Open the bottle - Die Flasche der Pandora - Kathrin Fuhrmann - E-Book
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Open the bottle - Die Flasche der Pandora E-Book

Kathrin Fuhrmann

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Beschreibung

Halloween 2020, Lockdown, Kontaktverbot. Zwei Freundinnen sitzen vor ihren Laptops und vertreiben sich per Videochat die einsame Zeit. Es wird getrunken, gelacht und gelästert, und plötzlich geschieht das Unfassbare … Davon erzählen mal blutig, mal mystisch, mal schreiend komisch, aber immer einzigartig die 29 Geschichten dieser Anthologie. Süßes oder Saures – was wird den Heldinnen wohl blühen?

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Open the bottle
Halloween in between
Tosende Böen und böse Geister
Malum ante portas
Auch Geister machen nur ihren Job
Ein grauenhafter Jahrgang
Wer den Sturm erntet
Holla und der Heidelbär
Das Böse des anderen
Sag die Wahrheit
Entschuldigung, ich brauche Hilfe
Süßes und/oder Saures
Die entscheidende Frage
Des Teufels ist der Alkohol
Hüte dich vor Klischees
Die glücklichen Toten
Sturm
Die Rache der Toten
Der Flaschengeistervirus
Die Deutschlehrerin
Die Seelen der Buchfiguren
A Halloween Carol
Die Büchse der Pandora
Wer das Totenreich ruft
Das blühende Leben
Banshee
Samhains Töchter
Eine Nacht in Scherben
Halloween-Sonate – Something wicked ...
Der Flaschengeist
Close the bottle
Über unsere Autor:innen
Die Herausgeberinnen
Was kommt als Nächstes?

IMPRESSUM

 

 

 

Copyright © 2021 Katherine Collins

und Jessie Weber

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-00-070056-9

 

 

 

OPEN THE BOTTLE – Die Flasche der Pandora

Umschlaggestaltung: Katherine Collins

Unter Verwendung von Abbildungen von

© Mia Stendal, mit Illustrationen von: solar22 und m2art

Lektorat: Jessica Weber

Satz: Katherine Collins

Vertreten durch:

K. Reinke

Türkenort 11

45711 Datteln

[email protected]

 

 

 

 

 

 

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung wiedergegeben werden. Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Halloween 2020, Lockdown, Kontaktverbot. Zwei Freundinnen sitzen vor ihren Laptops und vertreiben sich per Videochat die einsame Zeit. Es wird getrunken, gelacht und gelästert, und plötzlich geschieht das Unfassbare …

 

Davon erzählen mal blutig, mal mystisch, mal schreiend komisch, aber immer einzigartig die 29 Geschichten dieser Anthologie. Süßes oder Saures – was wird den Heldinnen wohl blühen?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

©Shutterstock (solar22 und m2art)

 

 

Open the bottle

Ein heimeliges Knistern und wohlige Wärme erfüllten die Luft. Im Kamin hinter der dunkel gelockten Frau brannte ein Holzscheit. Die einzige weitere Lichtquelle war das bläuliche Leuchten eines Laptop-Bildschirms. In dem Zimmer, das darauf zu sehen war, gab es keinen Kamin, dafür flackerten auf einem Tischchen neben einem Ohrensessel ein gutes Dutzend Kerzen. Dazwischen stand ein Weinglas, in dem eine dunkelrote Flüssigkeit schimmerte. Die Farbe glich dem Haar der zweiten Teilnehmerin dieses ganz gewöhnlichen Samstagabend-Videochats zwischen zwei befreundeten Berufskolleginnen.

Die Rothaarige ergriff das Glas, wobei dieses gefährlich nah an eine Kerze geriet, und prostete ihrem Gegenüber zu. »Auf Halloween, das wir dank des Lockdowns in diesem Jahr allein zu Hause verbringen.« Sie verdrehte die Augen. »Verfluchtes Virus.«

Die Dunkelhaarige nickte und verzog das Gesicht. »Auf Samhain, meinst du wohl. Die magische Nacht, in der uns die Verstorbenen ganz nah sind. Wenigstens die, wenn wir schon die Lebenden nicht treffen können.« Ihr Lachen klang ein wenig hilflos. »Komm, lass uns eine Tarotkarte ziehen.«

»Wir wollten doch erst noch über unser nächstes gemeinsames Schreibprojekt sprechen.«

»Dazu sind wir schon zu betrunken. Hätten halt nicht so lange lästern sollen. Hast du deine Karten griffbereit? Ich müsste meine erst holen.«

Die Rothaarige lehnte sich zu einem Schränkchen neben ihr und wühlte darin herum. »Kein Tarot, nur meine Feenkarten.« Sie richtete sich wieder auf und schwenkte ein Kartendeck in Richtung der Laptopkamera.

»Super, die passen ja noch besser zum heutigen Tag. Zieh eine für mich, ja?«

Die Frau nahm noch einen Schluck von ihrem Wein, dann mischte sie die großen, cremefarbenen Karten mit der filigranen Feenzeichnung auf der Rückseite.

»Denk jetzt ganz fest an deine Frage, sonst funktioniert es nicht.«

»Als ob das überhaupt funktioniert! Das ist doch nur eine Spielerei.«

»Wer weiß?«

Beide lachten, dann wurde die Miene der Rothaarigen feierlich und sie zog eine Karte aus dem Stapel.

»Sturm«, las sie. »Mächtige Energien fegen durch dein Leben und stellen deine Welt auf den Kopf. Die tosenden Böen werden dich finden – wo immer du dich auch versteckst.«

Als sie fertig war, sah sie ihr Gegenüber erwartungsvoll an.

Der Ausdruck der Dunkelgelockten war nicht mehr ganz so amüsiert wie zuvor. »Das finde ich nun doch ein wenig unheimlich«, sagte sie.

»Was war denn deine Frage?«

»Was die Zukunft bringt. Ich kann nicht behaupten, dass ich viel Lust darauf habe, dass alles auf den Kopf gestellt wird.« Schließlich schüttelte sie den Kopf und winkte ab. »Komm, zieh eine für dich selbst. Vielleicht ist die ein bisschen fröhlicher.«

Die Rothaarige schob die Karten zusammen und mischte erneut. »Da bin ich aber gesp… Ach, verdammt!« Der Stapel war ihr aus der Hand geglitten, und die Karten hatten sich auf dem Dielenboden des Zimmers verteilt. »Na, egal. Soll wohl nicht sein, dass ich meine Zukunft kenne. Lass uns noch ein bisschen was trinken.«

Sie achtete nicht auf die Karte, die zuoberst zum Liegen gekommen war. Die einzige, die mit der Schrift nach oben lag.

Die Tür steht immer einen Spalt offen. Traust du dich, hindurchzugehen? Oder wartest du lieber ab, was hereinkommt?

Die Dunkelhaarige hob ihre Weinflasche und runzelte die Stirn. »Schon leer. Na so was. Nun hab ich nur noch so ein Fruchtsektzeug.« Sie griff zu einer kleineren Flasche mit pinkfarbenem Inhalt. »Mist, die hat einen Kronkorken. Und ich hab keinen Öffner.«

Die andere Frau lachte auf. »Den passenden Öffner hab ich!« Sie hielt einen kleinen, runden Flaschenöffner in die Kamera, auf dem das Motiv eines Fantasy-Buchcovers abgedruckt war. »Hab ich mal auf einer Buchmesse geschenkt bekommen.«

Nun kicherten beide, die Dunkelgelockte hielt die Flasche mit dem Hals an die Kamera, und sie taten, als wolle die eine die Flasche der anderen öffnen.

Es zischte.

Die Dunkelhaarige starrte die offene Flasche in ihrer Hand an.

Die Rothaarige starrte den Kronkorken an, der im Öffner steckte und kurz darauf leise klirrend zu Boden fiel – genau auf die Feenkarte.

Und dann …

 

 

 

 

 

 

 

 

©Shutterstock (sayu)

 

 

 

 

 

Halloween in between

Langsam streckte die junge Frau eine Hand danach aus und schloss die Faust darum. »Was zum Teufel …?«, flüsterte sie ungläubig und begegnete dem fassungslosen Blick ihrer Kollegin, deren Finger sich auf der anderen Seite des Bildschirms weiß um den geöffneten Flaschenhals klammerten. Die Dunkelhaarige öffnete den Mund, doch bevor sie etwas erwidern konnte, begann die pinkfarbene Flasche in ihrer Hand plötzlich zu vibrieren. Erschrocken weiteten sich die haselnussbraunen Augen.

»Hailey?«, kreischte sie. Die karierte Decke rutschte der Autorin vom Schoß, als sie den Fruchtsekt von sich stoßen wollte, aber sie schaffte es nicht, den Griff zu lösen. In ihrer Panik kippte sie rückwärts aus dem Sessel und ging mit einem unfreiwilligen Purzelbaum zu Boden. »Hailey!«, schrie sie noch einmal, während sie versuchte, die Flasche loszuwerden und gleichzeitig in das blau flackernde Sichtfenster ihrer Freundin zu kriechen.

Dieser erging es indessen nicht besser. Auch der champagnerfarbene Korken hatte zu beben begonnen und klebte wie festgehext an ihrer Handfläche. Ihr gesamter rechter Arm zitterte unter der Erschütterung, sodass die Zähne laut klappernd aufeinanderschlugen. »Was geht hier vor?«, wisperte sie. Dann lauter: »Samira? Sam, hörst du mich?«

Plötzlich hob in beiden Zimmern ein ohrenbetäubendes Summen, gleich einem wütenden Bienenschwarm, an und trug die Stimmen der Autorinnen davon. Ein Windstoß wirbelte lose Manuskriptstapel durcheinander. In der Stube der rothaarigen Hailey schlugen die Kerzenflammen höher, während, Kilometer entfernt, das Feuer in Samiras Kamin fauchend aufloderte. Beide kreischten und versuchten sich vor umstürzenden Möbeln zu schützen, als mit einem Mal ein rosafarbener Nebel die Räumlichkeiten erfüllte.

Schwer schien er sich aus dem Nichts zu ergießen und bewegte sich mit raubtierhafter Anmut überraschend zielsicher auf die Frauen zu. Fast hatte es den Anschein, die dichten Schwaden seien lebendig, wie sie sich um die Beine der Schriftstellerinnen wanden und mit ihren langen Haaren spielten. Die Freundinnen versuchten sich mit Händen und Füßen den aufdringlichen Dunstfingern zu widersetzen, da zog sich der Nebel plötzlich ruckartig zusammen und riss sie begleitet von ängstlichem Geschrei mit sich.

Einen unangenehmen Moment schien die Zeit stillzustehen und ein seltsam beklemmendes Gefühl ergriff die Frauen, während sie gleichzeitig glaubten, aus allen Nähten zu platzen. Hitze und Kälte pumpten Adrenalin in ihre Adern, flossen wie Feuer und Eis durch Extremitäten, kehrten das Innerste nach außen und umgedreht. Keine von beiden hätte zu sagen vermocht, wo in der Wolke aus wirbelndem Rosa oben und unten war, geschweige denn, ob die Welt oder sie selbst überhaupt noch existierten, als ein erneuter Ruck durch ihre Körper ging und sie hart auf Stein prallten. Unvermittelt und schmerzvoll holte die Realität sie darauf ein. Unterdessen zog sich der Nebel zurück und gab die Sicht der beiden aufeinander frei.

Samira kam als Erste zittrig auf die Beine. »Ach du Scheiße«, ächzte sie, die Hände keuchend in die Seiten gestützt. Ihr olivfarbener Teint hatte ein ungesundes Grün angenommen. »Das wars. Nie wieder Alkohol!«

Haileys sommersprossiges Gesicht spiegelte Schock und die grauen Augen tränten, während sie sich stöhnend aufrappelte. »Wenn ich für diesen Satz aus deinem Mund jedes Mal einen Euro bekäme, bräuchte ich nicht mehr zu schreiben«, murmelte die Rothaarige und rieb sich gequält den Ellenbogen unter ihrem karierten Morgenmantel. Die Blicke der Freundinnen trafen sich und sie brachen in nervöses Gelächter aus, ehe sie abrupt abbrachen.

»Okay, was zur Hölle ist gerade passiert?«, stellte Hailey die entscheidende Frage. »Und wo zum Teufel sind wir?«

Ihre Umgebung hatte sich in der Tat drastisch verändert. Als sie sich umsahen, war keine Spur mehr von der heimischen Videochat-Atmosphäre, geschweige denn von ihren Apartments zu erkennen. Ein gigantischer Kronleuchter tauchte stattdessen sandfarbene Wände in warmes Licht und warf eindrucksvolle Schatten von einem hohen Steingewölbe über ihren Köpfen. Der felsigen Struktur zufolge handelte es sich um natürliches Gestein. Durch eine Öffnung in der Decke konnte man die Sterne funkeln sehen.

Offensichtlich befanden sie sich in einer Art Höhle. Merkwürdige Türen lagen an den inneren und äußeren Ecken eines sternförmigen Grundrisses und waren durch schwarze Linien auf dem gebohnerten Felsboden zu einem Pentagramm verbunden. An den gegenüberliegenden Wänden der Sternspitzen flackerten bordeauxrote Kerzen in kunstvollen Leuchtern und verströmten einen süßlichen Geruch von Feige und Sandelholz. Dazwischen standen seltsame, aber geschmackvolle Möbel aus glänzendem Mahagoni. Dicke Polster, Schnörkel und Stuckapplikationen schafften eine verwirrende Atmosphäre zwischen Antiquitätengeschäft und arabischem Hamam. Wer immer hier lebte, hatte darüber hinaus ein Faible für Pink.

»Schau nur, was du angerichtet hast, Dustin«, hallte plötzlich eine vorwurfsvolle Frauenstimme von den hohen Steinmauern wider und ließ die Freundinnen erschrocken herumfahren. Die Worte waren aus dem Nebel gekommen, der sich an eine Felsmauer zurückgezogen hatte. »Die beiden sehen ja ganz verstört aus«, stellte dieselbe Stimme in weichem Singsang fest. »Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht so grob sein? Und jetzt verzieh dich, du machst unseren Gästen Angst!«

Misstrauisch versuchten die Autorinnen hinter die Schleier zu blicken, als diese sich lichteten und in einer kleinen, verdichteten Wolke ein Stück beiseitehüpften. Der Anblick allein hatte etwas Bizarres, war allerdings nichts verglichen mit der Frau, die dahinter zum Vorschein kam und zweifelsfrei zu den schönsten Geschöpfen gehörte, welche die Welt je gesehen hatte. In einer eleganten Bewegung schwang sie die langen Beine über die Kante einer goldverzierten Chaiselongue und richtete sich anmutig auf. Glänzendes, blondes Haar fiel ihr in sanften Wellen bis zur Taille und strahlend blaue Augen funkelten mit den Sternen am Himmel um die Wette. Der fliederfarbene Stoff einer Toga schmiegte sich eng an ihren Körper und raschelte leise, als sie mit offenen Armen auf die Schriftstellerinnen zuging.

Hätten Samira und Hailey nicht unter Schock gestanden, wäre es ihnen schwergefallen, nicht augenblicklich Minderwertigkeit und Missgunst nachzugeben. So begnügten sie sich damit, die makellose Erscheinung abschätzig zu mustern, während diese freudestrahlend vor ihnen stehen blieb.

»Entschuldigt die Unannehmlichkeiten«, bat sie mit einem resignierten Seufzer und feuerte einen finsteren Blick in Richtung der sich windenden Schwaden. »Einige von uns schaffen es einfach nicht, sich zurückzuhalten.« Der rosa Nebel zuckte unter ihrem anklagenden Tonfall zurück und die perfekten Lippen der Blonden verzogen sich zu einem hilflosen Lächeln. »Wir bekommen hier unten nur wenig Besuch und Dustin ist immer so übereuphorisch. Morgennebel …«, fügte sie an, als würde das alles erklären. Es trat eine kleine, unangenehme Pause ein.

»Der Nebel … hat einen Namen?«, fragte Hailey dann.

Die schöne Frau lachte und warf den Kopf in den Nacken, dass die Locken sprangen. »Das hat er, Liebes. Eure erste Begegnung mit der Anderswelt, nehme ich an?« Sie nickte angesichts der verwirrten Mienen ihrer Gegenüber. »Keine Sorge, das erste Mal ist immer aufregend.«

»Ich verstehe nicht«, ergriff Samira das Wort. »Eben noch trinken wir uns Halloween schön, dann das Ding mit der Flasche und plötzlich taucht dieser Nebel auf – Dustin? – und … was? Mit Sicherheit habe ich zu tief ins Glas geschaut, aber was läuft hier eigentlich?«

Wieder lachte die Blonde und gestikulierte in Richtung des Nebels, der rasch zu einer Wand flitzte und ein antikes Sofa heranschob. Dankbar ließen sich die Frauen in ihren Pyjamas darauf sinken, bevor die hübsche Blondine vor ihnen auf und ab zu schreiten begann.

»Die Kurzfassung? Es ist Samhain. Damit ist der Schleier zwischen den Welten besonders dünn und es ist leicht, dazwischen zu wandeln. Ich habe euch ein magisches Portal in die Anderswelt zugespielt, ihr Glücklichen habt es geöffnet und jetzt seid ihr hier.« Vergnügt grinsend blieb sie stehen und breitete die Arme aus. »In der Anderswelt, der Welt zwischen den Welten oder einfach nur: meinem Zuhause. Noch Fragen?«

»Ähm«, machte Hailey gedehnt. »Sams Fruchtsekt war das … Portal zur Anderswelt?«

Die blonde Frau nickte. »Ganz recht.«

Samira, die zweifelnd die Arme vor der Brust verschränkt hatte, kniff die braunen Augen zusammen. »Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns je begegnet wären.«

Ein glockenhelles Lachen echote von den Felsen. »Schätzchen, natürlich kannst du das nicht.«

Stirnrunzelnd nahm die Dunkelhaarige die Antwort zur Kenntnis. Hailey indessen dachte bereits weiter.

»Bist du ein Dschinn?«, fragte sie neugierig und handelte sich damit ein abfälliges Schnauben ein.

»Einer von diesen dreckigen Flaschengeistern?« Verächtlich schüttelte die schöne Frau den Kopf. »Süße, willst du mich beleidigen?«

»Tut mir leid, ich dachte nur … die Flasche und na ja …«

Ihre Gastgeberin winkte ab. »Ich bin die Hüterin der Anderswelt«, erklärte sie. »Die Bewahrerin aller Existenz im Dies- und Jenseits. Aber ihr könnt mich Eurydike nennen.«

»Eurydike?«, wiederholte Samira mit hochgezogener Augenbraue.

Auch Hailey wirkte nicht überzeugt. »Wie die Nymphe von Orpheus und Eurydike?«

Die Blonde seufzte schwer. »Ich bevorzuge Eurydike wie die Hüterin der Welten, aber ja, ich hatte mal was mit Orpheus, und vermutlich wird mir das ewig nachhängen.« Sie klang nicht ganz glücklich, fasste sich aber schnell wieder. »Der springende Punkt ist, dass ihr jetzt hier seid und sich uns die Gelegenheit bietet, etwas zu erleben. Also – Samira, Hailey –, seid ihr bereit für ein Abenteuer?« Als sie die Überraschung der beiden sah, biss sie sich verlegen auf die Lippe. »Entschuldigt, ja, ich kenne eure Namen. Man will schließlich wissen, wen man sich einlädt.«

Das aufgeregte Funkeln in den blauen Augen wirkte ansteckend, sodass weder Samira noch Hailey ihre Neugier länger verbergen konnten. »Was für ein Abenteuer?«, fragten sie im Chor.

Eurydike grinste sichtlich zufrieden. »Ganz einfach: Wir besuchen eine andere Welt.«

»Geht das denn mal eben?«, wandte Hailey skeptisch ein, doch die Nymphe schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

»Selbstverständlich. Ich bin die Hüterin der Welten. Zwar darf ich sie nur in Begleitung Reisender betreten, aber wie ich das sehe, sitzen gerade zwei hübsche Touristinnen auf meiner Couch.« Verschwörerisch zwinkerte sie ihnen zu. »Also, Kinder. Tun wir nicht so, als hättet ihr euch nicht längst entschieden. Wer hat Lust auf ein wenig Spaß?«

Ertappt lachten die beiden auf.

»Klar sind wir dabei«, willigte die Rothaarige ein, und Eurydike zog die Frauen mit einem spitzen Freudenschrei an den Ärmeln ihrer Schlabberklamotten auf die Beine. Dustin schob indessen eifrig das Sofa zurück an seinen Platz. Als die Hüterin erneut zu sprechen begann, schlug ihre Stimme einen professionellen Ton an. Hoheitsvoll deutete die Nymphe auf die Türen an den felsigen Wänden.

»Ihr habt die Qual der Wahl«, erklärte sie. »Insgesamt existieren neben der Menschenwelt zehn Paralleldimensionen, zu denen ihr durch diese Portale Zugang habt.«

»Was sind das für Welten?«, fragte Samira ehrfürchtig.

»Ganz verschiedene«, erwiderte Eurydike schulterzuckend, während sie näher an die Steinmauern herantraten. »Da hätten wir zum Beispiel ganz klassisch die Märchen- und Sagenwelt oder die Feengefilde.« Sie deutete auf eine türkisblau schimmernde Tür, aus der bunte Korallen wuchsen und deren Holz mit einem eindrucksvollen Muschelmosaik besetzt war. »Dahinter liegt das Meeresreich.« Die Nymphe nickte in Richtung einer wenig einladenden Einlassung gegenüber. »Dort die Unterwelt – die Heimat der Toten und Verdammten. Und direkt nebenan der Olymp.« Sie zeigte auf eine massive Goldpforte geschmückt mit Trauben und Weinranken. »Die Götter stehen auf Protz.«

»Ist das ein Portal ins Weihnachts- beziehungsweise Osterdorf?«, fragte Hailey, deren verblüffter Blick an einer Tür voll mit bunten Kugeln, bemalten Eiern und massenhaft Süßigkeiten hängen geblieben war.

Eurydike nickte. »Ganz nett, wenn man auf Kaninchen oder alte Männer steht, aber ansonsten sterbenslangweilig.«

Samira wies auf die Pforte rechts daneben, die mit Spielkarten, leuchtenden Pilzen und psychedelisch glänzenden Spiegelscherben zugepflastert war. »Drogen können tatsächlich den Weg in eine andere Welt bereiten?«

»Nein, nein«, wehrte die Nymphe amüsiert ab. »Dieses Portal führt nach Wonderland. Ein verrückter Ort, an dem nur Durchgeknallte leben – nicht zu empfehlen. Genauso wenig wie das Land der Fabeltiere. Dort haust alles, was kreucht und fleucht, Klauen, Flügel oder spitze Zähne hat. Ihr seid gut beraten, wenn die Tür fest verschlossen bleibt. Vertraut mir, es stinkt bestialisch.« Angeekelt verzog die Hüterin das Gesicht. »Aber, wenn ich einen Vorschlag machen darf«, fuhr sie fort, »im Feenreich Avalon findet heute Nacht eine Party statt. Alle Welt kommt dort im wahrsten Sinne des Wortes zusammen. Die perfekte Gelegenheit, euch in die Gesellschaft einzuführen.«

»Trotz Corona?«, warf Hailey ein.

Die Nymphe lachte. »Schätzchen, wir haben die Pest überstanden, da hält uns auch kein Virus auf. Außerdem reden wir von einem Maskenball in einer magischen Welt.«

»Ich könnte einen Drink vertragen«, gab Samira zu bedenken, und ihre rothaarige Freundin nickte zustimmend.

»Mach zwei draus.«

»Na, dann los!«, rief die Nymphe begeistert, und bevor eine der beiden anderen etwas erwidern konnte, zerrte sie die Frauen zu einer grün bewucherten Tür. Als sie davor haltmachten, kam auch Dustin herbeigerauscht und jagte übermütig durch einen darüber hängenden Vorhang aus Efeu. Erschrocken von der plötzlichen Ruhestörung stoben ein paar Glühwürmchen auf, die zwischen zarten Waldblumen und hohen Gräsern auf dem Holz geruht hatten. Einige davon verfingen sich in den zerzausten Haaren der Freundinnen.

Eurydike schlug sich eine Hand an die Stirn. »Herrje, das hätte ich beinahe vergessen!«, bemerkte sie, schnippte mit den Fingern – und die Autorinnen standen in engen Kleidern vor ihr.

Beeindruckt strich sich Hailey eine plötzlich perfekt sitzende Locke hinters Ohr, während Samira probeweise ein paar Schritte auf goldenen Stilettos ging.

»Sexy«, befand die Hüterin zufrieden und reichte jeder eine dunkelrote Samtmaske.

»Drei Engel für Charlie können einpacken«, scherzte die Rothaarige, als sie ihre entgegennahm.

Eurydike jedoch blieb ernst. »Wenn ihr dem Mann begegnet: Rennt!«, warnte sie. »Ein furchtbar schlechter Küsser. Gleiches gilt übrigens für Werwölfe. Es sei denn, ihr steht auf pelzige Zungen und wollt noch Wochen später Haarbälle husten.« Sie verzog das Gesicht. »Lange Geschichte«, erklärte sie angesichts der verblüfften Blicke und machte eine ausladende Handbewegung in Richtung der Feenpforte, die mit leisem Knarren aufschwang. »Dustin, du bleibst hier«, befahl die Nymphe, ehe sie sich bei ihren Begleiterinnen unterhakte. »Ladys«, verkündete sie feierlich, »das wird die Nacht eures Lebens.« Mit diesen Worten zog sie die beiden durch das wogende Grün des Portals.

Die Erinnerung an ihre erste Weltenreise noch präsent, befürchteten die Schriftstellerinnen das Schlimmste. So waren sie ein wenig enttäuscht, als nichts Spektakuläres geschah. Tatsächlich unterschied sich der Vorgang, abgesehen von einem angenehmen Flattern in der Magengegend, kaum vom Durchschreiten einer normalen Tür. Dementsprechend groß war ihre Überraschung, als sie sahen, was dahinter lag.

Augenblicklich umfing die Frauen Stimmengewirr und süßlicher Fliedergeruch. Eine milde Brise trug Lachen an sie heran und über ihren Köpfen schimmerten die Gestirne, während Abertausende Glühwürmchen, neben bunten Lampions, eine grüne Lichtung in warmen Schein tauchten. Kellner mit spitzen Ohren reichten farbenfrohe Getränke und schoben sich zwischen kuriosen Gestalten hindurch, die ausgelassen zu einer bekannten Musik tanzten.

»Ist das Michael Jacksons Thriller?« Hailey kicherte.

Eurydike nickte anerkennend und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Dort hinten ist er«, rief sie über den Beat hinweg. »Sie haben sich offenbar nicht lumpen lassen.«

»Krass«, murmelte Samira, die einem Mann in weißen Schlaghosen nachsah. »Ich glaube, ich habe gerade Elvis gesehen. Blass, aber er lebt.«

»Na ja, er ist ein Vampir, das zählt wohl eher zu tot«, befand Eurydike. »Ihr werdet hier einer Menge toter Leute begegnen. Ich hoffe, ihr habt keine verstorbenen Exfreunde? Das könnte unangenehm werden.« Ihre blauen Augen weiteten sich entsetzt. »Apropos Ex. Seht jetzt nicht hin, aber ich glaube, da ist meiner.«

»Wer, Orpheus?«, fragten die Freundinnen wie aus einem Mund und widerstanden dem Drang, sich umzudrehen.

»Nein«, erwiderte die Nymphe ehrlich beunruhigt. »Charlie.« Mit einem nervösen Blick über die Schulter griff sie die Hände der beiden Autorinnen. »Ihr Süßen, ich lasse euch wirklich ungern allein, aber das ist ein Notfall. Die Details gibt es später. Bis dahin amüsiert ihr euch, ja?« Zum Abschied gab sie jeder einen Klaps auf den Hintern, ehe sie herumwirbelte und fluchtartig davoneilte. Lachend sahen Samira und Hailey zu, wie sie sich durch eine Horde rot bemützter Zwerge kämpfte, die wie Dominosteine der Reihe nach umfielen und in einem wütenden Knäuel aus Armen und Beinen über das Gras rollten.

»Hoffentlich waren das keine Wichtel«, bemerkte Hailey trocken. »Sonst sehe ich für Weihnachten schwarz.«

Samira lachte und nahm zwei bunte Gläser vom Tablett eines hübschen Elfenjungen. »Du hast sie gehört«, befand die Dunkelhaarige grinsend und reichte eines davon ihrer Freundin. »Party time!«

Beide zuckten zusammen, als ein chinesischer Drache über ihre Köpfe rauschte und fast mit einem Zyklopenpärchen kollidierte, das einander einäugig schmachtende Blicke zuwarf und mit ausgelassenen Disco-Fox-Tanzschritten die anderen Partygäste auf Abstand hielt.

Samiras Augen leuchteten. »Was willst du zuerst tun? Jane Eyre suchen, Shakespeare treffen …?«

»Oder«, unterbrach Hailey, deren Interesse einer Gruppe pokernder Meerjungfrauen am Ufer des angrenzenden Waldsees galt, »wir machen etwas wirklich Lustiges.« Sie deutete auf einige leicht bekleidete Elfenfrauen, die sich ganz in der Nähe tranceartig zur Musik bewegten. »Einer Feenorgie beiwohnen beispielsweise oder auf einem Minotaurus reiten …«

»Auf einem Minotaurus reiten?«, wiederholte ihre dunkelhaarige Kollegin und versuchte erfolglos, sich das Lachen zu verkneifen. »Ist das nicht irgendwie diskriminierend?«

»Vor allem solltet ihr das lieber nicht trinken«, unterbrach plötzlich eine männliche Stimme die Überlegungen der Freundinnen und ließ sie erschrocken herumfahren. »Feenspeisen können gefährlich wirken.«

»Oh. Mein. Gott!«, stieß Samira beim Anblick des muskulösen Kriegers aus, der in einer engen griechischen Lederrüstung vor ihnen stand. Amüsiert schenkte der Fremde ihr mit sündhaft vollen Lippen ein Lächeln.

»Halbgott, um genau zu sein«, korrigierte er und nahm den Frauen die Gläser ab. »Perseus, Sohn des Zeus«, stellte er sich mit einer kleinen Verbeugung für Samira vor. »Möchten Sie tanzen?«

Die Dunkelhaarige tauschte einen Blick mit ihrer Freundin. Diese grinste über beide Ohren und wackelte bedeutungsvoll mit den Augenbrauen.

»Worauf wartest du?«, fragte Hailey schelmisch. »Schnapp ihn dir, Tiger!« Ein verschlagener Ausdruck trat auf das Gesicht der Rothaarigen. »Ich werde mich in der Zwischenzeit bei den Feen-Ladys umsehen. Was auf Avalon passiert, bleibt auch auf Avalon!«

Lachend wandte sich Samira erneut dem attraktiven Perseus zu. »Zuerst muss ich etwas überprüfen«, stellte sie klar. Sie zog den Halbgott an den ledernen Riemen seines Hemds zu sich herunter und presste ihren Mund auf seinen. Bereitwillig erwiderte der Krieger ihren Kuss, bis sie sich schwer atmend von ihm löste und anerkennend mit der Zungenspitze über die Lippen fuhr. »Sehr gut«, befand die Autorin lächelnd. »Definitiv kein Werwolf.«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© SHUTTERSTOCK (Good Studio)

 

 

 

 

Tosende Böen und böse Geister

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und dann hörte Eve ein kehliges Lachen.

Ihr Blick, der ungläubig auf den Korken am Boden geheftet war, schnellte nach oben. »Wer war das?«

Maddie antwortete nicht, starrte nur die geöffnete Flasche an. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen.

»Was ist los bei dir? Hast du das auch gehört?«

»Was zur Hölle – wie ist das möglich?« Maddie fuchtelte wild mit der Sektflasche herum. Die pinkfarbene Flüssigkeit schwappte dabei aus dem Flaschenhals. »Bitte sag mir, du kannst dir das erklären.«

»Eigenartig.« Sie neigte sich zum Boden und wollte gerade den Korken hochheben, als ihr die umgedrehte Karte auf dem Stapel, der ihr vorhin runtergefallen war, auffiel. Langsam griff sie danach und hielt sie hoch. »Diese Karte kenne ich gar nicht. Dabei habe ich dieses Deck schon ein paar Jahre.« Sie zog die Augenbrauen zusammen.

Plötzlich hörte sie wieder dieses Lachen. Leise, tief, fast brummend. Aber es war eindeutig da. »Ist da jemand bei dir? Da hat doch gerade jemand gelacht.«

»Nein.« Langsam schüttelte die andere den Kopf. Die dunklen Locken flogen ihr dabei ins Gesicht. »Nein, ich bin allein. Und da war auch kein Lachen.« Ihr Blick haftete noch immer an der Sektflasche.

Eve war verwirrt und ein wenig verunsichert. Möglicherweise hatte sie sich das Geräusch ja nur eingebildet. Aber was sie sich sicher nicht eingebildet hatte, waren der Korken, die offene Flasche in Maddies Händen und diese mysteriöse Feenkarte. »Sieh mal, was hier oben steht!« Sie hielt die Karte in die Kamera, und endlich löste ihre Freundin den Blick von der Flasche. »Kennst du diese Karte?«

Maddie las laut vor: »Die Tür steht immer einen Spalt offen. Traust du dich, hindurchzugehen? Oder wartest du ab, was hereinkommt?« Sie hob die Brauen. »Oh Mann, das klingt ganz schön gruselig. Und diese verdammt gruselige Flasche sollte ich auch entsorgen.« Mit einem dumpfen Ploppen landete die Flasche auf dem Tisch vor ihr. »Eindeutig genug Alkohol für heute Abend«, verkündete sie.

Statt zu antworten, riss Eve ihre Augen auf, denn da war schon wieder ein Geräusch. Und es kam eindeutig aus dem Lautsprecher. Ein leises Klackern, als würde jemand immer wieder seine Zähne aufeinanderfallen lassen. »Was ist da los bei dir?«

Maddie schnaufte laut. »Hör auf damit. Bei mir ist gar nichts los. Du machst mich nur noch nervöser.« Sie rieb sich die Augen. »Aber wenn du wirklich etwas hörst, könnte es ja auch bei dir sein. Von draußen vielleicht? Hast du ein Fenster geöffnet?«

An Halloween war immer alles etwas gruseliger, dachte sich Eve. Alles musste eine tiefe Bedeutung haben und konnte nicht rational erklärt werden. Vor allem, wenn es bis auf Kerzenschein und Kaminfeuer dunkel war. Und vor allem, wenn wirklich eigenartige Dinge passierten. Wahrscheinlich gab der Alkohol sein Bestes, sie nicht klar denken zu lassen.

Etwas zaghaft sah sie sich in ihrem Wohnzimmer um. Vielleicht war das Geräusch wirklich von draußen gekommen, ihre Fenster waren alles andere als gut isoliert. Sie lachte laut auf, als ihr bewusst wurde, dass sie sich gerade ziemlich gefürchtet hatte.

Ihre Freundin erwiderte das Lachen, und Eve bückte sich noch mal, um den Korken, der ein kleines Stück unter ihren Tisch gerollt war, vom Boden aufzuheben. In dem Moment, als sich ihre Finger um ihn schlossen, hörte sie das Lachen wieder. Erschrocken fuhr sie hoch und stieß sich dabei den Kopf an der Tischkante. Mit einer Hand rieb sie sich die angeschlagene Stelle am Scheitel, in der anderen hielt sie den Korken. Gerade als sie etwas sagen wollte, sah sie einen Schatten direkt hinter Maddie vorbeihuschen. Zu schnell, um zu erkennen, was oder wer es war, aber eindeutig da. Und jetzt war sie sich sicher, dass sie sich diese Geräusche nicht nur eingebildet hatte.

Mit offenem Mund und einer Hand am Kopf starrte sie in ihren Laptop.

»Eve? Hast du dir wehgetan?«

 

*

 

Eve antwortete nicht, und Maddie begann sich langsam Sorgen zu machen. »Alles gut bei dir?«

»Jetzt im Ernst, wer ist da bei dir?«, war die einzige Antwort, die sie von Eve bekam.

»Wie oft denn noch? Bei mir ist niemand! Vielleicht solltest du auch den Alkohol wegstellen … und das Licht wieder einschalten.«

Eve schüttelte den Kopf und antwortete geistesabwesend. »Ja.« Entsetzen huschte über ihre Miene, ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund zu einem stummen Schrei geöffnet.

»Bist du okay?«, fragte Maddie mit unsicherer Stimme.

Keine Antwort.

»Eve!«

Doch statt etwas zu sagen, schlug sich Eve die Hand vor den Mund.

»Wenn du mir nicht sofort antwortest, werde ich die …« Aber noch bevor sie damit drohen konnte, einen Rettungswagen zu ihr zu schicken, hob ihre Freundin eine Hand und zeigte mit einem Finger auf den Bildschirm.

Maddie drehte sich um. Aber da war nichts. »Was?«

Eve ließ die Hand vom Mund sinken, den Finger noch immer ausgestreckt. »Maddie«, hauchte sie, fast zu leise für das Video-Telefonat. »Lauf.«

Maddie riss die Augen auf, drehte sich erneut um, aber da war nichts, nur ihr Wohnzimmer und die Schatten der Einrichtung, die das Kaminfeuer hervorrief. »Hör auf damit, das ist nicht mehr lustig.«

Plötzlich sah sie eine Bewegung im Augenwinkel und gab einen erstickten Schrei von sich. Ihr Herz raste. Langsam sah sie zur Seite. Die Bewegung musste vom Tischchen neben ihr gekommen sein. Dort, wo noch immer der Sekt stand, doch jetzt wieder mit dem Korken in der Öffnung. Und daneben eine der Feenkarten ihrer Freundin. Entsetzt starrte sie zur Sektflasche, dann wieder zur Karte. Mit zittrigen Händen griff sie nach ihr.

»Nein, Maddie! Lass sie liegen und verschwinde! Schnell!«

Doch Maddie hielt die Karte schon zwischen den Fingern. Sie sah die Karte an, dann ihre Freundin. »Eve, was ist hier los?«, fragte sie mit angsterfüllter Stimme.

Sie hielt die Karte hoch, sodass auch Eve sie sehen konnte. Etwas Rotes bedeckte die Karte und machte den größten Teil der Aufschrift unleserlich. Die Farbe glich der pinkfarbenen Flüssigkeit aus der Sektflasche. ›Die Tür steht immer einen Spalt offen‹ war alles, was noch von der Weissagung zu erkennen war.

»Eve, was hast du gefragt? Was wolltest du von den Karten wissen?«

Eve hatte Tränen in den Augen und schüttelte den Kopf. »Es tut mir so leid.« Sie begann zu schluchzen. »Ich dachte nicht, dass er es durchschafft.«

Maddie wollte sie gerade lauthals ermahnen, ihr endlich zu verraten, was zum Teufel hier los war, als sie plötzlich einen stechenden Schmerz zwischen ihrem rechten Schlüsselbein und ihrem Nacken spürte. Erschrocken tastete sie zu der schmerzenden Stelle und konnte dort schmale Kratzer unter ihren Fingern spüren. Als sie ihre Hand wieder hob und sie betrachtete, sah sie, dass ihre Fingerspitzen mit Blut bedeckt waren. Ihrem Blut. »Oh Gott«, flüsterte sie.

Ein Lachen war direkt neben ihrem Ohr zu hören. »So eine höfliche Anrede ist doch nicht nötig, meine liebe Maddie.« Die Stimme war männlich, tief, betörend. »Asmodi reicht völlig.« Lippen streiften ihr Ohr, und Maddie konnte kaum noch atmen.

Asmodi, wiederholte sie in Gedanken. Sie kannte diesen Namen. Aber sie war so panisch, dass ihr Gedächtnis versagte.

Sie fasste all ihren Mut zusammen und drehte sich langsam um. Doch sie konnte nichts sehen. »Eve, sag mir bitte, was hier los ist«, flüsterte Maddie. Sie traute sich nicht, lauter zu sprechen. Sie kannte den Namen. Asmodi. Asmodi, der Verwüster. Asmodi, der böse Geist. Eve hatte einen ihrer finsteren Hauptcharaktere aus ihrem ersten Roman so genannt. Es war ihr Debüt-Roman und ein absoluter Hit. Und das verdient. Es war eine bildgewaltige, fantasievolle Story über einen bösen Geist aus einer anderen Welt. Ein Wesen, das sich seine Untertanen zunutze machte, um Menschen zu quälen, Kinder zu traumatisieren und Schrecken in die Seelen der Ahnungslosen zu pflanzen. Maddie fragte sich immer wieder, wie Eve auf diese Idee gekommen war, vor allem auf die zahllosen Details, die die Geschichte so fantastisch und fesselnd machten.

Tränen quollen aus Eves Augen, aber kein Wort kam über ihre Lippen. Stattdessen ploppte das Messenger-Symbol an Maddies Laptop auf. Eve hatte ihr eine Nachricht geschickt. Mit zittrigen Händen versuchte sie die Nachricht zu öffnen. Sie benötigte ein paar Anläufe, doch dann öffnete sich das Chatfenster und ein Bild erschien. Es war ein Screenshot, aufgenommen von Eves Computer. Maddie stockte der Atem. Auf dem Bild sah man sie. Aber hinter ihr stand jemand. Ein großer Mann. Wunderschön, schwarze Locken fielen ihm in die Stirn. Spitze Ohren ragten zwischen seinem Haar hervor und noch spitzere Zähne aus seinem zu einem höhnischen Grinsen verzogenen Mund. Dunkle Augen rundeten das finstere Aussehen vollends ab, sie schienen sogar auf der Fotoaufnahme zu funkeln. Seine Hände lagen auf Maddies Schultern, lange Finger mit dunklen Nägeln berührten sie genau dort, wo auch ihre Wunde war. Sie hielt den Atem an. Ihr Blick wanderte in Richtung ihrer Schulter, aber sie konnte keine Hände sehen und auch nicht spüren. Langsam drehte sie ihren Kopf. Aber noch immer war da nichts außer ihrem Zimmer, das ihr plötzlich viel zu leer und finster vorkam. Sie drehte den Kopf wieder zum Laptop und holte scharf Luft. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie hatte noch nie solch eine Angst verspürt. Und nun konnte sie diese komischen Ereignisse auch nicht mehr dem Alkohol zuschreiben.

Das kann doch nicht sein, sagte sie sich innerlich. Reiß dich zusammen. Aber ihre Wunde pochte, ihr Atem ging zu schnell, und sie konnte sich einfach nicht erklären, was hier los war. Plötzlich standen auch ihr die Tränen in den Augen, aber sie versuchte sie zu verdrängen und die Panik nicht hochkommen zu lassen.

»Bitte sag mir, was hier los ist. Eve, bitte.« Es hörte sich mehr nach einem Flehen als nach einer Bitte an.

Ein leises, tiefes Stöhnen war an ihrem Ohr zu hören. »Das ist genau der Tonfall, den ich mag.«

Der Mann – das Wesen – hinter ihr lachte, und plötzlich spürte Maddie die großen Hände schwer auf ihren Schultern. Sie erstarrte.

»Siehst du das, Eve? Sie hat Angst. Deine hübsche kleine Freundin hat Angst, und du bist schuld daran.«

Maddie spürte, wie spitze Fingernägel über ihre rechte Wange strichen. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Diese Berührung fühlte sich zu echt an. Er ist wirklich hier, schoss es ihr durch den Kopf. Pures Entsetzen erfasste sie. Sie kannte dieses plötzliche Erscheinen aus Eves Buch. Asmodi war ein mächtiges, geisterhaftes Wesen und konnte seine Gestalt beliebig beeinflussen. Aber dies wirklich zu erleben und dazu noch in ihrem eigenen Wohnzimmer, war eine andere Stufe von Horror.

Eve starrte noch immer in die Kamera. Sie wirkte wie eine Tote, vor Schreck erstarrt und unfähig zu sprechen. Sie fixierte den oberen linken Rand ihres Bildschirms. Sie starrte also nicht sie an, wurde Maddie bewusst, sondern dieses böse Etwas hinter ihr. Dieses Etwas aus Eves eigenem Roman. Erschaffen von ihrer Freundin mit dem leuchtend roten Haar, die nie jemandem etwas Böses wollte. Und trotzdem war Maddie sich sicher, dass dieser Abend nicht gut für sie ausgehen würde. Aber sie konnte sich einfach nicht erklären, wie das möglich war. Wie konnte eine erfundene Figur plötzlich real werden, und wie konnte diese Figur ihr Schmerzen zufügen? Ein leises, hysterisches Lachen drang aus ihrer Kehle. Du wirst langsam verrückt. Das war die einzig sinnvolle Erklärung für sie.

»Eve«, flüsterte Maddie. »Wie ist das möglich? Bitte! Antworte mir!« Ihre Stimme klang viel zu panisch.

Eve holte tief Luft, und endlich sprach sie. »Es tut mir so leid, Maddie. Ich wusste nicht, dass er wirklich hindurchkann. Ich dachte doch, dass das alles nur Spaß sei.«

Hinter Maddie ertönte ein höhnisches Lachen. »Oh, meine liebe Eve.« Während er sprach, fuhr er langsam durch Maddies Haare. »Warum solltest du hindurchschreiten können, aber ich nicht? Du wusstest von Anfang an, dass du nicht ungestraft meine Geschichte – mein Leben – stehlen kannst. Ich habe dich gewarnt.«

Maddie spürte Lippen an ihren Wangen und erschauderte.

»Ich habe dir gesagt, dass ich dich finden und für deine Taten bezahlen lassen würde, liebste Eve«, hauchte er an Maddies Wange.

Er löste sich von Maddie, und sie holte tief Luft, zu geschockt, um etwas sagen zu können.

»Lass sie in Ruhe!« Eves Stimme war schrill und viel zu hoch, man konnte ihre Angst beinahe mit den Händen fassen.

»Du hast dich vor mir versteckt!«, sagte Asmodi nun ernst.

Ein gleißender Schmerz fuhr durch Maddies linke Gesichtshälfte, und sie spürte, wie warmes Blut über ihre Wange rann.

»Du hast meine Geschichte gestohlen!«

Ein Schnitt an ihrer anderen Wange. Maddie keuchte.

»Du hast mich verhöhnt.«

Er packte Maddie an den Schultern und riss sie hoch. Seine spitzen Finger bohrten sich in ihre Haut.

»Und nun wirst du dafür bezahlen.« Er drückte Maddie an sich, sie spürte die Wärme seines Körpers an ihrem Rücken. »Langsam.« Eine Hand glitt hinunter an ihre Taille. »Und schmerzhaft.« Mit der anderen Hand strich er Maddies Locken aus ihrem Nacken.

Sie spürte, wie sich sein Mund auf ihren Hals legte und seine Zunge über ihre Haut fuhr. Sie versuchte, nicht zu reagieren, aber sie konnte ein angsterfülltes Wimmern nicht unterdrücken.

»Und bis dahin werde ich dich mitnehmen, meine Schöne«, flüsterte er, die Lippen noch immer an ihrer Haut und so leise, dass Eve es unmöglich hören konnte.

Eves Schluchzen wurde immer lauter. »Bitte«, flehte sie. Ihr Gesicht war nass, ihre Augen beinahe so rot wie ihr Haar, und sie zitterte am ganzen Körper. »Bitte tu ihr nichts.«

»Das hättest du dir vorher überlegen sollen.«

»Es ist doch nur eine Geschichte. Niemand weiß, dass es dich wirklich gibt.« Eves Stimme zitterte so sehr, dass man sie kaum verstehen konnte.

 

*

 

Die Sektflasche auf Maddies Tisch zerbrach mit einem lauten Klirren, das Kaminfeuer erlosch mit einem Zischen.

»Du hast gedacht, du könntest dich vor mir verstecken, du naives Mädchen!«

»Bitte«, hauchte Eve. »Bitte lass sie gehen.«

»Nein!« Asmodis Stimme war nun laut und bedrohlich. »Ich werde dich nicht nur bestrafen. Ich will, dass du leidest. Ich lasse mich von einem kleinen menschlichen Wesen nicht verhöhnen. Und dein jämmerlicher Versuch, dich vor mir zu verstecken, wird die Strafe für dich sicher nicht angenehmer machen.« Er lachte laut auf. »Oder sagen wir besser: Es wird für deine hübsche Freundin nicht angenehm werden.«

»Nein, Maddie …« Eves Stimme brach. Sie konnte nicht glauben, was sie angerichtet hatte.

Asmodi griff nach der Decke, die jetzt neben Maddies Füßen lag, hob sie hoch und legte sie ihr fast liebevoll um die Schultern.

»Die tosenden Böen werden dich finden – wo immer du dich auch versteckst.« Mit diesen Worten war er in der Dunkelheit verschwunden und mit ihm Eves dunkelhaarige Freundin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Malum ante portas

Geschockt blickte Lucy ihre Freundin Alexa über den Bildschirm an. Ein kalter Luftzug erfasste die Flammen der Kerzen neben ihr, die allesamt erloschen. Im Kamin hinter Alexa loderten plötzlich wilde Feuerzungen, was diese aber offenbar nicht wahrnahm. Sie starrte Lucy mit aufgerissenen Augen an. Für einen Moment schien die Verbindung abzubrechen, das Bild war gestört und teils eingefroren, dann jedoch entfachte der Bildschirm ein grell leuchtendes Licht. Geblendet schloss Lucy die Augen und wurde mit heftiger Wucht zurückgeworfen.

Sie schrie entsetzt auf, als sie von einer mächtigen Energie erfasst wurde, die ihr den Boden unter den Füßen wegriss. Einen Augenblick später wurde sie regelrecht durch die Luft gewirbelt. Alles um sie herum drehte sich. Es war, als wäre sie in einen Sturm geraten, dessen tosende Böen jegliche Regeln der Schwerkraft herausforderten und sie dabei durch Zeit und Raum katapultierten. Einen Augenblick lang musste sie an die Bestimmung der Karten denken, dann jedoch wurde sie von tiefster Dunkelheit umhüllt, welche ihr jegliche Sinne raubte.

Ein Ruf durchdrang die Stille und ließ sie erneut zu sich kommen. Stöhnend richtete sich Lucy auf. Ihr Kopf dröhnte, und ein ungutes Gefühl quälte sie, während die Erinnerungen bruchstückhaft zurückkehrten. Verdammt, was war geschehen? Und wo um alles in der Welt befand sie sich? Sie schaute sich um, doch die Dunkelheit erschwerte ihr die Orientierung. Erneut hörte sie den Ruf einer vertrauten Stimme, dieses Mal jedoch eindringlicher. Sie kannte diese Stimme, wenngleich sie auf eine seltsame Weise verzerrt klang.

»Alexa, bist du das?«, rief sie verängstigt nach ihrer Freundin. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und sie erkannte nun ein geräumiges Felsengewölbe, welches von spärlichem Fackellicht erhellt wurde. Die Wände waren mit sonderbaren Zeichen und Symbolen versehen, die ihr fremd waren. Auch erblickte sie verschiedene Zugänge, welche sich von dem Gewölbe abspalteten und ins tiefdunkle Ungewisse führten. Ihr schauderte beim Anblick dieses düsteren Ortes. Kälte und Feuchtigkeit drangen ihr bis ins Mark, die Luft roch modrig, während es von irgendwoher tropfte. Unwillkürlich musste sie an eine Gruft denken, und bei der Vorstellung, dass plötzlich ein Vampir auftauchen würde, lief es ihr kalt über den Rücken.

»Lucy?«, hörte sie jetzt deutlich eine bekannte Stimme rufen.

»Alexa?« Erleichtert atmete sie auf. »Wo bist du?«

»Hier draußen. Komm, da drinnen ist es nicht sicher. Hier draußen wird es dir gefallen, jetzt mach schon!«

Erst jetzt fiel Lucy die Lichtquelle auf, die unscheinbar aus einer Nische des Gewölbes drang. Rasch setzte sie sich in Bewegung.

Vor einer massiven Rundbogentür, die einen Spaltbreit offen stand, blieb Lucy abrupt stehen und umklammerte unwillkürlich das Schutzamulett an ihrer Halskette, welches ihr Alexa geschenkt hatte. Beunruhigt musterte sie das unbekannte Symbol direkt über dem Durchgang, das aus runenartigen Zeichen zusammengesetzt war. Handelte es sich um ein Schutzsymbol? Aber was sollte es schützen und vor wem? Zwar war Lucy spirituell veranlagt und interessierte sich für Esoterik, weshalb sie oft liebevoll als kleine Hexe betitelt wurde, doch war Alexa die Expertin für alte Runen und antike Sprachen. Ob ihre Freundin das Symbol bemerkt hatte, als sie hinausgegangen war? Sie musste Alexa unbedingt danach fragen.

Einen Moment lang zögerte Lucy, bevor sie die schwere Tür aufstieß. Sogleich wurde sie von grellem Tageslicht geblendet, das unangenehm in den Augen schmerzte. Daher nahm sie die Spitzen der schwarzen Dolche erst im Nachhinein wahr, welche aus der Innenmauer des Durchgangs ragten. Sie waren nicht sonderlich lang, jedoch erschienen sie äußerst scharfkantig und waren von einer kaum sichtbaren rötlichen Musterung durchzogen. Sollten sie nur abschrecken, oder hatten sie vielleicht noch eine weitere Funktion? Ein ungutes Gefühl breitete sich in Lucy aus, und sie meinte, dass ihr Schutzamulett, welches sie immer noch fest in ihrer Hand hielt, regelrecht zu glühen begann. Etwas in ihr schrie, nicht durch diese Tür zu gehen, doch die vertraute Stimme ihrer Freundin, die erneut nach ihr rief, gab Lucy den nötigen Mut, den Schritt hinaus zu wagen. Sie verwarf den Gedanken, dass die Dolche ebenso dazu gedacht sein konnten, jene zurückzuschrecken, die sich außerhalb des Höhlengewölbes befanden.

Als Lucy hinaustrat, betrachtete sie überwältigt die Umgebung. Eine zauberhafte Landschaft bestehend aus Wiesen und blühenden Bäumen erstreckte sich vor ihr, verschiedene Schlösser waren zu erkennen und in der Ferne glitzerte das Meer. Genau so wurde doch die Anderswelt beschrieben! Die warme Luft war von Musik und heiterem Lachen erfüllt, wenngleich Lucy niemanden entdecken konnte. Niemanden, außer … »Alexa?«

Mit dem Rücken zu ihr gekehrt stand die schwarzhaarige wenige Meter entfernt am Fuße der steinernen Stufen, die von dem Ausgang hinab in diese surreale Welt führten.

»Ist es nicht wunderschön?«, hörte Lucy ihre Freundin fragen.

»Ja, das ist es«, antwortete Lucy zögerlich. In ihrem Magen bildete sich ein ungutes Gefühl. So schön dies alles wirkte, irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Doch sie verdrängte ihre Bedenken und fragte: »Ist das wirklich die …?«

»Anderswelt«, beendete Alexa den Satz. »Komm, lass sie uns erkunden!« Bevor Lucy protestieren konnte, rannte die Schwarzhaarige auch schon los.

»Alexa, jetzt warte doch! Vielleicht sollten wir erst einmal über das, was passiert ist, reden und vorsichtig sein.«

Doch ihr Einwand blieb zwecklos, denn die andere Frau entfernte sich schnellen Schrittes, ohne auf Lucys Worte zu reagieren. Lucy schnaubte, setzte sich dann aber ebenfalls in Bewegung, wenngleich sie sich ein wenig über das Verhalten ihrer Freundin wunderte. Alexa war doch sonst nicht so übermütig, ganz im Gegenteil. Aber gut, vermutlich lag es an diesem Ort, der womöglich ihre Sinne beeinflusste, sodass Lucy dieses Mal den Part der Misstrauischen übernahm und Augen und Ohren offen halten würde.

 

*

 

Mit einem Stöhnen kam Alexa wieder zu sich und richtete sich auf. Sie blinzelte und erschrak, als sie den Ort erkannte. Nein, das durfte nicht sein! SIE durfte nicht hier sein! Man hatte sie ausgetrickst, aber wie? Allmählich wurden ihre Gedanken klarer, und dann dämmerte es ihr: Die Fruchtsektflasche! Sie war keine gewöhnliche Flasche gewesen, sondern ein Transferobjekt, welches an besonderen Tagen wie Samhain sämtliche Barrieren aufhob. Dadurch konnte Lucy mit dem Flaschenöffner durch den Laptop-Bildschirm zu ihr dringen, und als sie die Flasche geöffnet hatte, waren sie in diesen Vorhof zur Hölle katapultiert worden. Eigentlich kam nur einer infrage, der ihr die Fruchtsektflasche untergejubelt haben konnte. Solch eine teuflische Aktion war nur Iblis zuzutrauen. Nur er war dazu imstande, Objekte wie die Sektflasche mit seiner dunklen Macht zu beeinflussen. Er stammte vom Teufel persönlich ab, welcher seine Mutter einst verführte. Sie schenkte dem Teufel ihre Seele und im Gegenzug erhielt sie besondere Fähigkeiten. Sie verwandelte sich daraufhin in ein seelenloses Monster, das nach Blut gierte und schließlich in die Hölle verbannt wurde. Iblis würde alles dafür tun, um seine Mutter und ihre netten Freunde zu befreien. Iblis, der sich unter den Menschen versteckte und dessen Ziel es war, die Höllentore zu öffnen.

Alexa seufzte verärgert. Sie durften auf keinen Fall diesen Vorhof verlassen – da draußen war es nicht sicher! Und wo steckte Lucy überhaupt? Auch sie war mit der Flasche in Berührung gekommen, folglich musste sie hier sein. Besorgt blickte Alexa auf die Tür, welche sperrangelweit offen stand. War Lucy etwa durchs Portal gegangen? Dort draußen hatten alle Schutzmaßnahmen keine Wirkung mehr! Alexas Puls beschleunigte sich bei diesem Gedanken, während ihr Blick sich auf das Symbol über dem Torbogen richtete. Ein Symbol, welches vor dem, was hinter der Tür lauerte, warnte und dafür sorgte, dass nichts entkommen würde – zumindest nicht so lange, bis jemand den Schutzschild deaktivierte. Verflucht! Ob sie wollte oder nicht, sie musste sich den Gefahren dort draußen stellen und Lucy finden, bevor es jemand anders tun würde.

 

*

 

»Nun komm schon, beeil dich!«, drängte die Schwarzhaarige. Immer noch lief sie vorneweg und gab Lucy nicht die Möglichkeit, aufzuholen. Lucys innere Unruhe hatte stetig zugenommen. Die idyllische Landschaft schien auf eine beunruhigende Weise zu verblassen, der Himmel hatte sich mittlerweile blutrot gefärbt und erschien wie ein schlechtes Omen. Die Musik war verstummt, genauso wie die heiteren Stimmen. Eine unangenehme, ja beinahe bedrohliche Stille war dafür eingetreten. Dort, wo bis vor Kurzem noch saftiges Gras gewachsen war, war der Boden nun kahl, verkohlt und mit einer grauen Rußschicht überzogen. An manchen Stellen drangen heiße, schweflige Gase empor, und unter der Erde schien etwas zu brodeln. Und diese unheimliche Veränderung setzte sich fort. Wo zuvor noch blühende Bäume gestanden hatten, ragten nun schwarze Baumskelette gespenstisch in den Himmel. Auch von den glänzenden Palästen war nichts mehr zu erkennen. Hatte es all dies überhaupt gegeben? War dies wirklich die Anderswelt?

Alarmiert warf Lucy einen Blick zurück, doch eine hohe, dunkle Nebelmauer, die sich ringsherum zu verdichten schien, nahm ihr komplett die Sicht. Und da war noch etwas: huschende, raschelnde Bewegungen in unmittelbarer Nähe. Etwas war dort, verborgen im Nebel, etwas, das sich schnell fortbewegte und immer näher kam.

»Lucy!«, drang es plötzlich zu ihr, doch nicht von vorn, wo die Gestalt ihrer Freundin im Dunst immer undeutlicher wurde, nein – der Ruf war von hinten gekommen, da war sich Lucy sicher. Sie zögerte, blieb stehen, drehte sich um und rief verunsichert in den Nebel hinein: »Alexa?«

Die Schwarzhaarige vor ihr war nun ebenfalls stehen geblieben und hatte sich umgedreht, doch durch den dichten Dunst war ihr Gesicht nicht erkennbar.

»Lucy, nicht weitergehen!«, kam es erneut von hinten. Nun konnte Lucy die blassen Konturen der Person erkennen, welche sich ihr von hinten näherte. Von der Figur her glich diese in der Tat Alexa.

Lucy war für einen kurzen Moment verwirrt, doch sie spürte plötzlich deutlich, dass das, was auch immer sie bis hierher geleitet hatte, nicht Alexa war. Ebenso wenig war es menschlicher Natur.

Instinktiv trat Lucy einen Schritt zurück. Die Gestalt vor ihr jedoch schien sich plötzlich zu verwandeln, während sie sich nun zielstrebig auf Lucy zubewegte. Zeitgleich bündelten sich die dunklen Nebelschwaden um sie herum und formten sich zu schattenhaften Kreaturen. Sie knurrten bedrohlich, fauchten und bleckten die Zähne. Diese Wesen waren hungrig und gierten nach Blut, das spürte Lucy. Trotz ihrer rauchigen Gestalt waren ihre grausamen Fratzen deutlich erkennbar. Ihre schattenhaften Körper bewegten sich raubtierhaft. Scharfe, gekrümmte dunkle Krallen blitzten an ihren klauenhaften Händen auf. Ihre blutunterlaufenen Teufelsaugen und die nadelspitzen Zähne funkelten gefährlich, während sie immer näher rückten.

Das unheimliche Geschöpf, welches sich zuvor noch als Alexa ausgegeben hatte, war nun ebenfalls zu einem dieser tiefenlosen, dunklen Schatten mutiert und hatte eine furchteinflößende Gestalt angenommen. Aus seiner hässlich verzerrten Fratze heraus schien es hämisch zu grinsen, wobei es gefährliche, messerscharfe Fangzähne offenbarte.

Schritt für Schritt wich Lucy vor diesem teuflischen Geschöpf zurück. Dessen boshafte, rot glühende Höllenaugen loderten vor Mordlust, während es sich nun rasend schnell auf sie zubewegte.

Die mühsam unterdrückte Furcht drohte Lucy zu überwältigen. Furcht, an der sich diese höllischen Biester zu laben schienen. Bei diesem Gedanken verdrängte Lucy auf einmal alle Angst und spürte, wie eine plötzliche Wut unerwartet in ihr hochschoss und sich dabei in einen gellenden Schrei verwandelte.

Was dann geschah, konnte Lucy sich nicht erklären. Die Schattenwesen wurden allesamt zurückgeschleudert und blieben auf Distanz, als würden sie Lucy mit einem Mal fürchten. Sie lauerten wachsam im Schutz des Nebels und schienen abzuwarten.

Alexa, die nun neben ihr stand, blickte sie überrascht an und meinte fasziniert: »Ein Telekinesen-Schrei? Du bist tatsächlich eine Banshee-Hexe?«

»Alexa, was um Himmels willen geht hier vor?«, fragte Lucy mit bebender Stimme. »Ich dachte, wir wären in der Anderswelt gelandet, ich dachte …«

»Sie haben dir etwas vorgetäuscht, Lucy«, unterbrach Alexa sie. »Darin sind sie Meister. Das hier ist nicht die Anderswelt, das hier ist eine Ebene der Unterwelt. Ihre Pforte sollte geschlossen bleiben, auch an Samhain.«

»Unterwelt?« Lucy schluckte schwer. Ängstlich spähte sie in den Nebel, wo die unheimlichen Kreaturen gleich einem Rudel hungriger Wölfe lauerten und sie dabei weiterhin durch wild funkelnde Augen feindselig beobachteten. »Dann sind diese Geschöpfe Dämonen?«

»Man nennt sie Cogas. Sie bewegen sich als Schatten fort, können aber beliebige Gestalten annehmen und Trugbilder erschaffen. Einst waren es Menschen, die den Keim des Bösen in sich trugen und einen Pakt mit dem Teufel schlossen, um besondere Fähigkeiten zu erlangen. Sie wurden zu seelenlosen Kreaturen, welche nach Blut gierten, um dadurch ihre Macht zu steigern. In der Gestalt von Fliegen, Schlangen und anderen Tieren drangen sie unbemerkt in die Häuser, um bevorzugt Kindern das Blut auszusaugen. Dämonenjäger bekämpften sie jedoch und verbannten sie schließlich allesamt in diese Ebene der Unterwelt. Wie für jede Ebene gibt es auch hier einen Wächter, der dafür Sorge trägt, dass die Pforte geschlossen bleibt. Würden diese blutrünstigen Kreaturen ausbrechen, wäre es schlimmer als jede Pandemie. Viel zu lange dürsten die Cogas schon nach Blut und Macht, nichts und niemand würde sie noch aufhalten, wenn sie freikommen würden.«

»Wächterin«, raunte nun eine dunkle, unmenschliche Stimme bedrohlich, welche eindeutig von einem der Schattenwesen kam. »Die Zeit tickt, und ihr steckt in dieser Ebene fest, genau wie wir. Um rauszukommen, musst du jetzt wohl oder übel die Pforte öffnen. Die Hexe wird uns nicht ewig aufhalten können, und auch du solltest dich besser beeilen, solange du noch genügend Kräfte hast, die dich vor uns schützen.«

»Wächterin?«, fragte Lucy verängstigt. »Was meint dieses Geschöpf? Kannst du wirklich die Pforte öffnen?«

»Oh ja, das kann sie«, wisperte abermals die düstere Stimme. »Sie sollte es besser freiwillig tun, wir wollen doch nur ungern unschuldiges Engelsblut vergießen.« Das Geschöpf lachte gehässig.

»Engelsblut?«

Lucy blickte ihre Freundin überrascht an.

Alexa seufzte. »Lucy, uns bleibt keine Zeit für große Erklärungen.« Dann jedoch sagte sie: »Meine Familie stammt von Nephilim ab, und als solche ist es unsere Aufgabe, die Menschen zu schützen und verschiedene Höllenpforten zu bewachen. Ich bin für diese hier zuständig. Die Cogas haben uns mit großer List aus dem Schutz der Höhle in ihr Reich gelockt, eigentlich dürfte ich auf keinen Fall hier sein. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit – solange die schützende Macht der Engel über mir liegt, können diese Dämonen mir nichts antun, doch solch ein Schutz wird in dieser Ebene recht schnell wirkungslos, genauso wie deine Fähigkeiten. Nichts wird dann diese Monster mehr aufhalten können.«

»Wie kommen wir hier weg? Ich glaube kaum, dass wir schneller sind als die Cogas. Das schaffen wir niemals!« Beunruhigt beobachtete Lucy die teuflischen Wesen, die Schritt für Schritt näher rückten.

Alexa schien einen Moment lang zu überlegen, dann deutete sie auf Lucys Amulett. »Der Schutzstein, Lucy. Der Heliotrop sollte deine Kräfte aktivieren können.«

»Meine Kräfte?« Lucy blickte ihre Freundin ungläubig an. »Wie?«

»Sie stecken in dir. Der Telekinesen-Schrei ist vermutlich nur eine deiner Gaben. Nutze deine innere Kraft, um die Geschöpfe der Dunkelheit zu vertreiben!«

Einen Augenblick lang zögerte Lucy, dann jedoch schloss sie die Augen und konzentrierte sich, während die Cogas um sie herum wütend zischten und sich erneut dichter an sie heranwagten. Sachte berührte Lucy das Amulett und spürte sogleich die pulsierende magische Kraft, die darin gebündelt war.

 

*

 

Gerade als Alexa bereits den fauligen Geruch der Cogas wahrnehmen konnte, entfachte Lucys Amulett gleißendes Licht. Die Kreaturen der Finsternis brüllten, allerdings waren es schmerzerfüllte Laute, und kurz darauf hatten sich die Cogas allesamt verzogen.

»Gut gemacht«, flüsterte Alexa. »Wir sollten uns beeilen, solange das Licht uns die Cogas vom Leib hält.« Dann nahm sie Lucy bei der Hand und setzte sich schnellen Schrittes in Bewegung.

Alexa blieb am Fuße eines dunklen Felsmassivs stehen, wo der Aufstieg zum Gewölbe begann. Lucy atmete erleichtert auf und wollte sich bereits hinaufbegeben, doch Alexa hielt sie zurück.

»Nicht!«, mahnte sie ihre Freundin. »Keiner kann diese Ebene verlassen, es würde dich das Leben kosten. Die Schutzbarriere ist nach wie vor aktiv – sie ist die eigentliche Pforte, die mir zugeteilt wurde und welche ich nun öffnen werde.«

»Aber dann werden auch die Cogas hinausgelangen«, meinte Lucy entsetzt.

»Nicht, wenn ich die Pforte schnell genug wieder verschließe.«

Mit diesen Worten riss sich Alexa ihren sichelförmigen Anhänger vom Hals und versetzte sich mit seiner scharfen Kante einen tiefen Schnitt in den Unterarm. Sie kniete vor der runden Steinplatte nieder, um ihre Hand über das Symbol zu heben, welches in die Platte eingraviert worden war. Kurz darauf tropfte Alexas Blut auch schon auf das Zeichen und sickerte in dessen Vertiefungen, um jede einzelne Linie und Kurve des Symbols auszufüllen. Mit einem Knirschen setzte sich die Steinplatte schließlich in Bewegung und gab einen sichelförmigen Hohlraum frei, den sie zuvor verdeckt hatte.

Alexa blickte sich besorgt um. Lucy bemerkte es ebenfalls. Das Licht, welches sie mit der Hilfe ihres Amuletts erzeugt hatte, war schwächer geworden. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es endgültig erlöschen würde.

Alexa zögerte keinen Moment und fügte ihren sichelförmigen Anhänger in die Vertiefung. Kaum dass dieser eingerastet war, rief sie Lucy zu: »Lauf!«

Die Rothaarige verstand und rannte die Stufen hinauf. In diesem Moment erlosch das Licht vollends.

Alexa wartete, bis Lucy die Pforte passiert hatte, dann entfernte sie die Sichel aus der Einkerbung. Ihr würden nur wenige Sekunden bleiben, bis sich die Platte zurückschieben würde und die Schutzschilde somit erneut aktiviert würden.

Geschwind rannte sie zur Pforte und konnte bereits die Cogas wahrnehmen, welche rasch näher rückten. Mit einem großen Satz sprang sie durch die Öffnung, während ihr die blutrünstigen Schattenwesen dicht auf den Fersen waren. Gerade noch rechtzeitig aktivierte sich die Schutzbarriere und hinderte die vor Wut brüllenden Cogas daran, aus ihrem Höllenreich auszubrechen. Sobald Lucy Alexa erblickte, seufzte sie erleichtert auf und verband ihr die Schnittwunde am Unterarm mit ihrem Halstuch. Dann nahm Alexa sie fest bei der Hand, während ihre andere Hand den sichelförmigen Anhänger umklammerte, der sie nun nach Hause bringen würde.

 

*

 

Eine Böe fegte durch die Straße und kreiste wild um den Laternenpfahl. Das Licht der Lampe flackerte, bevor es gänzlich erlosch. Unbemerkt trat eine finstere, schattenhafte Gestalt aus dem Dunkel der Nacht und schaute feindselig auf das Haus. Ihre komplett schwarzen, funkelnden Augen beobachteten gierig und hasserfüllt die dunkelhaarige Frau, welche in unmittelbarer Nähe des Fensters stand und gedankenversunken an einem Glas Rotwein nippte. Wie gern er von ihrem wertvollen Engelsblut gekostet hätte – und wie gern er ihre Seele besitzen würde! Er knurrte und verwarf diesen verlockenden Gedanken. Erst einmal musste er sie dazu bringen, die Pforte zu öffnen. Denn auch wenn sein Plan dieses Mal gescheitert war, so würde er nicht aufgeben. Das Böse lauerte hinter den Toren der Hölle und wartete nur darauf, befreit zu werden. Er besaß noch andere Transferobjekte, die er Alexa unterjubeln würde. Außer Samhain gab es ja noch weitere besondere Tage, welche sich dazu anboten, sämtliche Barrieren aufzuheben. Diesmal würde sich die Höllenpforte gänzlich öffnen, und dies würde erst der Anfang sein – der Anfang vom Ende.

© SHUTTERSTOCK (Good Studio)

 

 

Auch Geister machen nur ihren Job

 

 

 

 

 

Und dann hörten sie beide ein diabolisches Lachen.

Erschrocken ließ die Dunkelhaarige, nennen wir sie Mona, die Flasche mit dem zuckerlpinken Diabetesnektar fallen. »Hast du das auch gehört?«, flüsterte sie ihrer rothaarigen Freundin Lisa zu und beugte sich dabei so weit zum Bildschirm, dass Lisa nur mehr ihre Nase sehen konnte.

Die Angesprochene zuckte automatisch vor der Riesennase zurück, den Flaschenöffner immer noch fest umklammert und zum Zustechen bereit. »War das bei dir oder bei mir?«, flüsterte sie zurück und blickte sich hektisch um. Niemand war zu sehen, doch alle Kerzen waren erloschen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Mona. Auch sie blickte sich um und bemerkte, dass das Feuer im Kamin nicht mehr brannte. »Mein Feuer ist ausgegangen!«, rief sie.

»Meine Kerzen auch!«

»Lisa, das ist nicht komisch!«, kreischte Mona. »Überhaupt nicht komisch!« Dann sprang sie auf und schaltete das Licht an. Doch mit einem Knall zersprang die Glühbirne und der Raum war wieder dunkel, bis auf das schwache Licht des Computerbildschirms. Mona schrie auf. »Lisa, was ist da los? Was hast du getan?«

»Ich? Was ich getan habe?« Auch Lisa war aufgesprungen, um das Licht anzumachen, doch jetzt traute sie sich nicht mehr. »Ich habe überhaupt nichts getan! Wie kommst du nur auf diese blödsinnige Idee?«

Mona setzte sich wieder vor den Laptop. »Weil du diese komische Karte gezogen hast.«

»Aber doch nur, weil du das wolltest! Und du warst es, die von der magischen Nacht Samhain gefaselt hat. Vielleicht …«

Bevor Lisa ihren Satz beenden konnte, ertönte wieder das diabolische Lachen, und eine tiefe Stimme sagte: »Ach, die Damen sind sich uneins, wer mich denn gerufen hat. So sei euch gesagt, mich kann kein menschliches Wesen herbeirufen. Ich suche mir meine Opfer schon selbst aus!«

Die Bildschirme beider Laptops begannen zu flimmern und plötzlich erschien eine hässliche Kreatur darauf. Der Unterleib bestand aus zwei schwarz behaarten, nackten Beinen, die nur teilweise von einem zerrissenen Rock verdeckt wurden, die Füße steckten in zerlumpten Turnschuhen. Der Oberkörper war eingezwängt in ein kunterbuntdreckiges Korsett, aus dem am Rücken zwei spitze Flügel ragten. Die Krönung war jedoch der Kopf des Wesens. Ein Skelettgesicht umrahmt von goldlockigem, langem Haar.

Erschrocken klappten Mona und Lisa ihre Laptops zu. Was jedoch dazu führte, dass die hässliche Kreatur mit einem lauten Schmatzer aus den Bildschirmen flutschte und plötzlich leibhaftig in den Wohnzimmern der beiden stand. Die Frage, wie das möglich sein konnte, war aufgrund der Tatsache, dass es überhaupt möglich war, eher zweitrangig.

Mit zitternden Händen griff Mona nach ihrem Handy und rief Lisa an. »Steht dieses Ding aus dem Computer auch bei dir im Wohnzimmer?«, fragte Lisa, noch bevor Mona es tun konnte.