Finstermord - Kathrin Fuhrmann - E-Book
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Finstermord E-Book

Kathrin Fuhrmann

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Beschreibung

Ein Mord, der die tiefsten Überzeugungen der Ermittler in Frage stellt …
Der packende Kriminalroman zum Miträtseln!

Als im Schlosshotel Hohensyburg die grausam zugerichtete Leiche einer jungen Frau entdeckt wird, übergibt die Mordkommission den Fall an das ungleiche Ermittlerduo Holger Pagel und Ivy de Vine. Während der alteingesessene Pagel an eine naheliegende Beziehungstat glaubt, zweifelt seine junge Kollegin an der Schuld des Verdächtigen. Ivys furchtloser Instinkt treibt sie voran, um den brutalen Mord aufzuklären und den Täter zu überführen. Doch je tiefer sie gräbt, desto mehr verwickelt sich die Geschichte in einem Netz aus Lügen und Geheimnissen. Schließlich enthüllt sich eine grauenhafte Wahrheit, die alles in den Schatten stellt …

Erste Leser:innenstimmen
„Die Ermittler sind ein unschlagbares Duo und die Wendungen in der Geschichte sorgen für permanente Spannung. Ein Muss für Krimi-Fans!“
„Ein atemberaubender Krimi, der von Anfang bis Ende fesselt!“
„Entführt in eine Welt voller Geheimnisse und Ivy de Vine beweist, dass Intelligenz und Beharrlichkeit mächtige Waffen sind. Dieser Krimi hält, was er verspricht!"

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Seitenzahl: 495

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Über dieses E-Book

Als im Schlosshotel Hohensyburg die grausam zugerichtete Leiche einer jungen Frau entdeckt wird, übergibt die Mordkommission den Fall an das ungleiche Ermittlerduo Holger Pagel und Ivy de Vine. Während der alteingesessene Pagel an eine naheliegende Beziehungstat glaubt, zweifelt seine junge Kollegin an der Schuld des Verdächtigen. Ivys furchtloser Instinkt treibt sie voran, um den brutalen Mord aufzuklären und den Täter zu überführen. Doch je tiefer sie gräbt, desto mehr verwickelt sich die Geschichte in einem Netz aus Lügen und Geheimnissen. Schließlich enthüllt sich eine grauenhafte Wahrheit, die alles in den Schatten stellt …

Impressum

Erstausgabe November 2023

Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-585-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-956-4

Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Maryia Bahutskaya, © dottedyeti, © jomphon depositphotos.com: © saiko3p shutterstock.com: © xpixel, © Wangkun Jia Lektorat: Buchgezeiten

E-Book-Version 23.06.2025, 22:45:05.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Finstermord

Prolog

Dortmund-Syburg, Parkhotel Hohensyburg, Sonntag, 14.05., gegen 23 Uhr

Marius schrak auf. Erst konnte er nicht sagen, was ihn geweckt hatte, aber während seiner Nachtschicht im Parkhotel Hohensyburg kam es regelmäßig zu nächtlichen Unterbrechungen. Es half auch nicht, dass er stets mit offenem Fenster schlief, schließlich war der beliebteste Treffpunkt der Dorfjugend gerade mal einen Steinwurf entfernt. Außerdem sollte er während der Arbeit natürlich auch nicht schlafen, sondern an der Rezeption sitzen oder Rundgänge absolvieren. Er sprang besorgt aus dem Bett. Das Zimmer im Erdgeschoss des Hotels lag günstig nur wenige Schritte von seinem Arbeitsort entfernt und wurde in der Regel von Personal genutzt, das nach einer langen Schicht nicht mehr nach Hause fahren wollte – und war nicht dazu gedacht, dass er sich während der Arbeitszeit aufs Ohr haute. Dies hatte ihm Corinna, seine Chefin, bereits mehrfach vorgehalten. War sie wieder zurückgekommen, um ihn zu kontrollieren? Nach ihrem Streit bei Schichtbeginn war sie wütend davongebraust und sie war keine Person, die sich ertappen ließ, ohne zu einem Gegenschlag auszuholen. Er traute ihr zu, dass sie einen Grund suchte, ihm ein schlechtes Arbeitszeugnis auszustellen oder ihm fristlos zu kündigen. Das Hotel schloss zwar am nächsten Tag für eine verlängerte Restaurierungsphase und er hatte sich schon längst eine Alternative gesucht. Trotzdem verließ ihn das mulmige Gefühl nicht und er lauschte angestrengt, wobei er sich sein Jackett anzog. Das Zeugnis war ihm schon wichtig, und es gab noch einen Grund, auf der Hut zu sein. Er traute seiner Chefin zu, zu ihm ins Bett zu kriechen, und die Vorstellung war dann doch jeden unangenehmen Schauer wert, der derzeit über seinen Rücken kroch. Er schüttelte sich, aber die Gänsehaut verzog sich nicht. Er wollte wirklich nicht handgreiflich werden müssen, um sie sich vom Hals zu halten. Beim letzten Mal war das bereits schwierig gewesen, aber sie war zur Vernunft gekommen. Oder auch nicht, schließlich war sie ihm heute erst wieder auf die Pelle gerückt.

Marius strich sich durch das verwuschelte Haar, damit es nicht unordentlich wirkte, und verließ das Zimmer.

Auf dem Weg durch den Flur richtete er sein Namensschild und stockte, als er ein Rumpeln vernahm. Er sah nach oben. Er befand sich im Erdgeschoss und im Haupttrakt des Hotels, nur wenige Schritte von der Halle und der Rezeption entfernt. Zwar gab es Zimmer über ihm, aber die waren nicht belegt. Die letzten Gäste waren im Südflügel untergebracht, und der Rest des Hotels befand sich bereits in einem Zustand des Umbruchs. Einige Zimmer standen komplett leer, in anderen waren die Möbel zu deren Schutz abgedeckt worden. Über ihm sollte in der Nacht Totenstille herrschen. Ein Schauer kroch über seinen Nacken und einen Moment lang nagte ein unheimliches Gefühl an ihm. Es gab einen uralten Schinken, einen Horrorfilm, dessen Handlungsort ein abgeschiedenes Hotel war, und eine der bekanntesten Szenen der Filmgeschichte spielte sich vor seinem inneren Auge ab. Dann schüttelte er die Kälte ab und nannte sich einen Idioten. Das Hotel war, abgesehen von ihm und den beiden Gästen im Südflügel, leer. Entweder hatte sich einer der beiden verirrt oder jemand spielte ihm einen Streich. Und er würde sich nicht blamieren, indem er sich in die Hose machte, weil er etwas zu hören meinte! Mal abgesehen von den Tieren, die hin und wieder einen Weg ins Haus fanden. Verfluchte Waschbären, die auf der Suche nach Essbarem alles annagten und umwarfen. Und wie oft waren die Reinigungskräfte von Eichhörnchen und Ähnlichem aufgeschreckt worden?

Wie auf Kommando krachte es über ihm. Ein schauderhaftes, kreischendes Lachen ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren und er erstarrte, den Blick noch an die Decke gerichtet. Das hörte sich eher nach Hitchcock an und nicht nach Stephen King.

Wieder sagte er sich, dass seine Fantasie überschäumte. Dies hier war ein schlechter Scherz seiner ehemaligen Kollegen und er würde nicht wie ein Feigling davonlaufen. Er streckte die verspannten Schultern und ging langsam weiter. Die Türklinke zum Treppenhaus rutschte ihm aus der Hand, so feucht waren seine Handflächen. Er stemmte sich mit der Schulter gegen das Türblatt und sah sich um. Das Licht sprang auch hier automatisch an. Marius fasste nach dem Handlauf und stockte bereits auf der ersten Stufe. Er sah sich wieder um und blickte einen Moment lang direkt in die Linse der Überwachungskamera. Sie blinkte nicht. Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken. Seit wann war die Kamera kaputt? War sie nicht an gewesen, als er vor seinem Nickerchen durch das Haus gegangen war?

Marius sah die Treppe hinauf. Er verspürte einen unglaublichen Unwillen, hochzugehen, aber das war sein Job. Er musste nach dem Rechten sehen. Oder die Polizei rufen? Wegen Waschbären, Eichhörnchen oder ehemaligen Kollegen, die sich einen Spaß erlaubten? Er machte sich lächerlich.

Marius setzte ein spöttisches Grinsen auf und zwang sich, die Stufen hinaufzulaufen. Mit demselben enthusiastischen Schwung riss er die Tür im ersten Stock auf und sprang in den Flur. Das Licht flackerte. Ein Windhauch strich über seine Wange und ließ ihn frösteln. Ein ungewohnter Beigeschmack, der sich nicht zuordnen ließ, lag in der Luft. Aber niemand stand im Flur oder versteckte sich hinter der Tür zum Treppenhaus. Sein Blick schoss über den dunkelbraunen Teppich, dann über die halbhohen Wandpaneele an seiner rechten Seite. Es war niemand zu sehen, aber das bedeutete nicht zwingend, dass kein Ex-Kollege hier war. Es war gut möglich, dass einer von ihnen noch einen Schlüssel hatte und sich in einem der Zimmer versteckt hielt. Mit jedem Atemzug sog er mehr von diesem leicht metallischen Geruch ein, der sich nun mit einer scharfen Note mischte, die er sehr wohl erkannte. Chlorreiniger. Sein Magen drehte sich um, aber ihm kam gleich eine einleuchtende Erklärung in den Sinn: Waschbären, die in einem der Abstellräume die Flaschen angenagt hatten. Tatsächlich hatten sie in letzter Zeit häufiger mit tierischem Vandalismus zu tun, und einmal war der Übeltäter von den Überwachungskameras aufgenommen worden.

Marius’ Lachen klang überreizt, aber er brauchte den Ausbruch, um zumindest einen Teil seiner Anspannung loszuwerden. Er sah sich erneut um und erinnerte sich daran, dass er nicht wie ein Angsthase dastehen wollte. Dass es genügend gute Gründe gab, warum das Licht flackerte, Chlorreiniger in der Luft lag und offenbar irgendein Fenster offen stand, das für den beständigen Luftzug sorgte, der nun seine Stirn trocknete.

Langsam ging er den Gang entlang und fand eine angelehnte Tür. Als Marius den Spalt vergrößerte, machte ihn das Licht, das aus dem Zimmer fiel, auf eine rötlich-bräunliche Verfärbung in ungefährer Hüfthöhe am Türrahmen aufmerksam. Seine Fingerspitzen, die am Türblatt und nicht an der Klinke lagen, kribbelten und sein Puls sprang in die Höhe. Er zog die Hand zurück und presste sie sich auf den Bauch. Der Schauer war zurück, stoppte aber nicht wie zuvor an seinem Hals, sondern wanderte mit erschütternder Intensität seine Wirbelsäule herab. Und was war das? Ein leises Hauchen. Atmete da jemand?

Sein Herz begann zu rasen und er sog mit jedem schneller werdenden Atemzug mehr des merkwürdigen, mit Chlor gepaarten Geruches ein, der hier auch deutlich stärker war als beim Treppenhaus.

Metallisch.

Blut.

Marius keuchte und torkelte zurück, bis er gegen die Wand stieß. Sein Blick schoss den Weg entlang, den er gekommen war, aber sein Kopf mahnte ihn, dass das nächstgelegene Treppenhaus zur anderen Seite lag. Er musste lediglich um die Ecke, nur wenige Schritte. Marius drehte den Kopf mit einem schmerzhaften Ruck, um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich viel näher an dem Seitentreppenhaus und dem daneben befindlichen Fahrstuhl war als an jenem, das direkt neben der Rezeption hinaufführte.

Er schluckte und tastete sich vorsichtig weiter. Das flackernde Licht spielte mit ihm. Er meinte Schatten zu sehen, die jedoch nach einem Blinzeln wieder verschwunden waren. Marius drückte sich in die Türzarge des letzten Zimmers vor dem Knick des Flurs und schloss die Lider. Der Gestank verschlug ihm den Atem und er öffnete die Lippen, um durch den Mund Luft in die Lunge zu ziehen. Es half nicht, weckte lediglich seinen Brechreiz.

Wenige Schritte trennten ihn noch von seinem Ziel und er spitzte die Ohren. Ganz egal, was hier los war, er konnte sich nicht sicher sein, dass sich hier oben niemand befand und er sich das Atemgeräusch aus dem Zimmer nur eingebildet hatte. Er reckte den Hals und sah den Flur entlang. Die Lampe des Notausgangzeichens glühte gespenstisch grün und gab ihm Hoffnung. Jedoch nur für diesen einen Moment, denn nach einem Blinzeln bemerkte er etwas im flackernden Licht der Deckenlampen, das auf Höhe des Treppenhauses wieder in eine stetige Beleuchtung überging. Etwas, das dort nicht hingehörte.

Bei näherem Hinsehen erkannte er, was es war. Ein Körper, was das eine ausgestreckte Bein bezeugte. Er schrie und rannte, so schnell er konnte, in die Richtung, aus der er gekommen war.

Kapitel 1

Dortmund-Syburg, Parkhotel Hohensyburg, Montag, 15.05., gegen 10 Uhr

Ivy stieg aus dem Wagen und ließ den Blick über den Parkplatz wandern. Er war von hohen, blühenden Kastanienbäumen gesäumt und damit von der Straße aus nicht zu sehen. Ebenso wenig wie das Parkhotel Hohensyburg, zu dem sie gerufen worden war. Ivy atmete tief durch. Ein Mordfall erwartete sie, so weit war sie bereits instruiert. Leider hielt ihr Partner – oder Lehrmeister, wie er sich gern selbst nannte – nichts davon, sie vorbereitet zu einem Tatort kommen zu lassen.

Sie fasste rasch ihr Haar zusammen, damit es ihr nicht ins Gesicht fiel, und griff in ihre Tasche, um zwei Paar Einweghandschuhe herauszuziehen – schließlich wusste man nie, was einen erwartete, und die Notwendigkeit, die Handschuhe wechseln zu müssen, weil man sie einsaute, war immer möglich –, dann erst verschloss sie ihren Smart und wandte sich dem Hotel zu, einem dieser alten, ehrwürdigen Gebäude mit hohen Fenstern und Simsen auf jeder der drei Etagen. Es war sicher mindestens zwei Jahrhunderte alt, zugig und geschichtsträchtig. Auf dem Weg hierher war sie an urigen Fachwerkhäusern, Wald und Feldern vorbeigefahren, damit befand sie sich nicht mehr in der Zivilisation, sondern deutlich mitten im Nirgendwo.

Der Parkplatz des Parkhotels lag zum Nordflügel und damit musste sie halb um das Gebäude herum, damit sie das Hotel durch den Haupteingang betreten konnte. Der Schotter des Weges war überwuchert mit Unkraut und auch das Gemäuer machte einen schäbigen Eindruck. Ein Fenster war eingeschlagen und schien lediglich mit einer Pressspanplatte gesichert worden zu sein. So deutlich ließ sich das nicht bestimmen, da es hinter einer Wand aus Efeu verborgen war.

Wenn man nicht auf der Suche nach Nervenkitzel war, suchte man sich mit Sicherheit eine andere Unterkunft, und somit wunderte es Ivy nicht, dass das Hotel vor der Schließung stand.

Die Tür knarrte und jeder Schritt hallte im leeren Foyer wider. Die Decke lag hoch und formte ein Gewölbe. Christliche Szenen waren in verblassenden Farben aufgemalt und von Stuck eingerahmt. Säulen wuchsen aus dem Boden und fügten sich nahtlos in das Kunstwerk ein. Allerdings waren sie nur auf den ersten Blick makellos. Risse waren notdürftig aufgefüllt worden und zeigten sich auch in dem Bildnis, wenn man sich die Zeit nahm, lange genug hochzustarren.

Ivy runzelte die Stirn. Sie hatte sich die Fakten rund um das Parkhotel vorlesen lassen und wusste, dass es einhundertfünfzig Jahre in Familienbesitz gewesen war. Es hatte in den Fünfziger- und Sechzigerjahren als das Nobelhotel der Stadt gegolten. Als das Casino in den Achtzigern errichtet worden war, hatte auch das Hotel einen weiteren Boost bekommen, seither hatte es an Bedeutung verloren. Es hatte bis zum heutigen Tag zwar einen gewissen Komfort und einen ausreichenden Spa-Bereich geboten, aber die Abgeschiedenheit des Stadtteils hatte ein Verweilen zunehmend unattraktiv gemacht.

»Frau de Vine, träumen Sie?«

Ivy hoffte, ihr Zusammenzucken war nicht allzu offensichtlich gewesen, und richtete ihren Blick auch nur langsam auf den Kollegen. »Ich sehe mich um«, korrigierte sie leichthin.

»Der Tatort ist oben.« Maik Fischer deutete an die Decke. Er war ein kleiner, rundlicher Mann, der erstaunlich filigran vorgehen konnte, wenn es sein Job bei der Spurensicherung verlangte. Vom Gemüt her ähnelte er jedoch ihrem Partner und die beiden standen im beständigen Austausch, wie sie sehr wohl wusste. »Erster Stock.« Sein lauernder Blick erinnerte sie daran, dass sie immer noch auf dem Prüfstand war und sich ihren Platz im Team noch verdienen musste.

»Danke, Kommissar Fischer.« Sie hütete sich davor, ihn um eine Einschätzung zu bitten, denn jede Nachfrage legte man ihr als Unfähigkeit aus. »Ich finde den Weg.« Sie nickte ihm noch zu, bevor sie zielstrebig das Treppenhaus ansteuerte. Sie verbat sich den Blick zurück und zwang sich, ihrer Unsicherheit keinen Raum zu gewähren. Sie wusste nicht, wo genau der Tatort lag oder was sie dort erwartete, aber sie durfte sich nicht in ihrer Komfortzone ausruhen, also in einer überschaubaren, kontrollierbaren Umgebung agieren. Zumindest hielt ihr Partner ihr ständig vor, dass sie lediglich auf dem Papier Fälle zu lösen vermochte, aber in der kalten, nackten Realität versagen würde. Sie sei nicht in der Lage, flexibel zu denken und ihr Handeln der Situation anzupassen.

Ivy vertrieb die Erinnerung, die sie tatsächlich ablenkte und ihr Vermögen hemmte, zielgerichtet zu denken. Jegliche Sorge, den Tatort nicht zu finden, verflog ohnehin, kaum dass sie das erste Stockwerk erreichte. Der Geruch nach Bleichmittel und Blut erfüllte die Luft und ein geschäftiges Gemurmel war zu hören.

Sie wischte sich die Hände an ihrer Hose trocken. Sie konnte das! Sie wollte genau diesen Job machen und war mehr als fähig, logisch zu denken und sich in Täter hineinzuversetzen.

Rot-weiß gestreiftes Absperrband gab dem Flur Farbe und sie hob es an, um darunter hindurchzuschlüpfen. Dabei sah sie sich eilig um. Der Gang war lang und führte dann um die Ecke. Genau dort stand eine Gruppe Männer beisammen, die miteinander sprachen. Unter ihnen Holger Pagel, ihr unleidlicher Partner, und Laurenz Bierwisch. Letzterer gehörte zum Kriminaldauerdienst, der Einheit, die Todesfälle in natürlich und unnatürlich einordnete und deren Mitarbeiter damit die ersten Ermittler bei jedem Leichenfund waren. Ivy fing seinen Blick auf und hob das Kinn. Sie hatte sich zwar an höhnische Bemerkungen gewöhnt, sich aber noch nicht mit ihnen abgefunden.

Pagel wurde ebenfalls auf sie aufmerksam. »Ah, Frau Kollegin, haben Sie Ihren Weg doch noch gefunden?« Auch die anderen drei Männer der Gruppe drehten sich nun zu ihr um und musterten sie. Bei zweien hellten sich die Mienen auf, der dritte blieb unbeeindruckt, nickte ihr aber immerhin knapp zu. Da der diensthabende Gerichtsmediziner Frank Liebermann sie gewöhnlich komplett ignorierte, fühlte sie sich gleich wieder eine Nuance besser. Etwas Anerkennung brauchte sie im Umgang mit den altgedienten Kollegen Pagel und Bierwisch dringend, auch wenn es ein simples Nicken war.

»Lassen wir den Small Talk.« Ivy wandte sich an die unbekannten Herren. »Guten Morgen. Kommissarin Ivy de Vine.«

Wie erwartet stellten sich die Männer vor.

»Kommissar Adam Jahn, guten Morgen.« Der blonde Mittdreißiger grinste breit. Er war etwa einen Meter fünfundsiebzig groß – wodurch er nur ein kleines Stück größer war als Ivy – und weder besonders kräftig noch besonders schlank. »Sie sind also die aufgeweckte Kollegin?«

»Ignorieren Sie ihn. Er kann nicht anders, bei hübschen Frauen verwandelt er sich in einen Neandertaler. Ich bin Kommissar Carsten Wendt. Wir sprachen letzte Woche miteinander.« Er lächelte sie warm an. Er war etwa einen Meter achtzig groß und kräftig, wenn auch nicht muskulös, sein dunkles Haar wellte sich leicht und fiel ihm in die hohe Stirn.

Ivy nickte Wendt zu, der ihr vom Alter her am nächsten sein sollte. »Stimmt. Sie haben mir das Leben gerettet. Ich dachte, ich hätte die gesamte IT-Infrastruktur des Hauses geschrottet.«

Wendt zwinkerte. »So schlimm war es dann doch nicht.«

Er ging auf ihre nicht ernst gemeinten Worte ein, ganz wie sie gehofft hatte. Eigentlich war sie gut darin, das Eis zu brechen, nur bei den älteren Herren in ihrer Einheit versagte sie kläglich.

Ivy sah sich erneut um, aber wie bei dem ersten Rundumblick konnte sie nichts Besonderes erkennen. Dies war ein gewöhnlicher Flur, wie er sich in jedem Hotel dutzendfach finden ließ. Gestreifte Tapeten, braune, halb hohe Wandpaneele, direkt darüber eine Stuckborte, Hinweisschilder an den Wänden und ein zerschlissener, stellenweise fleckiger Teppich. Ivy sah genauer hin. Dies waren Flecken, die sich nicht in jedem Hotelflur finden sollten. Sie machte einen Schritt zur Seite und verfolgte irritiert die Spur mit dem Blick. Sie führte von dem Zimmer zur Rechten um die Ecke.

»Warum wagen Sie sich aus Ihrem Bau?«, wandte sie sich wieder an Wendt, um zunächst ihren vorherigen Gedanken zu Ende zu bringen. Die Cyber-Ermittler machten schließlich selten Außendienst.

»Das Überwachungssystem ist altbacken.« Wendt räusperte sich. »Zu altbacken.«

Pagel schnalzte. »De Vine, versuchen Sie wieder, Ihre Aufgabe andere erledigen zu lassen?«

Ivy atmete ein und entließ den Atem langsam wieder, bevor sie sich an ihren Partner wandte. »Teil meiner Aufgabe ist es, die Informationen zusammenzutragen und sie zu analysieren. Die Überwachungsvideos eigenständig zu sichten oder sogar die Autopsie selbst durchzuführen, gehört nicht dazu. Ich nutze die Expertise meiner überaus fähigen Kollegen.«

»Die Ihre Unzulänglichkeiten auswetzen.« Pagel wippte auf seinen Füßen vor und zurück und wirkte äußerst zufrieden mit sich. Er feixte und seine verwaschenen grauen Augen strahlten. Er war schmal und länglich und überragte sie deutlich, auch wenn sie für eine Frau hochgewachsen war. Den meisten Männern begegnete sie auf Augenhöhe.

Ivy lächelte gezwungen. »Soll ich mir die altbackene Überwachungsanlage mal anschauen? Damit Sie sagen können, dass ich meine Zeit mit Dingen vertrödle, die die Kollegen bereits gecheckt haben?«

Pagel überraschte sie, indem er ihr zuzwinkerte. »Wir sollten keine Zeit vertrödeln.«

»Fein.« Ivy deutete auf die Flecken auf dem Boden. »Wo ist der Tatort? Oder soll ich der Blutspur folgen und mich überraschen lassen?«

»Haben Sie Fischer getroffen?« Pagels buschige Brauen wanderten in die Höhe.

»Ja, aber ich habe nicht mit ihm gesprochen.«

Dies brachte ihren Partner wieder dazu, breit zu lächeln. Seine Hand vollführte einen Schwung. »Bitte.«

Ivy war auf der Hut. Seine gute Laune konnte nur einen Grund haben: Es wartete eine unangenehme Überraschung auf sie.

»Wurden die Überwachungsbänder gesichtet?«, fragte sie noch, wobei sie sich bereits abwandte und den Blutspritzern mit dem Blick folgte. Die Tür, von der die Blutspur wegführte, war ebenso geschlossen wie alle anderen auf diesem Flur, trotzdem lag es nahe, dass sich ein Teil der hier vorgefallenen Geschichte in diesem Raum ereignet hatte.

»Ja, aber …«

»Lassen wir Frau de Vine doch ihre eigenen Schlüsse ziehen«, unterbrach Pagel den Kollegen. Wieder bedeutete er ihr, dass sie fortfahren solle. »Nur zu. Die Forensik ist durch.«

Ivy suchte den Blick des Gerichtsmediziners, der lediglich die Lippen zusammenpresste.

»Liebermann auch«, versicherte Pagel und scheuchte Ivy los. »Wir wollen doch nicht noch mehr Zeit vertrödeln?«

Sie entschied sich dazu, zunächst der Blutspur zu folgen, die vom Zimmer wegführte. Ivy ging den Flur entlang bis zur Ecke. Einige Meter weiter befanden sich ein Treppenhaus und ein Lift. Sie stockte, kaum dass sie den abknickenden Gang betreten hatte, und ballte die Fäuste. Wie erwartet hatte ihr Partner sie direkt in die Falle laufen lassen. Oder besser in die grausame Realität dieses Mordfalls. Dass es sich hier um einen Mord handelte, verriet natürlich bereits ihre Anforderung, aber selbst Bierwisch vom Kriminaldauerdienst hatte sicher nur einen Blick gebraucht, um den Fall als unnatürlichen Todesfall zu klassifizieren.

Ivy trat an den Körper heran, der leicht als weiblich zu identifizieren war. Neben den langen, blonden Haaren, die das Gesicht verbargen, und den nackten, wächsernen Beinen bezeugten die breite Hüfte und die schmale Taille, dass es sich hier um eine Frau handeln musste. Ivy kniete sich zu der Leiche und zog sich dabei die Einweghandschuhe über. Dann hob sie die verkrusteten Strähnen an, um dem Opfer in das bleiche Gesicht schauen zu können. Blaue, in purem Horror aufgerissene Augen starrten ihr entgegen. Keine einzige Falte zeigte sich in den weichen Zügen, die noch nicht aus dem Kindchenschema herausgewachsen waren.

»Ein Kind.« Ivys Magen verknotete sich. Zwar war ihre Feststellung etwas übertrieben, das Mädchen mochte durchaus sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein, aber letztlich änderte dies nichts daran, dass sie viel zu jung war, um tot zu sein. Ivy legte die Strähnen vorsichtig wieder ab und ließ ihren Blick langsam über den Körper wandern. Das Mädchen trug ein Hemd, das wohl weiß gewesen war, bevor es durch das Blut seiner Trägerin eingefärbt worden war. Durch lange Risse im Stoff konnte man sehen, dass sie nichts darunter trug. Keinen Büstenhalter, nicht einmal einen Slip. Sie hatte nichts am Leib als ein zu großes Hemd.

Ein Herrenhemd? Hatte sie sich mit ihrem Liebhaber getroffen und war das Date dann eskaliert?

Ivy befasste sich mit den Wunden. Ein tiefer Einschnitt zeigte sich gleich auf der Schulter, aber es war nicht die einzige Läsion. Sie zählte drei tiefe Wunden, ohne die Leiche zu bewegen, und vermutete, dass sie mehrere weitere Stiche oder vielleicht auch Hiebe mit einer Klinge aufwies. Generell waren die Verletzungen zu lang für einen Stich, sahen aber zu tief aus für einen Hieb oder Streich mit einer längeren Klinge wie zum Beispiel einem Schwert. Ein sonderbarer Gedanke, wer wurde heutzutage schon noch mit einem Schwert erschlagen?

Ivy senkte den Blick auf den vollgesogenen Teppich. Seine dunkelbraune Färbung versteckte das Ausmaß der Lache, aber auch so war deutlich, dass das Mädchen hier die letzten Streiche eingesteckt haben musste und wohl auch an dieser Stelle ihren multiplen Verletzungen erlegen war. Sie streifte die blutbesudelten Handschuhe ab und ersetzte sie durch frische.

»Gab es eine letale Verletzung oder ist sie aufgrund des Blutverlusts gestorben?« Letztlich war es unerheblich, da die Antwort nichts daran änderte, dass hier ein junges Leben tragisch zu Ende gegangen war. Sie erhob sich und betrachtete die Wandpaneele, die neben einem verschmierten Handabdruck und einigen Kerben auch kleine Blutspritzer aufwiesen. Sie gingen hoch bis zur Decke. Ivy drehte sich um, aber wenn es auch Spritzer auf der gegenüberliegenden Wand gab, dann waren sie mit bloßem Auge nicht zu sehen.

»Ich habe mit einer anderen Frage gerechnet.« Pagel blieb neben ihr stehen. Mit in die Hüfte gestemmten Händen sah er auf das Mädchen herab.

»Wurde die Mordwaffe gefunden?« Ivy ließ ihn stehen und folgte der Blutspur zurück zu der Zimmertür. Sie drückte die Klinke herunter und schob die Tür auf. Dabei spürte sie einen Gegendruck, der auf eine automatische Schließfunktion hinwies. Ivy trat ein, und Pagel folgte ihr. Ein altmodischer Schlüssel steckte von innen im Schloss. Irritiert ließ sie den Blick schweifen. Dafür, dass die Forensik durch war, lag erstaunlich viel herum, was durchaus als Beweis aufgenommen werden konnte.

Es war nicht sofort zu erkennen, ob ein eventueller erster Angriff hier erfolgt sein könnte. Dafür hatte die Spurensicherung ein zu großes Chaos hinterlassen. Eine Hose lag auf dem Boden neben dem Bett, von dem sowohl das Laken als auch das Bettzeug heruntergerissen worden waren. Die Decke und ein Kissen verteilten sich auf der zum Fenster gelegenen Seite. An der Stuhllehne und dem Schreibtisch gab es Spuren von Fingerabdruckpulver. »Welche Gegenstände wurden eingetütet?« Und warum waren wichtige mögliche Beweisträger eben nicht eingesammelt worden?

Pagel wippte fröhlich auf den Füßen vor und zurück. »Was denken Sie, welche Dinge Beweiskraft hätten?«

Ivy runzelte die Stirn und nahm noch einmal das Zimmer in Augenschein, während sie auflistete, was offensichtlich sein sollte. »Ein zweites Kissen. Unterwäsche. Ihr Oberteil. Persönliche Gegenstände wie Schlüssel, Portemonnaie und Handy.«

»All das wurde gesichert, keine Sorge.«

Sie schob die Tür zum Badezimmer auf. »Hat sie geduscht?« Zumindest die Kalkspuren an der Glaswand deuteten darauf hin. Hier war der Geruch nach Bleichmittel so stark, dass er Ivy auf den Magen schlug und in den Augen brannte.

»Wie lautet Ihre Theorie?«, fragte Pagel mit einem selbstzufriedenen Grinsen auf den Lippen.

»Ich habe zu wenige Anhaltspunkte, um mich bereits auf eine Theorie zu stürzen.« Ivy begegnete seinem Blick. »Ich ziehe es vor, offen für alle Möglichkeiten zu bleiben.«

Pagel zuckte die Achseln und deutete in den Flur. »Hören wir uns an, was Bierwisch bisher herausfinden konnte.«

Ivy folgte ihm, blieb in der Tür aber noch einmal stehen. Am Rahmen klebte Blut. War der erste Angriff hier erfolgt? Sie musterte eilig den Teppich und die Wand zwischen den Eingängen zum Zimmer und zum Bad.

»De Vine, heute noch?«, rief Pagel fröhlich.

»Gibt es Hinweise auf Blut im Bad?«, fragte sie, als sie sich zu den Männern gesellte. »Oder wurde gründlich geputzt?« Wo kam das Reinigungsmittel her? Sie brauchte dringend einen genauen Überblick über die Räumlichkeiten. Möglich, dass der Hauswirtschaftsraum ganz in der Nähe war. Und zufällig offen gestanden hatte? Kannte sich der Täter womöglich gut genug aus, um benötigtes Material schnell zu finden? Oder war alles mitgebracht worden? Eine Tat mit Vorsatz?

Ivy mahnte sich, keine vorschnellen Schlüsse aus den wenigen Fakten zu ziehen, die vorlagen.

Bierwisch nickte. »Es gab Verkrustungen an den Armaturen, die nicht abgewischt worden sind. Ansonsten wurde nicht an Bleichmittel gespart. Bisher sind keine Fremdspuren ersichtlich …«

»Das zeigt die DNA-Analyse«, murmelte Ivy, da es viel zu früh war, um Spuren definitiv auszuschließen.

»Richtig. Wir haben mit dem Nachtportier gesprochen. Marius Novak. Er hat die Leiche gefunden. Laut erster Identifikation handelt es sich dabei um eine Lena Brahms.« Er schlug sein Notizbuch auf. »Wir haben die Eltern aufs Revier gebeten.«

»Die Erstidentifikation erfolgte wodurch?«, hakte sie nach, auch wenn zu vermuten war, dass ihr Ausweis gefunden worden war. Ivy korrigierte sich sofort. Es handelte sich um ein Kind, und diese führten maximal ihre Mobiltelefone spazieren.

»Herrn Novak«, sagte Bierwisch mit einem Schulterzucken. »Er nannte den Namen des Opfers bereits in seinem Notruf.«

Ivy nickte, obwohl sie durchaus noch Fragen dazu hatte. Woher kannte Herr Novak wohl das Opfer?

»Was wissen wir über die Kleine?«, fragte Pagel und verengte dabei die Augen. »Was hatte sie hier verloren?«

»Steht nicht fest«, gab Bierwisch zurück. »Die Mutter, Corinna Brahms, ist die Managerin des Hotels. Wir haben nicht mit ihr gesprochen. Es ist dann wohl euer Job, herauszufinden, was das Mädchen hier mitten in der Nacht verloren hatte.«

So gut wie nackt, wohlgemerkt. Ivy sah zur Zimmertür. »Wie ist sie ins Haus gekommen, ohne dass der Portier es bemerkte? Oder hat er sie reingelassen?« Auf ein Zimmer. Eigentlich gab es keine gute Erklärung für ihre Anwesenheit außer der einen: Sie war verabredet gewesen. Vermutlich mit dem Portier. Ivy schüttelte leicht den Kopf. »Was zeigen die Überwachungskameras?«

»Nichts.« Bierwisch deutete mit dem Kopf zu Wendt, der bisher an seinem Pad herumgewerkelt hatte und nun aufschaute.

»Nun, so platt gesagt: Nichts. Aber eigentlich lässt sich sagen, dass niemand das Parkhotel zwischen achtzehn Uhr dreiunddreißig und zwanzig Uhr dreizehn betreten oder verlassen hat.« Wendt drehte sein Pad und deutete auf den Zeitstempel des Videos, das auf Pause stand. Es zeigte eine sehr verpixelte Schwarzweiß-Version der Eingangshalle nebst einer Person, die der Aufnahmefokus nur am Rande erfasst hatte.

»Und das ist?«, fragte Ivy. Sie verengte nun ebenfalls die Augen, aber es half nicht, aus dem Gekrissel eine tatsächliche Person zu machen.

»Marius Novak auf dem Weg hinaus.«

»Aha. Warum hinaus und nicht hinein?«

Wendt grinste sie an. »Keine Ahnung.«

Bierwisch verdrehte die Augen. »Ist er auf anderem Weg hinein?«

»Nicht laut den Aufzeichnungen, soweit ich sie gesehen habe. Ich bin noch nicht komplett durch, schließlich habe ich eine Weile gebraucht, um die Videos kompatibel für meine Software zu machen.« Wendt drehte das Pad und drückte es sich an die Brust. »Ich fahre zurück aufs Präsidium und lasse euch wissen, wenn ich noch etwas finde.«

»Moment, Sie sagten, dass niemand nach achtzehn Uhr dreiunddreißig das Hotel betreten oder verlassen hat. Wenn Sie noch nicht durch das komplette Videomaterial sind, lässt sich eben keine Aussage darüber machen, ob nun jemand auf welchem Weg auch immer …« Ivy stoppte in ihrer Ausführung, da Wendt den Kopf schüttelte.

»Wir haben jedes Video manuell in Echtzeit überspielen müssen und dabei nichts bemerkt. Natürlich kann bei zwölf kleinen Schirmen etwas übersehen werden, das zeigt die eingehende Analyse, aber bisher ist der Erkenntnisstand, dass niemand durch die zwei zur Verfügung stehenden videoüberwachten Eingänge – Haupteingang und Personaleingang – kam.« Wendt deutete in die jeweiligen Richtungen.

Was so viel bedeutete wie: Es gab Dutzende andere Wege, die wohl nicht gesichert waren, unter anderem das defekte Fenster, das Ivy auf ihrem Weg um das Hotel herum gesehen hatte. »Ich habe eine Kamera im Treppenhaus bemerkt. Sind alle Aufgänge überwacht?« Zumindest dort müsste man aufgenommen werden, wenn man versuchte, in die oberen Geschosse zu gelangen.

Wendt grinste und tippte auf seinem Pad herum, um es ihr dann unter die Nase zu halten. Von den zwölf Fenstern waren nur neun aktiv und zeigten das Standbild der Kameras. »Ja, oder eher in der Theorie. Es gibt auch Kameras in den Treppenhäusern, den beiden Aufzügen und dem Foyer, neben denen der bereits erwähnten Ausgänge, aber drei der Aufzeichnungen sind korrupt und ließen sich bisher nicht sichten. Die Aufnahmen enden abrupt gegen zwanzig Uhr dreizehn. Gründe bisher ungeklärt.«

Ivy sortierte die Informationen in ihrem Kopf. Es konnte demnach durchaus jemand unbemerkt ins Haus gekommen sein. »Was sagt Novak?«

Bierwisch räusperte sich und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich. »Er hat niemanden bemerkt und hätte es mit absoluter Sicherheit gemerkt, wenn jemand durch das Foyer gekommen wäre. Die Seitentüren sind Fluchttüren und nur von innen zu öffnen.«

»Das defekte Fenster im Erdgeschoss des Nordflügels?«, hakte Ivy nach.

Pagels Blick sprach von Verwirrung.

»Ein Fenster wurde mit einer Platte verbarrikadiert.« Sie zeigte grob in die ungefähre Richtung. »Aus welchem Grund könnten die Kameras alle zur gleichen Zeit ausfallen?«

Wendt verzog die Lippen. »Gute Frage, nächste Frage?

»Wie bitte?«, fragte sie irritiert, schließlich war das keine Antwort und für Flachs hatte sie keine Zeit.

»Ich weiß es nicht«, sagte er mit einem entschuldigenden Unterton. »Das muss ich noch prüfen. Eine Möglichkeit ist, dass die Überwachungsanlage ausgeschaltet worden ist.«

Ivy nickte. Ihr Blick huschte durch den Flur. Liebermann war damit beschäftigt, seinen Gehilfen Anweisungen zu geben, wie der Leichnam verpackt und abtransportiert werden sollte.

Ivy runzelte die Stirn.

»Fein«, griff Pagel fröhlich auf, »dann schicken wir Fischer mal wieder los. Eine Platte vor einem Fenster. Können Sie etwas genauer werden, Frau de Vine? Welches Zimmer … Ach, besser, Sie zeigen es mir und ich gebe den genauen Standort weiter.« Er suchte Bierwischs Blick. »Frauen und Orientierungssinn!« Er lachte.

»Es ist das fünfte Fenster vor der Ecke zur Frontseite.« Ivy bemühte sich, ihren Unmut nicht mitklingen zu lassen.

Pagel verdrehte die Augen. »Na, wir werden sehen. Noch etwas Relevantes, Bierwisch?«

Der Kollege zuckte die Achseln. »Novak begann seinen Dienst um achtzehn Uhr und war allein im Haus. Es gibt zwei Gäste, Klaus Jakubik und Maren Günther. Beide wollen nichts bemerkt haben.«

»Sind die beiden noch vor Ort?«, fragte sie. Sie hatte auf dem Parkplatz keine Personenkraftwagen gesehen und vor dem Hotel hatten nur die Dienstfahrzeuge gestanden.

»Nein.« Bierwisch verengte die Augen. »Es gab keinen Grund, sie an der Abreise zu hindern. Wir haben die Personalien und ihre Reiseziele notiert, falls es zu einem späteren Zeitpunkt noch Fragen geben sollte.«

Ivy nickte nachdenklich. »Wie kam es zum Leichenfund?«, fragte sie nach. »Gibt es verpflichtende Rundgänge? Was suchte Novak hier oben?«

»Er hat etwas gehört.« Bierwisch hob wieder die Schultern. »Gegen dreiundzwanzig Uhr. Er will augenblicklich hochgegangen sein und ist seiner Aussage nach über den Leichnam gestolpert.«

»Fein, wann kann ich mit dem Bericht rechnen?« Pagel rieb die Hände aneinander. »So schnell wie möglich wäre angebracht.«

Bierwisch schnaubte. »Morgen. Frühestens.«

Ivy hörte den Kollegen nicht weiter zu, wie sie um die Abgabe des Übergabeberichts feilschten. Sie ließ sich die bisherigen Erkenntnisse durch den Kopf gehen.

»Herr Novak hat Frau Brahms im Gang gefunden. Demnach war er nicht im Zimmer?«

Pagel stierte sie empört an, während Bierwisch grinste. »Laut seiner Aussage war er nicht im Zimmer.«

»Danke. Kommissar Pagel, ich sehe mich hier noch einen Augenblick um. Soll ich Fischer verständigen, dass es weitere Spuren zu sichern gibt, oder werden Sie …«

»Schauen Sie sich um. Ich kümmere mich um die nächsten Schritte. Da die Eltern des Opfers auf dem Präsidium warten, lassen Sie sich aber nicht zu viel Zeit.« Pagel wandte ihr den Rücken zu und wies Bierwisch noch einmal darauf hin, wie wichtig ihm der Papierkram war.

Ivy nickte den Kollegen aus der IT zu und murmelte eine allgemeine Verabschiedung, bevor sie zurück zum Hotelzimmer ging. Die Tür stand leicht offen. Dies sollte dank der automatischen Schließfunktion gar nicht möglich sein. Sie zog an der Klinke und die Tür ließ sich ins Schloss ziehen. Sie hakte leicht beim Wiederaufdrücken.

War sich Lena Brahms bewusst gewesen, dass die Tür nicht von selbst schloss?

Ivy trat wieder ins Zimmer und schob die Tür zu. Es gab keine Verriegelung, wenn man den Schlüssel nicht drehte. Wenn man nicht wollte, dass jemand hereinkam, schloss man ab. Es sei denn, man erwartete jemanden, der keinen eigenen Schlüssel zum Raum besaß? Da stellte sich gleich die Frage, wer Zugang zu den Ersatzschlüsseln oder dem Generalschlüssel hatte.

Es war schwierig, sich den Raum vor der Spurensicherung vorzustellen, da musste sie auf den Bericht und die dazugehörigen Bilder warten. Trotzdem prägte sie sich ein, wie die Dinge im Zimmer verstreut lagen, und ebenso die Ausrichtung der Möbel.

Lena betritt das Zimmer und schließt ab – oder auch nicht. Sie tut was? Sie zieht ihre Kleidung im Zimmer aus und geht ins Bad, um zu duschen. Danach schlüpft sie in das Männerhemd.

Die Löcher in dieser Theorie klafften gewaltig. Wo war das Hemd hergekommen?

Ihr männlicher Begleiter ist bereits im Zimmer. Was tut er, während sie duscht? Liegt er im Bett? Nach dem Liebesakt?

Dann wäre seine DNA sicherlich auf dem Laken. Was war passiert? Ein Streit unter Liebenden?

Noch immer störte sie, dass offensichtlich versucht worden war, den primären Tatort zu reinigen. War die Mordwaffe unter den Asservaten?

Das Badezimmer war kaum mehr als ein Kabuff. Die Dusche lag am Ende des Raumes, davor zur Linken befand sich das Handwaschbecken und direkt an der Tür die Toilette. Auf der anderen Seite gab es lediglich einen Heizkörper. Auch bei einer genauen Betrachtung fand Ivy kein Blut an der Plexiglasscheibe oder deren Gummilitzen. Gut geputzt oder schlicht von der SpuSi bereits abgetragen?

Was hatte sich hier abgespielt?

Der Täter kommt rein und sticht auf Lena ein.

Vorausgesetzt, dass sie bereits abgetrocknet und in das Hemd geschlüpft war. Warum? Und wie sollte die Klinge der Waffe beschaffen sein, um Verletzungen zuzufügen, wie Ivy sie auf dem Körper des Mädchens gesehen hatte?

Ivy trat zurück ins Zimmer. Fingerabdruckpulver war großflächig auf den Oberflächen verteilt worden. Der kleine Schreibtisch, die Lehne des Stuhls, das Fensterbrett … Einige Abdrücke waren gefunden und abgeklebt worden.

Wieder blieb sie vor dem Bett stehen. Es machte alles den Eindruck, glasklar zu sein. Lena hatte sich mit einem Mann getroffen und die Situation war eskaliert.

Ohne genaue Kenntnisse der Beweise ließ sich schwer einschätzen, ob diese erste vage Theorie in die richtige Richtung ging.

Das Klingeln ihres Telefons riss sie aus den Gedanken. »De Vine«, sagte sie und ließ den Blick noch einmal durch das Zimmer schweifen.

»Fischer«, meldete sich der Kollege von der Spurensicherung. »Sie haben eine Theorie, die ich prüfen muss?«

Ivy sog den Atem ein. Fischer konnte ihre Gedanken nicht lesen, woher wollte er da von ihrer Hypothese wissen?

»Fünftes Fenster im Erdgeschoss? Von wo aus soll ich denn mit dem Zählen beginnen?«

Natürlich. Ivy schlug sich gedanklich gegen die Stirn. Er meinte ihre Theorie über das mögliche Eindringen durch das defekte Fenster, nicht die über den Tathergang.

»Sind Sie noch beim Hotel? Wir können uns in der Lobby treffen und ich zeige Ihnen das Zimmer.« Dadurch erhielt sie Gelegenheit, den Raum in seinem Originalzustand betrachten zu können, und bekam zusätzlich einen groben Überblick über die Lage der Zimmer.

»Fein. Zwanzig Minuten.« Er legte auf, ohne ihr die Möglichkeit zu einer Erwiderung zu geben. Ivy schob das Telefon zurück in ihre Gesäßtasche und trat auf den Flur, um erneut den Blutstropfen zu folgen.

Lena war ihrem Angreifer zunächst entkommen und nach rechts gelaufen. Ivy sah den Flur zu beiden Seiten entlang. Zur Linken konnte sie das Zeichen für das Treppenhaus erkennen. Dieses führte direkt zur Lobby, während das andere Treppenhaus hinter der Biegung lag und auch nicht direkt zu einem Ort führte, an dem man zumindest möglicherweise Hilfe erwarten konnte.

Sie folgte den Spuren und blieb an der Lache stehen, deren Ränder bereits eintrockneten. Die Leiche war abtransportiert worden und Ivy befand sich ganz allein in diesem Stockwerk.

Auch die Tür zum Treppenhaus schloss nicht richtig und ein scharfer Windstoß blies ihr ins Gesicht. Der Ursprung zeigte sich, sobald Ivy die ersten Stufen in das darüberliegende Stockwerk erklommen hatte. Auf halber Treppe war ein Fenster in die Wand eingelassen worden und dieses stand einen Spalt offen.

Ivy öffnete es vollständig und sah hinaus. Efeu rankte sich die Außenwand empor, ansonsten hatte sie einen netten Ausblick über den Parkplatz und den anschließenden Park. In der Ferne war die Burgruine Syburg gerade noch auszumachen. Idyllisch, wenn man Natur mochte. Sie schloss das Fenster und bemerkte, dass der Verriegelungsmechanismus defekt war.

Nach kurzer Überlegung verwarf sie die Möglichkeit, das obere Stockwerk zu besichtigen, und ging die Stufen stattdessen hinab. Auch durch das Fenster auf halber Treppe zwischen Erdgeschoss und erstem Obergeschoss zog es, obwohl es geschlossen war.

Wie zuvor vermutet, gab es genügend Wege, ins Haus zu gelangen, ohne raffiniert sein zu müssen. Lediglich geschickt müsste man sein und nicht zu viel wiegen, damit die Efeuranken einen auch trugen. Das Mädchen, Lena Brahms, wog sicher keine fünfzig Kilo und hatte damit gute Chancen, hier hochzukommen. Aber ein Mann? Jemand, der schwerer war?

Im Erdgeschoss befand sich die Fluchttür im Treppenhaus. Sie stand sperrangelweit offen und war mit einem Keil blockiert, der sich nicht so leicht lösen ließ. Mit Mühe gelang es ihr, und sie trat ins Freie und schloss die Tür hinter sich. Geöffnet bekam sie sie nicht wieder, sodass sie sicher sein konnte, dass zumindest diese Tür ordnungsgemäß schloss. Ivy betrachtete das Gebäude. Auch hier wirkte die Fassade bröckelig unter dem Efeu, soweit man dies durch den dichten Bewuchs bestimmen konnte. Sie umrundete halb das Hotel, wobei sie den Blick schweifen ließ. Durch den Wildwuchs der Bäume und des sicherlich mannshohen Gestrüpps zwischen ihnen war man hier von der Straße aus nicht zu sehen. Etwaige Nachbarn zu befragen, war da wohl unnötig.

Das Foyer war immer noch verlassen, damit war hier nicht an Informationen zum Betriebsablauf zu kommen. Gab es neben dem Portier und der Managerin kein weiteres Personal? Wer schloss hier hinter den Einsatzkräften ab?

Schritte hallten hinter ihr und sie drehte sich um. Allerdings verpuffte die Hoffnung auf Informationen, als sie Fischer erkannte. Er hob die Hände in einer fragenden Geste. »Haben Sie sich verlaufen?«

»Selbstverständlich nicht.« Sie atmete tief durch. »Wir müssen hier lang.« Sie deutete in den Gang zur Linken. Nervös lief sie los und öffnete ihm die schwere Feuerschutztür. Abzuschätzen, wie viele Fenster hinter einer Tür steckten, konnte nur ins Auge gehen, aber da sie den Weg soeben erst abgeschritten hatte, zählte sie einfach die Schritte. Die Türen lagen hier näher als im Obergeschoss, und die dritte sollte in den Raum mit dem kaputten Fenster führen. Ivy griff nach der Klinke und stockte. »Ich habe keinen Schlüssel.«

Fischer grunzte und zog einen Buntbartschlüssel hervor. »Gut, dass ich vorbereitet bin.«

Bis das flackernde Licht schließlich den Raum erhellte, raste ihr Puls und pochte unangenehm in ihren Ohren. Dann stieß sie erleichtert den Atem aus und deutete in die Rumpelkammer. Die Spanplatte, die sie von außen gesehen hatte, stand am hinteren Ende an der Wand. Beim Näherkommen waren leichte Schleifspuren auf dem Boden zu erkennen.

Fischer warf ihr einen überheblichen Blick zu und rüttelte an der Platte. »Hier kommt niemand durch.«

Ivy biss sich auf die Lippe. Durch dieses Fenster kam man nicht, ohne ordentlich Krach zu machen und dazu die Schrauben aus der Verankerung zu reißen. »Okay, da habe ich mich geirrt. Ich nehme an, die Fenster im nördlichen Treppenhaus wurden auf Fingerabdrücke untersucht? Sie schließen nicht ordentlich.« Ivy räusperte sich. Pagel würde sie auslachen, und doch konnte sie den Mund nicht halten und schickte Fischer zu einer weiteren Untersuchung eines Luftgespinstes? Sie sollte sich besser erst ein genaues Bild machen und nicht wilde Vermutungen äußern.

»Fenster?« Fischer verdrehte die Augen. »Also schön, wo finde ich die?«

»Im ersten und zweiten Zwischengeschoss des nördlichen Treppenhauses. Die Tür war verkeilt, sind unsere Leute dort nicht rein- und rausgegangen?«

Fischer hob die Brauen, murmelte etwas Undeutliches und ließ sie stehen. Da erst fiel Ivy auf, dass er kein Untersuchungskit dabeihatte. Er war von vornherein davon ausgegangen, dass es hier nichts zu finden gab. Ivy schluckte und lehnte sich gegen ein abgedecktes Objekt. Sie rieb sich kräftig über das Gesicht und streckte dann die Schultern. Die Lampe flackerte wieder und Ivy hob den Blick. Risse verschandelten die Decke und führten sogar die gegenüberliegende Wand hinab. Genau zu einem Kasten, auf dem ein Piktogramm darauf hinwies, dass sich hinter der rot bemalten Abdeckung eine Löschdecke befand. Sie lachte. Wie veraltet war dieses Schloss, wenn noch Löschdecken bereitlagen, und war dies überhaupt noch erlaubt?

Sie trat an den Metallbehälter und öffnete ihn. Tatsächlich sprang ihr eine graue Rosshaardecke entgegen. Staub wirbelte auf und sie hustete. Eine Axt fiel ihr ins Auge. Sie war mit einem Klettverschluss an der Wand befestigt. Der Feuerlöscher brauchte ebenfalls eine Überholung, denn die Plakette war bereits seit fünf Jahren abgelaufen.

Sie stopfte die Decke zurück und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Zurück auf dem Flur blieb sie unentschlossen stehen. Eine Übersicht über die Räume wäre schön, um sich einen Lageplan zurechtzubasteln, aber offenbar mussten die Notschilder ausreichen, die zumindest neben den Feuerschutztüren ordnungsgemäß angebracht waren und den kürzesten Weg zum nächsten Notausgang zeigten. Ivy fotografierte den Planausschnitt, der hier ziemlich einleuchtend war. Einmal durch die Tür, die Lobby durchqueren, raus ins Freie und den Sammelpunkt an der Ausfahrt einnehmen. Wäre doch interessant, wie der kürzeste Weg im Zimmer angegeben war, in dem der Angriff erfolgt war …

Kapitel 2

Dortmund-Innenstadt, Präsidium Markgrafenstraße, 15 Uhr

»Kommen Sie auch mal?«, fuhr Pagel sie an. »Kramer macht mir bereits die Hölle heiß, weil die Eltern noch immer auf uns warten!«

Ivy verbiss sich die ihr auf der Zunge liegende Entschuldigung. »Dann sollten wir nicht weiter hier herumstehen.«

»Was hat Fischers Überprüfung ergeben?« Da sich Pagels Laune besserte, ging sie davon aus, dass er sehr wohl wusste, dass das verbarrikadierte Fenster kein Weg ins Hotel gewesen sein konnte.

»Die war ein Griff ins Klo. Wollen wir?« Sie deutete den Flur entlang. Pagel hatte sie direkt vor dem Aufzug abgefangen, mit dem sie in den zweiten Stock zu ihrem Büro hatte fahren wollen, und musste dort bereits auf sie gelauert haben. Die Vernehmungsräume befanden sich im Erdgeschoss, gleich neben den Wachräumen der Streifenpolizisten. Das Ehepaar Brahms hatte Ivy beim Betreten der Wache bereits gesehen, aber nicht für relevant gehalten. Nun begrüßte sie die gepflegte Blondine und ihren bulligen, dunkelhaarigen Ehemann mit einem mitfühlenden Lächeln.

»Mein Beileid, Frau Brahms, Herr Brahms.«

Dann übertönte Pagel sie bereits mit seinen knappen Worten über die vorliegenden Erkenntnisse. »Wir haben Ihre Tochter leblos im Parkhotel Hohensyburg aufgefunden. Herr Novak hat gegen dreiundzwanzig Uhr den Notruf verständigt und ist seither in Gewahrsam.«

Ivy sah den Kollegen von der Seite her an. Sie standen noch im Flur und diese Informationen waren sensibel genug, um sie unter Datenschutz zu fassen. Und ungenau waren sie auch noch, denn der Notruf war um dreiundzwanzig Uhr einundzwanzig erfolgt, und Gewahrsam klang nach Festnahme, und davon konnte keine Rede sein. Es sei denn, ihr Partner hätte bereits einen Beschluss bei der Staatsanwaltschaft bewirkt und hatte sie darüber im Unwissen gelassen. Ganz nebenbei war es zudem angebracht, der schwankenden Frau Brahms einen Stuhl anzubieten. »Wir sollten uns setzen«, schlug sie daher vor. »Es bestehen einige Fragen.«

Die erste war: Sollte das Ehepaar getrennt befragt werden?

Sie sah fragend zu ihrem Partner, der nickte. »Herr Brahms, meine Kollegin nimmt sich Ihrer an. Frau Brahms, folgen Sie mir doch.« Er fasste nach dem Ellenbogen der Frau. Ivy musterte sie eilig. Die verquollenen, rot geränderten Augen sprachen von aufrichtigem Leid. Selbst ihre schlanke Gestalt wirkte gebrochen, wie sie vorgebeugt dastand und ihrem Mann einen hilfesuchenden Blick zuwarf. Sie schien seinen Beistand dringend nötig zu haben, aber da nahe Angehörige immer unter Verdacht standen, war eine getrennte Erstvernehmung sinnvoll.

»Herr Brahms, hier entlang bitte.«

Der Mann fasste nach der Hand seiner Frau und drückte sie fest. »Wir schaffen das.«

Ivy fokussierte sich auf ihn. Das Paar war gleich groß, beide wirkten fit für ihr Alter, und nur beim Mann zeigten sich ergraute Schläfen. Sie war frisiert und trug Make-up, obwohl sie sicherlich aus tiefstem Schlaf gerissen worden waren und eine schreckliche Nachricht erhalten hatten. Tiefe Falten durchfurchten sein Gesicht. Die Nasolabialfalten rahmten seinen Mund ein, sein starkes Kinn war glatt rasiert. Nur sein Haar stand ihm zu Berge.

»Wir schaffen das!«, wiederholte er im Brustton der Überzeugung.

Frau Brahms nickte. Ein Lächeln flog über ihre schmalen Lippen. »Ich bin nur so …«

»Corinna.« Es klang wie eine Warnung.

Sie nickte, ihr Lächeln wurde breiter und steifer zugleich. »Dann wollen wir mal.«

Was ging hier vor? Ivy versuchte Pagels Blick aufzufangen. Bemerkte auch er, wie merkwürdig sich das Paar verhielt? Aber der Kollege wandte ihr lediglich den Rücken zu und zog Frau Brahms dann mit deutlichem Tempo fort.

Ivy konzentrierte sich auf ihren Auftrag. »Herr Brahms?« Der Mann sah dem entschwindenden Duo nach. »Hier entlang bitte.« Wieder deutete sie die Richtung an. Pagel hatte den Vernehmungsraum am Ende des Ganges angesteuert, sie entschied sich für den kürzesten Weg und nahm den Raum, vor dem sie gestanden hatten. »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?« Sie zog ihren Stuhl unter dem Tisch hervor. »Oder ein Glas Wasser?«

»Nein, danke.« Er nahm schwerfällig Platz und legte die Unterarme dann vor sich auf dem Tisch ab. Er beugte sich vor und starrte auf die metallene Tischplatte. »Wie konnte das nur passieren?« Herr Brahms schüttelte den Kopf und schaute auf. »Unsere Lena ist ein gutes Kind. Sie ist brav und strebsam. Wie konnte sie …« Seine Stimme brach und mit ihr der Blickkontakt. Herr Brahms presste die Lider zu, wodurch sein Gesicht zu einer Fratze wurde.

Ivy setzte sich und schlug ihre ledergebundene Kladde vor sich auf, in der sie generell ihre Notizen in Verhören machte und die sie nur selten mit außer Haus nahm. In ihr steckte ein Block, und es gab eine Schlaufe für einen Stift und eine Art Tasche, in die man lose Notizen stecken konnte. »Sie erlauben, dass ich das Gespräch aufnehme?« Es war eine rhetorische Frage, da jede Vernehmung aufgezeichnet wurde. Entweder mit Audio oder eben mit Video. Daher drückte sie bereits vor der Zustimmung durch Herrn Brahms auf den Knopf der Gegensprechanlage, die mit dem Technikraum verbunden war, wo der Kollege die Aufzeichnung startete. Der Papierkram konnte warten.

»Ja. Ja, wenn es sein muss.« Sein Blick war der eines geprügelten Hundes. »Warum mein kleines Mädchen?«

Ivy atmete unauffällig tief durch. Solche Fragen waren schwer zu beantworten und setzten sie unter Druck. »Das versuche ich herauszufinden, Herr Brahms.«

»Christian.« Er räusperte sich. »Bitte.«

Sie nickte. »Ich muss leider auf Kommissarin de Vine bestehen, aber wenn es Ihnen lieber ist, spreche ich Sie mit Ihrem Vornamen an.«

»Ja, bitte. Ich bin Feuerwehrmann – von Beruf und auch in der Freizeit – und wir handhaben es seit jeher …« Wieder brach seine Stimme, aber dieses Mal sah er nur kurz zur Seite, bis er sich gefangen hatte. »So habe ich Corinna kennengelernt. Meine Frau.« Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. »Vor zwanzig Jahren habe ich sie bei einem Einsatz aus dem brennenden Haus getragen.«

Ivy nickte. Es war nicht unüblich, dass bei einer Vernehmung mit persönlichen Geschichten hausiert wurde, um das eigentliche Thema vermeiden zu können. In diesem Fall ließ sie es durchgehen, da der Verlust eines geliebten Menschen schwer zu verkraften war. Wie immer in solchen Momenten sprangen ihre Gedanken zu ihrer Schwester Rose, die seit vielen Jahren verschwunden war.

»Es war Liebe auf den ersten Blick.« Sein Ausdruck weichte auf. »Sie war so wunderschön.«

Ivy presste die Lippen aufeinander. Schönheit verging und sie wollte nicht geliebt werden, weil sie zufällig nett anzusehen war. Sie hatte mehr zu bieten und jede andere Person, ob Mann, Frau oder dazwischen, ebenfalls!

»Ich habe zwei Jahre gebraucht, bis sie endlich mit mir ausging.«

Ivy nickte. »Sie haben Ihre Frau für sich gewonnen.«

»Ja.« Er strahlte nun. »Und wir waren jeden Tag unserer Beziehung glücklich.« Er presste die Handflächen auf den Tisch und auch seine Schultern verkrampften sich. »Bisher.«

Ivy nickte wieder. Wusste er, dass er sich durch seine Körpersprache selbst widersprach? Oder rührte die Anspannung gar nicht daher, dass er über eine Liebe sprach, die längst nicht mehr so rosig war wie an ihrem Anfang? Gab es Probleme in der Ehe, die irgendwie in Zusammenhang mit dem Fall standen? »An so einem Tag gerät vieles durcheinander.« Sie räusperte sich. »Wie alt war Lena?«

»Sechzehn.« Seine Mundwinkel fielen herab und er baute mehr Druck auf den Tisch auf. Ivy sah, wie sein Bizeps unter seinem Shirt zuckte. »Sie ist sechzehn und geht aufs Gymnasium. Sie plant, Ärztin zu werden.«

Ivy machte sich eine Notiz. Eigentlich waren schriftliche Aufzeichnungen nicht nötig, da die Videos archiviert und transkribiert wurden, trotzdem war ein schneller Zugang zu einigen Informationen immer sinnvoll.

Sechzehn Jahre. Nicht so jung wie befürchtet, und doch viel zu jung, um bereits tot zu sein. Ganz zu schweigen davon, dass niemand auf diese Art ermordet werden sollte. Oder überhaupt getötet.

»War sie beliebt? Oder schüchtern?«

»Sie ist jedermanns Liebling«, behauptete Herr Brahms. Sein Stolz leuchtete in seinen Augen. »Die Lehrer lieben sie, weil sie so klug ist, ihre Trainer, weil sie so ehrgeizig ist, und ihre Freunde, weil sie einfach ein gutes Herz hat.«

Ivy nickte. Sie kannte niemanden, der tatsächlich nirgends aneckte, aber es wäre unangebracht, ihre Zweifel nun zu äußern. »Haben Sie Namen für mich?« Sie schaute ihn direkt an. »Ich möchte Lena kennenlernen und herausfinden, warum ausgerechnet ihr so etwas widerfahren musste.«

Die Anspannung ihres Gegenübers legte sich. Wusste er, dass das wahre Bild seiner Tochter sicherlich nicht so perfekt war, wie er es zeichnete?

»Natürlich.« Er runzelte die Stirn, leierte aber eine Reihe von Namen herunter.

»Danke. Mich würde interessieren, was Lena in ihrer Freizeit tat. Wen sie regelmäßig sah.« Sie tippte auf ihre Liste. »Hatte sie einen Freund? Oder eine feste Freundin?«

Brahms blinzelte irritiert. »Natürlich nicht, dafür hatte sie weder Zeit, noch interessierte sie sich für Jungs.«

Dann vielleicht für Mädchen, dachte Ivy, behielt den neuerlichen Hinweis aber für sich.

»Nele weiß das vielleicht. Aber Lena geht von der Schule zum Training und kommt dann nach Hause.« Er zog die Hände zurück und ließ sie unter dem Tisch verschwinden. Feuchte Abdrücke blieben auf der Platte zurück. Sie konnte Wut verstehen, Verzweiflung, aber nicht seine Anspannung, wenn er über seine scheinbar perfekte Tochter sprach. Sie war wahrscheinlich bloß eine Jugendliche wie jede andere mit Fehlern, wie sie jeder Mensch hatte. Es wäre einfacher für sie, wenn er diese eingestände und sie nicht nach Lena Brahms’ Geheimnissen suchen müsste.

»Beschreiben Sie doch mal ihren Tagesablauf. Wann stand sie auf, wann verließ sie das Haus …«

»Können Sie das lassen?«, fuhr Herr Brahms sie an und hob sogleich entschuldigend die Hände. »Bitte! Ich kann nicht … Lena darf nicht …«

»Ich verstehe Ihren Schmerz, Christian. Wenn es Ihnen hilft, ändere ich meine Fragen ab, aber letztlich ändert nichts mehr etwas daran, dass Sie Ihre Tochter nicht zurückbekommen werden.« Sie sah ihm fest in die Augen. »So leid es mir tut, wir können nur noch diese eine Sache für Lena tun: ihren Mörder finden.«

Brahms schluckte sichtlich und nickte schließlich. »Ich weiß, aber das macht es nicht einfacher.« Er legte die Hände erneut auf dem Tisch ab und verschränkte sie. »Wir stehen jeden Morgen um sechs Uhr auf. Lena muss um sieben zum Training. Um acht beginnt die Schule. In den Ferien kommt sie nach dem Training nach Hause. Ab vier ist sie wieder beim Training und um sieben zu Hause.«

»Was für eine Art Training?«

»Sie spielt Fußball und Volleyball. Dazu macht sie Ausdauertraining und Kardio im Fitnesscenter.« Er nahm die Hände wieder vom Tisch und rieb sich über die Schenkel. »Sie ist sehr ambitioniert. Und gut! Sie ist ein Ausnahmetalent.«

»Da bin ich mir sicher.« Ivy beließ ihre Stimme fest, damit sich ihr Gegenüber beruhigte.

»Ich kann nicht glauben …« Er blinzelte und sah zur Seite.

»Wie wäre es nun mit Kaffee?«, fragte Ivy. Offenbar mochte dieser Mann seine Gefühle nicht zeigen und sie wollte, dass er sich bei der Befragung sicher fühlte.

Herr Brahms nickte. »Bitte. Haben Sie Zucker?«

»Natürlich.« Sie stoppte die Aufnahme und verließ das Zimmer.

Auf dem Flur kam ihr Carsten Wendt entgegen. Er lächelte kurz. »Harter Fall, hm?«

»Jeder Fall hat seine Härten«, erwiderte sie bewusst diffus. Er sollte keinesfalls auf die Idee kommen, sie sei für diese Art von Aufgabe psychisch nicht zu gebrauchen. »Gibt es schon etwas Neues von der Videoüberwachung?« Sie ging los, in der Hoffnung, dass Wendt ihr folgen würde.

Er kam ihr tatsächlich hinterher, lehnte sich an die Arbeitsplatte neben ihr und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe meinen vorläufigen Bericht vor einer halben Stunde an Kommissar Pagel geschickt.«

Ivy stellte die Kanne ab und drehte das Handgelenk, um die Uhrzeit von ihrer Armbanduhr ablesen zu können. »Tja.« So lange befand sie sich definitiv nicht im Verhör. »Ist bei mir nicht angekommen. Bekomme ich eine Kurzfassung gegen eine Tasse Kaffee?«

Wendt grinste. »Klar. Die Auflösung der Videos ist gelinde gesagt unter aller Sau. Aber es ist unwahrscheinlich, dass uns jemand entgangen ist.«

»Es hat nach Novak niemand das Hotel betreten oder verlassen«, fasste Ivy zusammen und drückte Wendt die Tasse in die Hand. »Zumindest nicht sichtbar bis zum Zeitpunkt des Totalausfalls der Überwachungsanlage? Haben die korrupten Aufnahmen etwas ergeben?«

»Schrott.«

Ivy seufzte. »Irgendetwas Brauchbares?«

»Oh ja.« Sein Feixen entblößte zwei Reihen strahlend weißer Zähne.

»Und?«

»Der letzte Rundgang des Portiers dauerte ewig. Seine Rückkehr ist definitiv nicht auf einer der Aufnahmen zu sehen. Merkwürdig genug, oder?« Wendt nippte an seinem sicherlich zu heißen Kaffee. »Ist das hilfreich?«

»Das wird sich herausstellen.« Ivy füllte Zucker in einen Behälter und legte einen Löffel mit auf das Tablett. »Er war in der Zeit in keiner der anderen Aufnahmen zu sehen?«

Wo war er nur abgeblieben und was hatte er angestellt? Das Hotel hatte mehr als nur ein Sicherheitsproblem, wenn die Überwachung ausfiel und der einzige Angestellte in der Nachtschicht einfach verschwand.

Der Kollege schüttelte den Kopf. »Nirgends.«

»Na so was. Auf die Erklärung bin ich gespannt. Danke, Kommissar Wendt.«

»Gern. Ach, haben Sie heute Abend schon was vor?«

Ivy nahm das Tablett auf. »Sie meinen in der Stunde, die mir Pagel zum Ausruhen lassen wird?« Sie hob die Brauen. »Schlafen.«

Wendt lachte. »Verstehe. Ich hoffe, irgendwann einen Kaffee in angenehmerer Umgebung mit Ihnen trinken zu können.«

»Das ist nicht sehr wahrscheinlich.« Wieder ging sie los und ließ den Kollegen stehen. Vorrangig war sie zum Arbeiten hier und nicht, um mit den Kollegen zu schäkern. Wendt folgte ihr trotzdem.

»Vielleicht ändern Sie Ihre Meinung noch.« Er hielt ihr die Tür zum Vernehmungsraum auf, wofür er sich in den Raum lehnen musste.

»Wohl nicht. Danke für die Informationen.« Ivy stellte das Tablett mittig auf dem Tisch ab. Wendt schloss die Tür. »Bedienen Sie sich, Christian.«

Sie setzte sich und faltete die Finger über ihren Notizen. Eine fast leere Seite auf einem ansonsten unbeschriebenen Block. Sie wartete, bis Brahms sich sein Getränk zubereitet hatte. Er wirkte gefasster, wenn auch nicht selbstsicher. »Schreiben Sie mir bitte die Adressen auf, an denen sich Lena aufhielt. Schule, Trainingsorte …« Damit hatten die Kollegen einige Anlaufpunkte und sie ein breites Spektrum an Informationen, die zu Hinweisen führen könnten, die das Netz um einen möglichen Verdächtigen – oder eine Verdächtige – enger ziehen würden.

Sie drehte ihren Block, damit Herr Brahms die Aufgabe erfüllen konnte. Währenddessen betrachtete sie ihn genauer. Er hatte eine massige Statur, kurze Beine und dafür lange Arme. Seine Hände glichen Pranken mit kurzen, dicken Fingern. Die Nägel waren säuberlich kurz gehalten, ebenso sein Schopf. Die Brauen wucherten und waren nicht getrimmt worden. Eine Narbe zeigte sich unterhalb seines Haaransatzes und endete an seiner Schläfe.

Brahms schob die Kladde mit einem harschen Ruck zurück. »Die genauen Adressen habe ich nicht im Kopf, aber damit sollte alles zu finden sein.«

Ivy überflog die Zeilen. Die Handschrift war geradlinig und gut zu lesen. »Danke. Ich habe noch einige schwierige Fragen. Denken Sie, dass Sie nun dazu in der Lage sind, mir Antworten zu geben? Mir liegt es sehr am Herzen, dass Ihrer Tochter Gerechtigkeit widerfährt.«

Er nickte abgehackt und ballte die Fäuste.

»Wann haben Sie Lena zuletzt gesehen?«

»Gestern.« Die Fingerknöchel traten weiß hervor. »Sie sagte uns Gute Nacht, wie an jedem Abend.«

»Wann war das?«

Brahms senkte den Blick. »Acht Uhr.« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht etwas später.«

Das war sehr früh für einen Teenager. »Ist das die übliche Zeit, zu der Lena ins Bett ging?«

Wieder hoben sich die schweren Schultern. »Ja.«

Ivy konnte sich noch lebhaft an ihre Jugendzeit erinnern. Rose und sie waren sicherlich nie vor Mitternacht im Bett gewesen, aber natürlich hatte ihre Mutter dies nicht gewusst. Als junges Mädchen spielte man gern die Brave, um nicht bewacht zu werden und seine Freiheit genießen zu können. Das Vertrauen der Eltern wurde damit gewissenlos ausgenutzt.

»Und danach haben Sie Lena nicht mehr gesehen? Gehört vielleicht?«

Brahms schüttelte angespannt den Kopf. »Nein. Ich war beschäftigt.« Er presste die Lippen aufeinander. Seine Wangenmuskulatur zuckte unter seiner Anspannung. Da war sie wieder, die unerklärliche Anspannung, deren Ursache sie nun näherkamen.

»Womit?«

Sein Blick durchbohrte Ivy. »Ist das wichtig?«

»Ja. Alles ist wichtig.« Eigentlich könnte jedes Fitzelchen wichtig sein, aber neunundneunzig Prozent der gesammelten Informationen endeten als Datenmüll. Da man nie wusste, was letztlich bedeutend war, musste man sich eben durch Details wühlen, so unangenehm es auch werden konnte.

Sein Blick wurde schneidend, dann sah er zur Seite und grummelte: »Wir haben uns gestritten.«