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Als der Künstler Jannik Weynberg dem Hauptkommissar Michael Albrecht die Tür öffnet, tritt dieser als Vorbote des Todes über die Schwelle. Der undurchschaubare Albrecht zwingt Weynberg, parallel zur Polizei den Mörder seiner Frau zu suchen. Er hat Weynberg in der Hand, weil er von dessen Affäre mit Sarah, der Frau seines besten Freundes, weiß. Weynberg bleibt keine Wahl, wenn er Sarah schützen will. Unerfahren als Detektiv, von einem Schatten verfolgt und abgelenkt von Tagträumen, durch die seine seit Jahren vermisste Lebensgefährtin Anna geistert, erkennt Weynberg erst spät, dass Sarah und er auf einer Todesliste stehen. Eine Liste, die fast abgearbeitet ist. Ein etwas anderer Kriminalroman - spannend und voller Melancholie.
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Seitenzahl: 151
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Titelseite
Impressum
Prolog
Es wäre besser, sie kehrte um. Das kann sie aber nicht wissen. Wie immer lauscht sie dem Knirschen des Kieswegs. Ein Klang, der angenehme Erinnerungen und Erwartungen in ihr weckt. Das Geräusch, das ihre nackten Fußsohlen auslösen, klingt heute allerdings zwei bis drei Oktaven tiefer. Auch das Zwitschern der Vögel scheint verändert. Sie hört es wie durch Watte. Von Unruhe gepackt, bleibt sie stehen, horcht einen Moment, schüttelt den Kopf und geht weiter. Zwischen duftenden Blumen und gepflegten Staudenbeeten. An ihrer linken Hand baumeln ihre roten Pumps, deren spitze Absätze auf dem unebenen Weg abbrechen könnten.
Vor ihr öffnet sich die Haustür des dunkelrot geklinkerten Friesenhauses. Doch nicht der, den sie erwartet, kommt heraus, sondern zwei Männer, gekleidet in schwarzen Anzügen und Krawatten, die einen Zinksarg tragen. Eine Windböe fegt das Bild weg. Sie fröstelt. Was habe ich bloß für Gedanken?
Das heraufziehende Unwetter türmt graue Wolken auf, die in ihre Richtung treiben. Sie hält ihr dünnes Jackett vor der Brust zusammen, hetzt zur Tür und läutet. Zweimal, dreimal, viermal drückt sie auf den Klingelknopf. Er reagiert nicht, was bildet er sich ein? Sie hat es nicht nötig, sich wie ein kleines Mädchen behandeln zu lassen. Tut sie ihm unrecht? Bisher ist er stets pünktlich gewesen und es kann ja mal was dazwischenkommen. Andererseits meint sie, seinerseits eine aufkommende Gleichgültigkeit ihr gegenüber gespürt zu haben. Lässt er sie fallen wie eine heiße Kartoffel, nachdem sie ihre Ehe für ihn aufs Spiel gesetzt hat? Das wagt er nicht. Er müsste damit rechnen, dass sie sich ihrem eifersüchtigen Mann anvertraut, der zum Jähzorn neigt und ihn fertigmachen würde. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Nein, für solch einen Schritt ist er viel zu weich.
Das Unwetter entfaltet seine volle Wucht, lässt ihre glatten blonden Haare im Wind flattern und lockert am Erker eine Schieferschindel, die ihre Freiheit nutzt, um in einem nervtötenden Rhythmus zu klappern. Dicke Regentropfen klatschen auf den Boden, laufen ihr über die Stirn und die Wangen. Sie rennt zu dem angebauten grünen Holzschuppen und biegt das lose Brett nach vorn, so wie er es ihr gezeigt hat.Der Schlüssel hängt in seinem Versteck. Zurück zur Haustür; sieschließt auf und tritt ein. Hinter ihr knallt die Tür zu. Wie versteinert steht sie da. Hat er vergessen, ein Fenster zu schließen? Oder hat jemand ...? Wie auch immer, hier stimmt was nicht. Der Duft eines teuren Parfüms schwebt im Raum. Eine neue Geliebte? Möchte er es ihr auf diese Weise sagen?
Sie tastet im Flur nach dem Lichtschalter, drückt ihn, es bleibt finster. »Bist du da?« Die Frage klingt wie ein Hilfeschrei. Keine Antwort. Nur Angst, die sich wie eine zweite Haut über ihren Körper schiebt und ihr das Atmen erschwert. Weshalb gehe ich nicht raus?, denkt sie, ich stehe doch direkt vor der Tür? Kaum hat sie ihre Starre überwunden und eine Hand auf die Klinke gelegt, da hört sie es. Das Geräusch des Messers, das in ihren Rücken eindringt. Das in einem ekstatischen Wechsel herausgezogen und hineingestochen wird. Instinktiv versucht sie, sich festzuhalten, findet jedoch keinen Halt. Kraftlos rudert sie mit den Armen. Ihr Mund formt ein Warum, aber statt eines Tons quillt Blut über ihre Lippen.
EINS
»Warte Sarah, bitte.«
Sie dreht sich um, die Klinke der Schlafzimmertür in der Hand. »Mach keinen Stress, Jannik, du hast deinen Spaß gehabt. Wenn Bernd von seiner Geschäftsreisezurückkommt und die Wohnung ist leer, gibt´s unnötige Fragen.« Ihre dunkle Stimme verklingt, eine Kusshand noch, dann fällt die Tür mit einem dezenten Klick ins Schloss.
Bernd, Bernd, immer wieder Bernd. Der Lattenrost des Bettes knackt, als er sich frustriert auf die andere Seite rollt. Er hasst Bernd, obwohl er ihn nie gesehen hat. Ihm hat das Foto gereicht, das ihn aus Sarahs Portemonnaie angestarrt hat. Ein kantiger Schädel mit Kurzhaarschnitt und glatt rasiertem Gesicht. Stechend blickende Augen, von denen er sich verfolgt fühlt, sobald Sarah ihre Geldbörse öffnet.
Wie konnte sie solch einen Typen heiraten? Klar, als gut verdienender Unternehmer kann Bernd ihr mehr bieten als er, ein Künstler mit unregelmäßigem Einkommen. Für Sarahs teuren Lebenswandel reicht sein Geld nicht aus. Da hilft es kaum, seine Einnahmen durch Auftragsarbeiten aufzustocken. Er lebt vor allem von Porträt- und Aktzeichnungen sowie von Zeichen- und Radierkursen. Besser er wäre in der Lage, seinen Lebensunterhalt allein durch den Verkauf seiner Bilder zu bestreiten. Immerhin laufen seine Kurse, seitdem der Bremer Tageskurier darüber berichtet hat.
Er setzt sich auf die Bettkante. Der Duft von Sarahs edlem Parfüm schwebt noch in der Luft. Heute ist ihm von ihr auch eine erotische Bleistiftzeichnung geblieben, für die sie gestern Abend Modell gesessen hat. Der Vorschlag ist von ihr gekommen. Er ist überrascht gewesen, zumal er sie schon mehrmals gebeten hat, sich in einer verführerischen Pose zeichnen zu lassen. Bisher hatte sie dieses Ansinnen strikt abgelehnt. Ist das ein Wink, dass Sarah ihm mehr vertraut? Er sollte die Zeichnung sofort fixieren, damit sie nicht verschmieren kann, und sie in eine Schublade legen. Sarah wird nicht wollen, dass er das Bild aufhängt.
Sein Blick fällt auf ihr Foto, das auf seinem Nachtschrank steht. Mit ihren rötlichblonden Haaren, die ihr bis auf die Schultern fallen, ihrem schlanken Gesicht, den rechts und links der Nase sitzenden Sommersprossen und ihren leicht geschwungenen Lippen sieht sie Anna zum Verwechseln ähnlich. Aber Anna ist eine andere Geschichte. Eine Träne löst sich aus seinem Augenwinkel. Rasch drückt er sie weg.
Er hätte Sarah von Anna erzählen sollen. Nicht auszudenken, was geschähe, fände sie Annas Sachen in seinen Schränken. Sarah hat im Hinblick auf Treue, im Gegensatz zu ihrem Mann, konservative Ansichten. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie sich mit ihm eingelassen hat, um Bernd mit gleicher Münze heimzuzahlen.
Er geht zu dem Sideboard, in dem er Wäsche aufbewahrt. Zögernd nimmt er ein Leporelloalbum aus der unteren Schublade, wiegt es in den Händen, als wolle er das Für und Wieder abwägen, zieht es wie eine Harmonika auseinander und stellt es auf das Board. Fotos, die verdeutlichen, wie eng seine Beziehung zu Anna gewesen ist. Erneut kommen Tränen, diesmal lässt er sie laufen. Er schaut auf das Leporello. Wie ein Altar steht es da.
Er fühlt sich eingeengt, als seien die mit grünem Pflanzenmuster tapezierten Wände seines Schlafzimmers zusammengerückt und er säße in der Falle. Was wäre, wenn Sarah unerwartet vorbeikäme, wie häufig geschehen, und in seinen Sachen stöberte? Sie hat einen Schlüssel und damit jederzeit Zutritt zu seiner Wohnung. Er nimmt sich vor, kurzfristig eine Lösung zu finden. Sarah gibt ihm Halt im Leben, obwohl er sie meist nur einmal in der Woche sieht. Er schließt die Augen, glaubt, noch die Wärme ihrer Haut zu fühlen, sie noch zu riechen. So soll es bleiben. Erst unter der Dusche gelingt es ihm, die Gedanken, die um Anna und Sarah kreisen, wegzuspülen.
Es klingelt an der Wohnungstür. Schnell schlüpft er in eine Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Durch den Türspion erblickt er einen Mann, der nicht so recht zu dem Sommeranzug zu passen scheint, den er trägt. »Ja bitte?«
»Kriminalhauptkommissar Michael Albrecht. Ich würde gern mit Jannik Weynberg sprechen. Sind Sie das?« Albrecht zeigt seinen Ausweis. »Meine Legitimation.«
Weynberg öffnet. »Ich habe niemanden umgebracht.«
»Und wenn schon, in bin nicht von der Mordkommission.«
»Aber die Schuhe ausziehen.«
Albrecht kommt dem Wunsch nach, ohne zu murren. Auf Strümpfen betrachtet er die Druckgrafiken, die Weynberg im Flur als Querschnitt seines Schaffens präsentiert. »Werden Sie nicht depressiv angesichts dieser dunklen Bilder? Weshalb zeichnen Sie keine heiteren Motive?«
»Das sind keine Zeichnungen, sondern Radierungen und Aquatinten.«
»Alles schwarz-grau. Wirklich düster.«
»Die Welt ist nun mal dunkelgrau, bunt erscheint sie uns bestenfalls vordergründig. Ich nehme meine Kunst ernst, selbst wenn sie nicht jeden anspricht.«
»Warum zeichnen Sie dann auch weibliche Akte? Das ist doch das Gegenteil von düster.«
»Richtige Kunst macht nicht satt. Wer hat Ihnen von meinen Auftragsarbeiten erzählt?«
Albrecht klappt eine Mappe auf, die er unter seinen linken Arm geklemmt hatte, und faltet eine Aktzeichnung auseinander. »Meine Frau Melanie, von Ihnen gezeichnet, ohne dass ich sie darum gebeten hätte.«
Weynberg sieht seinen Besucher entsetzt an. »Wieso haben Sie das Blatt geknickt?«
»Wie Sie sehen, hätte es sonst nicht in die Mappe gepasst.« Albrecht schlägt mit dem Handrücken auf die Zeichnung. »Falls ich durch den rüden Umgang mit dem Bild Ihre Künstlerseele gekränkt haben sollte, bitte ich um Verzeihung.«
»Gehen wir ins Wohnzimmer.« Weynberg gibt Albrecht einen Wink. »Was kann ich für Sie tun, Herr Hauptkommissar?«
Albrecht setzt sich in einen Sessel. »Melanie ist verschwunden und ich bitte Sie, mir bei der Suche zu helfen. Denken Sie an Anna Herzog. Sie haben selbst erlebt, wie es ist, wenn eine geliebte Person ohne Ankündigung verschwindet. Da Sie mein Schicksal teilen, hoffe ich, Sie werden mir gegenüber genug Empathie aufbringen und mich unterstützen. Selbstverständlich gegen Bezahlung.«
Weynberg ist seine Überraschung anzusehen. »Woher wissen sie von Anna?«
»Das fragen Sie? Der Fall hat polizeiintern für Aufsehen gesorgt, obwohl er der Presse nur eine Notiz wert war. Sie standen unter Verdacht, Anna Herzog getötet zu haben. Eine Anschuldigung, die Sie nie widerlegen konnten.« Albrechts Augen tasten Weynberg ab, als suchten sie nach Geheimnissen, die tief in seinem Innern vergraben sind, um sie ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren. »Damals haben Sie anders ausgesehen, ohne Bart und mit kurzen Haaren. Wollte ich Ihnen Böses unterstellen, müsste ich Sie fragen, ob Sie die Tat so stark deprimiert hat, dass sie ihren Anblick im Spiegel nicht mehr ertragen konnten und sich deshalb haben zuwachsen lassen.«
Weynberg mag nicht glauben, was er hört. »Bezichtigen Sie mich, meine Lebensgefährtin umgebracht zu haben? Sie wagen es, hier aufzukreuzen, mich zu beleidigen und erwarten von mir Hilfe, indem ich für Sie den Detektiv spiele?«
»Nun mal langsam. Es gibt solche Fälle von Verdrängung. Ihre aggressive Reaktion könnte ein Indiz dafür sein, dass sich Ihr Unterbewusstsein schuldig fühlt.«
Wer hier wohl aggressiv ist?, denkt Weynberg. Der harsche Ton, den Albrecht durch seinen breitschultrigen, muskulösen Körper und seine Größe von knapp zwei Meter unterstreicht, passt ihm ganz und gar nicht. Ebenso wenig der bohrende Blick aus seinem spitzen, glatt rasierten Gesicht, das oben eine Glatze begrenzt. Augen wie Bernd. Als Gegner wünscht er sich den Hauptkommissar nicht.
»Ihr Unterbewusstsein könnte Sie auch dazu verleitet haben, Sarah Maar anzusprechen«, drängelt Albrecht weiter.
Weynberg zuckt zusammen. »Sarah wie? Wer soll das sein?«
»Die Frau meines besten Freundes Bernd. Sie ist gebildet, hat Literatur studiert und einen guten Ruf als Literaturkritikerin einer überregionalen Tageszeitung.« Er macht eine kurze Pause. »Na, fällt der Groschen? Sie ist aber auch eine verzogene Göre, die glaubt, sich alles rausnehmen zu können. Ich verstehe nicht, weshalb sie Bernd, der ihr jeden Wunsch erfüllt, mit Ihnen betrügt?«
»Wer behauptet denn so was?«
»Ich habe Sarah mal zufällig gesehen und bin ihr hierher gefolgt. Einfach so, aus einer Eingebung heraus, weil Bernd ihr misstraut. Und heute Morgen habe ich draußen im Auto gesessen, gezögert und mich gefragt, ob Sie für mich der richtige Ansprechpartner wären, da Sie ebenfalls erleben mussten, wie ein geliebter Mensch verschwindet. In dem Moment ist Sarah aus diesem Haus gekommen.«
Weynberg straft Albrecht mit einem verächtlichen Blick. »Sie wollen mich erpressen und manipulieren, damit ich Schuldgefühle entwickle, Ihre Frau suche und mich somit rein wasche?«
Albrecht schließt die Augen und schüttelt den Kopf. »Bitte entschuldigen Sie, ich bin zu weit gegangen, die Sorge um Melanie macht mich verrückt. Ich möchte weder die Ehe der Maars zerstören noch Sie erpressen. Ich appelliere nur an Ihr Mitgefühl und bitte Sie, mich zu unterstützen.«
Weynberg bleibt keine Wahl. Er muss nachgeben, allein um Sarah zu schützen. »Welche Garantien hätte ich?«
»Sie haben mein Wort. Mit einem Rest an Ungewissheit müssen Sie leben.«
Weynberg verzieht sein Gesicht. »Und wie soll ich ihre Frau finden, ich bin kein Privatdetektiv? Warum suchen Sie nicht nach ihr, Sie sind Polizist?«
»Ich arbeite bei der Sitte und habe nichts mit Vermisstenfällen zu tun. Die Kollegen kümmern sich um den Fall. Sie, Herr Weynberg, hätten zusätzlich die Möglichkeit, unkonventioneller zu ermitteln, wenn ich das so sagen darf?«
Weynberg sieht Albrecht fragend an. »Soll ich Ihre Worte als Aufforderung zum Gesetzesbruch verstehen?«
»Nein, so habe ich das nicht gemeint. Ich hoffe einfach, dass Sie anders an den Fall herangehen. Entschuldigen Sie, wenn ich mich unklar ausdrücke, aber mir fällt keine bessere Formulierung ein. Für mich ist es wichtig, nichts unversucht zu lassen, damit Melanie unversehrt zurückkommt.« Albrecht versucht sich an einem vertrauenswürdigen Lächeln. »Betrachten Sie das Ganze als Win-Win-Situation. Wir profitieren beide davon. Sie streichen ein ordentliches Honorar ein und ich halte meine Frau wieder in den Armen.«
Weynberg wäre es lieber, dieses Gespräch fände nicht statt, zumal Albrecht schwer einzuschätzen ist. »Anstelle eines privaten, unerfahrenen Mannes wie mich würde doch jeder logisch denkende Mensch eine renommierte Detektei beauftragen?«
»Nun, man kennt sich. Bei Ermittlungen laufen sich die Detekteien und die Kriminalpolizei schon mal über den Weg. Käme heraus, dass ich parallel privat nachforschen lasse, würde die polizeiinterne Gerüchteküche überkochen.« Albrecht verschränkt seine Arme hinter dem Kopf. »Ich verlange von Ihnen nur einen kleinen Gefallen, der nicht ungesetzlich ist. Als Gegenleistung erhalten Sie Geld und meine Zusage, weder Bernd von Ihrem Verhältnis mit Sarah noch Sarah von Anna zu erzählen. Ich vermute doch zu recht, dass Sie Ihr Verhältnis mit Anna vor Sarah geheimhalten?«
Weynberg zieht es vor, das Thema nicht zu vertiefen. Er geht auf und ab, wirft einen Blick auf seinen Balkon, den er schon lange begrünen möchte. Ein Vorhaben, das er immer wieder vergisst. Schließlich wendet er sich Albrecht zu. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, gehen Sie von einer Entführung aus.«
Albrecht schmunzelt. »Na klar, warum sollte ich gleich das Schlimmste befürchten?«
Weynberg schaut verstohlen auf seine Armbanduhr. Am Nachmittag ist er mit seinem Freund Markus Heidorn verabredet. Sie haben vor, in einer Kneipe im Viertel zu verfolgen, wie Werder Bremen die Münchner Bayern vom Rasen fegt. Das dürfte aber angesichts der aktuellen Situation unwichtig sein. Er reißt sich zusammen. »Seit wann ist Ihre Frau verschwunden, Herr Albrecht?«
»Seit gestern Abend. Sie wollte zu einer Freundin. Bisher war sie stets kurz nach Mitternacht zurück.« Er fasstWeynberg am Ellenbogen. »Wollen wir uns draußen die Beine vertreten? Nichts gegen ihre Wohnung, ich muss an die frische Luft.«
Weynberg ist froh, Albrecht aus seinem Allerheiligsten verschwinden zu sehen. Sie gehen Richtung Werdersee an der Kleinen Weser entlang und folgen dem Weg, der unterhalb der Straße verläuft.
Albrecht findet gleich zum Thema zurück. »Ich weiß, dass die meisten Vermissten spätestens nach achtundvierzig Stunden wieder auftauchen. Aber warum sollte meine Frau so lange fernbleiben?«
Weynberg antwortet nicht. Schweigend stehen sie sich gegenüber. Als ihre Sprachlosigkeit unangenehm wird, redet Albrecht weiter. »Melanie ist in den vergangenen Monaten häufig ausgegangen. Mit ihrer Freundin, wie sie betont. Da ich unregelmäßig Dienst habe, wollte sie nicht zu Hause versauern.«
Weynberg räuspert sich. »Vertrauen Sie ihr?«
Albrecht hebt die Arme als Zeichen von Unwissenheit. »Ich will nicht ausschließen, dass Melanie ein Verhältnis hat. Verfolgen Sie alle Spuren, ohne Rücksicht auf meine Befindlichkeiten.« Er kratzt sich am Kinn. »Was Sarah kann, kann Melanie auch.«
Weynberg ignoriert die Provokation. »Wo arbeitet Ihre Frau. Könnte sie dort eine Beziehung haben?«
»Sie ist zahnmedizinische Fachangestellte bei einer Zahnärztin. Die Spur ist kalt.«
»Haben Sie einen anderen Ansatzpunkt?«
Albrecht zuckt mit den Schultern.
»Was ist mit der Freundin Ihrer Frau?«
»Ich weiß rein gar nichts über sie. Vielleicht existiert sie nicht einmal. Mir bleibt nur das Geständnis, mich zu wenig um meine attraktive Frau gekümmert zu haben.«
Pech gehabt, denkt Weynberg. »Könnte Sarah was über Melanies Verbleib wissen, ist sie auch mit Ihrer Frau befreundet?«
»Nein, die beiden verkehren weitestgehend in unterschiedlichen Kreisen.«
»Einen Anhaltspunkt brauche ich aber. Sonst kann ich nichts für Sie tun.«
»Melanie hat oft über das Viertel geredet. Angeblich ist sie dort mit ihrer Freundin ausgegangen.« Er zieht ein Porträtfoto von Melanie aus seinem Jackett. »Zeigen Sie das Bild den Wirten im Viertel.«
Von dem Foto blicken Weynberg braune Augen aus einem schlanken Gesicht entgegen, umrahmt von glatten blonden Haaren, die kurz unter den Ohren enden. Melanie Albrecht strahlt Selbstbewusstsein aus. Hat sie sich von ihrem Mann nicht alles bieten und ihn deshalb sitzen lassen?
»Was halten Sie von einem Vorschuss, Herr Albrecht. Ich dürfte Ausgaben haben, die Sie erstatten müssten.«
Albrecht packt Weynberg am Arm. »Den Typ mit dem Fernglas am gegenüberliegenden Ufer würde ich mir gern aus der Nähe anschauen, aber bis wir dort wären, wäre er längst weg.«
Weynberg fragt sich, ob Albrecht unter Verfolgungswahn leidet. Wegen eines harmlosen Zeitgenossen, der Vögel beobachtet?
»Der Typ ist verschwunden«, holt ihn der Hauptkommissar aus seiner Gedankenweltzurück.«
»Sie sehen Gespenster, Albrecht. Wer sollte uns hier beobachten?«
»Sie sind mir eine schöne Hilfe. Falls Melanie was zugestoßen ist, könnte der Täter auch mir was antun wollen. Was wissen wir schon?«
Weynberg wird klar, dass Albrecht recht haben und er ebenfalls in den Mittelpunkt eines Stückes rücken könnte, in dem er lieber hinter den Kulissen bliebe.
Albrecht zieht sein Portemonnaie aus der Hosentasche. »Sie haben nach einem Vorschuss gefragt. Wie viel brauchen Sie?«
Frustriert darüber, sich am Abend als Spitzel outen zu müssen, betritt Weynberg das Don Carlos am Ostertorsteinweg. Eingangstür und Fenster des spanischen Lokals sind geöffnet. Über den Gesprächen der Gäste, die zu einem akustischen Brei zusammenfließen, schwebt Knoblauchduft.
Zu Weynbergs Frust kommt die Unruhe wegen des Leporellos. Vor seiner Kneipentour hat er vergessen, das Album in der Schublade verschwinden zu lassen, weil ihn Albrecht und dessen Auftritt beschäftigt haben. Sollte Sarah zwischenzeitlich in seiner Wohnung gewesen sein, dürfte es Ärger geben. Er kann nur abwarten, wie sie sich bei ihrem nächsten Treffen verhält.
Im Viertel hat er zuerst das Theatro und das Engel Weincafé abgeklappert. In beiden Lokalen kennt man Melanie Albrecht und ihren Begleiter. Einen unscheinbaren Mann, den keiner beschreiben kann und dessen Namen niemand weiß.
Für den Rest des Abends ruht seine Hoffnung auf dem Don Carlos, das immer zu seinem Stammlokal wird, wenn er Geld in der Tasche hat oder sein Freund Markus Heidorn ihn einlädt. In diesem Fall muss Michael Albrecht die Zeche zahlen. Weynberg hält es für angemessen, das Lokal mit einer Spesenquittung zu verlassen.
Es ist, wie an jedem Wochenende, brechend voll. Daran hat sich Weynberg noch nie gestört, doch heute hätte er es gern übersichtlicher. Ist er hier, der Unbekannte? Ist er mit der Person identisch, die mit einem Fernglas am anderen Ufer der Kleinen Weser gestanden hat? Nippt er genüsslich an einem Glas Wein, ohne ihn, Weynberg, aus den Augen zu lassen?
Er setzt sich auf einen Hocker vor der Theke und zeigt dem Barkeeper das Bild von Melanie Albrecht.
»Sie kommt oft.«
»Mit einem Mann?«
»Ab und zu auch mit einer Frau.«
»Kennen Sie die Namen?«
»Nein, aber ich kann die Bedienung fragen. Möchten Sie was trinken?«
»Einen Rioja bitte, einen Riserva.«
Der Barkeeper entkorkt eine Flasche, riecht am Korken und gießt den Wein in ein dickbauchiges Glas, das er schwenkt, damit der Wein Sauerstoff aufnimmt. Mit einem »Chin-chin« stellt er das Glas auf die Theke.
Weynberg schnuppert an dem Rioja, dessen kräftiges, ausgeprägtes Bukett einen charaktervollen Wein erwarten lässt. Er nippt daran, bevor er sich dezent umblickt. Kein bekanntes Gesicht. Hoffentlich kennt auch ihn niemand.
Du musstest damit rechnen, nicht ohne Weiteres mit der Situation fertig zu werden. Einen Mord begeht man nicht alle Tage. Kämpf gegen deine Zweifel an und lass dir das Hähnchenbrustfilet in Dattelsoße schmecken. Dein missmutiges Gesicht müsstest du sehen. Freu dich, dass du den Tisch mitten im Restaurant ergattert hast. Bisher läuft es nach Plan. Das mit dem Blut ist ekelig gewesen, das musst du zugeben. Da hatte es Norman Bates in ›Psycho‹ leichter. In deiner Lage konntest du nun mal nicht abwarten, ob sie duscht. Hast lieber die Tür geschrubbt und den Teppich shampooniert. Jetzt glänzt alles wie zuvor, selbst Melanie. Allerdings nur durch ihre Abwesenheit. Lass das Spiel mit dem Feuer. Verzichte darauf, Weynbergs Blick einzufangen. Bleib für ihn unsichtbar. Er sieht dich zwar, aber ohne zu ahnen, wer du bist. Endlich lächelst du. Hab Spaß an der Sache und genieße dein Essen. EinZurückist ausgeschlossen.
»Ich habe den Namen des Mannes. Er heißt Kurt Wallander.« Der Barkeeper lächelt zufrieden.
»Veräppeln kann ich mich selbst.«
»Warum, was ist mit dem Namen?«
»Kurt Wallander ist eine schwedische Krimifigur.«
»Klingt doch deutsch. Warten Sie, ich schicke Ihnen Christina.«