Du sollst nicht begehren ... - Kathrin Fuhrmann - E-Book

Du sollst nicht begehren ... E-Book

Kathrin Fuhrmann

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Beschreibung

Sandra lebt unter falschen Namen in einer fremden Stadt. Sie versteckt sich vor ihrer Vergangenheit und lebt ganz für ihren Job. Als Staatsanwältin für Verkehrsrecht in Dortmund ist sie gut beschäftigt und findet nicht, dass ihr etwas fehlt. Aus ihrem simplen Fall von Unfallflucht wird ein Mordfall, aber nicht die fast überfahrende, ältere Dame ist das Opfer, sondern eine junge, übel zugerichtete Unbekannte, die im Kofferraum entdeckt wird. Sandra wird dem Staatsanwalt Peter Bauer als Assistenz zugeteilt, der mehr Interesse an ihr hat, als an der Vorbereitung des Verfahrens gegen Carsten Kramer. Die zunehmenden Animositäten wischen Bauer und dem leitenden Ermittler Patrick Schulte-Henning und der Zeitdruck setzen Sandra so sehr zu, dass sie sich gegen ihre Gewohnheit mit ihrer Kollegin Ana DaSilva in einer Cocktailbar trifft. Doch nicht die liegt am nächsten Morgen nackt in ihrem Bett!

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Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhaltsverzeichnis

Du sollst nicht begehren ...

~Ein Ruhrpottroman mit Herz~

Kathrin Fuhrmann

Sandra Bresinsky und Patrick Schulte-Henning arbeiten an der Aufklärung einer Mordserie, als ihre Vergangenheit sie einholt. Ihr Stalker versucht sie zu entführen, was Patrick verhindert. Hin und her gerissen zwischen ihrem herrischen Kollegen, der sie als seine Büroaffäre ansieht und ihren Gefühlen für Patrick, versucht sie beiden aus dem Weg zu gehen. Weder der Kollege, noch Patrick oder der Stalker geben so schnell auf ...

Copyright siehe Ende

2. Auflage 09/2019

Kapitel Zwischen den Stühlen

Sandra erwachte vom schrillen Zirpen ihres Haustelefons. Auf dem Bauch liegend, streckte sie lediglich die Hand aus, ohne das Gesicht aus dem Kissen zu heben, in dem es zuvor vergraben gewesen war. Ihr Schädel drohte zu platzen, und dies war der einzige Grund, warum sie sich überhaupt bewegte. Ihre Finger tasteten blind über das kühle Glas ihres altertümlichen Nachtschranks. Sie streckte sich, den Anrufer verfluchend, und bekam endlich das schnurlose Gerät zu fassen. Neben ihr regte sich ihr Bettgenosse, drehte sich zu ihr um und legte eine große, warme Hand auf ihren baren Rücken. Ihre Haut kribbelte angenehm und übertünchte ihren ersten unwilligen Gedanken. Sie hatte Peter nach Sibirien gewünscht.

»Bresinsky«, murmelte sie in den Apparat, die Augen gegen das grelle Sonnenlicht fest zusammengepresst.

»Sandy, was zum Teufel soll das? Ich lasse seit einer Ewigkeit klingeln!« Peter klang gewohnt ungehalten. Sandra brauchte keine Sekunde, um die Fakten zu kombinieren und sich ein Bild von ihrer Situation zu machen. Mit einem Ruck setzte sie sich auf, verbat sich, auf ihren Bettnachbar zu schielen und konnte den überraschten Ausruf dennoch nicht zurückhalten: »Peter!«

»Ich bin in zehn Minuten bei dir!« Er legte ohne einen Abschiedsgruß auf.

Sandra presste das Telefon trotzdem weiter ans Ohr. Als würde Peter sie nach Hause begleiten! Oder sich sonstwie um sie bemühen. Schnell schob sie den ketzerischen Gedanken beiseite. Er war leitender Ankläger, eine Koryphäe. Er hatte einfach keine Zeit für aufwändige Dates, den Schnickschnack einer festen Beziehung. Und sie auch nicht! Was wollte sie überhaupt? Er ließ sie mit ihm arbeiten. Er verbrachte seine wertvolle Zeit mit ihr, einer Anfängerin. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass er sie überhaupt beachtete. Und jetzt hatte sie alles kaputtgemacht. Was immer sich aus der Affäre entwickelt hätte. Sie schluckte und erinnerte sich an ihr Zeitlimit. Zehn Minuten.

Sie drehte sich, um ihren Liebhaber der letzten Nacht rauszuschmeißen. Mit der Situation konnte sie später hadern, nun galt es, Beweise verschwinden zu lassen. Den Typen, dessen Anwesenheit sie sich nicht ganz erklären konnte. Gut, sie hatte sich nach dem Gespräch mit ihrem Vorgesetzten vorgenommen, irgendwo zu versacken, aber schließlich war dies ihr allabendlicher Plan seit unzähligen Wochen. Nie hatte sie ihn tatsächlich umgesetzt. Sie begegnete den blauen Augen ihres Bettgenossen, blinzelte und rutschte dann recht entsetzt aus dem Bett, ohne einen Ton zu verlieren. Ihre Beine trugen sie, wenn auch zittrig, bis in ihr Badezimmer, wo sie leise die Tür schloss und anschließend an der gekachelten Wand direkt daneben herabsank. Das Klo vor Augen, gellte ein Wort recht eindringlich in ihrem Hirn: Scheiße!

Ihr wurde schlecht. Als wäre es nicht schlimm genug, dass sie Peter betrogen hatte, nein, sie musste es ausgerechnet mit ihm tun: Patrick Schulte-Henning. Der leitende Ermittler ihres allerersten Mordfalls. Peters Erzfeind. Die Lider klappten ihr zu, und sich der neuerlichen Übelkeit zu widersetzen, war wesentlich schwerer. Sandra vergrub leise stöhnend ihr Gesicht in ihren Armen.

Die Tür ging auf, sie spürte es an einem Luftzug. Oh Gott, geh weg!, flehte sie still und wusste, dass der Sadist im Himmel sie nicht erhören würde. Sie trachtete danach, ihn einfach zu ignorieren. Beließ den Kopf, wo er war, presste fest die Zähne aufeinander und summte still vor sich her. Die Tür schloss sich wieder mit einem sachten Ton, aber Sandra wusste es besser, auch ohne aufzusehen. Er war nicht gegangen, oh nein. Er stand neben ihr, lässig am abblätternden, beigefarbenen Rahmen angelehnt, und sah sicher überaus selbstgefällig auf sie herab. Nach weiteren langen Momenten brach er das Schweigen: »Was wollte Bauer?«

Sandra seufzte gequält. Vielleicht ging er, wenn sie ihre Misere eingestand? Oh, sie glaubte es nicht eine Sekunde lang, aber die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.

»Er ist auf dem Weg.« Ihre Stimme war ungewohnt piepsig und gab letztlich den Ausschlag. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, schwach zu sein. Unfähig, mit Problemen umzugehen oder Herausforderungen, wie es ihr Vorgesetzter in der Verkehrsdeliktabteilung genannt hatte – mit einem Zwinkern und einem kameradschaftlichen Klaps auf die Schulter.

Sie hob den Kopf, fokussierte ihren Blick auf Schulte-Hennings nachdenkliches Gesicht und zischte: »Verschwinden Sie!«

Gleich beide Brauen hoben sich im deutlichen Unglauben. Dennoch kam die Replik umgehend: »Nein.«

Sie hatte es ja gewusst.

Schulte-Henning verschränkte die Arme vor der nackten Brust, und Sandra zwang sich, seinem Blick zu begegnen. Ja nicht herabsehen! Nicht, dass es nötig gewesen wäre. Zu ihm aufzusehen, gab ihr ohnehin einen vollen Überblick über seine alles andere als abstoßende Gestalt. Es war deutlich, dass er das Angebot des Polizeisports ausgiebig nutzte, dazu hätte es Peters abfällige Worte nicht gebraucht.

»Ich habe dich für klüger gehalten.«

Die Bemerkung verwirrte Sandra und verärgerte sie zugleich, darauf einzugehen, verbat sie sich aber. Die Minuten verrannen wie Sand zwischen den Fingern.

»Ich will, dass Sie gehen, Kommissar Schulte-Henning!« Sie rappelte sich schwankend auf, wobei ihr die Wand in ihrem Rücken eine willkommene Stütze war – auch, wenn sie nicht ganz ausreichte. Sie war noch völlig damit beschäftigt, die Übelkeit niederzuringen und bemerkte daher nicht gleich, dass er nach ihrem Ellenbogen gegriffen hatte und sie an sich zog. Erst sein Murmeln machte sie darauf aufmerksam. Sie riss die Augen auf und sich von ihm los, überlegte es sich dann doch wieder anders. Anstatt ihn anzupflaumen, drehte sie sich um und sackte vor der Toilette zusammen. Zumindest würde sie das Erbrochene nicht aufwischen müssen. Sie schloss die Augen und lehnte die Stirn an die Hand, die auf der Brille ruhte, als der Brechreiz abflaute. Sie hatte es maßlos übertrieben.

Schulte-Henning lag nackt in deinem Bett, Sandra, selbstverständlich hast du es maßlos übertrieben!

Eine Hand legte sich in ihren Nacken.

»Hier«, raunte er nahe an ihrem Ohr und schickte ihr damit eine Gänsehaut über den Rücken. »Spül dir den Mund aus. Hast du Alka-Seltzer da?«

Im Flur bimmelte eine Bahnglocke. Irritiert sah Sandra auf und ließ sich das Glas aufdrängen – ein Mickey-Mouse-Glas aus Kinderzeiten, aus dem sie gewöhnlich ihre KiBa schlürfte. Er war in der Küche gewesen.

»Ich muss da rangehen.« Schulte-Henning zuckte die Schultern. »Ich bin im Dienst.« Er grinste kurz und erhob sich. Die Tür ließ er offen, und so konnte sie das Gespräch verfolgen.

»Schulte-Henning. - Wo?« Er warf einen Blick zu ihr zurück. »Worum geht … - Ich bin ganz in der Nähe.« Er legte auf. »Arschloch!« Damit schob er sein Mobiltelefon zurück in eine Jackentasche. »Wir haben fünf Minuten.« Er verschwand in ihrem Schlafzimmer. »Mindestens. Da Bauer das Wort Pünktlichkeit stets im Duden nachschlagen muss … Vielleicht eine Viertelstunde.« Er kam zurück und schloss sich auf dem Weg die Knöpfe an seiner Jeans. Er schlüpfte in sein T-Shirt. »Du solltest duschen.« Er sah auf sie herab. Seine Stirn wellte sich. »Brauchst du Hilfe?«

So weit kam es noch! Sandra stellte das Glas beiseite und drückte sich mühsam in die Senkrechte. Dennoch schwankte sie mehr, als dass sie ging, zur Dusche. Sie stützte sich an der Wand ab und zog lediglich am Wasserhahn. Das Wasser war eisig und entlockte ihr einen kleinen Aufschrei. Sie senkte den Kopf und ließ es auf sich herab prasseln. Es würde nicht helfen. Deswegen verwarf sie jeden Abend ihren Vorsatz, sich zu betrinken, so schnell wieder, wie sie ihn fasste. Für gewöhnlich. Nicht so in der letzten Nacht. Was war anders gewesen?

»Wie magst du deine Eier?«

Sandra sah über die Schulter zurück. Sie musste ihn falsch verstanden haben.

»Es ist kein Brot im Haus und auch kein Müsli, lediglich sechs Eier …« Er legte den Kopf schräg. »Und Reis mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum.«

Alles in ihr drängte sie dazu, ihn die Hühnerprodukte essen zu lassen.

»Im Februar hat meine Schwester vorübergehend hier gewohnt. Die Eier sind noch von ihr.«

Es zuzugeben, war nicht so übel. Zumindest sah sie ihn mal sprachlos. Er fasste sich leider schnell wieder, zuckte die Achseln und kommentierte: »Dann eben kein Frühstück.«

Er sah an ihr herab, völlig ungeniert und trieb ihr damit die Zornesröte in die Wangen.

»Raus!«, spie sie und warf ihm ihren Schwamm an den Kopf. Er gönnte sich gelassen einen zweiten Blick, bevor er fröhlich vor sich hin pfeifend das Feld räumte. Herrgott, wie hatte sie mit ihm im Bett landen können? Nun, er war sicherlich nicht ihr erster dahingehender Fehltritt. Seufzend mahnte sie sich zur Eile. In ihren flauschigen Bademantel gehüllt, huschte sie über den Flur, keineswegs trittsicher, und so stolperte sie in die Küche. Sie brauchte dringend einen Kaffee und musste unbedingt Schulte-Henning loswerden, bevor Peter an der Tür klingelte.

»Hopsala«, raunte der an ihrem Ohr, als er sie abfing. Ihre Küche war eine böse Entschuldigung für eine solche, bestand sie doch aus überfüllten vier Quadratmetern und beherbergte gerade mal einen Kühlschrank, einen schmalen Herd und eine winzige Spüle. Der Klapptisch war ausgezogen und blockierte damit den ganzen Raum.

Sandra sah auf, noch unsicher, ob sie sich für die Hilfe bedanken oder ihn lieber für seine unangebrachte Berührung anschnauzen sollte. Seine Augen strahlten auf unglaublich bezwingende Weise, und so blinzelte sie lediglich, als er sich vorbeugte. Die Berührung seiner Lippen ließ sie erschrocken zurückzucken. Es war wie ein Schlag gewesen. Ihre Glieder waren steif und folgten nicht ihrem Befehl, sich aus seinen Armen zu winden, die sich nun fest um sie schlossen. Er presste sie an sich und verschlang sie fast mit seinem Kuss. Ihre Lider fielen zu, und sie sackte zittrig gegen ihn. Er schob sie zurück, bis sich der Rahmen in ihren Rücken bohrte und riss an der Schlaufe ihres Bademantels.

»Sandra«, murmelte er an ihren Lippen. Seine Hände fuhren über ihren Körper, schlossen sich um ihren Busen, dann um ihre Pobacken, um ihren Schoß gegen seinen zu pressen. Sie würden noch erwischt werden. Aufregung wusch durch ihre Adern und ließ ihren Atem stocken, oder waren es seine Worte?

»Ich will dich«, murmelte er und fluchte verhalten. Seine Hand rutschte über ihren Bauch und weiter in ihren Schoß. Sie stöhnte an seinen Lippen. Er neckte sie mit kundigen Fingern. »Und du mich!«

Nein, ganz und gar nicht. Dennoch war es nicht sie, die ihn dabei stoppte, sich die Hose aufzuknöpfen. Es klingelte. Einmal. Zweimal. Erschrocken riss Sandra die Augen auf. Sein Blick lag unzufrieden auf ihr.

»Verdammt!«, zischte er und ließ sie los. Sie beobachtete ihn, wie er von ihr abrückte und sich schnell die Kleidung richtete. Erst sein Blick an ihr herab rüttelte sie auf. Sie schlang den Mantel um sich.

»Ich mache auf«, sagte er.

»Nein!« Oh Gott, er durfte nicht aufmachen. Peter würde doch sofort wissen, was sie getan hatte – und dies auch noch mit dem Mistkerl Schulte-Henning!

»Setz dich, trink deinen Kaffee.« Er drückte sie auf den Klapphocker nieder und wendete sich durchs Haar fahrend ab. Ein Desaster. Ein fürchterliches Desaster!

Patrick wartete angespannt hinter der geschlossenen Wohnungstür auf Staatsanwalt Bauer. Lust brannte in seinen Adern. Er hätte sie ficken sollen. Er hätte das Vorspiel ausfallen lassen und sie einfach ficken sollen. Herrgott, sie fickte schließlich auch das Schwein Bauer. Er wusste genug von dem feinen Herrn Staatsanwalt, um sie dafür zu verachten. Nicht, dass es sie kümmern würde. Wenn sie sich selbst so gering achtete, um Bauers schneller Fick zu sein, würde ihr seine fehlende Achtung kaum etwas ausmachen. Wie Jen würde sie ihn einfach auslachen, wenn er ihr vorhielt, wie billig sie sich machte.

Der Gedanke an seine Ex kühlte sein Blut, auch wenn es nicht gerade dabei half, ihn zur Ruhe kommen zu lassen. Es klingelte erneut, und Patrick atmete langsam aus. Ruhe. Mit einem Ruck öffnete er die Tür, setzte eine gelangweilte Miene auf und verzog die Lippen.

»Bauer.«

Der Staatsanwalt sparte sich einen Gruß und drängte sich an ihm vorbei. Er sah sich um. Er kannte die Wohnung nicht. Patrick runzelte die Stirn. Hatte er falsch gelegen? Schlief Sandra gar nicht mit Bauer?

Die bisher vermisste Gelassenheit legte sich beruhigend wie ein warmer Umschlag um ihn. Sehr gut. Er würde den Störenfried loswerden und Sandra wieder ins Bett kriegen. Natürlich, nachdem er sich für den Dienst abgemeldet hatte.

»Sandra!«, rief Bauer ungehalten und suchte nach der passenden Tür. Patrick wies auf die Küche.

»Kaffee, Bauer?«

Gefragter stampfte los, blieb im Rahmen stehen und musterte die junge Anwältin mit verkniffener Miene. Sie drehte sich ihm zu und verlor den letzten Rest Farbe. Sie schluckte, öffnete ihre Lippen und schloss sie unverrichteter Dinge wieder.

»Guten Morgen«, wisperte sie schließlich dünn. Patrick seufzte lautlos. Solange sie zusammenarbeiteten, wäre eine Affäre unprofessionell.

»Wie zum Teufel siehst du aus?«, fuhr Bauer sie an. »Herrgott, es ist gleich acht!«

»Es ist Samstag«, soufflierte Patrick. »Selbst Anwälte dürfen sich hin und wieder amüsieren, nicht wahr?« Er hielt seinen Ton leicht, wusste aber, dass Bauer wohl verstand. Eben jene Worte hatte Bauer Patrick an den Kopf geworfen, bei einem anderen Fall, an einem anderen Morgen, in einer anderen Küche, bevor Patrick herausfand, dass sein Trauzeuge, Peter Bauer, mit seiner Verlobten Jennifer schlief. Zehn Jahre waren seitdem vergangen, vergessen hatte er es nicht. Bauers scharfe, schwarze Augen verengten sich.

»Wir stecken mitten in der Prozessvorbereitung, und du hast Zeit …« Er glühte vor selbstgerechtem Zorn.

Sandra schloss kurz die Augen, bevor sie ihr Kinn hob und mit ihm die Lider, um ihrem Ankläger ruhig anzusehen. »Ich hielt es für notwendig, um den Baum wieder zu sehen.« Sie nippte an ihrem schwarzen Kaffee. »Ich brauchte Abstand. Eine Ablenkung.« Sie atmete tief ein. »Ich habe es übertrieben. Es tut mir leid.«

Sie sollte sich bei ihm entschuldigen, dachte sich Patrick, schließlich hatte er darauf verzichten müssen, mit ihr zu schlafen, weil es ihr zu übel ging und sie ihm noch während des Vorspiels eingenickt war.

Bauer schüttelte den Kopf. »Zieh dich an.«

»Wozu?« Patricks Frage ließ Sandra erneut erbleichen, während Bauer ihn ärgerlich maß. »Ein Tatort wartet auf uns.«

Sandra würgte, schlug sich eine Hand vor den Mund und stieß ihn zur Seite.

Sandra zitterte am ganzen Leib. Die Fahrt ins Sauerland nahm fast zwei Stunden in Anspruch. Zwei recht kurvige Stunden. Balve, ein kleiner Ort mitten im Nirgendwo, war ihr Ziel, und Sandra argwöhnte, dass der Sadist in den Wolken sich ins Fäustchen lachte. Denn es gab keine schnelle Verbindung zwischen Dortmund und Balve. Entweder man fuhr einen Umweg und nahm die Autobahn nach Arnsberg, um von dort eine Stunde über kurvige Landstraßen zu fahren, oder man versuchte sein Glück über Unna und Menden. Im letzten Ort, oder besser kurz davor, beharrte Schulte-Henning auf sein Frühstück, was Peter fast zur Weißglut brachte.

Dies, oder dass Schulte-Henning darauf bestand, dass auch sie essen musste. Sie hielten schließlich vor einem McDonalds, nachdem Peter den Vorschlag, einfach etwas mitzunehmen und es in seinem neuen Mercedes zu essen, fluchend ausgeschlagen hatte. So kam Sandra zu einer Portion versalzener Eier – Schulte-Henning war so freundlich gewesen, zwei Päckchen des Gewürzes darüber zu schütten – und einem weiteren Becher tiefschwarzen Kaffees. Ihr Magen rumorte, obwohl sie sich schon besser fühlte als vor ihrem Stopp.

Sie hasste ihn dafür. Er saß hinter ihr und machte sie verrückt mit seinem Starren. In der ersten Stunde war Schulte-Henning die wenigen bereits vorhandenen Informationen durchgegangen. Die Leichen zweier junger Frauen waren nahe der Schienen hinter der Reckenhöhle gefunden worden. Beide verstümmelt wie die Körper von Lena-Sophie Maier aus Waltrop und Mareike Vulpius aus Bergkamen. Nackt. Mit kahl rasiertem Schädel. Wie bei Lena-Sophie hatte man die beiden Leichen einfach im Wald abgelegt und sich nicht darum geschert, ob sie gefunden wurden. Immerhin waren es dieses Mal keine Kinder gewesen, die auf den grausigen Fund gestoßen waren, sondern zwei Jäger.

Sandra konzentrierte sich auf den Asphalt vor ihr. In zweihundert Metern rechts abbiegen, verlangte die klare, weibliche Stimme des Navigationssystems und schreckte sie damit auf. Haus Recke, verkündete ein großes, nicht mehr ganz neues Schild und verwies mit großen Lettern auch auf Führungen in der Reckenhöhle. Peter ging auf die Bremse und sorgte bei ihr für neuerliche Übelkeit. Er bog scharf ab und brachte das Auto abrupt zum Stehen.

»Schade«, seufzte Schulte-Henning laut und stieß die Wagentür auf. »Ich hatte so gehofft, Frau Bresinsky kotzt dir in deinen schicken Mercedes!«

Die Tür schlug zu und brachte den Wagen ins Schaukeln. Sandra presste elendig die Lippen aufeinander.

»Arschloch!«, spie Peter und sprach ihr damit aus dem Herzen.

Ihre Tür wurde geöffnet. »Frau Anwältin …«

Fast meinte sie „feine Frau Anwältin“ zu hören, in dem Ton, mit dem Schulte-Henning Peter gewöhnlich ansprach. Sie schauderte. Es war unmöglich, ihren unsäglichen Fehler geheimzuhalten. Peter würde sie doch verachten, ganz gleich, wie fürchterlich sie sich ohnehin schon deswegen fühlte. Gedemütigt von ihrer eigenen Dummheit.

»Sandra?«

Die Fahrertür schlug zu und überdeckte fast die Ansprache.

»Brauchst du …«

Flehentlich sah sie auf.

»Bitte!«

So sollte Peter es gewiss nicht erfahren. Und so wollte sie damit nicht konfrontiert werden. Gott, wie hatte das nur passieren können? Sie schob die Frage erneut von sich, als sich Schulte-Henning zurück in ihr Gedächtnis rief.

»Brauchen Sie Hilfe, Frau Bresinsky?«

»Nimm dich endlich zusammen!«, knurrte Peter mit einem giftigen Blick. »Rainer wird nie wieder aufhören zu spotten, wenn …«

»Bauer, altes Haus!« Der Rufende winkte ihnen zu. »Hier rüber, oder brauchst du vorher noch eine Stärkung? Im Restaurant haben sie die großen Grünen.«

Peter setzte ein breites Grinsen auf und winkte zurück.

»Später gern!«, gab er zurück und murmelte ein kaum Vernehmbares: »Blöder Affe!« Er drehte sich wieder zu ihr, das unechte Grinsen blieb haften. »Nun, Sandra, wenn du noch einen Moment benötigst, gehe ich schon einmal vor.« Er warf Schulte-Henning einen knappen Blick zu. »Bevor du die Beweismittel kompromittierst.«

Sandra vergaß zu atmen. Ihre Augen, die auf Peters rigide Rückansicht geheftet waren, begannen zu brennen, und der Hals zog sich ihr zu. Sie wagte nicht, Schulte-Hennings Augen zu begegnen, in denen sicherlich heiße Schadenfreude loderte.

»Pat? Wollen wir dann?« Er ließ sie stehen. Sie verfolgte, wie er den blöden Affen freundschaftlich auf die Schulter schlug und eine Bemerkung machte, die den runderen, etwas kleineren Mann, mit schütter werdendem Haar, zum Lachen brachte. Er warf ihr einen anzüglichen Blick zu, der langsam an ihr herabwanderte, bevor er mit seiner Antwort Peter ebenfalls auflachen ließ.

»Ich muss ihnen folgen, Sandra. Vielleicht solltest du dir tatsächlich noch etwas Ruhe gönnen. Vielleicht noch einen Kaffee im Haus Recke?«

Besser sie brachte es sofort hinter sich. Bat ihn direkt, Stillschweigen zu bewahren. Sie konnte nicht aufsehen.

»Kommissar Schulte-Henning …«

»Wir können uns beim Vornamen nennen, Sandra. Möchtest du, dass ich dich begleite? Ein paar Minuten lassen sich vertreten, ganz gleich, was Bauer behaupten wird.«

Ihr Blick zuckte in sein Gesicht bei der Verleugnung des Staatsanwaltes.

»Hauptkommissar Rainer wird seine Jungs sicherlich gut instruiert haben. Letztendlich haben wir lediglich das Recht auf Einsicht der Akten, alles andere ist … Nennen wir es einen Freundschaftsdienst.«

Sandra klappte den Mund wieder zu und schluckte damit ihre Verteidigung Peters herunter.

»Warum sind wir dann hier?«

»Wenn es kein Nachahmungstäter war …«, begann Schulte-Henning mit einem Schulterzucken.

»Dann sitzt der Falsche in Untersuchungshaft«, schloss Sandra nachdenklich. Sie musste sich Carsten Kramer nicht ins Gedächtnis rufen, er kam von selbst und mit ihm eine neue Welle Übelkeit. »Ich kriege dich!«, hatte er gemurmelt, als sie nach der Vernehmung an ihm vorbeigegangen war. Seine kalten, eisgrauen Augen hatten sie durchbohrt, und sie hatte sich entblößt und angreifbar gefühlt. Sie war Peter zittrig gefolgt und war ihm nur zu dankbar in die Arme gesunken. Sie schloss die Augen, ohne die Erinnerung vertreiben zu können. Eine schale Erinnerung, im Nachhinein. Und die Euphorie war schnell verflogen.

»Ich komme mit«, murmelte sie. »Es muss ein Nachahmungstäter sein. Mareike Vulpius‘ Leiche lag in seinem Kofferraum!«

Schulte-Henning sparte sich einen Kommentar dazu.

»Bist du dir sicher?« Er hielt sie am Ellenbogen zurück. »Vielleicht solltest du warten, bis die Leichen …«

Sandra riss sich zittrig los.

»Lassen Sie das! Letzte Nacht war ein Fehler. Es wäre das Beste, wenn wir das einfach vergessen!« Sie wendete sich brüsk ab und stapfte vom Wagen fort. Ihre feuchten Hände wischte sie an ihrem Kostüm ab. Der knielange Rock schwang bei jedem Schritt und würde eine Herausforderung sein, wenn der Weg so steil wurde, wie sie es beim ersten Anblick der Berge befürchtet hatte. Eine Hose wäre zweckmäßiger gewesen.

Verbissen sah sie sich um. Sie hatte nicht mitbekommen, in welche Richtung der blöde Affe und Peter verschwunden waren, und der Parkplatz und das angrenzende Waldstück barsten vor Uniformierten.

»Der Weg ist gesperrt. Bitte nehmen Sie einen anderen für Ihren Spaziergang.«

Sandra presste die Lippen aufeinander. »Staatsanwältin Bresinsky. Mein Kollege …«

»Sie gehört zu mir, Stephens.« Schulte-Henning wies in den Wald. »Bauer und Rainer sind bereits vorgegangen.«

»Bauer? Na, haben wir ein Glück!«, murrte Stephens und deutete hinter das Haus zur Linken. »Der Weg ist abgesteckt. Kondome gibt es …«

Sandra fiel vor Schreck die Kinnlade herab.

»Stephens!«, tadelte Schulte-Henning grinsend und schüttelte den Kopf. Der Uniformierte warf ihr einen Blick zu, errötete und korrigierte sich mit einer Erklärung. »Überzieher, Frau Staatsanwältin. Für die Schuhe. Um eventuelle Beweise …«

Sandra nickte schnell und zog das Absperrband aus dem Weg. Zumindest ihre flachen Schuhe bewiesen Eignung, als der Weg steiler wurde. Sie folgte dem rot-weiß gestreiften Band, hielt sich dabei am Rand und sah sich um. Unter ihr verschwand der Parkplatz hinter dichtem Laub, allerdings konnte sie eine halbwegs befestigte Straße wenige Meter neben ihrer Position ausmachen. Schleifspuren und Fußabdrücke von zwei Personen führten tiefer in den Wald. Sandra runzelte die Stirn.

»Parallel zur Straße«, murmelte Schulte-Henning hinter ihr. Auch er sah zurück zum Parkplatz. »Nicht einsehbar.«

»Wenn es zwei Leichen sind, wurde nur eine geschleift. Es wäre unmöglich …« Sandra brach ab und ging in die Hocke, um sich die Abdrücke genauer anzusehen. Die Fußabdrücke schienen gleich groß zu sein. »Warum?«

Ihr Magen grollte vernehmlich, und Sandra presste die Lippen aufeinander.

»Darf ich Ihnen aufhelfen, Frau Anwältin?« Er hielt ihr die Hand entgegen. Sein Anblick vom Morgen stand ihr ungebeten vor Augen. Sie schloss die Lider. Scheiße!

Tief durchatmend schüttelte sie den Kopf.

»Keine Sorge, Frau Anwältin, ich habe Sie durchaus verstanden. Obwohl sich Ihre Chancen auf Bauers Interesse lediglich erhöhen würden, wenn wir …«

Er brach ab, aber wohl nicht wegen ihres bösen Blickes. Hinter ihr knackten Äste. Sandra kam schwankend auf die Füße.

»Ah, Patrick, was tust du in der Heimat?« Der Fragende grinste Schulte-Henning kurz an, bevor er Sandra die Hand entgegenstreckte.

»Sind Sie seine neue Kollegin? Sie sind hübscher, als er Sie beschrieben hat.« Das Grinsen hatte etwas eigentümlich Vertrautes.

»Bitte, Papa, Frau Staatsanwältin versteht deinen Humor nicht.«

Sandra fuhr zu ihm herum. Das gleiche Grinsen lag auf Schulte-Hennings Lippen, und er zuckte die Schultern.

»Staatsanwältin? Doch nicht Peters Staatsanwältin.« Das Lächeln verschwand umgehend, und die blauen Augen des älteren Mannes fuhren an ihr herab.

»Zumindest nicht die meine.«

Sandra sog scharf den Atem ein. »Nun, das mit Sicherheit nicht. Ich gehöre niemandem!«

»Natürlich«, murmelte der Ältere, ohne überzeugt zu wirken, und Schulte-Henning seufzte.

»Nun, Frau Anwältin, mein Vater, Dr. Schulte-Henning. Er ist der für diese Gegend zuständige Gerichtsmediziner.«

Dr. Schulte-Henning streckte ihr die Hand entgegen und schüttelte ihre fest.

»Können Sie schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen?« Sandra hielt den Atem an und ignorierte den scheelen Blick.

»Die Leichenstarre ist noch nicht voll ausgeprägt, demnach in den letzten …«

Sandra schluckte und legte sich die Hand auf den Bauch. Das Gesicht wendete sie ab, zu peinlich war es ihr, ihre Schwäche nicht in den Griff zu bekommen. Wieder griff Schulte-Henning nach ihrem Ellenbogen, um sie zu stützen.

»Verdammt, Sandra, ich bringe dich zurück zur Recke. Du hättest nicht mitfahren sollen.«

Sandra schüttelte ihn ab, irritiert über die Besorgnis in seinen Augen.

»Staatsanwalt Bauer …«

»Ist ein Arsch.«

»Bestand darauf, wie Sie sehr wohl wissen! Und es geht mir gut!«, schloss sie verbissen und drehte ihm den Rücken zu. »Dr. Schulte-Henning …«

»Sind Sie schwanger?« Der Blick des Mediziners legte sich auf die immer noch auf den Bauch gepresste Hand.

»Nein!«

»Sie sind bleich wie der Tod, Sandra. Nehmen Sie irgendwelche Drogen? Bewusstseinserweiternde Mittel? Ritalin?«

Sandra klappte der Mund auf, aber sie fasste sich schnell wieder. »Selbstverständlich nicht!« Dr. Schulte- Henning war ebenso unausstehlich wie sein Sohn.

»Sie ist betrunken und sollte besser ihren Rausch ausschlafen. Hast du zufällig Beweissicherungstüten dabei? Bauer erwürgt sie, sollte sie seinen Tatort …«

»Ich habe mich im Griff, Kommissar Schulte-Henning!«, zischte sie, ohne ihn anzusehen. Ihre Fingernägel schnitten tief in ihre Handballen.

»Nun, sicher ist sicher«, murmelte der Arzt und zückte besagte Tüten aus der Jackentasche. Er hielt sie ihr hin. Sandra verkniff die Lippen. Der Polizist nahm sie entgegen und schlug sie sich in die Hand.

»Schickst du mir eine Kopie von dem Bericht?«

»Komm doch zum Essen, deine Mutter würde sich freuen.«

»Wohl nicht«, schlug Schulte-Henning aus. »Eines noch: Achte auf Vergewaltigungsspuren.«

»Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Sandra«, bemerkte Dr. Schulte-Henning und klang dabei wenig aufrichtig. Sie erwiderte den Gruß und sah ihm nach, als er vorsichtig den Pfad entlang ging. Dann senkte sie den Blick, der auf die Spuren im Waldboden fiel.

»Achtundvierzig Zentimeter? Ungewöhnlich groß, selbst für einen Herrenschuh und eine Information, die nicht öffentlich gemacht worden ist.« Sie konnten unmöglich den Falschen angeklagt haben. Sandra fröstelte in der lauen Spätsommersonne. Ich kriege dich! Sie schlang die Arme um sich.

»Sandra?«, sprach er sie sanft an. »Vielleicht solltest du …«

»Kommissar Schulte-Henning, hören Sie auf …« Die Vibration ihres Mobiltelefons lenkte sie ab. Sie zog es aus der Tasche ihres Blazers und erkannte am Display den Anrufer. Peter Bauer. Sie schloss die Augen und nahm den Anruf entgegen. »Bres…«

»Ist Patrick noch bei dir?«, fragte er harsch. »Er soll seinen Arsch hier hochbewegen!«

Sandra fehlte die Spucke zu einer Erwiderung.

»Und du könntest dich auch endlich heraufbequemen. Hier wartet Arbeit, die erledigt werden muss! Du kannst deinen Rausch später ausschlafen.«

»Wir sind auf dem Weg«, murmelte Sandra verdattert. »Und sprachen gerade …«

»Ich habe dich schon einmal gewarnt. Patrick ist ein Arschloch! Wenn du weißt, was gut für dich ist, dann sprichst du nur das Nötigste mit ihm.« Eine ungemein freundliche Warnung, die Peter noch toppte, indem er, wenn schon weicher, fortfuhr: »Schon gar nicht von uns. Glaube mir, er würde alles tun, um dazwischen zu funken. Er gönnt mir keine junge, hübsche Freundin.«

Sandra klappte fast der Mund auf. Freundin? Oh, was hatte sie nur angestellt? »Was hältst du von einem romantischen Abendessen?«

Das Grauen schlug über ihr zusammen. Wie sollte sie ihm sagen, was sie getan hatte? Gerade jetzt, da sie anscheinend tatsächlich eine Beziehung führten? Wie kam sie nur immer wieder in solche Dilemmata?

»Ich …«

»Sieh zu, dass du hier raufkommst. Ich brauche dich.«

Sandra klappte den Mund wieder zu bei dem Umschwung seiner zuvor freundlichen Stimme in den groben Befehlston.

»Sie sind auf dem Weg … Weibliches Schuhwerk …« Dann war die Leitung tot. Wie am Morgen presste sie das Telefon einen Moment länger an ihr Ohr, bevor sie es langsam sinken ließ. Sie spürte Schulte-Hennings Blick auf sich und schob ihre mannigfaltigen Stimmungen beiseite. Sie konnte sich später noch den Kopf zerbrechen.

»Warum hast du mich angerufen und nicht Bauer?«

»Bitte!« Sie drehte sich um. »Ich habe Sie sicherlich …«

»Letzte Nacht.« Er deutete auf ihr Handy, und Sandra hob es automatisch, um auf das Display herabzusehen. »22:00 Uhr. Deine Nummer …«

Sandra scrollte über ihr Verzeichnis. Es gab ein Dutzend eingehende Anrufe und diverse SMS von einer unterdrückten Nummer und darunter einen ausgehenden Anruf. Sie tippte auf Wählen und hielt den Atem an. Binnen Augenblicken erklang das Bimmeln einer Bahnglocke. Schulte-Henning zog sein Mobiltelefon hervor und hielt es ihr unter die Nase. Ihr Name leuchtete auf dem Display. Bresinsky, Sandra, Staatsanwältin. Sie schluckte und brach den Anruf ab.

»Ich kann mich nicht erinnern«, rechtfertigte sie sich peinlich berührt und verfluchte die Röte, die ihr in die Wangen schoss. »Ich …«

»Na, das ist eine nette Ausrede.« Er schüttelte den Kopf. Sandra biss die Zähne aufeinander und zischte: »Es ist keine Ausrede! Ich habe keine Ahnung …«

»Mir ist es gleich, Sandra. Du hast mich gebeten zu kommen, und da ich ohnehin in der Nähe war …« Er zuckte die Schultern und wendete sich ab. »Ich werde mich wohl noch wundern dürfen. Schließlich hättest du auch mit dem Typen ins Bett gehen können, mit dem du dich so angeregt unterhieltest, als ich bei dir eintraf.«

Sandra stülpte sich der Magen um. »Wollen Sie nicht gleich eine Rundmail schicken, damit es jeder Beamte im Umkreis mitbekommt?«

Sie ballte die Fäuste und sah mit trübem Blick wieder auf ihr Telefon herab. 22 Uhr. Alle eingehenden Anrufe, im stündlichen Abstand, waren nach zehn Uhr am Abend erfolgt. Sie öffnete die sms und las den letzten Eintrag: Er ist ein Arschloch, ein Wichser! Du hast Besseres verdient als …

»Meine Begleitung war nicht zufällig lang und dürr, mit strähnigem, hellblondem Haar und einer unmodischen Brille auf der etwas zu großen Nase?«, fragte sie resigniert und wunderte sich nicht mehr, ihn angerufen zu haben. Sie brauchte auch keine Bestätigung. Stattdessen tippte sie auf ihre Kurzwahl. Schulte-Henning ließ sie stehen und mühte sich weiter über den weichen Waldboden.

»Frank? Sandra hier. Es geht wieder los. Ich werde …« Ihr Herz galoppierte los, und sie streckte die Hand aus, um dem Schwindel mit sicherem Halt zu begegnen. Ihr Magen hob sich erneut, und sie presste sich den Handrücken auf den Mund.

»Was ist vorgefallen? Sandra? Sandra, bist du noch …«

Sie sackte zu Boden und ließ sich geistesgegenwärtig zur Seite fallen, um die Spuren nicht zu kontaminieren.

»Vorsicht«, murmelte Schulte-Henning und drückte ihr eine Beweissicherungstüte in die Hand. Sandra verfluchte ihn innerlich.

»Sandra? Halte durch, ich werde die Polizei …«

Schulte-Henning klaubte ihr Telefon vom Boden auf. »Schulte-Henning, Kriminalpolizei Dortmund, mit wem spreche ich?«

Sandra bemühte sich um Fassung. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn, sie zitterte am ganzen Leib. Ihre Stimme schwankte, als sie das Telefon zurück verlangte.

»Kriminalpolizei? Kann ich Ihre Dienstnummer abgleichen? Von welchem Dezernat?«

»Mit wem spreche ich?«, erkundigte sich Schulte-Henning erneut, diesmal deutlich schärfer.

»Mein Anwalt!«, spie Sandra und versuchte vergeblich, auf die Füße zu kommen. »Geben Sie mir …«

Er zögerte noch einen Augenblick, dann reichte er ihr das Handy.

Kapitel 2 Zwei Leichen im Wald

»Staatsanwalt Bauer wartet bereits auf Sie, Kommissar Schulte-Henning. Ich schlage vor, Sie gehen schon einmal zu ihm. Dies hier ist privat!« Sie hob kämpferisch das schmale Kinn und sah dennoch schlicht jämmerlich aus. »Verschwinden Sie!«

Obwohl er keineswegs vorhatte, sie hier hilflos sitzen zu lassen, stapfte er missmutig den Pfad hinauf. Beruhigt wendete sie sich ab und wisperte in ihr Telefon: »Ich weiß nicht genau …« Sie brach ab und rief ihm dann hinterher: »Wo war ich?«

Patrick drehte sich zu ihr um. Hatte sie tatsächlich einen totalen Blackout?

»Tropicana.«

Sie runzelte die Stirn. »Wann … kamen Sie an?«

»Vielleicht zehn Minuten nach deinem Anruf.«

»Habe ich irgendetwas gesagt? Warum Sie kommen sollten?«

Patrick schüttelte langsam den Kopf. Sie hatte ihm am Telefon lediglich gesagt, wo sie war und gefragt, ob es ihm etwas ausmachte, sie dort zu treffen. Das Tropicana lag nicht gerade auf seinem Heimweg, dennoch war es ihm recht gewesen, und so hatte er keine weiteren Fragen gestellt.

»War meine Begleitung aufdringlich oder aufgebracht, als wir gingen?«

Wieder schüttelte er den Kopf, wobei er sich fragte, worauf sie hinaus wollte.

»Er war nicht glücklich über meine Ankunft und auch nicht darüber, dass du mit mir gehen wolltest. Umgehend. Wenn es von Bedeutung ist. Du warst schon recht betrunken.«

Dennoch hatte er die Gelegenheit genutzt und hatte sie, als sie sich vor ihrer Tür von ihm verabschieden wollte, in die Arme gezogen und geküsst.

Sie wiederholte seine Angaben.

»Ich werde die Anzeige aufgeben, sobald ich wieder in Dortmund bin.«

Sie schloss die Lider. »Oder morgen. Schließlich gibt es Zeugen, und ich habe die SMS.«

Sie legte auf und versteckte das Gesicht in den Händen.

»Stalking?«

Ihre Schultern versteiften sich. Da er bereits involviert war, konnte sie ihm die Sachlage auch offenbaren. »Stalking. Eine alte Geschichte.«

Sandra rappelte sich auf, den Blick auf den Waldboden geheftet. Die Abdrücke des Mörders vor Augen. Sie überlappten sich nicht, hielten sich auffällig nebeneinander. Man hätte glauben können, dass ein Mann - bei der Größe der Abdrücke konnte eine weibliche Verdächtige ausgeschlossen werden - der zwei Mal den gleichen Weg nahm, über seine Abdrücke hinweg lief. Also zwei Verdächtige?

Sandra folgte dem Verlauf etwas den Hang hinauf und wieder hinab. Zwei Verdächtige mit derselben Schuhgröße. Eine Leiche wurde getragen und eine hinterhergeschleift.

»Welche Schuhgröße haben Sie?«

»48 ist recht durchschnittlich. Sollten die Spuren von zwei Tatverdächtigen herrühren, wäre die Größe nicht von Bedeutung.« Er kam den Hang wieder herab. Bei Lena-Sophie Maiers Leiche waren Abdrücke der Größe 48 gefunden worden. Eine Spur.

»Sollte es sich um einen Nachahmungstäter handeln, sollten wir uns auf die Unterschiede konzentrieren«, bemerkte Schulte-Henning und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Sandra ignorierte ihn und schoss ein Foto von den Abdrücken.

»Es sind Nachahmer.« Davon war sie überzeugt. Das Handy wegpackend, sah sie zu ihm auf. »Kramer ist schuldig. Warum sonst überfuhr er fast die alte Frau an der Kreuzung und wollte sich mittels …«

»Keine voreiligen Schlüsse ziehen, Frau Anwältin. Lass uns sehen, was es noch gibt.«

Sie ergriff seine Hand und ließ sich hochziehen, überrascht von seiner Kraft, fiel der Protest aus, als sie gegen ihn stieß und er den Arm um sie schlang, um sie zu stützen. Sandra schluckte verlegen. »Kommis…«

»Patrick, Sandra.« Sein Atem wusch über ihre Lippen, bevor sich seine sacht auf sie legten.

Sandra erstarrte erschrocken, unfähig sich zu rühren. Sie machte immer alles falsch. Angefangen vom Freund ihrer besten Freundin, über die Affäre mit ihrem Professor für soziales Recht und nun auch noch der Erzfeind ihres Freundes. Ganz zu schweigen von Tramitz, ihrem Langzeitstalker. Sie war verflucht. Noch bevor sie ihn von sich schieben konnte, unterbrach er seine Annäherung mit einem Seufzen.

»Entschuldige, das war nun wirklich unangebracht. Ich verspreche, mich zurückzuhalten.«

Er schob sie von sich, ging den Pfad entlang, und Sandra bemühte sich, die Gänsehaut zu vertreiben, die sein Kuss heraufbeschworen hatte. Die Tüte in ihrer Hand knisterte und lenkte sie, Gott sei Dank, genügend ab, um Peter und dem blöden Affen nicht ganz verstört gegenübertreten zu müssen.

»Na endlich!«, murrte der Staatsanwalt und zog sie am Arm zu sich. »Karl, das ist meine talentierte Kollegin Sandra Bresinsky.«

»Wie nett, Frau Bresinsky. Ich muss schon sagen, die hübschen Frauen zieht es offensichtlich in die Justiz.« Er zwinkerte vertraulich und sah dann nur auf, weil Schulte-Henning seine Aufmerksamkeit einforderte.

»Was haben wir hier?«

»Doppelmord, Herr Kommissar.« Und zu ihr gewandt: »Nichts für die sanften Augen einer jungen, hübschen Frau.«

Sandra umklammerte ihr Kotztütchen, überzeugt, doch noch Verwendung dafür zu haben.

»Ich nehme an, die Leichen …«

Karl schoss einen giftigen Blick auf Schulte-Henning ab.

»Wir sind nicht hier, um nett zu plaudern, Rainer!«

Sandra gewahrte Peters Verärgerung und entwand sich seinem Griff.

»Kommissar Schulte-Henning hat recht, Kommissar Rainer. Bitte seien Sie so freundlich und geben uns eine kurze Einführung.«

Rainer grinste zweideutig. »Zu gern, Frau Staatsanwältin.« Er drehte sich zur Lichtung und deutete auf das Team der Beweissicherung. »Zwei Leichen, weiblich, im Unterholz abgelegt.«

»Wo genau? Können wir näher herangehen?«

Rainer sah vor den Kopf geschlagen auf sie herab. »Natürlich, Frau Bresinsky. Allerdings müssen Sie …«

»Kondome verwenden?«, knirschte sie und benutzte absichtlich die Bezeichnung des Polizisten vom Parkplatz. »Das kommt schon mal vor, Kommissar Rainer. Wenn es nötig ist, zwänge ich mich auch in den Anzug. Solange ich nicht völlig umsonst am Samstag am frühen Morgen aus dem Bett gerissen wurde!«

Sie presste die Lippen aufeinander.

»Sie hat Feuer«, kommentierte Rainer, bevor er sich abwendete und einem im Schutzanzug steckenden Kollegen zurief, für Kondome zu sorgen. »Aber damit kannst du ja umgehen, Peter!«

Sandra bewahrte nur mit Mühe die Fassung.

»Du bist ein Schwein, Karl«, zischte Schulte-Henning leise. »Manieren wären hin und wieder angebracht!« Er schüttelte warnend den Kopf, was Peter zum Anlass nahm, noch Salz in die Wunde zu reiben: »Wo er recht hat … Aber Patrick erträgt eben keine Hitze.«

Sandra wünschte, im Boden versinken zu können, was natürlich nicht geschah, dank des allmächtigen Possenspielers.

»Ich habe es nur nicht nötig, mit meinen Bettgeschichten zu prahlen«, knirschte Schulte-Henning, und sie musste sich ein Schnauben verkneifen. Daraus wurde ein Stöhnen, weil Peter die Angelegenheit nicht ruhen lassen wollte.

»Oh, dann hast du mal wieder eine Ahnungslose gefunden, die sich nun von dir zu Tode langweilen lässt? Armes Ding! Du musst wissen, Sandy …«

»Lass sie aus dem Spiel!«

»Kommissar Rainer, vielleicht könnten Sie schon …«, versuchte Sandra schnell abzulenken. Nicht auszudenken, Schulte-Henning würde andeuten, dass sie die Ahnungslose war!

»Er ist einschläfernder als Chloroform!«

Rainer lachte, Schulte-Henning knirschte mit den Zähnen, und Peter grinste zufrieden. »Was weißt du schon von …«

»Komm schon, Patrick, jeder weiß das!«, fuhr Rainer dazwischen. Sandra stöhnte und fragte sich ernsthaft, womit sie das verdient hatte.

»Ich weiß es nicht und interessiere mich auch nicht dafür!«, stellte sie schnell fest. »Können wir uns bitte auf die Sachlage konzentrieren?«

»Ganz mein Mädchen«, murmelte Peter durchaus vernehmbar und trieb ihr damit heiße Röte in die Wangen. Nur konnte sie das keineswegs so stehen lassen. Wenn Schulte-Henning nun mit der letzten Nacht herausplatzte!

»Der Fall, Herr Kollege!« Schließlich gab es doch Erbarmen. Die Überzieher wurden gebracht, und Schulte-Henning deutete auf einen umgestürzten Baumstamm wenige Meter entfernt.

»Vielleicht möchten Sie sich setzen, um die Schutzschuhe überzuziehen?«

Sandra runzelte die Stirn.

»Selbstverständlich spiele ich auch gerne den Prinzen und helfe Ihnen.« Er grinste auf sie herab und machte Anstalten, auf die Knie zu gehen. Ein Arschloch, wie er im Buche stand!

»Sie sind …«, begann Sandra und schluckte die Beleidigung hinunter. »Zu freundlich, Kommissar Schulte-Henning, aber ich denke, ich nehme den Stamm!«

»Vorsicht, Peter, der Gute scheint es auf Frau Staatsanwältin abgesehen zu haben!«, warnte Rainer lachend.

Sandra ignorierte die Männer, auch wenn ihr ein kalter Schauer über den Rücken jagte.

Peter fiel mit ein. »Sandy ist nicht so dumm, sich auf ihn einzulassen.«

Schulte-Henning hielt, Gott sei Dank, den Mund, und Sandra schloss die Augen. Sie war so dumm. Etwas zittrig stapfte sie zurück. Kommissar Rainer nahm es als Startschuss zu seiner langatmigen Erklärung der Auffindesituation.

»Zwei ortsansässige Jäger auf der Pirsch stolperten heute Morgen gegen fünf Uhr dreißig über zwei leblose Frauenkörper. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie liefen hier durch den Wald, von ihrem Hochsitz knappe zwei Kilometer nördlich zurück zum Parkplatz an der Recke. Sie lagen übereinander, die Leichen, nicht die Jäger. Einer von ihnen zog die eine Leiche von der anderen, deswegen ist die Anordnung auf den Tatortbildern anders. Sie wollten sich wohl versichern, dass beide Frauen tot sind.«

Sandra stoppte neben dem Kommissar und biss die Zähne aufeinander. Sein ausgestreckter Finger deutete auf eine große Blutlache.

»Sie wurden hier ermordet?«, hakte sie atemlos nach und kämpfte dabei einmal mehr mit der Übelkeit. Das zumindest sprach für einen Nachahmer.

»Dazu mochte sich unser Gerichtsmediziner nicht äußern«, knirschte Rainer und warf dem Kollegen einen verärgerten Blick zu.

»Aber das viele Blut …«

»Mutmaßungen, Sandy, und nebensächlich«, unterbrach Peter harsch. »Zwei Leichen und weiter?«

»Nackt. Bisher sind weder Kleidungsstücke noch persönliche Gegenstände aufgefunden worden.«

Sandra hatte sich bei der Zurechtweisung abgewendet und ließ den Blick über den Boden gleiten. Ein unüberschaubarer Wust an Abdrücken, die meisten von den Beamten der Tatortsicherung, die selbst die Schleifspur verdeckten. Und alles getränkt in Blut. Die Lichtung umfasste vielleicht vierzig Quadratmeter und war keineswegs frei von Holz. Vermutlich eine der Nachwirkungen von Cyrill, einem Sturm, der vor fast zehn Jahren den Baumbestand im Sauerland beachtlich dezimiert hatte. Moos bedeckte umgefallene Stämme, während nur wenige Zentimeter weiter erste Triebe eines jungen Baumes durchbrachen.

Sandra drehte sich im Kreis, während sie abwesend Rainers Worte aufnahm. »Bisher nicht identifiziert. Das Gesicht zur Unkenntlichkeit zerschnitten und der Körper verstümmelt. Das war auch der Grund für meinen Anruf, Peter. Ich habe die Anfrage gestern auf dem Tisch gehabt. Zum Feierabend. Tja, habe sie mitgenommen und bei Carmen studiert, als der Anruf reinkam.«

»Anfrage?«, erkundigte sich Peter verbissen. Sie spürte seinen sengenden Blick im Rücken. Zeitverschwendung hatte er es genannt. Unbedeutend. Lediglich eine Ablenkung von den wichtigen Dingen: der Klagevorbereitung. Sandra hatte es anders gesehen und um eine Abklärung ähnlicher Fälle gebeten. Gestern, vor Feierabend. »Ähnlicher Fälle. Babsi hat sich gleich drangesetzt, als ich sie heute Morgen bat, dich zu verständigen. In Kürze werden wir wissen, ob es schon ähnliche Fälle im Umkreis gab.« Er zwinkerte. »Ist immer noch vernarrt in dich, die arme Seele.«

Die Lichtung war nahezu kreisrund. Die Strahlen der Sonne fielen dennoch gefiltert durch das grüne Dach. Hatten die Frauen die Sterne gesehen, als sie ermordet wurden, oder das Gesicht ihres Mörders?

»Wurde die Tatwaffe gefunden?«

»Nein.«

Peter seufzte. »Also nichts Brauchbares? Du bist keine Hilfe, mein Freund.«

»Zumindest nicht für dich, Peter. Für die Verteidigung dafür umso mehr.« Wieder lachte Rainer. Er schlug Peter auf den Rücken. »Komm, ich lade dich auf einen Jägermeister ein.«

Patrick wartete geduldig auf das Summen des Türöffners. Damit war die erste Hürde genommen. Sie hatte ihn nicht bereits vor der Haustür zum Teufel gejagt. Begeistert war sie jedoch auch nicht gewesen. Er ließ den Fahrstuhl links liegen und nahm die Stufen im Laufschritt, die vollen Plastiktüten ausgestreckt, damit sie ihn nicht behinderten. Die Eier hatten ihn den ganzen Tag über nicht losgelassen. Wer hatte schon tatsächlich nichts im Schrank?

Nicht einmal Milch, obwohl sie ihren Kaffee gewöhnlich weiß nahm. Die Wohnungstür war geschlossen, als er das vierte Stockwerk erreichte, und er klopfte ungeduldig an. Es dauerte nur einen Augenblick, dann zog sie die Tür auf. Das Sicherheitsschloss war noch vorgelegt, und sie spähte argwöhnisch durch den Spalt.

»Was wollen Sie?«

»Dich zum Abendessen einladen.« Das nahm ihr den Wind aus den Segeln. Für eine Staatsanwältin war sie verdammt leicht aus dem Konzept zu bringen.

»Ich sagte doch …« Sie hatte seine Einladung bereits ausgeschlagen. Im Haus Recke, wo Bauer ihr noch einen Kaffee gegönnt hatte und sich selbst einen Jägermeister. »Kommis …«

»Patrick.«

»…sar Schulte-Henning.« Dann wiederum konnte sie verflucht beharrend sein. »Ich werde nicht mit Ihnen ausgehen.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Bitte belassen Sie unsere Bekanntschaft beruflich.«

Patrick zuckte die Achseln. »Gut. Vielleicht interessiert dich der vorläufige Bericht über die Balve-Leichen?«

Wieder verkniff sie die Lippen, aber er hatte sie geködert. Ihre Körperhaltung sprach Bände. Dennoch ließ sie ihn erst nach weiteren langen Sekunden ein. Sie schloss die Tür, nahm die Sicherheitskette ab und wich zur Seite. Hinter ihm versperrte sie sorgsam die Tür.

»Dein Stalker, wie weit ging er?«

Sandra sah erschrocken zu ihm auf, fasste sich aber schnell wieder und deutete auf seine Tüten. »Sie hätten Ihren Einkauf im Wagen lassen können, solange werden wir doch nicht brauchen …«

Sie steckte in ihrem flauschigen Bademantel, wenn auch nicht nackt, wie am Morgen, sondern in Sporthose und Shirt. Vermutlich ihr Schlafensemble.

»Abendessen, Sandra.« Das andere Thema ließ er fallen. Er konnte es am Montag auf der Wache in Erfahrung bringen. Sie stutzte.

»Wir kochen. Ich dachte an Königsberger Klopse. Meine Großmutter brachte das Rezept aus ihrer alten Heimat mit. Sie ist in Insterburg aufgewachsen. Ostpreußen.« Patrick ließ sie stehen und stellte die Tüten auf dem Herd ab. »Du hast doch Töpfe?«

Sie war ihm gefolgt und sah ihn an, als zweifle sie an seinem Geisteszustand.

»Wir brauchen etwas mehr Platz. Ich habe alles dabei, was reinkommt, allerdings weder Töpfe noch Besteck oder Geschirr.« So leer konnte keine Küche sein.

Sie deutete auf den Unterschrank zur Spüle. »Das dauert Stunden.«

Genau deswegen hatte er es dem Take-away vorgezogen. Er zuckte die Schultern. »Es ist Samstagabend. Solltest du nicht noch ein Date verschweigen, gibt es keinen Grund zur Eile.«

»Ich habe zu arbeiten. Der Prozess …«, murmelte sie, die Lebensmittel überfliegend. »Müsli? In Königsberger Klopsen?«

»Frühstück«, räumte Patrick ein und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als ihr die Röte ins Gesicht schoss.

»Sie werden …«

»Ich habe auch Nachtisch dabei.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich hoffe, du magst Tiramisu.«

»Kommissar Schulte-Henning, Sie haben offensichtlich nicht verstanden …«

»Letzte Nacht war ein Fehler. Da stimme ich zu.« Allerdings aus völlig anderen Gründen. Sie klappte den Mund zu. Ihre Wangen brannten lichterloh.

»Verzeihung, ich …«

»Wir machen die Klopse fertig und werfen dann einen Blick in den Bericht. Einverstanden?«

Sie nickte und machte einen nervösen Wink zum Klapptisch. »Wir werden den Tisch brauchen.«

»Kein Problem. Stellst du den Wein in den Kühlschrank?«

Protestlos stellte sie alle verderblichen Lebensmittel kalt und holte zwei große Bretter und kleine Messer aus dem Hängeschrank über der Spüle. Patrick hatte den Tisch aufgestellt und schob ihr den Hocker zu.

»Ich nehme an, kochen gehört nicht zu deinen Hobbys?« Patrick nahm ihr gegenüber Platz und schälte eine Zwiebel. Sandra schüttelte den Kopf.

»Wir hatten in der Küche nichts zu suchen und … Nein.«

»Geschwister?«

»Zwei.« Sie konzentrierte sich auf ihre Knoblauchzehe.

»Ich habe eine Schwester und einen Bruder. Beide sind älter als ich. Steffi ist verheiratet und hat zwei entzückende Töchter. Fabian ist zwar verheiratet, aber kinderlos. Er ist Arzt und besitzt eine Praxis in Amecke. Der Stolz unseres Vaters. Nun, wie die Mädchen. Ich konnte es ihm leider bisher nicht recht machen. Weder mit meiner Berufswahl noch mit meinem Familienstand.«

Sandra sah auf. »Wie viel Knoblauch?«

Besser nicht zu viel. »Kommt darauf an, wen du morgen küssen möchtest.«

Sie riss die Augen auf. »Sie mit Sicherheit nicht!«

»Dachte ich mir, dann noch den Rest der Knolle.«

Sie schob das Brett von sich. »Sie sind zum Kotzen!« Sie stand auf. »Lassen Sie mich vorbei.«

Er tat ihr den Gefallen. Schnell mischte er das Hack mit den anderen Zutaten, portionierte die Klopse und setzte Wasser auf. Dann machte er sich auf die Suche nach ihr. Sandra saß im Wohnzimmer in der Ecke, Papiere um sie herum ausgebreitet, und machte sich Notizen. Ihr Haar löste sich aus dem Zopf in ihrem Nacken. Es war dunkel im Raum. Schwere Vorhänge blockten den abendlichen Sonnenschein, und nur die kleine Lampe auf dem überquellenden Schreibtisch vor ihr spendete etwas Licht. Es machte sie gespenstisch bleich.

»Es tut mir leid, Sandra. Ich werde mich mit Anspielungen zurückhalten, in Ordnung.«

Sie wendete ihm das Gesicht zu, ohne ihn anzusehen. Sie öffnete die Lippen und nickte dann lediglich.

»Möchtest du in der Küche essen oder hier?« Der Wohnzimmertisch war sicherlich nicht weniger geeignet als sein Pendant im Nebenraum.

»Hier.« Sie befeuchtet sich die Lippen. »Brauchen Sie noch Hilfe?«

»Nein. Die Kartoffeln kochen, also wenn du dir den Bericht ansehen möchtest …«

Sie seufzte und legte ihren Block ab. »Natürlich.«

»Ich hole meinen Laptop.« Und den Wein. Sie erwartete ihn auf der Couch, die Stirn gerunzelt, und deutete neben sich. Den Wein wies sie zurück. Patrick stellte seinen tragbaren Computer auf dem Tisch ab und öffnete gerade die Datei, als sein Mobiltelefon bimmelte. Er zog es aus der Hosentasche, hoffend, nicht wieder Bauer an der Strippe zu haben, und stutzte.

»Papa, alles in Ordnung?« Gewöhnlich rief er seine Eltern an, wenn er die Zeit dazu hatte.

»Du musst dich entscheiden, mein Sohn, willst du Informationen oder deine Ruhe?«, murrte sein Vater und beschloss, die Antwort auf die Frage schon zu kennen, denn er fuhr fort: »Ich hätte einen vorläufigen Autopsie-Bericht für dich. Allerdings …«

»Inoffiziell.« Es war nicht sein Fall und alle Fakten sicherlich noch nicht ausgewertet. »Kannst du ihn mir schicken? Sonst hole ich ihn mir morgen ab.«

»Nun, Nicky ist auf dem Weg nach Hause, ich frage sie, ob …«

»Kaiserstraße 17. Gib ihr meine Nummer, dann sage ich ihr, wo sie klingeln soll.«

»Doch nicht Peters Anwältin.« Sein Vater war leider zu hellsichtig.

»Nicht, wenn ich es verhindern kann.«

»Patrick«, hob er an und seufzte dann angespannt. »Du bist erwachsen und musst wissen, was du tust.«

»Richtig. Schick Nicky. Danke, Papa.« Er legte auf und steckte das Telefon zurück in die Tasche. Dabei fiel sein Blick auf die ihn konzentriert beobachtende Anwältin in ihrem flauschigen Bademantel. Ihr Anblick vom Morgen tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Noch nass von der Dusche. Das Wasser war aus ihrem Haar über ihren Hals und weiter in ihr Dekolleté geperlt. Das zweite Mal, dass er nahe dran gewesen war. Fingerbreit, sozusagen, schließlich hatte er sich bereits die Hose aufgeknöpft. Einen Augenblick später, und Bauer hätte die Tür eintreten müssen, um sie zu unterbrechen.

»Etwas Ungewöhnliches bei der Autopsie?«, mutmaßte sie leise und riss ihn damit aus der anregenden Erinnerung.

»Mein Vater schickt uns den Bericht zu.«

Sandra seufzte geschlagen. »Sie hätten ihm diese Adresse nicht nennen dürfen.«

»Dann verfolgt dein Stalker dich nach Hause?«

Sie schüttelte den Kopf. »Der Ermittlungsbericht …« Sie wandte sich dem Monitor zu, dessen Licht gespenstisch über ihr Antlitz flackerte.

»Was ist da gelaufen, Sandra? Hat er dich angegriffen?« Das Stalken an sich war selten das Problem. Meist eskalierte die Verfolgung jedoch in Einbrüche, Diebstähle und nicht selten in Gewalttätigkeiten, wenn das Opfer der Fantasie des Stalkers nicht gerecht werden konnte oder wollte. »Vergewaltigt?«

Sie reagierte nicht, was Patrick einigermaßen nervös machte. Er hatte offenbar ein Faible für schwierige Frauen. Jen, die sich lieber demütigen ließ und nun Sandra, die wohl gar nicht wusste, in welch gefährlichem Umfeld sie sich befand. Bauer roch die Schwachpunkte anderer und nutzte sie schamlos aus. Dummerweise waren seine Opfer immer zu vernarrt in ihn, als dass sie ihn zur Rechenschaft zogen. Wie Steffi, die ihn trotz seiner unzähligen Affären nicht verlassen wollte. Patrick berührte Sandras Arm. Sie zuckte zusammen und rutschte von ihm fort.

»Sandra.«

»Das ist lange her, ich will darüber nicht sprechen!« Sie sprang auf und ließ ihn sitzen. Die Badezimmertür schlug zu. Patrick sah sich erneut um. Es gab ein Ikea-Regal mit Fernseher an der gegenüberliegenden Wand, die Couch und den Schreibtisch. Ihr Schlafzimmer war ähnlich spartanisch eingerichtet. Das altmodische Bett, der dazu passende Nachtschrank und ein windschiefer Kleiderschrank. Kein Schnickschnack, Nippes oder Deko, wie es seine Schwägerin nannte. Nicht einmal Bilder an der Wand. Wenn er raten müsste: Eine Vagabundin. Nie lange an einem Ort. In der Küche brodelte das Wasser. Es war Zeit, sich dem Essen zu widmen.

Kapitel 3 Keine Fahrt ins Grüne

Sandra erschauerte wohlig. Seine Lippen wanderten federleicht an ihrem Hals herab. Seufzend drehte sie ihm das Gesicht zu, um einen Kuss zu ergattern. Mit seiner Berührung rutschte seine Hand unter ihr Shirt. Der Flausch ihres Morgenmantels kitzelte ihre Wange. Sie legte ihre Finger an seine. Stoppeln kratzten über ihre Haut, und sie stöhnte leise. Er umschloss ihre Brust, streichelte sacht mit dem Daumen über deren verhärtete Spitze, bevor er sie massierte. Sanft. Viel sanfter als sonst.

Sein Kuss wurde leidenschaftlicher, raubte ihr fast den Atem. Er war immer schnell. Überfuhr sie mit seinem Verlangen. Jetzt presste er sich an sie. Trotz des Bademantels konnte sie ihn spüren. Sein Glied an ihrem Po. Sie wünschte, er würde sich mehr Zeit lassen. Mehr von ihr berühren als ihren Busen. Als hätte er ihren stummen Wunsch vernommen, rutschte seine Hand hinab. Über ihren Bauch, in ihren Schoß. Zu schnell. Sie presste die Lider fester aufeinander. Er hatte keine Zeit für …

Sie stöhnte, als sein Finger über ihre Klitoris rieb. Sie kam nicht dazu, ihre Gedanken abwandern zu lassen. Es wäre ohnehin zu schnell vorbei, besser sie blieb bei der Sache. Ohnehin schob er sich schon tiefer. Sie seufzte enttäuscht. Ihr Professor hatte sich immerhin die Mühe gemacht, sie zuvor zu erregen, auch wenn der Sex an sich stets ein einseitiges Vergnügen blieb. Peter vergaß das leider auch zu häufig. Sein Finger glitt in sie. Er stöhnte an ihren Lippen und zog sich langsam wieder zurück, um sie weiter zu necken. Unglaublich! Sie erbebte in seinen Armen. Wollte ihn. Sie wollte ihn spüren, in sich. Sofort. Ganz gleich, ob sie damit wieder auf die Stimulation verzichten musste. Ihr Magen flatterte bedenklich. Ihr konnte nicht schon wieder übel sein. Nicht jetzt.

Seine Finger schoben sich wieder in sie, und sie unterbrach den Kuss für einen kleinen Schrei. Oh Gott, jetzt nur nicht aufhören! Wieder erhörte er ihr Flehen. Sie drängte sich an seinen Schoß, wollte trotz der Liebkosung viel lieber ihn in sich spüren. Sein Glied, Schwanz, Penis, wie auch immer er es betiteln wollte. Ein Schauder rollte über ihren Leib, gefolgt von einer Gänsehaut, als ihr der Atem stockte. Ihr Schoß zog sich zusammen und er sich zurück, um sie mit wenigen reibenden Berührungen ganz um den Verstand zu bringen. Sie schrie auf und klammerte sich an ihn. Gott im Himmel, sie würde ihn sicherlich nicht mehr aus dem Bett lassen! Sie öffnete die Augen, um ihm ihren Beschluss mitzuteilen und blinzelte verwirrt in ein blaues Gegenstück. Sie erfror, und ihr Herz zersprang in tausend Stücke. Sie konnte sich nicht rühren, konnte ihn nur anstarren. Er senkte sich ihr entgegen, küsste sie zärtlich und zog sich seufzend zurück.

»Frühstück?« Er rutschte aus dem Bett. »Dann erzählst du mir, was vorgefallen ist. Ich nehme an, seine Zeit ist um, und man vergaß, dich von seiner Entlassung in Kenntnis zu setzen?«

Sandra würgte ein „Arschloch“ hervor, das er entweder nicht hörte oder aber ignorierte. Seine Berührung brannte auf ihrer Haut. In ihrem Schoß, ihren Lippen. Sie schloss die Augen. Kein Scheiße! hallte in ihr wider, sondern ein fassungsloses oh Gott!

Sandra blieb im Bett. Das war es jedoch nicht, was Patrick störte, sondern ihre Reaktion auf seinen Anblick. Das zweite Mal in Folge. Nun, heute Morgen hatte sie zumindest nicht gekotzt, noch nicht. Er warf einen Blick in den Flur. Sein Laptop besaß eine gesicherte Internetverbindung, mit der er in Notfällen auf die Datenbank aller öffentlichen Behörden zugreifen konnte. Er beschloss, dass es ein Notfall war. Während die Kaffeemaschine gluckerte und die Eier in der Pfanne brutzelten, frisch gekaufte, nicht die der Schwester, ließ er in der Polizeidatenbank nach der Fallakte Bresinsky, Sandra suchen. Sollte der Fall älter sein als 2001, würde er nichts finden, allerdings wäre sie da noch ein Kind gewesen und der Sachverhalt kein Stalking. Und Vergewaltigung wäre keine Vergewaltigung gewesen, sondern Kindesmissbrauch.

Nervös stellte er den Herd niedriger und schmierte Butter auf zwei Scheiben Brot. Da das Frühstück bereitet war und der Computer noch keinen Treffer gelandet hatte, schob er die Recherche auf nachher.

Sandra lag zusammengerollt im Bett und richtete sich auf, als er das zum Tablett umfunktionierte Brett auf der Matratze abstellte.

»Ich hoffe, du magst Spiegelei.«

Ihr Blick klebte verständnislos auf dem Frühstück. »Was soll das?«, murmelte sie aufsehend.

»Frühstück, Sandra, du wirst doch schon im Bett gefrühstückt haben?«

Ihre Pupillen weiteten sich, und sie verpasste einen Atemzug. Oder auch nicht. Kein Wunder, dass sie an Bauer geraten war, andererseits hatte er Jen häufiger im Bett überrascht.

»Also?« Er reichte ihr eine Tasse Kaffee. »Wenn du Rührei bevorzugst …«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich …« Ihre Zunge huschte über ihre Lippen. Das sollte sie lassen. Es erinnerte ihn nur daran, was er sich versagt hatte. Nun, mit Entsetzen hatte er auch nicht gerechnet. Nicht, nachdem sie so spielend leicht zu erregen gewesen war. Einige Küsse auf ihren schlanken Hals hatten genügt. Sie senkte den Blick, und er folgte. Ihre Hände zitterten.

»Sie müssen gehen. Ich will nicht …« Sie sprach leise und betont bestimmend. Opfertraining, erkannte Patrick. Ruhe bewahren in Ausnahmesituationen, um die Oberhand zu gewinnen. Selbstbewusst wirken, Stärke und Sicherheit demonstrieren. Sie würde aufsehen und ihre Forderung souverän ausdrücken. Sie hob den Blick. »… dass Sie hier sind. Sie werden nicht …«

»Wie lange ist es her? Fünf Jahre? Wie alt warst du? Zwanzig? Sandra, es ist nicht …«, unterbrach er sie sanft und streckte die Hand nach ihr aus. Sie zuckte zurück, und der Kaffee schwappte über.

»Sie werden …« Die Puste ging ihr aus, und Patrick stellte das Tablett auf dem Nachtschrank ab, damit sie es bei ihrer Flucht nicht umwarf. Mit der Tasse in der Hand gestaltete es sich schwierig, von ihm fortzurutschen. »… gehen! Herrgott noch mal, dass Sie …«

Er fing sie ab, umklammerte vorsichtig ihr Handgelenk, um ihr den Kaffeepott abzunehmen. »Lenk nicht vom Thema ab, Sandra. Du ziehst ständig um, damit er dich nicht findet, belässt alles im Dunkeln, um möglichst nicht entdeckt zu werden. Ich wette, du fährst Umwege, wenn du nach Hause willst.«

Sie hob herausfordernd das Kinn, aber in ihren Augen stand die Bestätigung geschrieben. »Das ist Unsinn, Kommissar Schulte-Henning.«

»So? Warum hast du dann Angst vor mir?«

Verblüfft riss sie die Augen auf, und er beschloss, nicht auf ihre Replik zu warten. Er zog sie an sich und presste seinen Mund auf ihren. Sie keuchte und versuchte, ihn von sich zu schieben. Patrick drückte sie nieder. Streng genommen bedrängte er sie. Bei ihrem Verhältnis zueinander konnte man sogar von sexueller Belästigung sprechen, und zwar am Arbeitsplatz. Er musste aufhören, seinen Punkt hatte er auch so gemacht. Er löste widerwillig seine Lippen von ihren. Und begegnete ihrem Schrecken.

»Gehen Sie runter von mir!«

Nur sehr, sehr ungern. »Antwortest du mir dann?«

Sie reckte das Kinn. Ständig auf Abwehr.

»Ich war sechzehn, als es anfing. Daniel Tramitz war der Freund meiner Schwester. Platonisch. Sie hingen zusammen rum, gingen in die Eishalle oder ins Schwimmbad …« Sie schloss erschauernd die Augen, und der Druck ihrer Hände an der Brust ließ nach. »Er half ihr mit den Hausaufgaben, und sie nahm ihn dafür mit, wenn sie sich mit ihrer Clique traf.«

Patrick spannte sich an. Was immer folgte, war sicher nichts, was man von der Frau wissen wollte, mit der man sich Sex wünschte. Es machte die Dinge nur kompliziert. »Weiter.«

Sie presste die zittrigen Lippen aufeinander.

»Es begann harmlos. Er brachte mir Kleinigkeiten mit. Sticker zum Tauschen. Süßigkeiten. Dann fand er heraus, dass …« Sie brach ab und als sie fortfuhr, öffneten sich ihre braun-grünen Augen. »Er hat mich nicht vergewaltigt und, da er selbst noch nicht einundzwanzig war, wurde die Sache vor dem Jugendgericht verhandelt. Seine erste Straftat, ein Kavaliersdelikt, schließlich …« Ihre Lider flatterten und senkten sich halb. »Seitdem habe ich vier einstweilige Verfügungen erwirkt, und vor sechs Jahren wurde er aufgrund des neuen Stalkinggesetzes verurteilt: drei Jahre Haft. Zwei Jahre Bewährung.«

Damit waren seine Auflagen abgegolten, rechtlich konnte er nicht mehr belangt werden, wenn er sich Sandra erneut näherte. Zumindest nicht, bis sie erneut eine einstweilige Verfügung erwirkte oder er wegen eines Übergriffs erneut verurteilt wurde.

Patrick strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »Es ist gut, dass du mich angerufen hast, Sandra.«

Ihre Lider öffneten sich wieder, und er konnte ihre Zweifel sehen, neben den Tränen.

»Ich kümmere mich darum.« Er beugte sich vor, um sie sanft zu küssen.

»Nicht«, hauchte sie, was er aber ignorierte. Er verschloss ihren Mund und verlagerte seine Position. Er hatte nur halb auf ihr gelegen, um sie unter Kontrolle zu bekommen, ohne sie zu offensichtlich zu bedrängen. Er hatte sie zum Reden bringen wollen. Nun rutschte er über sie, um sie zu spüren. Ihre Brust an seiner, wie sein Schoß an ihrem. Sie weigerte sich, Platz zu machen. Er ließ seine Hand an ihr herabgleiten bis zu ihrer Hüfte und schob sie unter ihrem Shirt wieder hoch. Ihre Hände fielen ebenfalls herab, von seiner Brust, wo sie abwehrend gegen ihn gedrückt hatten, zu seiner erkundenden Hand. Sie quiekte. Patrick grinste an ihren Lippen, als sie erschauerte. Ihr Nippel drückte sich hart in seine Handfläche, und ihr Widerstand erlahmte. Dennoch flehte sie sogleich, als er ihre Lippen verließ, um an ihrem Hals herabzugleiten: »Nicht! Bitte, Sie …«, und brach keuchend ab, als er seine Lippen um ihre Brustspitze schloss. Gott, er wollte sie schmecken! Eilig zog er ihr Shirt hoch, um sie barrierefrei zu liebkosen. Ihre Finger krallten sich in seine Schulter.

»Bitte nicht!«