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In Hannahs Ehe ist es nicht mehr so wie es eigentlich sollte. Sie fühlt sich von ihrem Mann bei der Erziehung ihres gemeinsamen Sohnes Philipp nicht genügend unterstützt, zudem kriselt es auch noch auf ihrer Arbeitsstelle. Dort verguckt sie sich in ihren neuen und jüngeren Kollegen Niklas und ihr Leben nimmt eine unerwartete Wendung...
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Seitenzahl: 310
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Für Andrea
*
Niklas. So heißt er also der neue Mann in der Abteilung gegenüber. Scheint ja ein ganz Netter zu sein, aber wohl um einiges jünger und zudem noch ganz schüchtern. Aber wer will ihm das an seinem ersten Tag in der neuen Firma schon verübeln. Für Hannah war dies zumindest der erste Eindruck, als sie den neuen Mitarbeiter in der gemeinsamen Raucherpause zum ersten Mal sah und dabei genüsslich an ihrer Camel zog. In der großen Runde der Kollegen verfolgte sie die ersten Annäherungsversuche der anderen, die den Neuen neugierig über seine Herkunft und seine bisherige beruflichen Tätigkeiten ausfragten. Vor allem Christa, die Abteilungsratsche, hatte keine Hemmungen den jungen Mann über alle noch so kleinsten privaten Details auszuquetschen. Nun hatte deren Wissbegierde auch mal etwas Gutes. Somit erfuhr Hannah ohne Umschweife dass er auch in Augsburg wohnte, vorher Handwerker gewesen ist und, für manche Kolleginnen besonders wichtig: dass er seit kurzem wieder Single war. Für Hannah spielte das aber keine Rolle. Sie war seit dreieinhalb Jahren verheiratet und stolze Mutter eines Sohnes, der wenige Wochen nach der Hochzeit das Glück komplett machte. Hannah zog noch einmal an ihrer Zigarette, erstickte die Glut im Aschenbecher und machte sich zusammen mit den Kollegen auf den Weg zurück an ihren Arbeitsplatz. Es war kurz vor sechzehn Uhr und Hannah überkam langsam die Müdigkeit. Die monotone Arbeit, die daraus bestand einzelne kleine Teilchen in filigraner Handarbeit zu einem Elektromotor zusammen zustecken, trug nicht gerade zur Besserung bei. Diese Motoren sollten dann in den verschiedensten Produkten ihren Dienst verrichten, als Antrieb von elektrischen Rollos, in Spielzeugen oder auch in elektronischen Produkten wie in Ventilatoren.
Etwa fünfundvierzig Minuten musste sie noch überstehen, dann würde sie endlich ihre Stempelkarte durch den Schlitz ziehen, Einkaufen fahren und schließlich ihren Sohn Philipp vom Kinderhort abholen.
„He, Aufwachen du Schnarchzapfen!“, rief plötzlich eine schrille Frauenstimme und sie verspürte einen Hieb am Oberarm. Erschrocken lies Hannah ihre Platine fallen.
„Mensch Manu, hast du mich erschreckt!“ Hannah warf ein Putztuch nach ihr, verfehlte sie aber knapp.
„Wovon träumst du, Hannah? Etwa von dem Neuen da drüben?“
Manu machte eine lässige Kopfbewegung in Niklas` Richtung.
,,Quatsch. Vergiss nicht dass ich verheiratet bin.“
,,Und? Das war ich auch“, tat ihre Kollegin mit einem Schulterzucken ab, ,,aber dann lernte ich Christian kennen.“
„Was ich bis heute nicht verstehen kann. Richard hat dich vergöttert und hat alles für dich getan und du verlässt ihn für diesen Hallodri.“
„Ich denke darüber haben wir schon genug diskutiert“, winkte Manu ab.
„Was ist hier los? Warum wird hier nicht gearbeitet?“
Abteilungsleiter Pongratz tauchte wie aus dem Nichts auf und strafte die beiden mit einem missbilligenden Blick.
„Das war nur ein kurzer Austausch. Ich hatte grad Probleme mit dieser einen Platine“, log Hannah, wohlwissend dass ihr Pongratz keinen Glauben schenken würde.
„Ja, ja, erzählen sie das ihrer Großmutter aber nicht mir. Ich will dass gearbeitet wird. Sehen sie zu dass sie ihre Normen erfüllen, wenn sie kein Probleme bekommen wollen.“
„Aber sicher, Herr Pongratz.“
„Und ehe ich es vergesse, heute zum Feierabend habe ich eine kleine Versammlung einberufen. Ich will das sie da erscheinen.“ Er wandte sich Manu zu. „Das gilt auch für sie.“
Manu nickte und setzte ein falsches Lächeln auf. Als Pongratz wieder verschwunden war, flüsterte Hannah: „Womöglich auch noch unbezahlt.“
„Haben wir jemals schon eine Versammlung nach Feierabend bezahlt gekriegt?“
„Hast recht. So ein Arsch!“, raunte Hannah Manu zu.
„Ein Arsch mit Ohren“, giggelte diese zurück.
„Der hat daheim bestimmt überhaupt nichts zu melden.“
„Ich habe gehört er muss einen Drachen zuhause haben. Kein Wunder dass er sich bei uns so aufspielt.“
Kurz nach Feierabend versammelte sich die anwesende Belegschaft. Es waren etwa fünfzig Mitarbeiter die sich vor der Informationstafel versammelt haben. Viele steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Der eine wollte gehört haben, dass es mit den Aufträgen nicht mehr ganz so rosig aussähe, die anderen meinen zu wissen, dass Elcibo einen Großauftrag verloren hätte. Woher die das schon wieder alle wissen wollen, fragte sich Hannah. Vielleicht war es auch gar nichts Schlimmes. Womöglich ginge es nur um die Schließungstage während der Urlaubszeit. Aber Hannah war klar, dass dies ganz sicher nicht der Fall sein würde. Sie sah sich darin bestätigt als der Werkleiter Müller, natürlich in Begleitung von Pongratz, aus dem Büro stolziert kam. Müller war wie immer herausgeputzt, als ginge er zu einem Diner mit dem Minister. Die Haare frisch geschnitten, ein brandneues Markenhemd an und an seinem Handgelenk blitzte eine goldene Uhr im Wert von mehreren Tausend Euro. Wenn Müller vor der Belegschaft was zu sagen hatte, war das kein gutes Zeichen. Das konnte nur bedeuten dass wirklich was im Argen lag.
Ungeduldig schaute Hannah auf die Uhr. Sie musste ihren Sohn Philipp von der Betreuung abholen und zuvor wollte sie noch einkaufen gehen. Zusammen mit Philipp einzukaufen wollte sie tunlichst vermeiden. Philipp liebte es einkaufen zu gehen und musste alle Produkte, egal ob Lebensmittel oder irgendetwas was auch nur im Entferntesten mit Spielzeug in Verbindung gebracht werden konnte, ganz genau inspizieren und schlimmstenfalls sogar öffnen um den Inhalt für okay oder eben nicht zu befinden.
Müller schien endlich soweit zu sein. Er schaute mit ernster Miene durch die Runde und rieb sich die Hände. Das sollte für die Mitarbeiter das Zeichen sein nun still zu sein, er wolle mit seiner Ansprache beginnen.
„Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, begann er schließlich. „Die einen oder anderen haben an mich in den letzten Tagen Gerüchte herangetragen, die unseren Betrieb betreffen. Angeblich solle es um die Geschäfte sehr schlecht stehen und wir hätten sogar einen Großauftrag verloren.“
Hannah hielt den Atem an. Genau wie sie es geahnt hatte. Sieh sah sich in Gedanken schon auf dem Flur im Arbeitsamt sitzen, darauf wartend endlich aufgerufen zu werden um dann vor einem selbstgefälligen Sachbearbeiter zu Kreuze zu kriechen. Welch schrecklicher Gedanke.
„Ich kann ihnen versichern“, setzte Müller fort, „dass sich diese Gerüchte jeglicher Grundlage entbehren.“
Erleichtertes Aufatmen bei den Mitarbeitern. Auch Hannah fiel ein Stein vom Herzen. Arbeitslosigkeit war das Letzte was sie jetzt brauchen konnte. Kamen ihr Mann Michael und sie finanziell sowieso nur knapp über die Runden.
„Elcibo ist gesund und steht so gut da wie noch nie. Wir erwirtschaften Gewinn und die Vorstandschaft ist mit unserer Entwicklung höchst zufrieden Das ist alles was zählt. Ich weiß nicht woher das Gerede stammt, aber ich hoffe ich habe den Gerüchten den Wind aus den Segeln nehmen können. Sollten sie noch Fragen haben zögern sie nicht mich anzusprechen.“
„Der lügt selbst seine Oma an ohne dabei rot zu werden.“ Hannah drehte sich um. Es war Manu die ihr die pikanten Worte zugeflüstert hatte.
„Wie kommst du denn darauf?“
„Ich habe da ganz andere Sachen gehört. Angeblich stehen wir kurz vor der Pleite.“
„Erzähl keinen Blödsinn“. Solche Dinge wollte Hannah nun wirklich nicht hören.
„Das ist kein Blödsinn“, antwortete Manu. „Angeblich muss die Bank schon gehörig Druck auf die Vorstandschaft machen. Wenn Elcibo seine Kredite nicht mehr tilgt, werden sie ihnen die Gelder einfrieren. Ich weiß es von einer Bekannten die für diese Bank arbeitet.“
„Und das hat sie wirklich so gesagt?“ Hannah konnte das nicht wirklich glauben. Nicht nach den klaren Worten von Werkleiter Müller.
„Zumindest in diesem Sinne.“
„Du spinnst.“
„Heul mir nichts vor wenn es dann ein böses Erwachen gibt. Sag nicht ich hätte dich nicht gewarnt.“
„Ganz bestimmt nicht.“
*
Unbarmherzig schrillte um sechs Uhr fünfundvierzig der Wecker. Hannah brauchte nur einen Augenblick um ihn abzustellen. Sie hatte wieder einmal eine unruhige Nacht hinter sich. Die Gerüchte in der Firma beschäftigten sie mehr als sie sich eingestehen wollte. Sie hörte Philipp in seinem Kinderzimmer mit seinen Autos spielen. Wie lange mochte er schon wach sein? Vermutlich hat ihn Michael unbeabsichtigt geweckt als er sich um fünf für die Arbeit anzog.
Mühsam und gerädert kroch Hannah aus ihrem Bett, steuerte ganz automatisch das Bad an und ließ sich auf die Toilettensitz plumpsen. Nachdem sie Wasser gelassen hatte, betrachtete sie sich im Spiegel. Trotz ihrer einundvierzig Jahre fand sie sich eigentlich noch ganz attraktiv und die gelegentlichen Komplimente ihrer Mitmenschen bestärkten sie in der Meinung. Unwillkürlich musste sie an Niklas denken. Was er wohl über sie dachte?
„Mama, du bist auch schon wach!“, stammelte ihr Kleiner als er die Badtür aufstieß. Flugs vertrieb Hannah ihre Gedanken und nahm ihren Sohn in den Arm. „Na klar“, säuselte sie „Ich will doch mit meinem kleinen Schatz zusammen frühstücken.“
Philipp ignorierte den Satz und nahm sie stattdessen an der Hand.
„Komm mal Mama, ich will dir was tolles zeigen“, frohlockte er und bekam ganz glänzende Augen. Hannah wusste dass jeder Widerstand zwecklos war und lies sich von ihm in sein Zimmer führen, nicht ohne noch einen Blick auf die Uhr zu werfen. Es war bereits sieben und in einer halben Stunde sollte Philipp im Kindergarten sein. Es würde wieder stressig werden.
„Schau Mama, hab ich selbst gebaut!“ Stolz präsentierte Philipp seine Legokreationen. „Das sind meine Rennautos!“ Hannah betrachtete wohlwollend die primitiv zusammengebauten Teile und lobte ihren Sohn überschwänglich. „Das hast du ganz toll gemacht, mein kleiner Spatz. Aber jetzt troll dich mal ganz schnell in die Küche, wir wollen doch noch was Essen bevor es in den Kindergarten geht.“
Philipp zog die Mundwinkel nach unten. „Will nicht in den Kindergarten. Da ist es blöd.“ Hannah seufzte. „Da sind doch ganz viele von deinen Freunden. Ihr habt doch eine Menge Spaß.“
,,Keinen Spaß. Kindergarten ist doof.“
„Philipp, da können wir nicht diskutieren. Du weißt, ich habe heute sehr viel zu erledigen.“
„Aber du musst doch heute nicht arbeiten.“
„Nein, aber ich habe zuhause viel zu tun.“ Philipp schmollte.
„Willst du jetzt deine Cornflakes?“, fragte Hannah. Schlagartig hob sich seine Stimmung. „Aber die mit Schokolade!“
„Na, dann setzt dich schnell an den Tisch und ich bring sie dir.“ Hannah gab ihrem Sohn einen liebevollen Klapps auf den Po und dieser rannte hastig zum Esstisch.
Ein Handysignal ertönte und Hannah zog ihr Smartphone aus der Tasche. Hast du Lust auf ein spontanes Frühstück bei mir? stand in der SMS zu lesen. Klar, dachte Hannah. Nachdem ich meinen Sohn weggebracht habe, den Wocheneinkauf erledigt habe, die Wohnung gewischt und das Wohnzimmer abgestaubt hab. Ach ja, und die Fenster gehören auch schon seit Monaten geputzt. Wann soll ich da sein?, schrieb sie zurück. Um neun, erhielt sie sogleich als Antwort. Okay, schrieb Hannah zurück und verwarf ihren gesamten Tagesplan. Die Woche war noch jung, erledigte sie die Arbeiten eben morgen.
„Mama, Cornflakes!“, rief Philipp ungeduldig.
„Ja, ich komm ja schon.“ Hannah steckte ihr Smartphone weg und eilte in die Küche.
Während Philipp genüsslich seine Cornflakes in sich hinein schaufelte, hing Hannah ihren Gedanken nach. Sie lebte nicht gerade das Leben von dem sie immer geträumt hatte. Sie kannte Michael, ihren Mann, ganze sechs Monate als sie plötzlich schwanger wurde. Weitere sieben Monate später haben sie geheiratet. Natürlich ging das alles viel zu schnell und ihre Familie und die Freunde verstanden ihre Entscheidung zu heiraten nicht, aber noch weniger hätten ihr konservativ eingestellter Papa es geduldet das Kind außerehelich auf die Welt zu bringen. Trotz alledem hatte sie nie das Gefühl die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Michael bemühte sich redlich ein guter Ehemann und vor allem auch ein guter Vater seines Kindes zu sein. Da Michael nur einen schlechtbezahlten Aushilfsjob als Helfer in einem Baugeschäft hatte, lag es an erster Stelle an ihr die kleine Familie zu ernähren und das Kind zu erziehen. Das zerrte nach über drei Jahren zunehmend an ihren Kräften.
*
Mit Manu zu plauschen war immer unterhaltsam. Sie erlebte die absurdesten Männergeschichten, wusste den neuesten Klatsch und hatte die lustigsten Videos auf ihrem Handy. Gespannt drückte Hannah die Türklingel. Was würde Manu wieder für Geschichten auf Lager haben? Kaum geklingelt, öffnete Manu auch schon die Wohnungstür und bat Hannah herein. „Setzt dich schon mal an den Esstisch, ich mach noch schnell den Kaffee fertig“, sagte sie und verschwand sogleich in der Küche. Hannah war schon öfter hier, trotzdem blickte sie sich auf dem Weg zum Frühstückstisch neugierig um. Manu lebte allein in ihrer gemütlichen Zweizimmerwohnung und dachte auch gar nicht daran sie mit einem Mann zu teilen. Ein Kerl würde ihre Freiheit zu sehr einschränken, sagte sie immer. Sie wolle das Leben mit all ihren Vorzügen genießen. Dazu passen weder ein Mann noch Kinder. Die Wohnung war schlicht, aber geschmackvoll eingerichtet. Die Fotos an den Wänden zeugten von Manus zahlreichen Urlaubsreisen in den entlegensten Winkeln der Welt. Hannah beneidete Manu insgeheim. In solchen Momenten wie jetzt fühlte sie sich wieder regelrecht gefangen in ihrem Alltagsleben. Die Wohnung war auffallend sauber. Keine schmutzigen Kinderhände auf den Wänden, keine Essensreste unter dem Tisch. Keine Fensterscheiben mit den Abdrücken platter Kindernasen.
„Darf ich rauchen?“, fragte Hannah.
„Nur zu. Der Ascher steht auf dem Fensterbrett. Aber Fensterkippen nicht vergessen“, antwortete Manu und kam mit der Kaffeekanne an der Hand zur Tür herein. Während Hannah den ersten Zug von ihrer Zigarette nahm, setzte sich Manu ihr gegenüber. Der Tisch war reichlich gedeckt und der Duft der noch warmen Brötchen stieg Hannah in die Nase. Obwohl sie nur zweimal daran gezogen hatte, drückte sie ihre Kippe bereits aus. Manu hat an alles gedacht. Von der Wurst, über Konfitüre bis hin zu gekochten Eiern stand alles auf dem Tisch.
„Ich weiß ja gar nicht womit ich anfangen soll“, lächelte Hannah. „Du hast ja aufgedeckt wie bei einem König.“
„Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit am Tag heißt es“, grinste Manu und strich sich schon eine Marmeladensemmel. „Also, hau rein.“
Hannah entschied sich für Nutella.
„Und, wie war es im Kindergarten?“, fragte Manu.
„Schrecklich. Philipp konnte sich mal wieder gar nicht trennen von mir und zu guter Letzt bin ich noch dazu genötigt worden für das Sommerfest einen Kuchen zu backen. Wo ich es doch hasse zu backen.“
„Kein Problem“, grinste Manu „Ich back dir einen.“
„Du bist ein Engel!“ Hannah seufzte erleichtert. Manu lächelte gequält. „Es ist auch in Ordnung wenn du mir keinen Kuchen bäckst. Zur Not kaufe ich mir einen“, sagte Hannah der Manus Stimmungswechsel nicht entgangen war.
„Das ist es nicht“, antwortete Manu. „Ich muss dir etwas sagen.“
Hannah spitze gespannt die Ohren. Daran dass Manu einen triftigen Grund für das Treffen hatte, hatte sie nicht gedacht. Sie hatte eher mit einem simplen Plausch gerechnet, so wie sie es jedes Mal taten.
„Du weißt ja von den Gerüchten bei uns auf der Arbeit“, begann sie.
„Ja?“
„Ich habe darüber nachgedacht. Nicht schon seit gestern, sondern schon die letzten Wochen.“
„Jetzt spann mich nicht so lange auf die Folter. Was ist los?“
„Ich werde kündigen.“
Hannah hätte vor Schreck fast ihren Kaffee verschüttet. Manu wollte kündigen? Ihre liebste Kollegin und zugleich beste Freundin? Dann wäre sie ganz alleine übrig unter den ganzen Lästerweibern. Das konnte sie ihr doch nicht antun!
„Bist du verrückt? Was willst du denn jetzt machen? Hast du schon was Neues gefunden?“
„Keine Sorge Liebes“, beschwichtigte Manu sie. „Du weißt mir gefällt es schon länger nicht mehr in der Firma, deswegen habe ich mich hin und wieder mal umgehört. Ich könnte in der Boutique einer Freundin anfangen. Zumindest bis ich was Besseres gefunden habe.“
„Du könntest doch noch bleiben bis du was Anderes hast.“
„Ach Hannah, mir fällt es eh schon schwer genug. Nicht wegen der Firma, sondern wegen den guten Kolleginnen, die mir richtig gute Freundinnen geworden sind. So wie du.“
Hannah seufzte. „Einerseits kann ich dich ja verstehen. Mich ödet die Arbeit auch an und wäre lieber schon gestern verschwunden.“
„Warum tust du es dann nicht auch?“
„Ich kann nicht. Ohne meinen Lohn wären wir völlig aufgeschmissen. Das Geld von Michael reicht bei weitem nicht aus. Du weißt doch selbst wie teuer das Leben in der Stadt ist.“
Beide schwiegen verlegen.
„Wann hast du deinen letzten Tag?“, begann Hannah den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.
„Gestern.“
„Gestern? Aber du hast doch die Kündigung noch gar nicht eingereicht.“
„Nein, aber ich war heute beim Arzt, hab ein bisschen auf Psycho gemacht und jetzt hat er mich erstmal krankgeschrieben.“
„Pongratz wird toben!“
„Der kann mich mal, das alte Arschloch.“
Hannah musste kichern.
„Aber um meine Kolleginnen finde ich es natürlich Jammerschade“, fügte Manu hinzu.
„Du musst dich natürlich noch von Allen verabschieden.“
„Das ist leicht gesagt“, seufzte Manu. „Aber in die Firma setze ich keinen Fuß mehr. Allein schon weil der Pongratz mich auffressen wird.“
„Weißt du was?“, entgegnete Hannah. „Wir machen eine Abschiedsparty.“
Manu stutzte. „Also ich weiß nicht. Ist das nicht ein bisschen zu viel Tara darum? Ich meine, ich war ja nur drei Jahre dabei. Es ist ja nicht so dass ich nach vierzig Jahren endlich in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet werde.“
„Nein, aber du hast viele Freunde auf der Arbeit und bist sehr beliebt. Du wirst den meisten fehlen und so kannst du dich von allen verabschieden.“
„Naja, schlecht wäre das bestimmt nicht. Aber nicht hier bei mir in der Wohnung. Ich habe keine Lust hinterher eine Woche lang den Besen zu schwingen. Abgesehen von meinen Nachbarn die mir was husten werden.“
„Kein Problem, treffen wir uns eben alle im Club Dreizehn. Da hast du keine Arbeit mit Vorbereitungen und wir können ungestört bis in den Morgengrauen feiern.“
Manu musste lächeln. „Diesen Samstag?“
„Wäre ideal.“
„Aber lass das ja nicht den Pongratz hören. Am besten ich schreibe meine Mädels in unserer Gruppe an, damit auch ja kein Außenstehender davon erfährt.“
„Na, ein paar Jungs sollten aber schon dabei sein, oder?“
„Hannah, du bist verheiratet!“
„Schon klar“, lachte sie. „Ich dachte eigentlich eher an dich. Es soll ja deine Abschiedsparty sein und nicht meine.“
„Nach der Geschichte mit Christian habe ich eigentlich die Nase voll von Männern. Aber schaden können sie sicher nicht“, grinste Manu und verschüttete dabei fast ihren Kaffee.
„Na, dann sehen wir uns am Samstag. Ich muss jetzt noch Einkaufen und was zu essen kochen bevor ich den Kleinen aus dem Kindergarten holen kann.“
„Ich freue mich schon.“
*
Mit der vollen Einkaufstüte in der einen und Phillip an der anderen Hand, hatte Hannah sichtlich Mühe ihren Haustürschlüssel aus der Jackentasche zu ziehen. Zu ihrem Glück verließ aber gerade ein Mitbewohner der Senioren-WG das siebenstöckige Mehrfamilienhaus und hielt ihr ganz galant die Türe auf.
„Danke Herr Schneider, das ist sehr freundlich von ihnen.“ Hannah schenkte ihm ihr schönstes Lächeln.
„Man hilft wo man kann.“, antwortete der ältere Herr und grinste verschmitzt. Gerade als Hannah an ihm vorbei gehen wollte, setzte er noch hinzu: „Aber schade, dass sie bald ihre Arbeit verlieren.“
Hannah blieb wie erstarrt stehen und drehte sich zu ihm um. „Wie bitte?“
„Sie haben es soeben im Radio gebracht. Elcibo hat Insolvenz angemeldet und sucht nun händeringend nach einem Investor. Ich glaube nicht dass sich ein solcher in der heutigen Zeit so schnell finden wird.“
„Ich weiß ja nicht wie das Radio an diese Information kam, aber ich als Mitarbeiterin würde ja davon wissen.“
„Die haben immer irgendwo ihre Quellen und für ein paar Scheinchen wird der eine oder andere Insider sicher gerne geplaudert haben.“
„Darauf gebe ich nichts.“
„Verstehen sie mich nicht falsch. Natürlich wünsche ich ihnen nur das Beste und hoffe so sehr wie sie das an den Gerüchten nichts dran ist, aber sie wissen ja wie das ist. Ein kleines Fünkchen Wahrheit steckt in jedem Gerücht.“
„Ich muss jetzt gehen, Herr Schneider. Der Kleine hat Hunger und ich bin schon spät dran.“
„Na dann, alles Gute.“
Was muss mir der alte Penner jetzt so den Tag versauen, murmelte Hannah vor sich hin. Was ist wenn an dem Gerücht tatsächlich was dran ist. Verliere ich meine Arbeit?
*
„Mama, ich habe aber jetzt Hunger!“ Philipp stampfte mit seinen kleinen Beinchen auf dem Küchenboden auf und forderte vehement sein Mittagessen.
„Und ich habe dir gesagt, ich muss es erst noch kochen!“, schrie Hannah zurück, während sie den Einkaufskorb leerte.
„Ich will aber jetzt!“ Phillips Kopf lief dunkelrot an und um die Ernsthaftigkeit seiner Worte zu unterstreichen stampfte er nochmal kräftig auf. Das war zu viel für Hannah. Sie kramte den großen Kochtopf aus dem Küchenschrank und knallte ihn auf das Ceranfeld. Das Glas zerbarst unter einem lauten Knall der Philipp mächtig erschreckte. Sofort begann er zu weinen und brüllte noch mehr als zuvor. Auch Hannah war von ihrem Tun geschockt und ärgerte sich über die kaputte Ofenplatte. Das würde heute Abend sicher mit einem Streit mit Michael enden. Sie überlegte was ein neues Ceranfeld kosten würde. Zweihundert, dreihundert oder gar vierhundert Euro? Philipps Geschrei unterbrach ihren Gedankengang.
„Nun hör schon auf mit deinem Gebrüll. Der Topf ist doch für deine Spaghetti. Mami muss nur noch das Wasser zum Kochen bringen und dann sind sie ja bald fertig.“ Philipp war untröstlich. Das Nasensekret lief ihm quer über den Mund und blieb am Kinn hängen. Hannah zog ihr Taschentuch aus der Hosentasche und wollte ihn säubern, Philipp drehte jedoch energisch seinen Kopf zur Seite und wollte sich nicht sauber machen lassen.
„Jetzt halt doch still. Die Rotze tropft sonst auf den Küchenboden!“, rief Hannah. Sie packte ihn ein wenig zu fest am Arm, denn Philipp begann erneut zu schreien und diesmal, so schätzte es zumindest Hannah ein, noch vehementer als zuvor. Hannah hatte genug. Sie war mit ihren Nerven buchstäblich am Ende. Sie wollte nur noch eins: Weglaufen. So weit wie ihre Füße sie tragen konnten. Sie wusste, dass dies nicht möglich war und so ließ sie sich stattdessen zu einer Kurzschlussreaktion hinreißen. Sie holte mit der flachen rechten Hand aus und traf ihren Sohn auf dessen linken Backe. Die Nase schien sie auch getroffen zu haben. Philipp hörte augenblicklich zu brüllen auf, starrte seine Mutter erschrocken mit großen Augen an und setzte erneut zu einem ohrenbetäubenden Gebrüll an. Hannah kamen die Tränen. Teils aus Scham, teils aus Mitleid. Sie nahm seinen kleinen Kopf sanft in beide Hände und streichelte ihm über die roten, feuchten Backen.
„Es tut mir leid, mein Schatz“, wimmerte sie. „Entschuldige bitte.“
Sie drückte ihn fest an ihre Brust. Sanft kraulte sie seinen Kopf. Philipp schien sich langsam zu beruhigen. Er ließ sich schließlich widerstandslos die Nase schnäuzen.
„Alles wieder gut, mein Schatz, ja?“ Philipp antwortete zögerlich mit einem zaghaften Kopfnicken.
„Willst du Mami jetzt beim Kochen helfen?“ Wieder ein vorsichtiges Kopfnicken.
Hannah löste sich von ihrem Sohn und nahm den Kochtopf in die Hand.
„So, mein Schatz. Hier tun wir jetzt beide ganz viel Wasser rein und das bringen wir dann auf der Ofenplatte zum Kochen.“
„Ofen ist kaputt“, stellte Phillip fest.
„Ich weiß“, murmelte Hannah und strich Philipp durch die Haare.
„Da hat Mami ganz schön Mist gebaut, was?“
Philipp zuckte nur mit den Schultern.
„Aber die Platte funktioniert ja trotzdem noch. Wir machen dennoch die leckersten Spaghetti der Welt!“
Das Schellen der Wohnungstür unterbrach die Versöhnungszeremonie. Der Blick durch den Türspion entlarvte Frau Müller, Hannahs Nachbarin, als Übeltäterin. Hannahs soeben zurück gekehrte gute Laune verschwand sogleich wieder. Für das Gerede der alten Schachtel hatte sie nun wahrlich keinen Nerv. Nicht alleine dass sie der jungen Familie mit ihrer Neugier auf die Nerven ging, muss sie auch noch alltäglich gut gemeinte Ratschläge über sich ergehen lassen. Hannah legte sich gedanklich schon einen Plan zurecht um die Nachbarin abwimmeln zu können. Doch als Hannah die Wohnungstür öffnete legte die Nachbarin gleich los.
„Ist bei ihnen alles in Ordnung?“, fragte sie. „Ich habe Lärm und Geschrei gehört. Es ist doch nichts passiert?“ Noch als sie die letzten Worte sprach, stierte sie neugierig über Hannahs Schulter hinweg in die Wohnung und schien mit ihren Augen die Wohnung abscannen zu wollen um einen Anhaltspunkt für den Radau ausfindig zu machen.
„Frau Müller, es ist alles okay bei uns. Mir ist nur der Topf auf den Boden gefallen und Phillip ist darüber erschrocken.“
Frau Müller beäugte Hannah skeptisch, schien ihren Worten aber dann doch zu Glauben.
„Na gut. Man kann ja nicht vorsichtig genug sein. Lieber einmal zu oft nachgesehen als einmal zu wenig.“
Spielst du auf Kindesmisshandlung an, du doofe Kuh?, dachte Hannah und hätte der Alten am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen.
„Schon gut Frau Müller, aber ich muss jetzt das Essen kochen. Mein Sohn hat Hunger.“
Die Nachbarin nickte verständnisvoll, zumindest tat sie so, verabschiedete sich mit einem knappen: „Na dann, auf Wiedersehen.“
Hannah schloss erleichtert die Tür zu.
„Mama, kochen wir jetzt?“, fragte Philipp.
Hannah seufzte. „Klar, lass uns gleich damit anfangen.“
*
Komme heute Abend wieder später, stand in der SMS geschrieben. Hannah seufzte und legte das Handy zur Seite. Nicht genug damit dass Phillip wieder überhaupt nicht schlafen wollte, sah sie Michael immer weniger. Die letzten Wochen kam er nur selten pünktlich nach Hause, immer wieder musste er Überstunden einlegen.
Sie zappte durch das undurchschaubare Fernsehprogramm und hing ihren Gedanken nach. Sie dachte an die Abschiedsparty am Samstag. Wer würde wohl alles da sein? Ob auch Niklas kommen wird? Sofort hatte sie bei diesem Gedanken ein schlechtes Gewissen und schämte sich ein bisschen dafür. Sicher, Niklas war ein süßer Typ, aber er war auch fast zehn Jahre jünger als sie. Außerdem war sie mit Michael verheiratet. Um auf andere Gedanken zu kommen, stand sie auf und holte die angebrochene Flasche Rotwein aus dem Kühlschrank. Eine billige Marke aus dem Discounter. Sie ließ sich in den Sessel fallen und versuchte sich auf den Fernseher zu konzentrieren. Im Zweiten lief ein Krimi. Er schien schon etwas älter zu sein, etwa aus den Achtziger Jahren. Vielleicht auch noch den frühen Neunzigern. Das verrieten ihr die Kleidung und die Autos die im Hintergrund zu sehen waren.
Sie kuschelte sich in ihre flauschige Lieblingsdecke mit dem Katzenmotiv und fühlte sich gleich viel behaglicher. Hannah fühlte sich ein Stückweit in ihre Kindheit zurück versetzt. Sie war ein Einzelkind und wurde von ihren Eltern ziemlich verwöhnt. Nicht im materiellen Sinne, eher mit Zuneigung. Sie liebte die Fernsehabende zusammen mit ihren Eltern, in denen sie sich zwischen die beiden kuscheln und Filme mit ansehen durfte, die zu Zeiten liefen in der sie schon im Bett liegen sollte. Zumeist waren es Krimis im Ersten und besonders ihr Vater war darauf bedacht, dass sie erst dann mit vor dem Fernseher saß, wenn ich die Leiche am Anfang nicht mehr zu sehen war.
„Geh doch noch mal schnell auf Klo, Hanni“, bat er sie dann oder: „Hannah, bist du so lieb und holst deinem Papa ein Bier aus dem Kühlschrank?“ Er ließ sich immer wieder eine neue Taktik einfallen so dass Hannah ihm nicht auf die Schliche kam. Als sie es schließlich doch eines Tages tat, war sie schon groß genug um den Anblick einer Fernsehleiche zu ertragen. Zumal Hannah den Krimi meist gar nicht so interessiert folgte. Ihr war mehr daran gelegen sich an ihre Eltern schmiegen zu können und das Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit zu genießen. Meistens schlief sie sowieso nach der Hälft des Films ein.
Eines Tages war aber dann Schluss damit. Hannah war nun bereits dreizehn und fing an sich mehr und mehr von den Eltern abzunabeln. Mit den Eltern abends auf der Couch zu sitzen galt vor ihren Freundinnen als uncool und babyhaft. Also ließ Hanni das ab sofort sein.
Hannah bekam einen eigenen kleinen Fernseher auf ihr Zimmer und ab da kam sie eigentlich nur noch zu den Mahlzeiten mit ihren Eltern zusammen. Aber auch diese gemeinsame Zeit wurde immer weniger. Hannah traf sich immer mehr mit ihren Freundinnen in der Stadt. Die Freunde hatten bald die Liebe zu den Eltern verdrängt, was ihr als normalste Sache der Welt erschien. Doch ihren Eltern, vor allem ihren Vater, fehlten die gemeinsamen Stunden sehr und insgeheim litten sie darunter. Jetzt, Jahre später, wünscht sie sich die vertrauten Stunden wieder her, die ihr auch ihr Mann Michael und Philipp so nicht geben konnten.
Hannah nickte bald ein. Sie hörte Michael nicht nach Hause kommen, als er um kurz vor Mitternacht auf leisen Sohlen die Wohnung betrat.
*
Übermüdet schraubte Hannah an der Elektroplatine und versuchte mit der vorgegebenen Taktung Schritt zu halten. Würde sie das nicht, drohte wieder Ärger mit Pongratz. Sie hatte die ganze Nacht auf der Couch verbracht und damit den Wecker zu spät gehört, der aus dem Schlafzimmer herüber schrillte. Sie war zehn Minuten zu spät, denn auch Philipp trödelte am Morgen wieder mehr als Gewöhnlich. Die erste Zigarettenpause konnte sie somit vergessen. Hannah musste die verlorenen Zeit wieder gut machen und vor allem die erforderliche Stückzahl erreichen. Der Tag war für sie jetzt schon gelaufen.
„Guten Morgen, Hannah“, vernahm sie eine wohlklingende Männerstimme.
Niklas.
„`Morgen“, stammelte sie völlig verblüfft. O Gott, o Gott, o Gott, was will der denn jetzt von mir, dachte sie und strich sich verlegen die Haare aus dem Gesicht. Aber die Sorge war unbegründet. Niklas lächelte ihr nur freundlich zu und ging auch schon weiter. Ein nett gemeinter Morgengruß unter Arbeitskollegen. Mehr nicht. Hannah, schalt sie sich selbst. Du führst dich auf wie ein verliebter Teenager. Vergiss nicht, du bist verheiratet und liebst deinen Mann. Was soll ich außerdem mit einem Typen anfangen, der gute zehn Jahre jünger ist?
Ehe sie den Gedanken weiterspinnen konnte, stand Christa vor ihr. Sie war um die fünfzig, hatte eine ziemlich korpulente Figur und verbreitete einen penetranten Geruch von billigem Parfüm. Wenn sie sich so urplötzlich vor jemanden aufbäumte, konnte das nur aus zweierlei Gründen geschehen. Entweder wollte sie die Person aus gegebenem Anlass über irgendwelche, meist privaten, Dinge ausquetschen wie eine leere Zahnpastatube oder sie musste ihr frisch erlangtes Wissen anderer privaten Dinge schnellst möglichst wieder loswerden. Böse Zungen am Arbeitsplatz behaupteten, sie hätte Angst ansonsten wie ein zu fest aufgepumpter Luftballon platzen zu müssen.
Hannah war klar, dass bei ihr der erstgenannte Fall eintreten würde.
„Schönen Guten Morgen, Hannah“, begann sie auch schon und schnappte nach den wenigen Worten schon nach Luft.
„Guten Morgen“, antwortete Hannah knapp und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Die Stückzahl rief.
Christa ließ sich davon aber nicht beirren. „Ich habe gehört du bist heute zu spät gewesen“, sagte sie und machte eine kurze Pause um Hannahs Antwort abzuwarten. Diese nickte aber nur kaum merklich mit dem Kopf und murmelte ein „Mhm“. Doch Christa ließ nicht locker.
„Was hat denn der Pongratz gesagt?“
„Was soll er denn schon gesagt haben?“
„War er ziemlich sauer?“
„Es ging, es waren doch nur zehn Minuten. Deswegen macht doch niemand Stress. Ich habe das Gefühl das Thema beschäftigt dich mehr als mich.“
„Ich mein ja nur. Naja, aber wundern tut mich das nicht.“
„Was wundert dich nicht?“
„Na, dass du heute zu spät bist.“
„Was soll das heißen?“ Hannah legte empört ihre Elektroplatine zur Seite und sah Christa zum ersten Mal direkt in die Augen, nachdem sie sie zuvor mehr oder weniger ignorierte und unbeirrt ihre Arbeit fortsetzte.
Christa stutzte. Sie merkte jetzt, dass sie zu weit gegangen war und suchte fieberhaft nach einer Ausflucht.
„Warum wundert dich das nicht?“, fragte Hannah nochmal und diesmal etwas direkter.
„Na, wegen den Gerüchten.“
„Welche Gerüchte? Kannst du auch mal deutlich werden?“
„Du weißt schon, wegen deinem Mann.“
„Was ist mit meinem Mann?“
Christa zögerte einen Moment, schließlich platze es aber doch aus ihr heraus. „Er soll doch eine andere haben.“
Hannah wusste im ersten Moment nicht was sie antworten sollte. Ihr Michael soll eine Geliebte haben? Und sie hat nichts davon bemerkt? Das konnte unmöglich der Fall sein. Das ist nur wieder ein Gerede unter Tratschweibern.
„So ein Blödsinn. Wer erzählt denn sowas?“
„Ich weiß nicht. Ich hab`s auch nur irgendwo aufgeschnappt.“
Christa verabschiedete sich schnell mit Verweis darauf noch viel zu tun zu haben. Hannah versuchte den Gedanken daran zu verdrängen und sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren, was ihr aber nicht leicht fiel. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Was wenn wirklich was dran war an den Gerüchten? War es wirklich so abwegig? Sex hatten sie beide schon lange nicht mehr und die Leidenschaft in ihrer Beziehung war auch irgendwie verflogen. Sollte es tatsächlich so sein und sie hatte nichts gemerkt?
Hannah ließ ihre Platinen fallen und musste dringend an die frische Luft. Auf dem Weg zum Hinterausgang, der über die Toiletten führte, schnorrte sie sich eine Zigarette. Zwar hatte sie an dem Tag als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr mit dem Rauchen aufgehört, aber ein paar Tage nach der Geburt hatte Hannah wieder die erste Kippe in der Hand. Kurz nach der Entbindung hatte sie wieder angefangen. In der Raucherecke verstummten die Gespräche als Hannah hinzukam und sich Feuer lieh. Die haben über mich geredet, war ihr erster Gedanke. Die vier Raucher blickten verstohlen zur Seite, keiner schaute Hannah in die Augen oder begann ein Gespräch. Keine schmutzigen Witze wurden gerissen wie sonst üblich. Hannah fühlte sich in ihrem Verdacht bestätigt. Das Gerücht machte bereits die Runde. Das ging ja schneller als sie dem Staplerfahrer Franz den Führerschein zwickten, weil er besoffen einen Unfall verursachte, dachte sie sarkastisch. Sie rauchte die Zigarette, die ihr sowieso nicht schmeckte, nur halb zu Ende, trat sie auf dem Boden aus und kehrte sofort an ihren Arbeitsplatz zurück.
Als Hannah die Arbeit wieder aufnahm, überlegte sie fieberhaft ob es irgendwelche Indizien auf Michaels Untreue gegeben hat. Er musste viele Überstunden machen, aber das war auf Montage ja wohl normal. Wenn er mal zu Hause war, spielte er viel mit seinem Handy rum, aber das tat sie auch. Außerdem war er ganz vernarrt in Philipp. Schon alleine für ihn würde er das Risiko niemals eingehen… Oder doch?
*
Mühsam schleppte sich Michael das Treppenhaus hinauf. Das Kreuz schmerzte und er suchte während des Gehens halt am Treppengeländer. Die Kleidung war durchgeschwitzt und schmutzig von Staub und Zement. Er war müde und sehnte sich nach einem kühlen Bier. Der Tag auf der Baustelle war wieder einmal hart. Die Kolonne lag deutlich hinter dem Zeitplan zurück und um keine Vertragsstrafe bezahlen zu müssen, trieb der Polier die Arbeiter unaufhörlich an und verlangte Überstunden. Dass der Vorarbeiter Michael nicht leiden konnte war ein offenes Geheimnis und so teilte er ihn für die mühsamsten und schmutzigsten Arbeiten ein. Ganz zu schweigen von dem psychischen Terror den er über sich ergehen lassen muss, wenn er von Seiten des Poliers und auch seiner Kollegen blöde Sprüche hören muss. Dass er als Abiturient zu soft für die Baustelle war, erkannten seine Kollegen sofort und auch dass sie auf seine Kosten Schabernack treiben konnten. In der dreizehnten Klasse noch träumte er vom lustigen Studentenleben und vom finanziell sorgenfreien Leben, dass er als Akademiker mal führen würde. Sein Traumberuf war Anwalt. Im Gerichtssaal groß auftrumpfen und seine Gegner unbarmherzig mit der Beweislast niederschmettern und dazu noch fürstlich bezahlt werden. Der Traum war aber gleich nach dem Abi ausgeträumt. Michael hatte den Numerus Clausus nicht gepackt und stand mit einer vier im Zeugnis auf der Kippe zum Scheitern. Erst die mündliche Prüfung hat ihm den Hals gerettet und das in Person von Frau Saller, seiner Lateinlehrerin, und die ihm glücklicherweise wohlgesonnen war.
Michael musste sich schleunigst nach einem neuen Studiengang umsehen. Maschinenbau kam nicht in Frage. Er hatte zu große Schwächen in Mathematik. BWL schloss er aus dem gleichen Grund aus. Auch der soziale Bereich kam für ihn nicht in Frage. Dort ließ sich kein Geld verdienen.
„Mach eine Lehre“, sagte sein Vater. „Mit einer Ausbildung hast du immer was „Richtiges“ in der Hinterhand. Studieren kannst du danach immer noch.“ So entschied Michael sich schließlich für eine Berufsausbildung. Da er eine Arbeit im Büro anstrebte, begann er eine Ausbildung zum Bürokaufmann. In der Berufsschule dann schon der erste Schock: In seiner Klasse war er nur einer von zwei Jungs. Er hatte sich für einen klassischen Mädchenberuf entschieden. Auch im Büro selbst war er, abgesehen von seinem Chef, nur von Frauen umgeben, die meisten jedoch schon älteren Semesters.
Leider war er dadurch dem alltäglichen Zickenterror der Damen ausgesetzt. Die Älteren zickten die Jüngeren an, der einen hat die andere etwas zu tief in Michaels Augen geschaut und ein paar der Alteingesessenen waren der Meinung, es bräuchte keinen Mann im Team, da das nur Ärger mit sich bringen würde und damit hatten sie auch Recht. Allerdings konnte Michael am wenigsten dafür. Am Allermeisten aber litt er unter der immer schlechter werdenden Stimmung im Büround so beschloss er schweren Herzens die Ausbildung abzubrechen und einen Männerberuf zu ergreifen. Dies stellte sich letztendlich als noch größerer Fehler heraus.
Vorsichtig drehte Michael den Schlüssel im Schloss um seinen schlafenden Sohn nicht zu wecken. Er zog möglichst geräuschlos seine schmutzigen Schuhe aus, hängte die warme Fleecejacke an den Garderobenhaken und schlich auf Zehenspitzen in die Wohnung. Aus dem Wohnzimmer drang noch ein leichter Lichtschein. Hannah schien noch wach zu sein. Oder sie war, wie so manches Mal, vor dem Fernseher eingeschlafen. Leise öffnete er die Tür und lugte in das Zimmer hinein. Der Fernseher lief nicht und Hannah war noch wach. Mit verschränkten Armen saß sie auf der Couch und sah zu ihm auf als er hereintrat. Dass irgendetwas in der Luft lag war Michael sofort klar. Vermutlich hat Hannah sich heute über Philipp ärgern müssen und hatte einen schlechten Tag. Sie brauchte jetzt jemanden zum reden. Vielleicht lief es aber auch in der Firma schlechter als bisher bekannt.
„Hallo mein Schatz“, begrüßte er sie im gedämpften Ton. Keinesfalls wollte er riskieren Philipp zu wecken.
„Hallo“, flüsterte sie kaum merklich und legte ihren Blick wieder auf den ausgeschalteten Fernseher.