therapeutischen Vorgehens

 

«Therapievertrag»

Deskriptive Diagnostik

Beratung der Bezugspersonen

Einzeltherapie

 

3. Die therapeutische Beziehung

 

KLIENTENZENTRIERTE GESPRÄCHSPSYCHOTHERAPIE

 

1. Störungs- und Therapieverständnis

 

2. Die therapeutische Haltung

 

3. Therapeutische Grundsätze

 

SYSTEMISCHE THERAPIE

 

1. Störungs- und Therapieverständnis

 

2. Systemtherapeutische Grundannahmen nach Minuchin und Satir

 

3. Systemtherapeutische Methoden

 

4. Bemerkungen zur systemischen Therapie mit geistig behinderten Menschen

 

TRANSAKTIONSANALYTISCHE THERAPIE

 

1. Störungs- und Therapieverständnis

 

2. Ansatzpunkte für transaktionsanalytische Interventionen

 

Das Zuwendungsmuster

Ersatzgefühle, Maschen und psychologische Spiele

Die pathologische Symbiose

Die aggressive Eskalation mit Kontrollverlust

 

3. Faktoren der transaktionsanalytischen Therapie

 

VERGLEICH DER THERAPIE-FORMEN

Drittes Kapitel: Beziehung als Entwicklungschance

1. Der Alltag als Feld der Beziehungsgestaltung

2. Die Haltung der Bezugsperson

3. Entwicklungspsychologische Grundlagen

Bedeutung der Geburt

Primärer Zustand

Symbiotische Phase

Differenzierungsphase

Übungsphase

Wiederannäherungsphase

Befestigungsphase

Ödipale Phase

Latenzzeit

Pubertät und Adoleszenz

Erwachsenenalter

4. Störungs- und Symptomverständnis

5. Konkrete Hinweise zur Beziehungsgestaltung

Spiegeln

Autonomie gewähren

Emotionale Verfügbarkeit

Übergangsobjekt

Gestaltung von Übergangs- und Trennungssituationen

Umgang mit Anforderungen

Umgang mit Konflikten

Unterstützung sozialer Kompetenzen

Viertes Kapitel: Der differenzierte Entwicklungsstand

 1. Ich- und Beziehungsentwicklung

 2. Angstentwicklung

 3. Sexualentwicklung

 4. Entwicklung der Aggression und Aggressionssteuerung

 5. Entwicklung des Norm- und Wertbewußtseins

 6. Denkentwicklung

 7. Entwicklung der Wahrnehmung und Handlungsplanung

 8. Sprachentwicklung

Sprachproduktion

Sprachverständnis

Sprachbezogene Beschäftigung

 9. Entwicklung der Leistungsmotivation

10. Spielentwicklung

11. Entwicklung des bildhaften Ausdrucks

12. Entwicklung der Grob- und Feinmotorik

13. Entwicklung der lebenspraktischen Fähigkeiten

Zweiter Teil:

Konkretionen

Stephan

1. Beschreibung der Person

2. Analyse des Entwicklungsstandes

Kognitiver Entwicklungsstand

Emotionaler Entwicklungsstand

3. Schwerpunkte einer entwicklungsfreundlichen Beziehungsgestaltung

4. Heutiges Entwicklungsniveau

Lukas

1. Beschreibung der Person

2. Analyse des Entwicklungsstandes

Kognitiver Entwicklungsstand

Emotionaler Entwicklungsstand

3. Schwerpunkte einer entwicklungsfreundlichen Beziehungsgestaltung

4. Heutiges Entwicklungsniveau

Thomas

1. Beschreibung der Person

2. Analyse des Entwicklungsstandes

Kognitiver Entwicklungsstand

Emotionaler Entwicklungsstand

3. Schwerpunkte einer entwicklungsfreundlichen Beziehungsgestaltung

4. Heutiges Entwicklungsniveau

Sabine

1. Beschreibung der Person

2. Analyse des Entwicklungsstandes

Kognitiver Entwicklungsstand

Emotionaler Entwicklungsstand

3. Schwerpunkte einer entwicklungsfreundlichen Beziehungsgestaltung

4. Heutiges Entwicklungsniveau

Gerda

1. Beschreibung der Person

2. Analyse des Entwicklungsstandes

Kognitiver Entwicklungsstand

Emotionaler Entwicklungsstand

3. Schwerpunkte einer entwicklungsfreundlichen Beziehungsgestaltung

4. Heutiges Entwicklungsniveau

Maren

1. Beschreibung der Person

2. Analyse des Entwicklungsstandes

Kognitiver Entwicklungsstand

Emotionaler Entwicklungsstand

3. Schwerpunkte einer entwicklungsfreundlichen Beziehungsgestaltung

4. Heutiges Entwicklungsniveau

 

Schlußgedanken

Anhang

Literaturverzeichnis

 

Register

«Das Du begegnet mir. Aber ich trete in die unmittelbare Beziehung zu ihm. So ist die Beziehung Erwähltwerden und Erwählen, Passion und Aktion in einem. Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Die Einsammlung und Verschmelzung zum ganzen Wesen kann nie durch mich, kann nie ohne mich geschehen. Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.»

Martin Buber

Einleitung

Eines Tages sagte eine schöpferisch begabte, geistig behinderte Frau mit Down-Syndrom zu ihrer wesentlich jüngeren Betreuerin: «Du bist ein weiter Baum.» Die beiden hatten eine innige Beziehung zueinander, und die Betreuerin spürte, daß ihr damit etwas Wichtiges mitgeteilt wurde, das ihrer beider Verhältnis betraf. Deshalb fragte sie nach: «Was meinst du damit, wieso bin ich ein weiter Baum?» Und sie erhielt zur Antwort: «Ein Baum ist groß, und da wohnen viele Vögel drin. Der Wind rauscht in den Zweigen, und die Sonne scheint. Du bist ein weiter Baum.» So erläuterte die etwa fünfzigjährige Frau der knapp dreißigjährigen im Bild die Seinsweise des Baumes und damit zugleich die Empfindung, die sie in ihrer Gegenwart erfüllte. Sie fühlte sich bei ihr wie unter einem weiten Baum, der Lebensraum spendet für viele Tiere, dessen Blätter von dem Lebenshauch des Windes bewegt werden, der im Licht, in der Wärme steht und zugleich vor sengender Hitze schützt. Ein weiter Baum – er selbst ist üppig gewachsen, ebenso wie man bei ihm und durch ihn wachsen kann. «Du bist ein weiter Baum.»

Die behinderte Frau, die die geistigen Fähigkeiten eines etwa fünfjährigen Kindes besaß, wußte nichts von dem archetypischen Symbol des Lebensbaumes, das sich in allen Kulturen der Erde findet. Sie ahnte nicht, daß schon in den Psalmen des Alten Testaments der Mensch mit dem Baum verglichen wird. Auch dort ist es der beziehungsfähige Mensch – nämlich der, der sein Leben von Gott her begreift und auf ihn hin ausrichtet –, der grünt und gedeiht und reiche Frucht bringt (vgl. Psalm 1,3). Hier deutete die behinderte Frau mit dem Bild des Baumes ihr Beziehungserleben an. Sie spürte die der Entfaltung des Lebens dienende Kraft einer Beziehung, in der wirkliche Begegnung sich ereignet.

Um die Bedingungen solcher Beziehungen, die Martin Buber mit den Worten beschrieb, die ich als Motto wählte, soll es in diesem Buch gehen. Damit versuche ich etwas Unmögliches. Ich möchte sachlich, an Kriterien orientiert, von der Möglichkeit einer persönlichkeitsfördernden, heilsamen Beziehung sprechen, möchte als erklärbares Faktum das betrachten, was sich doch seinem Wesen nach dem rationalen Zugriff entzieht. Die lebendige und Leben gewährende Beziehung bleibt unverfügbares Ereignis, sie läßt sich nicht in ihre Elemente zerlegen, ohne ihre Wirklichkeit zu verlieren, ohne zum Schatten ihrer selbst zu werden. Das Buch wird also dieser Absicht nicht gerecht werden. Deshalb muß ich mein Ziel zurückstecken und mich damit begnügen, das Konzept einer Beziehung zu umreißen, das nur ansatzweise zu vermitteln vermag, was auszudrücken ich anstrebe. Doch der Alternative des Schweigens ziehe ich diese unzulängliche Form der Mitteilung vor.

Der zentralen Frage, wie eine Beziehung zu geistig behinderten Menschen – auch innerhalb des einschränkenden Rahmens einer Institution – zu gestalten sei, damit sie heilsam wirke und psychisches Wachstum erlaube, nähere ich mich im ersten Teil des Buches in drei Schritten.

Im ersten Kapitel verfolge ich die Frage, welche Faktoren die psychische Entfaltung geistig Behinderter einschränken oder unterbinden, wie ihre erhöhte psychische Verletzlichkeit zu erklären sei und welche Lebensbedingungen die bei ihnen so häufig anzutreffenden psychischen Störungen bewirken oder zumindest unterstützen.

Im zweiten Kapitel schildere ich wichtige psychotherapeutische Verfahren, die den Behandlungsbedingungen geistig behinderter Menschen angepaßt wurden. Die Fragen der Beziehungsgestaltung und des therapeutischen Vorgehens, bezogen auf die spezifischen Grundannahmen der jeweiligen Theorie, bilden dabei das Zentrum des Interesses.

Im dritten Kapitel schließlich erläutere ich den Ansatz der entwicklungsfreundlichen Beziehungsgestaltung als eine heilpädagogische Umgangsform mit geistig behinderten Menschen, die sowohl entwicklungsfördernd als auch im begrenzten Rahmen therapeutisch wirkt und der Entfaltung der Gesamtpersönlichkeit dient. Ich verstehe das Konzept der entwicklungsfreundlichen Beziehung – im Sinne Martin Bubers – als Lebensform. Insofern es aber professionell umgesetzt wird, ist es auch fachlich zu begründen und zu reflektieren. Eng verbunden ist es mit der psychoanalytischen Therapie, weil es auf dieselben entwicklungspsychologischen und psychopathologischen Theorien zurückgreift und wie diese auf frühkindliche Erlebnisweisen und Beziehungsbedürfnisse eingeht; gleichermaßen nahe steht es der klientenzentrierten Therapie, mit der es insbesondere die Betonung der klassischen therapeutischen Beziehungsvariablen teilt. Doch wird der Leser auch vielfältige Ähnlichkeiten mit den anderen Therapieformen erkennen. Ausführlich stelle ich in diesem dritten Kapitel zunächst die Grundlagen der entwicklungsfreundlichen Beziehung dar, nämlich ihre Orientierung am Alltagsleben, die Haltung der Bezugsperson und die Entwicklung der emotionalen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten der Persönlichkeit bis zum Erwachsenenalter. Auf dieser Basis erläutere ich das Verständnis von psychischen Störungen und Symptomen. Schließlich erörtere ich anhand einiger für das alltägliche Leben hochbedeutsamer Themenbereiche das praktische, am Entwicklungsstand orientierte pädagogische Vorgehen.

Das vierte Kapitel widme ich der Entwicklung von dreizehn verschiedenen Persönlichkeitsbereichen. In Stichworten werden auch im Alltag beobachtbare Merkmale den einzelnen Altersstufen zugeordnet; denn erst durch die differenzierte Bestimmung des Entwicklungsalters läßt sich beurteilen, ob ein Interaktionsangebot angemessen oder unpassend ist.

Der zweite Teil des Buches dient der Konkretion des Konzeptes. Es soll vorstellbar werden, wie sich im Alltag mit ihm arbeiten läßt, zu welchen Interaktionen es herausfordern kann, welche Veränderungsprozesse möglich sind. Deshalb schildere ich den Umgang mit sechs geistig behinderten Menschen, die sehr verschiedenartige Probleme, aber alle einen kleinkindhaften emotionalen Entwicklungsstand aufweisen. Stephan ist ein achtjähriger Junge, übermäßig brav, der sich nicht zielgerichtet beschäftigt und nicht spricht. Lukas ist ein junger Mann, der so scheu ist, daß er noch nicht einmal um Butter für seine Schnitte Brot bittet. Thomas, ebenfalls ein junger Mann, regt seine Umgebung auf, indem er andere Menschen so lange anstarrt, bis sie ärgerlich reagieren, und indem er ständig dieselben Befürchtungen wiederholt und sich nicht beruhigen läßt. Sabine beißt sich selbst und andere Menschen heftig in die Hände. Gerda tobt bei der geringsten emotionalen Verunsicherung und schlägt sich den Kopf blutig. Maren schließlich, leichter geistig behindert als die übrigen, «provoziert» mit Vorliebe ihre Mitmenschen und zeigt ebenfalls selbstschädigendes Verhalten.

Sie alle überwanden durch die entwicklungsfreundliche Beziehung ihre emotionale Stagnation und haben Vertrauen zu ihrer Bezugsperson und zu sich selbst gewonnen, so daß sich ihre Verhaltensstörungen milderten und sie wichtige Entwicklungsschritte vollziehen konnten. Die eindrucksvollen Erfolge wurden durch einen geringen zeitlichen Betreuungsmehraufwand erzielt. Allerdings verlangten sie ein deutliches «Mehr» an Beziehungsbereitschaft. Deren Kennzeichen sind:

• emotionale Präsenz,

• ein differenziertes entwicklungspsychologisches Fachwissen, das die Wahrnehmung phasenspezifischer Beziehungsbedürfnisse erlaubt,

• die Fähigkeit zu Wertschätzung, Empathie, Echtheit und reflexiver Distanz.

• Arbeiten mehrere Personen zusammen, so sollten sie dieses Konzept alle gemeinsam vertreten.

Die zwischenmenschliche Beziehung bildet den inhaltlichen Mittelpunkt dieses Buches. Sie wird als Grundlage der Lebensqualität der behinderten Menschen erachtet, zumal in ihr die Chance zur psychischen Nachreifung und emotionalen Ausdifferenzierung liegt. Diese Chance und ihre Bedingungen sichtbar zu machen und Wege aufzuzeigen, sie in ein heilpädagogisches Konzept zu integrieren, ist das Anliegen dieses Buches. In ihm wird die Art der Beziehung zum Maßstab für die Bewertung der pädagogischen Leistung erhoben. Insofern verstehe ich das Konzept durchaus als einen Beitrag zur Diskussion über die Qualität in der sozialen Arbeit. Allerdings wende ich mich gegen einen Begriff von Qualität, der sich ausschließlich an sicht- und meßbaren Leistungen in Form materieller Werte oder quantitativ zu erfassender Betreuungsaufgaben und -zeiten orientiert. Vielmehr fühle ich mich den nicht meßbaren, aber in ihren Wirkungen deutlich wahrnehmbaren und beschreibbaren Merkmalen der Beziehungsarbeit verpflichtet.

In Zeiten, in denen sich wandelnde Professionalitätsvorstellungen und Rationalisierungsmaßnahmen die Gefahr mit sich bringen, daß Zuwendung auf eine in Minuten zu leistende, schriftlich ausgewiesene und entsprechend abgerechnete Tätigkeit reduziert wird, ist es mir wichtig, das Augenmerk darauf zu lenken, daß die Qualität einer Beziehung und ihr therapeutischer Effekt sich diesem Rationalitätsschema entziehen. Hingegen kommt es auf die Ich-Du-Beziehung im Sinne Bubers an, in der das «wirkliche Leben» in Erscheinung tritt und Gestalt gewinnt.

Daß viele Menschen auf unterschiedlichste Weise zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben, versteht sich von selbst. Denn schließlich reifen Gedanken und gestalten sich Werke immer im lebendigen zwischenmenschlichen Austausch. Weil mir deshalb eine angemessene Danksagung gar nicht möglich erscheint, möchte ich nur drei Personen bzw. Personengruppen exemplarisch erwähnen. Zuerst seien die behinderten Menschen genannt, die mir durch ihr So-Sein vielfältige Einsichten ermöglichten. Sodann danke ich meinen Schülern, die sich bereitwillig auf das Beziehungskonzept einließen und durch deren Arbeit sich dessen Wirksamkeit bestätigte. Und schließlich danke ich meiner Kollegin Ulrike Luxen für ihre anhaltende Bereitschaft zu fachlichen Gesprächen und praktischen Anregungen, die in der endgültigen Fassung des Buches ihren Niederschlag fanden.

Erster Teil

Konzepte

Erstes Kapitel:

Psychische Störungen

Unter dem Begriff der Entwicklungsförderung verbirgt sich ein für den Umgang mit geistig behinderten Menschen schier unerschöpfliches Thema. Wird eine Behinderung diagnostiziert, so setzt alsbald – falls der Betroffene gut versorgt wird – die «Frühförderung» ein. Sie erfaßt alle Gebiete: die Motorik, die Wahrnehmung, das Spiel, die Denkfähigkeit, die Sprache, das Sozialverhalten. Gefördert wird auf die unterschiedlichste Art und Weise, und jede Methode beansprucht, einen Beitrag zur gesamten Persönlichkeitsentwicklung zu leisten. Daß dabei jeweils die Beziehung eine Rolle spielt, daß eine gute Beziehung sogar grundlegend ist für die Bereitschaft, sich auf den Prozeß der Förderung überhaupt einzulassen, daß sie somit eine unverzichtbare Voraussetzung für den Erfolg bildet, bestreitet heute niemand mehr.

In den letzten beiden Jahrzehnten wurde darüber hinaus zunehmend deutlich, daß reine Förderkonzepte nicht hinreichen, um geistig behinderte Menschen in ihrer Persönlichkeitsentfaltung zu unterstützen. Denn ein verändertes Menschenbild in der Behindertenpädagogik schärfte die Wahrnehmung dafür, daß zahlreiche Persönlichkeitseinschränkungen, die sich neben dem Mangel an Fähigkeiten auch als behandlungsbedürftige Verhaltensstörung äußern, als manifeste emotionale Störungen einzustufen sind. Das bedeutet, daß die auffälligen und oft als «typisch» geltenden Schwierigkeiten weder einseitig als unmittelbare Folge der Behinderung zu werten sind, noch lediglich eine Konsequenz einschränkender, menschenunwürdiger Lebensbedingungen darstellen. Erstere Meinung herrschte in der traditionellen Behindertenpädagogik ebenso wie in der klassischen Psychiatrie vor. Ausgehend von der Hypothese, geistige Behinderung sei durch einen hirnorganischen Defekt bedingt, wurden die Verhaltensstörungen lediglich als Ergebnis fehlerhaft arbeitender Hirnfunktionen gedeutet, somit als biologisch bedingt, für den gesunden Außenstehenden nicht nachvollziehbar und vom Pädagogen unbeeinflußbar.

Eine andere lerntheoretisch ausgerichtete und milieuorientierte Sichtweise vertraten viele moderne Pädagogen der siebziger Jahre, die sich im Zuge der Psychiatriereform für die Enthospitalisierung geistig behinderter Menschen und die Normalisierung ihrer Lebensbedingungen einsetzten. Spricht das biologisch-defektorientierte Menschenbild den geistig Behinderten jegliche Fähigkeit ab, auf verletzende Erlebnisse und widrige Lebensumstände mit psychischen Störungen zu antworten, so betrachtet dieses Modell ihn als zwar lernfähigen, aber völlig außengesteuerten Organismus, der auf positive Lebensbedingungen «automatisch» positiv reagiert.

Erst die Tatsache, daß mit der Annäherung der Lebensverhältnisse an das «gesellschaftlich Normale» zwar einige, aber beileibe nicht alle schwerwiegenden Verhaltensstörungen, «von selbst» verschwanden, öffnete den Blick dafür, daß geistig behinderte Menschen traumatische Erfahrungen konflikthaft verarbeiten und seelisch erkranken können. Nun erkannte man, daß geistig Behinderte sich nach denselben psychischen Gesetzen entwickeln, daß sie empfinden, emotional reagieren und kognitive Strukturen ausbilden wie normal begabte Menschen auch. Mit diesem Ansatz ließen sich die Mehrzahl ihrer fremdartig anmutenden, oftmals unverständlich scheinenden Verhaltensmuster als zwar chronifizierte, aber sinnvolle Antwort auf verletzende Ereignisse, unbefriedigende Beziehungsangebote, unangemessene Lebensbedingungen mit ständigen Über- oder Unterforderungen, kurz als psychische Störung begreifen.

Obgleich sich manches Problemverhalten tatsächlich als unmittelbare, hirnorganisch oder genetisch bedingte Folge der Behinderung herausstellte, ließ sich aufgrund dieses Befundes die klassisch psychiatrische Auffassung nicht mehr halten, daß geistig behinderte Menschen psychisch zu undifferenziert, d.h. «zu dumm», sind für eine «eigentliche» psychische Störung. Vielmehr erweist sich die geistige Behinderung unter dieser Perspektive als ein «Risikofaktor», der die Wahrscheinlichkeit seelischer Schwierigkeiten erhöht, weil die kognitiven Bewältigungsmöglichkeiten (z.B. die Einsicht in Zusammenhänge) vermindert sind. Die Behinderung führt also zu einer gesteigerten Verwundbarkeit der Betroffenen. Zudem bedingt sie oft besonders verletzende Lebensereignisse, die wiederum die Wahrscheinlichkeit psychischer Beeinträchtigungen erhöhen. So sind geistig behinderte Menschen oftmals dauerhaftem psychosozialen Streß ausgesetzt, indem sie häufig emotional unverstanden bleiben und abgelehnt oder stigmatisiert werden, weil sie vielfältigen kognitiven und praktischen Anforderungen nicht genügen können, indem sie ständig mit allzu engen Grenzen konfrontiert werden und schließlich weil sie wieder und wieder schmerzliche Trennungen (durch Krankenhausaufenthalte oder das Heimleben) ertragen müssen.

Als Konsequenz der psychischen Voraussetzungen und der objektiven Belastungen treten seelische Erkrankungen, wie neuere Forschungen übereinstimmend belegen, bei geistig behinderten Menschen gehäuft auf. Lotz und Koch (in Lotz, Koch, Stahl 1994, S. 25) haben die vorliegenden Studien ausgewertet und kommen zu dem Schluß, «daß etwa 30 bis 40 % der Personen mit geistiger Behinderung irgendeine Form psychischer Störung aufweisen.» Und in der International Classification of Diseases (ICD) 10 der Weltgesundheitsorganisation wird ihre Häufigkeit als «drei- bis viermal so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung» (ICD-10 V 2. Aufl. 1993, S. 254) angenommen.

Die Einsicht in die seelische Verwundbarkeit und Verletztheit geistig behinderter Menschen regte das Forschungsinteresse an. Es galt, die Fragen der Diagnose, der Entstehung und der Behandlungsmöglichkeiten ihrer psychischen Störungen zu klären. Zunächst im anglo-amerikanischen Sprachraum und den Niederlanden, während der letzten zehn Jahre auch in Deutschland, häuften sich die Veröffentlichungen zu den genannten Themenkreisen.

1. Diagnostische Probleme

Die Tatsache, daß geistig behinderten Menschen die «Fähigkeit zur psychischen Störung» so lange Zeit abgesprochen wurde, verweist schon auf den Umstand, daß bei ihnen solche Störungen nicht so leicht diagnostizierbar sind. Denn geistig behinderte Menschen besitzen nur ein eingeschränktes Spektrum an Verhaltens- und Reaktionsweisen, um die unterschiedlichsten inneren Zustände auszudrücken. Außerdem zeigen sie Symptomkombinationen, die sich nicht zwanglos in geläufige psychiatrische Krankheitsbilder einordnen lassen. Kann man dennoch von der gleichen psychischen Krankheit sprechen, auch wenn die Symptome nicht «passen»? Manche Symptome sind unspezifisch, ungewöhnlich oder für das Alter untypisch. Bei anderen Symptomen ist unklar, ob sie bei geistig behinderten Menschen dieselben Rückschlüsse zulassen wie bei nicht behinderten. Die psychische Bedeutung der Symptome läßt sich auch deswegen schwer erfassen, weil geistig behinderte Menschen verbal häufig überhaupt nicht oder nur undifferenziert über ihre emotionale Befindlichkeit und ihre Lebensgeschichte Auskunft erteilen können. Damit entfällt jedoch ein sehr wichtiges, wenn nicht gar das wichtigste Mittel zur psychopathologischen Differenzierung. Denn das Auftreten allein macht ein Symptom noch nicht zum Krankheitszeichen. Dazu wird es erst durch seine Häufigkeit, Dauer und Intensität, die Kombination mit anderen Symptomen und seine die Lebensgestaltung beeinträchtigende Wirkung – kurz, erst durch die Art, wie der Patient sein Symptom erlebt. Erst wenn er oder seine Mitwelt unter dem Symptom leidet, darf es als Signal einer psychischen Störung gewertet werden.

Da der geistig behinderte Mensch über sein seelisches Leiden nur eingeschränkt oder gar nicht sprechen kann, müssen eine erweiterte Beobachtung und sorgfältige Interpretation bzw. genaue Verhaltensbeschreibung versuchen, die Selbstaussage zu ersetzen. Darüber hinaus gilt es, auch wenn diese oft schwer zu erhalten sind, umfassendere Informationen über die Lebensgeschichte, aktuelle Situation und Beziehungskonstellationen zu erfragen, als dies bei der durchschnittlichen Befunderhebung geschieht. Denn die auffälligen oder störenden Symptome stellen immer auch Problemlösungsstrategien dar, die eine Wurzel in der Lebensgeschichte haben, ebenso wie sie als Beziehungsangebot und als Antwort auf ein solches, d.h. als Interaktionsphänomene, zu werten sind.

Das diagnostische Vorgehen wird also dahingehend verändert, daß es den Gedanken der Leitsymptome weitgehend aufgibt und eine psychische Krankheit nicht mehr einseitig über eine bestimmte Symptomkombination (Syndrom) definiert. Vielmehr rückt es die Bedeutungsebene in den Vordergrund, indem es die Symptome im Zusammenhang mit dem sonstigen Verhalten und dem jeweiligen aktuellen, sowie lebensgeschichtlichen Hintergrund zu verstehen sucht. Dadurch gelangt es zu der Erkenntnis, daß es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen den psychischen Erkrankungen nicht geistig behinderter und behinderter Menschen gibt. Letztere erleiden die ganze Vielfalt psychischer Beeinträchtigungen, nur daß deren Erscheinungsweise sich mit zunehmendem Behinderungsgrad von dem gewohnten Krankheitsbild entfernt; andere Symptome, die aber ein vergleichbares Leiden anzeigen, treten an die Stelle.

So lassen sich die psychischen Störungen leicht geistig behinderter Menschen noch recht gut mit den gängigen Diagnoseschlüsseln ICD-10 und DSM IV erfassen. Für die Diagnostik schwer geistig Behinderter müssen diese Standardverfahren jedoch modifiziert werden, indem die tatsächlich beobachtbaren Merkmale den ihnen entsprechenden Störungen zugeordnet werden.

Dem Bestreben, die psychischen Störungen geistig behinderter Menschen anhand des ICD-10 oder DSM IV zu klassifizieren, setzen andere Forscher eine Methode entgegen, in der sie Störungen vornehmlich aus entwicklungspsychologischer Sicht beschreiben und erklären. Zu nennen wäre von deutscher Seite insbesondere Gaedt, der als psychoanalytisch orientierter Psychiater bei der diagnostischen Differenzierung die Phasen der Persönlichkeitsentwicklung anwendet, wie Mahler sie erarbeitet hat. Da das psychische Entwicklungsniveau gestörter geistig behinderter Menschen häufig gering anzusetzen ist, diagnostiziert Gaedt zumeist sogenannte Frühstörungen, die sich vornehmlich durch tiefgreifende Beziehungsstörungen, frühe Formen der Angst, eine unzureichende Ausbildung der Ich-Funktionen, ein primitives Über-Ich und die Entwicklung einer pathologischen Identität auszeichnen. Solche Frühstörungen werden erkannt und in ihrer Qualität genau beschrieben durch die Analyse der aktuellen Beziehungsstrukturen und Gegenübertragungsreaktionen. Denn psychisch früh gestörte Menschen erleben und deuten die Welt nicht nur gemäß den ursprünglich erlebten, verinnerlichten, affektiv aufgeladenen und niemals überwundenen Beziehungsmustern. Vielmehr reagieren sie auch entsprechend und zwingen damit heutige Bezugspersonen in die ihnen zugedachten, das alte Muster vervollständigenden Rollen. Deshalb sagen nicht nur die beobachteten Verhaltensweisen des behinderten Menschen (Übertragung), sondern auch die Gefühle und Reaktionen der Interaktionspartner (Gegenübertragung) etwas über die Natur seiner seelischen Störung aus. Gaedt verzichtet bewußt auf die psychiatrische Klassifikation, d.h. auf die exakte Zuordnung zu einem vorgegebenen Krankheitsbild, weil sie keinen Ansatz für das psychotherapeutische Vorgehen bietet. Den eröffnet aber die psychoanalytisch ausgerichtete, entwicklungsbezogene Denkweise. Denn sie bezieht sich, indem sie die Störung beschreibt, immer schon auf eine Theorie, die ihre Entstehung erklärt und die eine Perspektive der Weiterentwicklung enthält.

2. Entwicklungsbedingungen psychischer Störungen

Vielerlei Faktoren tragen, wie bereits angedeutet, zu der größeren psychischen Verwundbarkeit und der fortbestehenden Verletztheit geistig behinderter Menschen bei. So sind die Gründe für die seelischen Störungen sowohl in der geistigen Behinderung selbst als auch in den prägenden Lebenserfahrungen und in den aktuellen Lebensbedingungen zu suchen.

Geistige Behinderung

Ein geistig behinderter Mensch ist in der Fähigkeit beeinträchtigt, Reize, die er aus seiner Umwelt oder seinem Körperinneren aufnimmt, in sinnvolle Informationen umzuwandeln und angemessen darauf zu reagieren. Es fällt ihm schwerer als einem «normal Begabten» – er benötigt mehr Zeit, oder es gelingt ihm gar nicht hinlänglich – seine Wahrnehmungen zu organisieren und zu verstehen, Handlungen zu planen und durchzuführen, den Erfolg zu bewerten und aus seinen Erfahrungen zu lernen, also sein Verhalten bei Mißerfolg zweckmäßig abzuwandeln. Konkret bedeutet das: Ein geistig behindertes Kind braucht viel länger, um elementare Zusammenhänge zu erfassen und Handlungsabfolgen zu begreifen. Es lernt beispielsweise nicht so schnell, daß ein Gegenstand auch dann noch weiter existiert, wenn er aus seinem Gesichtskreis verschwindet. Folglich wird es das Verschwinden des Gegenstandes hinnehmen und sich nicht umblicken oder ihn gar suchen. Oder es erkennt nicht, was es tun muß, um ein sichtbares, aber außer Reichweite, etwa auf einem hohen Regalbrett befindliches Ding zu erlangen. Deshalb wird es kaum ausprobieren, wie es das erwünschte Ding erreichen kann. Es wird nicht auf die Idee kommen, einen Stuhl heranzuziehen, um hinaufzuklettern. Vielmehr wird es nach dem ersten Mißerfolg – weil z.B. die Arme zu kurz sind – verzichten oder um Hilfe schreien. Damit erlebt der geistig behinderte Mensch die Welt als wenig begreiflich und sich selbst als vielen Gegebenheiten hilflos ausgeliefert und abhängig. Er erfährt sich kaum als fähig, Einfluß auf die Geschehnisse zu nehmen und seine Welt nach eigenen Wünschen mitzugestalten. Seine Wirksamkeit bleibt äußerst gering; mächtig sind die anderen, z.B. die Eltern. Nun machen zwar alle Kinder die Erfahrung relativer Hilflosigkeit, doch wird sie in einer normalen geistigen Entwicklung durch den Stolz auf die täglich wachsenden Fähigkeiten hinreichend aufgewogen. Geistig behinderte Kinder aber lernen verlangsamt, verbuchen deshalb vergleichsweise selten beglückende Erfolge; zudem bleiben sie auch in der Bewegungsentwicklung meist hinter der Altersnorm zurück, so daß die verlangsamte Motorik zusätzlich dem Streben nach Verselbständigung entgegensteht.

Bedenkt man, wie wesentlich es für die Ausbildung eines gesunden Selbstwertgefühls ist, die Lebenswirklichkeit hinlänglich zu verstehen, ihren Anforderungen zu genügen und sie den eigenen Bedürfnissen entsprechend gestalten zu können, so leuchtet es unmittelbar ein, wie beeinträchtigt oder zumindest gefährdet das Selbstwertgefühl geistig behinderter Menschen ist. Es erwächst nicht aus dem sicheren Erfahrungswissen des «Ich kann», es bestätigt sich nicht durch die selbst erworbene und von anderen Menschen zugebilligte Autonomie, es steigert sich nicht durch äußere Anerkennung und Achtung.

Die eingeschränkte kognitive Leistungsfähigkeit führt dazu, daß die Ich-Funktionen sich unzulänglich entwickeln. Die Möglichkeiten der Urteilsbildung, der Realitätsprüfung und der gedanklichen Vorausschau des Handlungsergebnisses nehmen schon bei einer leichten geistigen Behinderung deutlich ab. Mit wachsenden Behinderungsgraden sinkt auch zunehmend die Fähigkeit zur Handlungsplanung, zum gezielten Einsatz von Gedächtnisinhalten, zur Lenkung der Aufmerksamkeit und zur Steuerung der Willkürmotorik.

Schwach ausgebildete Ich-Funktionen bedeuten zugleich ein geschwächtes Ich. Ein geschwächtes Ich ist aber störanfällig, so daß es leicht durch die Anforderungen der Realität überfordert wird. Überforderungssituationen, der damit einhergehende Verlust an Orientierung und die Häufung von Mißerfolgen führen zu ständigen Frustrationen, die wiederum das Selbstwertgefühl verletzen. Der Kreis schließt sich.

Um der Bedrohung des Selbstwertgefühls und der dadurch ausgelösten Angst zu entkommen, entwickelt der Mensch Schutz- oder Abwehrmechanismen. Ihnen entsprechen auch die Strategien, mit denen er Belastungssituationen zu bewältigen sucht (Coping). Nach Vaillant lassen sich vier verschiedene Reifungsebenen der Schutzund Bewältigungsstrategien unterscheiden. Auf der niedrigsten Stufe treten die sogenannten «psychotischen» Mechanismen auf, und zwar die wahnhafte Projektion, die radikale Verleugnung und die Spaltung. Das zweite Niveau kennzeichnen die Strategien, die, obwohl unreif, nicht mehr zu ganz so groben oder unrealistischen Lösungen führen. Solche sind die nicht-psychotische Projektion und die als Abwehr dienende Identifikation. Hypochondrisches, passiv regressives Verhalten und blindes Ausagieren lassen sich ebenfalls dieser Entwicklungsstufe zuordnen. Auf der dritten Ebene finden sich die «neurotischen» Bewältigungsformen der Intellektualisierung/Rationalisierung, der Dramatisierung, der Affektisolierung, der Verschiebung, des Ungeschehenmachens, der Reaktionsbildung und der Verdrängung im engeren Sinne. Das «reife» Coping der vierten Stufe schließlich äußert sich in den Fähigkeiten zu Altruismus, Humor, Aufschub, Antizipation und Sublimation.

Bei geistig behinderten Menschen herrschen aufgrund der relativen Ich-Schwäche die niedrigeren Niveaus der Bewältigungsstrategien vor, insbesondere dann, wenn ihr Selbstwertgefühl durch unerfüllte Beziehungsbedürfnisse und traumatische Ereignisse zusätzlich beeinträchtigt ist. Das heißt aber, daß sie sich bei psychischen Belastungen häufig archaisch anmutend, sozial nicht angepaßt und unter rationalen Gesichtspunkten völlig unzweckmäßig, mithin «psychisch gestört» verhalten, um sich zu schützen, ihr inneres Gleichgewicht zurückzugewinnen oder die Unerträglichkeit der Situation auszudrücken. Manche ziehen sich vielleicht in eine Ecke zurück, schaukeln mit dem Oberkörper, lutschen am Daumen (Regression), oder sie beschäftigen sich stereotyp, als ob sie dort krampfhaft Halt suchen, mit einem vertrauten Gegenstand (ebenfalls Regression, vgl. Teil II Lukas). Andere fliehen geradezu in zwanghafte Verhaltensweisen (vgl. Teil II Thomas). Oder sie verlieren die Selbstkontrolle, werden aggressiv bzw. autoaggressiv, d.h. verletzen sich selbst, greifen andere an oder zerstören Gegenstände (Ausagieren: vgl. Teil II Sabine, Gerda, Maren). Wieder andere fühlen sich körperlich unwohl, fürchten eine Krankheit und verkriechen sich im Bett (vgl. Teil II Gerda, Maren). Alle diese Verhaltensweisen sind sinnvoll, insofern sie dazu dienen, die seelische Balance wiederzufinden oder zumindest einen weiteren Verlust der psychischen Funktionsfähigkeit zu verhindern. Sie sind Ausdruck einer psychischen Störung, insofern sie eine leidvolle Überforderung eines schwachen Ichs, dem nur undifferenzierte Problembewältigungsmittel zur Verfügung stehen, anzeigen.

Die Funktionsschwäche des Ichs, zu der die geistige Behinderung führt, deutet sich sehr früh im Kontaktverhalten des behinderten Säuglings an. Während nicht beeinträchtigte Säuglinge schon in den ersten Monaten mittels ihrer Mimik, Gestik und Lautgebung wirkungsvoll die Kommunikationsabläufe mitgestalten und so selbst dazu beitragen, daß die Bezugspersonen sich auf ihre Entwicklungsbedürfnisse einstellen, reagieren geistig behinderte aufgrund ihrer Reizverarbeitungsschwäche häufig «unnormal». Denn der Schwierigkeit, die Zusammenhänge der dinglichen Umwelt angemessen zu erfassen, entspricht auf der zwischenmenschlichen Ebene das mangelnde Vermögen, Kontaktsignale richtig zu deuten und befriedigend zu beantworten. Ebenso ist die Fähigkeit, «verständliche» Zeichen zu senden, häufig eingeschränkt. So irritieren geistig behinderte Säuglinge ihre Eltern oftmals durch atypisches Beziehungsverhalten, das diese kaum verstehen können und deshalb auch nicht entwicklungsfördernd aufgreifen.

Viele, besonders schwerer geistig behinderte Säuglinge sind apathisch. Sie liegen still im Bettchen, ihr Blick verrät selten Aufmerksamkeit. Sie suchen von sich aus kaum Blickkontakt, scheinen ihre Bezugspersonen schwerer wiederzuerkennen, jedenfalls beglücken sie diese später und nicht so zuverlässig durch ihr soziales Lächeln. Ihre Mimik ist geschwächt, so daß sich Freude, Ärger, Wohlbehagen und Mißfallen nur undeutlich vom Gesicht ablesen lassen. Gleiches gilt für das Ausdrucksverhalten der Stimme und der Motorik. Die verschiedenen Möglichkeiten der Lautgebung werden weniger intensiv geübt und als Ausdruck der Gestimmtheit eingesetzt. Die Bewegungen sind träge und zeigen die Befindlichkeit nicht so nuancenreich an. Damit erschwert das behinderungsbedingte Verhalten den Eltern die Kontaktaufnahme, sie erhalten nicht die erwarteten Antworten, werden unsicher in ihren Angeboten zum Dialog, verlieren die Gelassenheit, die ihnen eine sensible Wahrnehmung der dennoch vorhandenen kindlichen Signale erlaubt, und versuchen entweder, ihr Kind in den Kontakt zu zwingen, oder sie ziehen sich resigniert zurück. Das Kind seinerseits wird durch die Art der elterlichen Zuwendung überfordert, fühlt sich aber durch die Abwendung dennoch verlassen.

Ähnliches gilt für den ebenfalls häufigen Fall, daß der Säugling unruhig, verspannt und leicht überreizt ist. Solch ein Kind schreit viel, läßt sich nur schwer beruhigen, reagiert auf Kontaktversuche eher abweisend verkrampft als freudig angeregt. Denn es kann ja seine Empfindungen nicht sinnvoll deuten; alle Reize, die auf es einströmen, bleiben zusammenhanglos und werden deshalb mit einer unspezifischen Gesamterregung beantwortet, oder sie werden, weil als unangenehm empfunden, einfach abgewehrt. Die Eltern fühlen sich abgelehnt, hilflos und unfähig. Nervös probieren sie alle verfügbaren Mittel der Beruhigung aus, um sich letztlich oftmals enttäuscht abzuwenden.

Der frühe Eltern-Kind-Dialog führt also, bedingt durch die Behinderung, nicht zum beglückenden Gefühl der emotionalen Übereinstimmung, und eine Beziehungsstörung bahnt sich an.

Beziehungsstörung

Nicht nur die behinderungsbedingten Abweichungen des Kontaktverhaltens gefährden die Entwicklung einer erfüllenden, entwicklungsfördernden Beziehung, sondern auch elterliche Probleme. Vielerlei Faktoren können es den Eltern zusätzlich erschweren, sich in das Ausdrucksverhalten ihres Kindes einzufühlen und ihm auf seinem Kommunikationsniveau zu begegnen, d.h. seine Signale aufzugreifen und liebevoll zu spiegeln. Gründe können in den eigenen unzulänglichen Beziehungserfahrungen, einer verschütteten Spontaneität – und damit in fehlenden abrufbaren günstigen Interaktionsmustern – ebenso liegen wie in einer belastenden Lebenssituation, die alle psychischen Energien bindet.

Die Geburt eines behinderten Kindes bedeutet eine herbe Enttäuschung für die Eltern. Ihre hoffnungsvollen Phantasien hinsichtlich des Kindes werden sich auch nicht ansatzweise verwirklichen, eigene Lebenspläne müssen umgestellt werden, gesellschaftliche Beziehungen können in Mitleidenschaft geraten. Die Eltern fühlen sich in ihrem eigenen Selbstwert verletzt, möglicherweise auch schuldig, auf jeden Fall überfordert. So haben sie Angst vor dem Leben mit diesem Kind, vor den zukünftigen Aufgaben. Sie werden sich gegen ihr Schicksal auflehnen oder es resigniert hinnehmen. Immer aber wird sich so lange eine gewisse, für die Beziehungsentwicklung ungünstige Befangenheit einstellen, bis sie ihren Schock verarbeitet haben, was oft mehrere Jahre dauert.

Die Befangenheit kann auf sehr unterschiedliche Weise in Erscheinung treten. Schlimmstenfalls äußert sie sich in der völligen Ablehnung des Kindes. Dann wird es im Krankenhaus zurückgelassen, schnellstmöglich in ein Heim abgeschoben (vgl. Teil II Sabine, Gerda) oder zu Hause weitgehend vernachlässigt (vgl. Teil II Lukas), vielleicht versteckt, möglicherweise sogar mißhandelt. Oder die Tatsache der Behinderung wird geleugnet. Dann behandeln die Eltern ihr Kind «ganz normal», wobei die Enttäuschung, daß sie dennoch keine «normalen» Reaktionen erhalten, sie häufig zu einem gemäßigten Rückzug aus der Beziehung veranlaßt. Solche Eltern lassen dann ihren Säugling, «wie er ist», gehen aber zugleich auf Distanz zu ihm, ein Zeichen dafür, daß sie ihn innerlich partiell ablehnen.

Wird die Behinderung anerkannt, so garantiert das auch noch keine angemessene Beziehungsgestaltung. Engagierte Eltern mögen sich entschließen, «alles» für ihr Kind zu tun, um die Behinderungsfolgen so gering wie möglich zu halten und «alles» verbliebene Potential «herauszuholen». Sie fördern ihr Kind folglich vielfältig und bestmöglich. Die vorbehaltlose Zuwendung aber droht in ein «pädagogisches» Verhältnis abzugleiten: Bewußt und gezielt werden die Anregungen angeboten, kritischen Auges die Reaktionen beachtet und bewertet, neue Vorgehensweisen erdacht. Die Kommunikationsformen werden weitgehend durch die Eltern bestimmt, das Kind hat darauf einzugehen und zu lernen. So schleichen sich Fremdbestimmung und Leistungsanforderungen ein in die ersten, ursprünglichsten, unmittelbarsten Begegnungen. Sie treten im Eltern-Kind-Dialog an die Stelle der intuitiven Einfühlung, der spürenden Feinabstimmung, bei der die Bezugspersonen die kindlichen Impulse spiegelnd aufgreifen. Sie vertreiben aus ihm das glückliche Lächeln und den Glanz in den elterlichen Augen, der einem Kind das so wichtige Gefühl seines Wertes vermittelt.

Andere Eltern nehmen die Behinderung ihres Kindes ebenfalls an, mehr noch: sie nehmen sie als unabänderlich hin. Sie verzichten auf Förderung (vielleicht wissen sie auch nicht von deren Möglichkeit) und sehen ihre Aufgabe in der aufopfernden Fürsorge. Sie beschützen und bemuttern ihr Kind, erwarten und fordern nichts von ihm, bieten ihm aber auch keine Anregung zur Verselbständigung und übergehen die spärlich vorhandenen Anzeichen zur Selbstbestimmung (vgl. Teil II Stephan). Diese überbehütenden Eltern dominieren ebenso wie die überfordernden den Eltern-Kind-Dialog, wodurch das Kind sich wiederum als fremdbestimmt erleben muß.

Selbst wenn die Eltern schließlich zu einer angemessenen Einstellung zu ihrem Kind finden, so vergeht doch eine beträchtliche Zeit, bis sie die schmerzliche Tatsache seiner Behinderung verarbeitet haben. Bis dahin benötigen sie viel psychische Energie für deren Bewältigung und stehen deshalb ihrem Kind emotional nicht hinreichend zur Verfügung. Den erhöhten Anforderungen an ihre Wahrnehmungs- und Interaktionsfähigkeit, die das Kontaktverhalten eines behinderten Säuglings an sie stellt, können sie schon gar nicht genügen. So fehlt die notwendige Empathie gerade im ersten Lebensjahr, in dem das Kind seine grundlegenden Beziehungserfahrungen sammelt, das Urvertrauen und das Fundament seines Selbstwertgefühls ausbildet. Im günstigsten Fall lassen sich die dadurch entstehenden «emotionalen Lücken» in den nachfolgenden Entwicklungsphasen schließen.

Allen dargestellten Formen der Beziehungsgestaltung zum behinderten Säugling ist gemeinsam, daß der Säugling nicht als Hauptakteur, auf den sich die Eltern einfühlsam einstellen, das Interaktionsgeschehen leitet. Die psychisch so bedeutsame elterliche Spiegelung des kindlichen Verhaltens unterbleibt weitgehend. Statt dessen dominieren – im vergleichsweise günstigen Fall – die Eltern den Dialog. Damit fehlt dem Kind die Erfahrung seiner Wirksamkeit, ebenso die Bestätigung, daß seine Äußerungen gut und richtig sind, und die dem Spiegeln innewohnende Ermunterung zu weiterer Aktivität. Die minimalen Veränderungen, die die elterlichen Spiegelungen immer enthalten und die den optimalen Anreiz zum nachahmenden Lernen bieten, entfallen ebenfalls. Darüber hinaus muß der Säugling auf eine sehr wichtige Möglichkeit verzichten, emotionale Übereinstimmung, spielerisch gelöste Harmonie und ein glückliches Miteinander zu erleben.

Neben der Gewißheit eigener Wirksamkeit und kognitiver Leistungsfähigkeit, die das Selbst-Tätigsein ermöglichen, bildet das Erleben bedingungsloser Zuwendung, weitgehender Bedürfnisbefriedigung und symbiotischer Geborgenheit die wichtigste Wurzel sowohl für das Urvertrauen als auch für den empfangenden Aspekt des Selbstwertgefühls. Die Entwicklung so wichtiger Ich-Funktionen wie die Frustrationstoleranz und die Affektkontrolle hängt gleichfalls mit der Beziehungsentwicklung zusammen. Da sich – wie dargelegt – die frühen Beziehungen geistig behinderter Menschen nicht überwiegend harmonisch und ihren Bedürfnissen entsprechend gestalten, liegt hier eine zweite Ursache für ihr mangelndes Selbstwertgefühl, die Ich-Schwäche und folglich für die häufig anzutreffenden seelischen Erkrankungen.

Traumatische Ereignisse

Traumatische Ereignisse, denen geistig behinderte Menschen vermehrt ausgeliefert sind und die zu verarbeiten ein schwaches Ich nicht vermag, verstärken die psychische Störanfälligkeit zusätzlich. Die ersten Traumatisierungen finden oftmals bald nach der Geburt statt, wenn das behinderte Kind wegen Gedeihstörungen oder einer akuten Krankheit in die Klinik muß und folglich von seinen Bezugspersonen und der vertrauten Umgebung getrennt wird (vgl. Teil II Sabine, Gerda). Bei vielen behinderten Kindern häufen sich derartige Trennungen, was tiefsitzende Verlassenheits- und Existenzängste auslöst und dadurch die Beziehungs- und Ich-Entwicklung nochmals erschwert. Nicht wenige von ihnen werden außerdem vorübergehend in Pflegefamilien und schließlich in ein Heim gegeben (vgl. Teil II Sabine). Die wiederholten Beziehungsabbrüche hemmen ihre Entwicklung auf allen Gebieten, Verhaltensstörungen zeigen die seelische Not der Kinder an.

Verhaltensstörungen geistig behinderter Menschen treten außerdem als Folge direkter körperlicher Mißhandlung oder sexuellen Mißbrauchs auf. Denn nur allzu oft werden sie ein Opfer derartiger Gewalt. Ihre Abhängigkeit, ihre mangelnde soziale Anpassung, die Enttäuschung, die sie ihren Bezugspersonen durch ihre Eigenart bereiten, und die Hilflosigkeit, die sie in ihnen auslösen, lassen viele Aggressionen entstehen. Außerdem eignen sich behinderte Menschen als «schwächstes Glied in der Kette» gut zur Projektionsfläche für negative Gefühle und zum Sündenbock. Ihre behinderungsbedingte Wehrlosigkeit verführt zusätzlich dazu, die aggressiven Impulse auszuleben, wiegt man sich doch in weitgehender Sicherheit, ungestraft davonzukommen. So werden geistig behinderte Menschen überdurchschnittlich oft von ihren Bezugspersonen mißhandelt (vgl. Teil II Maren).

Ähnliches gilt für den sexuellen Mißbrauch, der erst in den letzten Jahren – lange Zeit wurde er auch bei normal begabten Menschen tabuisiert – bei behinderten als Problem ins Blickfeld rückte. Eine Studie, durchgeführt an der Londoner Tavistock-Klinik, ergab, daß von zweihundert geistig behinderten Kindern und Erwachsenen, die wegen emotionaler Schwierigkeiten eingewiesen wurden, einhundertvierzig, also siebzig Prozent sexuell mißhandelt worden waren (vgl. Sinason, in Hennicke/Rotthaus 1993, S. 74). Hierbei handelt es sich nur um bekannt gewordene Fälle. Die Dunkelziffer sexueller Übergriffe wird bei geistig Behinderten deutlich höher angesetzt als bei normal Begabten, denn wiederum erweisen sie sich als einfache Opfer. In der täglichen Pflege sind sie auf Hilfe angewiesen und deshalb nicht gewöhnt, einen Intimbereich für sich zu beanspruchen. Durch ihre Abhängigkeit vermögen sie auch kaum «nein» zu sagen, besonders wenn der Täter, wie zumeist der Fall, aus dem unmittelbaren Kreis der Bezugspersonen stammt. Bedingt durch ihre Kommunikationsschwierigkeiten und schon vorhandenen psychischen Traumatisierungen und Existenzängsten verschweigen sie den Übergriff. Versuchen sie dennoch, sich verbal mitzuteilen, so laufen sie Gefahr, daß ihnen nicht geglaubt wird, sondern ihre Äußerungen als sexuelle Phantasien abgetan werden. So können sie ihre seelische Not nur körpersprachlich ausdrücken. Wie auch körperlich mißhandelte Menschen entwickeln sie vielfältige Symptome: depressiver Rückzug, Weglaufen, Einnässen, Einkoten, Schlaf- und Eßstörungen, Leistungsversagen, Fremdaggressivität und selbstverletzendes Verhalten. Noch deutlicher auf den sexuellen Mißbrauch verweisen unter anderem unklare Schmerzen im Unterleib, unangemessen sexualisiertes Verhalten, exzessives Masturbieren oder übergroße, durch die Erziehung nicht hinreichend erklärliche Scham.

Eine weitere Traumatisierung ergibt sich meistens durch die gesellschaftliche Realität. Geistig behinderte Menschen werden geringgeschätzt, mit Vorurteilen belegt und ausgegrenzt, mit einem Wort: stigmatisiert. Denn sie erfüllen die «Qualitätsstandards» nicht, die in unserer Leistungsgesellschaft gelten. Ihre Anpassungs-, Lern- und Leistungsfähigkeit sind herabgesetzt, deshalb werden sie immer Unterstützung bei der Lebensführung benötigen und ihren Lebensunterhalt bestenfalls teilweise durch eigene Arbeit verdienen. «Geistig Behinderte kosten nur», sie «belasten als unnütze Esser das Bruttosozialprodukt», lautet ein häufig zu hörendes abwertendes Urteil. Oder die Argumentation spiegelt das Unwissen und das Unvermögen, sich einfühlsam auf die Wahrnehmung behinderten Lebens einzulassen. Die Fremdartigkeit der Verhaltensweisen und die manchmal erschreckende körperliche Verfassung lösen Hilflosigkeit und Angst aus, die abwertend abgewehrt werden: «Die verstehen doch nichts; die haben doch nichts vom Leben und leiden nur.» Damit wird ihr Leben zugleich als sinnlos abgetan. Außerdem erscheinen sie als gefährlich: Fälschlicherweise wird ihnen häufig eine erhöhte Aggressivität und Triebhaftigkeit, insbesondere sexuelle Zügellosigkeit unterstellt. Schließlich wird moralisch geurteilt: «Die Eltern tragen durch ihren Lebenswandel (z.B. Trinken, sonstige Drogen, Geschlechtskrankheiten) die Schuld an der Behinderung ihres Kindes, jetzt sollen sie auch die Folgen verantworten.»

Selbst wenn die Vorurteile nicht so deutlich formuliert werden, so drücken sie sich doch im ausweichenden Verhalten vieler Bürger aus. Man hält Distanz. Die gesellschaftliche Gepflogenheit, ihre psychisch kranken, pflegebedürftigen und behinderten Mitbürger in gesonderten Einrichtungen – möglichst «auf der grünen Wiese», zumindest aber am Stadtrand oder hinter den Mauern ehemaliger Klöster – unterzubringen, beruht auf den nämlichen Einstellungen. Diese erweisen sich sogar da noch als wirksam, wo die Absonderung «zum Wohl» des behinderten Menschen erfolgt, etwa bei Sonderkindergärten oder Schulen. Zwar können behinderte Menschen in Spezialeinrichtungen tatsächlich oft angemessener gefördert werden, zugleich werden sie aber der Möglichkeit beraubt, von nicht behinderten Gleichaltrigen zu lernen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ebenso wird die restliche Bevölkerung von ihrem Anblick verschont und bei den eigenen Aktivitäten nicht gestört. Das heißt, ihr wird erlaubt, die leidvollen Formen menschlicher Existenz aus ihrem Gesichtskreis zu verbannen.

Die vielfältigen Diskriminierungen behinderter Menschen bekommen zunächst deren Eltern zu spüren. Dadurch wird ihnen, die durch die Geburt des behinderten Kindes ohnehin eine erhebliche Selbstwerteinbuße hinnehmen müssen, die Akzeptanz ihres Kindes bedeutend erschwert. Durch die verunsicherten Eltern wirkt die gesellschaftliche Ablehnung auf das Kind und beeinträchtigt so auf indirektem Wege die Entstehung des kindlichen Selbstwertgefühls zusätzlich.

Heranwachsend, mit dem Eintritt in die Schule oder spätestens in der Pubertät, erlebt der geistig behinderte Mensch die Zurücksetzungen und Ausgrenzungen selbst. «Normale» Gleichaltrige ziehen sich mehr und mehr von ihm zurück, weil die Diskrepanz der Fähigkeiten zunimmt. Er selbst darf nicht in wachsendem Maße wie seine Altersgenossen am öffentlichen Leben teilnehmen (etwa Kinos und Diskotheken besuchen), kann sich nicht ähnlich verselbständigen, sondern wird, weil er sich «abweichend» verhält, ängstlich zurückgehalten oder klar zurückgewiesen, wenn er seinem Erlebnisdrang und seinem Wunsch, Erfahrungen zu sammeln, folgt. Statt dessen muß er sich weiterhin der Fremdbestimmung beugen und über sich verfügen lassen. So bleibt seine Autonomie-Entwicklung unter dem erreichbaren Niveau.

Die ständigen Zurücksetzungen, Ausgrenzungen, Entwertungen wirken sich, selbst wenn sie rational nicht begriffen werden, auf die emotionale Befindlichkeit geistig behinderter Menschen aus. Sie spüren, daß sie «eigentlich nicht gewollt» sind und deshalb keinen angemessenen Platz im gemeinschaftlichen Leben bekommen. Selbstwertzweifel, Depressivität, oftmals auch tiefsitzende Ängste um die eigene Existenzberechtigung sind die Folge und führen auch bei schwer Behinderten zu psychischer Erkrankung.

Bei Menschen mit leichterer geistiger Behinderung, die sich ihrer Beeinträchtigung bewußt sind, erhöht auch dieses die emotionale Störanfälligkeit. Denn für sie wird die Unbegreiflichkeit des «Warum?» zur seelischen Belastung, die häufig zu diffusen Schuldgefühlen führt. Irgendwas muß «verkehrt» mit ihnen sein, sonst würde ihnen solch Schicksal nicht zugemutet. Häufig erleben sie ihre Behinderung als Strafe, immer als fortwährende Kränkung ihres Selbstwertgefühls, vergleichen sie sich doch mit den normal Begabten, um stets aufs Neue feststellen zu müssen, wie schlecht sie abschneiden. Ihre Wünsche und Sehnsüchte orientieren sich ebenfalls am «normalen Leben», und sie begreifen ihre Perspektivelosigkeit. Nie werden sie einen anerkannten Beruf ausüben können, den Führerschein machen, selbständig leben, heiraten und Kinder erziehen. Nie! Statt dessen werden sie immer hilfsbedürftig und damit abhängig bleiben. Solch schmerzlichen Erkenntnisse lassen sich schwer verarbeiten und verstärken die depressive Grundstruktur, wenn sie nicht aufgrund eines unangemessenen Größenselbst bagatellisiert oder gar geleugnet werden.

Institutionelle Faktoren

Leben die geistig behinderten Menschen in einem Heim, so vergrößern sich Fremdbestimmung und Anpassungsdruck nochmals, wird die Persönlichkeitsentfaltung durch vielerlei Umstände zusätzlich gefährdet. Schon die Wohnbedingungen in einer Institution können sich problematisch auswirken. Da sie die gesellschaftlichen Vorbehalte Heimbewohnern gegenüber sehr deutlich wahrnehmen, empfinden leicht geistig Behinderte es häufig als demütigend, in einem Heim zu leben, besonders wenn es sich um eine Großeinrichtung handelt, in der auch schwer beeinträchtigte Menschen wohnen. Zugleich leiden sie unter der Distanz zum normalen Leben, spürbar z.B. durch die mangelnde soziale Einbettung in die Nachbarschaft und den erschwerten Zugang zu Einkaufsläden, Cafés etc. Dieser Mangel wird für leicht retardierte Menschen durch die Infrastruktur einer Großeinrichtung keineswegs ausgeglichen. Kleine, sozial gut integrierte Wohneinheiten bieten hier bessere Chancen. Doch hängt die gute Integration weitgehend vom Wohlwollen der Umgebung ab und ist nur bedingt «machbar».

Auch die Wohnraumverhältnisse stellen häufig einen emotionalen Belastungsfaktor dar. Zum einen bietet die institutionell vorgegebene Einrichtung oft nur geringe Möglichkeit, die Privatsphäre den eigenen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten. Die Möbel werden selten individuell für den jeweiligen Menschen angeschafft, er kann durch die Zimmereinrichtung nur wenig von seiner Persönlichkeit zum Ausdruck bringen. Bedenkt man, wieviel Wert der Durchschnittsbürger auf die Gestaltung der persönlichen Nische in der Welt legt, die er sein Zuhause nennt, so wird die Zurücksetzung deutlich, die Heimbewohner hier erfahren. Zum anderen ist der private Raum, der dem einzelnen zur Verfügung steht, oft sehr knapp bemessen. Viele Heimbewohner leben nicht im Einzelzimmer, sondern teilen sich ein Doppel- oder Mehrbettzimmer. Der persönliche Bereich ist dann oft auf den Bettplatz, einen Stuhl und einen Schrank reduziert. Hier fehlt nicht nur der individuelle Gestaltungsspielraum, auch die Intimsphäre kann kaum gewahrt und das Bedürfnis nach Abgrenzung, nach Rückzug und ungestörter Ruhe nicht hinlänglich ausgelebt werden.