Dünengeister - Nina Ohlandt - E-Book
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Dünengeister E-Book

Nina Ohlandt

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Beschreibung

Auf Sylt werden in einer Düne, die zum Besitz der reichen Industriellenfamilie Melander gehört, zwei Leichen gefunden - ein Kind und eine junge Frau, Letztere der Kleidung nach seit Jahrzehnten tot. Wenig später gibt es in der Familie einen weiteren Todesfall. Kommissar John Benthien glaubt nicht an einen Zufall und nimmt die Ermittlungen auf. Dabei stößt er auf ein uraltes Familiengeheimnis, von dem auch heute noch eine tödliche Gefahr auszugehen scheint ...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Personenlisten

List auf Sylt, 1778

List auf Sylt, 1914

Flensburg, Nordfriesland/List auf Sylt, 1915

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

ER

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

ER

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

ER

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

ER

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

ER

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

ER

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

ER

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

ER

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Weitere Personen

Anmerkung der Autorin

Über das Buch

Auf Sylt werden in einer Düne, die zum Besitz der reichen Industriellenfamilie Melander gehört, zwei Leichen gefunden – ein Kind und eine junge Frau, Letztere der Kleidung nach seit Jahrzehnten tot. Wenig später gibt es in der Familie einen weiteren Todesfall. Kommissar John Benthien glaubt nicht an einen Zufall und nimmt die Ermittlungen auf. Dabei stößt er auf ein uraltes Familiengeheimnis, von dem auch heute noch eine tödliche Gefahr auszugehen scheint …

Über die Autorin

Nina Ohlandt wurde in Wuppertal geboren, wuchs in Karlsruhe auf und machte in Paris eine Ausbildung zur Sprachlehrerin, daneben schrieb sie ihr erstes Kinderbuch. Später arbeitete sie als Übersetzerin, Sprachlehrerin und Marktforscherin, bis sie zu ihrer wahren Berufung zurückfand: dem Krimischreiben im Land zwischen den Meeren, dem Land ihrer Vorfahren.

Nina Ohlandt

Dünengeister

Nordsee-Krimi

John Benthiens sechster Fall

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Jan WielpützUmschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.deunter Verwendung von Motiven von © shutterstock: Rainer Fuhrmann | Karen Kaspar | Pawel Uchorczak | s_olegE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6133-9

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Personenliste Kripo Flensburg

John Benthien, Erster Hauptkommissar

Tommy Fitzen, Oberkommissar, alter Jugendfreund von Benthien

Lilly Velasco, Oberkommissarin

Juri Rabanus, Hauptkommissar (kommt hier kaum vor)

Leon Kessler, frisch gebackener Kommissar (kommt hier kaum vor)

Mikke Jessen, Kommissaranwärter

Annika Gerisch, Kommissaranwärterin

Ferner: Esther Talley, Mitarbeiterin im Innendienst

Personenliste Kriminaltechnik

Claudia Matthis, Leiterin der Kriminaltechnik

Stefano Rossi

Birgit Timmermann

Weitere

Dr. Thyra Kortum, Oberstaatsanwältin (war Freundin von Benthiens Mutter)

Dr. Radtke, brummeliger Rechtsmediziner aus Kiel

Weitere Personen siehe Anhang

List auf Sylt, 1778

Gestrandet

Haie Melander glitt leise aus dem Bett, um seine Frau und den sechs Monate alten Säugling, seinen Jüngsten, nicht zu stören. Nicht, dass der Lütte wieder anfing zu schreien. Haies bloße Füße verkrampften sich vor Kälte auf den blanken Holzdielen, denn das Feuer im Ofen war längst erloschen. Er schlich sich zur Tür, schloss sie leise hinter sich und kleidete sich hastig an. Arfst und Keno, die beiden jungen Knechte, hatten schon die Pferde vor den Wagen gespannt und seinen Wallach Tillmann gesattelt, der unruhig hin und her tänzelte. Es war eine raue Nacht für Juni, kalt wie im Oktober und erst halb zwölf, aber dennoch Zeit aufzubrechen. Der Sturm nahm beständig zu, und es bestand die Gefahr, dass andere, vor allem die gottlosen Amrumer, ihnen den Fang vor der Nase wegschnappten. Denn es musste schon mit dem Teufel zugehen, wenn in einer stürmischen Nacht wie dieser, geleitet von den trügerischen Leuchtfeuern, kein Schiff an der unbewohnten Sylter Südküste stranden würde.

Keno und Arfst fuhren den Wagen mit den Kaltblütern, Haie, der Deichgraf, galoppierte mit Tillmann quer durch die Dünen in Richtung Strand. Manchmal verfluchte er seinen Wohnsitz so weit im Norden von Sylt und überlegte wieder einmal, in die Mitte der Insel umzuziehen. Der Weg in den Süden, wo dank der Wasser- und Strömungsverhältnisse die meisten Frachtsegler strandeten, dauerte einfach zu lang, zumal er für sein Geschäft keine Zuschauer gebrauchen konnte. Andererseits, den großen Hof hatten seine Vorväter 1672 erbaut, vor rund hundert Jahren, den gab man nicht so einfach auf. Vielleicht sollte er eine Hütte dort unten in die Dünen bauen, eine Art Lager, wo er die Leichen verstecken konnte, bis sie bereit waren für den Transport? Denn er hatte vor, sein lukratives Geschäft auszubauen. Schließlich musste er für eine große Familie sorgen, und die möglichen Einkünfte waren rar, wenn man auf einem kargen Sandhaufen in der Nordsee lebte. Da musste man sehen, wie man zurechtkam.

Haies Bruder war vor einem Jahr auf See geblieben, sein Walfänger vor Grönland gekentert und mit Mann und Maus untergegangen. Daher hatte er nun auch noch Jeskos Familie am Hals, die versorgt werden musste. Aber das Geschäft mit den Leichen lief gut, und Haies Abnehmer – Mediziner, Alchimisten, Anatomielehrer, Universitäten – fragten nicht danach, ob der Handel mit Toten verboten war oder woher diese kamen. Da es viel zu wenig Hinrichtungen für den Bedarf an Leichen gab und die Rechtsgrundlage, nach der Verwandte die leblosen Körper ihrer Lieben verkaufen durften, fragwürdig war, kam es zu dem sonderbaren Umstand, dass frische Verstorbene überall im Deutschen Reich Mangelware waren. Da kamen die Gestrandeten gerade recht, die Schiffbrüchigen, deren Briggs, Schoner und Fregatten zwischen den trügerischen Sandbänken der Nordsee auf Grund gelaufen waren. Immerhin erhielten sie nach der Sektion ein anständiges christliches Begräbnis. Und ganz nebenbei dienten sie der Wissenschaft. Abgesehen davon, dass die Melanders von dem Salär Vieh kaufen konnten und so neben Fisch, Gemüse und Kartoffeln auch Fleisch auf den Tisch kam, erlaubte der Leichenhandel es ihnen, die Kinder zur Schule zu schicken, das Dach neu zu decken und ein Stück Land zu erwerben, das noch halbwegs fruchtbar und noch nicht von der Großen Düne überwandert worden war wie die Ländereien der Vorfahren.

Zwischen den Wolken kam der Mond hervor, und Haie trieb sein Pferd an. Es trabte durch den tiefen Sand der Großen Düne, die auf der Insel nur als die »Geisterdüne« bekannt war. Der Legende nach hatten an diesem Ort in früheren Jahrhunderten die Einheimischen ihre wilden Orgien und Besäufnisse gefeiert, nachdem sie die gestrandeten Schiffe ausgeraubt, die Besatzung, sofern sie nicht ersoffen war, erschlagen und die Beute in Sicherheit gebracht hatten. Es war ein verrufener, ein verteufelter Ort dort in den Dünen, um den die Insulaner in abergläubischer Scheu einen weiten Bogen machten, doch Haie war das gerade recht. Er mochte es nicht, wenn ihm die Einheimischen zu dicht auf die Pelle rückten – deshalb war ihm daran gelegen, die Geisteratmosphäre der Düne zu bewahren. Ab und zu entfachten er und die Seinen dort große Feuer. Sie zogen orientalische Gewänder an, die der eine oder andere verunglückte Segler aus Porto Alegre, Batavia oder Santo Domingo in einen der fernen Ostseehäfen hatte bringen wollen, und erschreckten die Leute. Als dann noch ein kleines Mädchen am Fuß der Düne spurlos verschwand und nie wieder auftauchte, war die Legende um den unheimlichen Ort perfekt. Allerdings dachte niemand auch nur im Traum daran, die ehrenwerte Familie Melander zu beschuldigen oder auch nur schief anzusehen. Im Gegenteil, man bewunderte ihren Mut, sich von der Geisterdüne und all den dunklen Machenschaften, die dort vorgehen mussten, nicht ins Bockshorn jagen zu lassen.

Besonders Haie war allseits geachtet und hoch angesehen als Deichgraf. Er war derjenige, der über die Sicherheit der Deiche wachte, damit die Insel nicht von der allseits bereiten, räuberischen Nordsee verschlungen wurde. Er war es, der für den Schutz der Insel und die Instandhaltung der lebensrettenden Deiche sorgte. Er war an vorderster Front dabei, wenn Sturmfluten gegen diese Bollwerke anbrandeten, wenn seine Leute hastig Sandsack um Sandsack füllten und mit ihrem Leben jeden Zentimeter Boden verteidigten. Man liebte ihn nicht, dafür war er zu rau, zu streng und kompromisslos. Aber man vertraute ihm, dem Mann mit dem zotteligen blonden Bart, den man Tag und Nacht auf seinem Rappen Tillmann durch die Dünen reiten sah.

Der düstere Reiter, beschienen vom fahlen Mondlicht, trieb sein Pferd im Galopp durch den weißen Dünensand, durch Heide und Strandhafer hinab an den menschenleeren Strand. Hoffnungsvoll hielt er Ausschau. Gab es schon Lichter zu sehen auf den weißschäumenden Wellen, Schiffe, die verzweifelt gegen den Sturm ankämpften, hoffnungsvoll nach einem Küstenstreifen Ausschau haltend, nicht wissend, dass der ihr Verderben sein würde? Er ließ den Blick übers Meer gleiten, sah den Schein der falschen Leuchtfeuer auf dem Wasser, aber ein Schiff war weit und breit nicht zu sehen.

Dennoch trieb Haie sein Pferd an, das in einem wahren Rausch der Geschwindigkeit über den festen Wattboden fegte, durch den Schaum, den die Wellen an Land trieben, südwärts, wo hoffentlich inzwischen Beute auf sie wartete.

Und er hatte sich nicht getäuscht!

Haies scharfe Augen hatten schon weit entfernt vom Hörnumer Strand die Brigg entdeckt, die mit schwerer Schlagseite auf den Wellen trieb, und gab dem Gaul die Sporen. Etliche Sylter waren mit ihren Booten bereits zur Stelle, etliche Leiber trieben im wild aufgewühlten Wasser, etliche lebten noch und schrien um Hilfe. Haie wusste, sie würden nicht überleben. Wer nicht von selbst ertrank oder sich ans Ufer retten konnte, wurde erschlagen oder ertränkt, denn die Schiffsladung war reiche Beute, selbst wenn es nur Holz war. Die Insulaner sahen es als ihr gutes Recht an, die Ladung als ihr Eigentum zu nehmen. Überlebende waren da nur im Weg. Und da kam nun Haie ins Spiel. Mit Hilfe seiner Knechte brachte er die eine oder andere Leiche – möglichst junge, kräftige Männer, denn die waren gefragt – in seine Karre, wo er sie stapelte.

Diesmal waren es zwölf Stück, eine respektable Beute! Von dem Erlös konnte die Familie etliche Monate überleben.

Als er seinen letzten Gang ans Ufer machte, sah er zu seinem großen Erstaunen, dass eine junge Frau von den Wellen an Land geworfen wurde. Was hatte sie auf dem Schiff gemacht? Es kam nicht allzu oft vor, dass junge Frauen auf einem Handelsschiff mitfuhren. Er betrachtete sie im Mondlicht: Sie war auffallend schön, mit ebenmäßigen Gesichtszügen und langen schwarzen Haaren. Ihre Kleider klebten an ihrem schlanken Körper wie eine zweite Haut. Irgendwie missfiel es ihm, sie wie ein Stück Abfall zu den Leichen auf den Wagen zu legen. So gab er Keno und Arfst ein Zeichen, loszufahren, und sorgte nun selbst für den Transport der schönen Toten, indem er sie in seine Arme nahm und vor sich aufs Pferd setzte.

Er lenkte den Gaul zum Strand, wo es noch immer hoch herging. Die Strandräuber schrien noch lauter als der Sturm, manche lachten und jauchzten vor Freude über die Beute, andere waren in heftige Schlägereien verwickelt, die auch schon so manch einheimischen Toten zurückgelassen hatten. Mehrere Holzboote schaukelten noch auf den Wellen, gerieten nun selbst in Seenot, während die Brigg bereits zur Hälfte versunken war. Weit draußen entdeckte Haie die Boote der Amrumer, die sich wohl schon auf die Beute gefreut hatten. Nun waren sie auf dem Rückzug.

Seine Knechte würden den Wagen in den Hafen fahren, die Leichen an Bord seines Seglers bringen und noch in dieser Nacht übers Wattenmeer nach Hoyer segeln. Was aber sollte er mit der Frauenleiche anfangen? Sie in der Düne begraben? Der Gedanke, dass sie im Sektionsraum aufgeschnitten und ausgeweidet wurde, behagte ihm gar nicht.

Haie gab dem Pferd die Sporen. Auf nach List! Unterwegs würde er sich überlegen, was er mit dieser Schönheit machen sollte.

Er war schon auf der Höhe von Rantum, als er bemerkte, dass die junge Frau fast unhörbar atmete. Dann schlug sie die Augen auf. Im fahlen Mondlicht sah er, dass sie glänzend und dunkel waren wie ein Stück Ebenholz.

List auf Sylt, 1914

Gemordet

Sorgfältig zog Carola die grüne Tinte in den Füllfederhalter, den der Großvater ihr zur Konfirmation geschenkt hatte, damals in Pommern, auf Gut Lubowitz. Sie war so stolz gewesen, als sie ihren Namen in goldener Schrift eingraviert sah: Carola Henriette Borgwart. »Möge er dir Glück bringen in deinem zukünftigen Leben, mein Kind«, hatte der Großvater gesagt, und genau das war auch eingetreten, dachte Carola. Glück, Anerkennung und Erfolg hatte er ihr gebracht, denn bald würde ihr vierter Lyrikband herauskommen. In Der Sturm, der Zeitschrift für Kunst und Kultur von Herwarth Walden, waren bereits zwei ihrer Gedichte abgedruckt worden, und eines davon hatte einen Preis erhalten. Im nächsten Heft sollte ein langer Artikel über sie erscheinen. Und nun hatte man sie gebeten, ihr Leben in Stichpunkten aufzuschreiben, als Vorbereitung sozusagen für den biografischen Abriss.

Sie rückte ihren Schreibblock zurecht. Geboren: 16. Juli 1890 auf Gut Lubowitz. Vater: Anton Jacob Borgwart, Gutsverwalter, gestorben 1899, da war sie gerade mal neun gewesen. Übersiedelung nach Sylt, als sie vierzehn war. Auf einer vornehmen Hochzeitsfeier im Hotel Adlon in Berlin hatte ihre Mutter den Manufakturbesitzer Heinrich Melander aus List auf Sylt kennengelernt. Acht Wochen später waren sie verlobt, sechs Monate danach verheiratet, womit natürlich auch ein Umzug nach Sylt verbunden war.

Carola fiel es schwer, sich von ihren Großeltern und dem Gut zu trennen, zumal sie zu ihrem Stiefvater keine sehr enge Beziehung aufbauen konnte. Er war ihr gegenüber freundlich, aber auch steif und geschäftsmäßig; und obwohl er zwei Söhne besaß, war ihm die Welt der Kinder verschlossen. Carl und Wilhelm verehrten ihren Vater zwar, doch das Verhältnis blieb distanziert. Carola war insofern ganz zufrieden, als sie von ihrem Stiefvater nicht allzu viel mitbekam. Heinrich hatte einige Jahre zuvor, zusammen mit einem Freund, ein inzwischen äußerst erfolgreiches Unternehmen gegründet, in dem Fahrzeuge für kleine Kinder hergestellt wurden. Dreiräder, Roller, Draisinen, Fahrräder, Tretautos. Sogar bis nach Übersee reichten die Geschäftsbeziehungen der Melander-Werke. Er hatte also in seiner Manufaktur, die sich auf dem Gelände des Lister Hafens befand, genug zu tun, und für die Kinder blieb ihm wenig Zeit.

Wilhelm und Carl waren ein paar Jahre älter als Carola, genauer gesagt, fünf und sieben Jahre. »Und ich Schaf habe mich sofort in ihn verliebt«, dachte Carola belustigt, während sie den Füller beiseitelegte und verträumt aus dem Fenster auf die karge Dünenlandschaft blickte.

Wilhelm! Er war ihre große Liebe gewesen, von Anfang an.

Er war so anders als sein älterer Bruder. Immer zu Streichen aufgelegt, spontan, temperamentvoll, und sein herzhaftes Lachen drang durch alle Räume. Auf jeden Fall war er der Liebling der Köchin, die ihm allerlei Leckereien zwischen den Mahlzeiten zusteckte, die er dann mit Carola in seinem Versteck hinter den Eiben teilte. Sein Bruder Carl war ein Einzelgänger, und Carola schien es, als sei er kalt und berechnend. Wenn er sie durch seine dicke, randlose Brille betrachtete, als habe er ganz vergessen, dass sie ein Mensch war und kein Insekt unter einem Mikroskop, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Wilhelm war menschlicher und berechenbarer. Wenn er sie mit seinen großen, dunklen Augen unter dem schwarzen Haarschopf ansah, sah sie den Schalk darin, und ihr Herz flog ihm zu.

Wieder unterbrach sich Carola in ihrer Niederschrift. Es war befreiend, ihr Leben Revue passieren zu lassen, aber ihr war klar, dass ihre Ausführungen viel zu ausführlich waren, ein paar Stichworte würden genügen. Etwa, dass sie seit zwei Jahren mit Wilhelm verlobt war – seit er seine Studienzeit in Tübingen beendet hatte – und ihn bald heiraten würde. Das interessierte die Leser. Das andere vielleicht auch, aber allzu privat wollte sie nun doch nicht werden.

Versonnen lehnte sie sich zurück. Im Haus war es sehr still. Die drei Herren waren, wie meist um diese Zeit, noch in der Manufaktur, ihre Mutter hatte sich jetzt gegen Abend, nachdem es kühler geworden war, zu einem Besuch bei der kranken Frau eines der Arbeiter aufgerafft, um ihr einen Korb mit Obst zu bringen. Die Angestellten arbeiteten unten in der Küche. Carola liebte es, allein im Haus zu sein. Sie liebte es, durch die Räume zu gehen, das glänzende, seidige Holz der Tische und Schränke zu fühlen, die Schnitzereien zu sehen, die weichen Teppiche unter den Füßen zu spüren, die alten roten Holzdielen knacken und knirschen zu hören. Sie liebte den Duft von Sandelholz, altem Papier, Leder und Zigarillos im Herrenzimmer, das eigentlich Heinrichs Arbeitszimmer und für sie tabu war, in dem er seine Konferenzen mit den Söhnen und Thure Bassewitz, seinem Partner, abhielt, und wo er wichtige Entscheidungen traf. Oft schlich sie sich dennoch in sein Zimmer, setzte sich an den Schreibtisch aus Palisander und Vogelaugenahorn, mit den vorgesetzten Balustersäulen und der gediegenen grünen Lederauflage und suchte nach Inspiration für ihre Gedichte. Hier fühlte sie sich wohl und ein klein wenig bedeutend. Ihr eigener Schreibtisch war eher zierlich. Früher hatte er ihrer Mutter gehört und war ein Geschenk ihres fortschrittlichen Großvaters gewesen, der ihn seiner Tochter aus England mitgebracht hatte. Doch als Carolas erster Gedichtband herauskam, hatte ihn ihr die Mutter überlassen, und Carola war unbeschreiblich stolz und glücklich gewesen. Sollte Wilhelm doch darüber spotten, dass sie einen eigenen Schreibtisch besaß. »Als wenn ein simpler Tisch für deine Schreiberei nicht genügen würde!«, hatte er gesagt. Sie lächelte still vor sich hin. Wenn er wüsste, dass in ihrem kleinen Schreibtisch ein wunderbares Geheimfach vorhanden war, in dem sie alles verstecken konnte, was seine neugierigen Augen nicht sehen sollten! Aber sie würde sich hüten, es ihm zu erzählen!

Dass sie Gedichte schrieb und damit auch noch erfolgreich war, nahm Wilhelm nach wie vor nicht ernst, hatte aber auch keine Einwände dagegen. Manchmal, an stillen Sommerabenden, nahm er sich sogar die Zeit, sich ihre neuesten Werke vorlesen zu lassen. Meist saßen sie dann im Pavillon, der ein Stück vom Haus entfernt auf einer Anhöhe stand, nahe der Großen Düne. Carola mochte den Pavillon eigentlich nicht. Außer einem schönen Blick aufs Meer bot er nichts, was sie anzog. Vor allem mochte sie die Nähe zur Düne nicht, diesem weißen Sandhaufen, der ihr Schauer über den Rücken jagte.

Carola fand, dass dieser aus so unfassbar viel Sand geformte, langgestreckte Koloss ein seltsames Eigenleben besaß, obwohl sie nicht genau erklären konnte, woran sie das festmachte. Die Düne hatte ein verborgenes Leben und, wie ihr schien, ein pochendes Herz. Der Sand war, leise knisternd und voller Geheimnisse, ständig in Bewegung. Kompromisslos gehorchte er dem Wind unter dem Orgelton des Meeres. Schon seit Menschengedenken schleppten sich die Sanddünen über die Insel, ausgehend vom Meer im Westen und alles unter sich begrabend, was ihnen im Wege war: Wald, Heide, Fischerkaten. Auch diese Düne wanderte, mehrere Meter im Jahr, und irgendwann würde sie auf der anderen Seite der Insel im Wattenmeer versinken. Doch bis dahin hätte sie Leben vernichtet wie das kleine Wäldchen, dessen Baumgerippe seine weißgebleichten Äste in einer hilflosen Geste aus dem Sand gen Himmel streckte.

Nein, Carola mochte die Große Düne nicht, sie machte ihr Angst. Doch um dieser Angst zu begegnen, sie vielleicht einmal überwinden zu können, ging sie immer wieder an der Düne spazieren, umrundete sie, griff sich eine Handvoll des feinen Sandes und ließ ihn durch die Finger rieseln.

Auch heute spazierte sie hinaus in den lauen Sommerabend, bis zum Pavillon führte sie ihr Weg. In ihrer Erinnerung hörte sie lachende, kreischende Jungenstimmen, denn Carl hatte eins ihrer Gedichte an sich gebracht, die sie damals, siebzehnjährig, für Wilhelm geschrieben hatte, der gerade zum Studium nach Tübingen abgereist war.

Dein Lächeln

Ich zehre am Abend davon

Wenn es kalt wird

Wenn der Hunger kommt

Wenn die Ratten das sinkende Schiff verlassen.

Dein Lächeln:

Mein Leuchtturm

Mein Herdfeuer

Meine letzte Zuflucht

Du Licht meines Herzens,

wann kommst du zurück?

Sie konnte es immer noch auswendig, obwohl sie es damals, nachdem Carl und seine Freunde sie mit Hohn und Spott überschüttet hatten, heulend in den Kamin geworfen hatte.

Natürlich war es schauderhaft schlecht gewesen, besonders die Stelle mit den Ratten – wie war sie nur darauf gekommen? –, doch vom Schreiben hatte sie diese Erfahrung nicht abhalten können.

Und noch ein anderes unangenehmes Erlebnis verband sie mit dem Pavillon, das sich einfach nicht aus ihrer Erinnerung löschen ließ. Es war ein schöner Abend gewesen, den sie kurz nach ihrer Verlobung mit Wilhelm im Pavillon verbracht hatte. Nach dem Essen waren sie hinausgewandert, hatten den romantischen Sonnenuntergang betrachtet und Wein getrunken. Plötzlich und gänzlich unerwartet hatte Wilhelm sie heftig in den Arm genommen und wild geküsst. Es war das erste Mal, dass er sich so benahm, und Carola war völlig verstört gewesen und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie versuchte, ihn zurückzuschubsen und von sich fernzuhalten, doch er riss ihr Bluse und Mieder auf und biss sie in die Brust. Erst ihr Schmerzensschrei brachte ihn wieder zur Besinnung. Danach hatte er sich mehrfach entschuldigt, ihr die Bluse zugeknöpft und sie mit einer zärtlichen Umarmung wieder ins Haus geleitet.

»Männer sind eben so, das müssen wir hinnehmen«, hatte die Mutter Carola am nächsten Tag erklärt. »Manchmal können sie sich einfach nicht beherrschen, dann geht es mit ihnen durch. Aber du kannst daraus ersehen, dass Wilhelm dich liebt! Und das ist es doch wert, oder nicht?«

Inzwischen war sie sich da nicht mehr so sicher. Sein Benehmen ihr gegenüber wurde immer seltsamer, immer zudringlicher. Daher schloss sie nun jeden Abend ihre Tür ab und hütete sich auch tagsüber, mit Wilhelm allein zu sein.

Warum, fragte sie sich unglücklich, als sie ins Haus zurückkehrte, konnte sie nicht einfach vergessen, was er getan hatte? Sie ging durch die große Halle, in der eine Art Ahnenreihe der Melanders prunkte, stolz aufgehängt von ihrem zukünftigen Schwiegervater. Alles aufrechte, hochmütige Männer, dachte Carola, Männer mit großen, ebenholzschwarzen Augen. Haie, der Deichgraf, auf seinem Rappen, Heinrich, der erfolgreiche Fabrikherr, an seinem Schreibtisch. Und dazwischen all die anderen, die immer zu den Honoratioren der Insel gehört hatten.

Plötzlich ganz erschöpft, stieg Carola die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, holte ihre Mappe hervor, nahm den Füllfederhalter und begann zu schreiben.

Eine Stunde später blickte sie erstaunt auf ihren Text. Hatte sie das eben geschrieben? Wie in Trance war die Feder übers Papier gefahren und hatte ihr ein ungeahntes Glücksgefühl beschert, ein Gefühl der Befreiung.

Während sie darüber nachsann, glaubte sie, ein Geräusch zu hören. Ein Rascheln, das vorsichtige Knarren von Holz. Eine Tür, die leise geschlossen wurde. Sie stand auf, ging zur Galerie, lauschte. War ihre Mutter zurückgekommen? Aber sie pflegte doch immer laut zu rufen, wenn sie hereinkam: »Ich bin zurück!«

Nein, ihre Mutter war es nicht. Carola stand oben an der geschwungenen Treppe und blickte in die Halle hinab. Kein Mensch war zu sehen, kein Laut zu hören. Das Geräusch war aus dem rechten Flügel des Hauses gekommen, der in Richtung der Straße lag und in dem sich das Arbeitszimmer von Heinrich befand. Langsam, unentschlossen ging sie hinüber und öffnete leise die Tür. Am Schreibtisch, mit dem Rücken zu ihr, saß ein Mann im maßgeschneiderten grauen Tweedanzug. Heinrich? War er krank? Sein Kopf lag auf dem Tisch, ein Arm hing kraftlos nach unten. Erst als sie näher kam, entdeckte sie das Blut, das sich wie ein Kranz um den Kopf herum gebildet hatte und mittlerweile fast schwarz war. Und es war nicht Heinrich, sondern Thure Bassewitz, der Kompagnon ihres Stiefvaters.

Unten knarrte das Tor. Carola rannte zum Fenster und sah gerade noch, wie jemand in gestreiften Hosen und einer karierten Schlägermütze, die sie sehr gut kannte, auf der Straße davonlief. Ein Rascheln ließ sie herumfahren. Einer der langen, samtenen Vorhänge vor einem der hinteren Fenster, der seltsamerweise zugezogen war, bewegte sich leicht. Versteckte sich da jemand? Carola rannte zur Tür, die Treppe hinunter und aus dem Haus, bis hinüber zu den Nachbarn, zu ihrer Freundin Geseke. Sie stürzte durch den Garten in die Küche.

»Holt die Polizei! Bei uns im Haus liegt ein Toter!« rief sie atemlos, bevor sie auf der Küchenbank niedersank und sich völlig verwirrt fragte, ob sie das eben wirklich erlebt hatte.

Flensburg, Nordfriesland/List auf Sylt, 1915

Gehenkt

3. März 1915

Mein Liebling, meine liebste Regine,

heute ist mal wieder ein Tag, an dem wir schreiben dürfen. Eben hat mir der Wärter, auf meinen Wunsch hin, Papier und Feder in meine Zelle gebracht, und so kann ich Dir endlich ein paar Worte zukommen lassen.

Wie geht es Dir, meine Geliebte? Ich hoffe sehr, Du und die Kinder, Ihr befindet Euch wohl, und dass die Hilfe Deiner Eltern nicht nachlassen mag. Ich bin gottfroh, dass auch sie an meine Unschuld glauben. Du und ich, meine Liebste, wir wissen, dass ich Bassewitz nicht erschlagen habe, aber was nützt uns das? Man hat mich schuldig gesprochen, und niemand glaubt uns, dass ich zu dieser Zeit zu Hause bei Dir war. Nachher will mich noch einmal mein Verteidiger besuchen, Herr Kehrmann, warum, weiß ich nicht. Was kann er denn jetzt noch tun? Vielleicht, ja ganz vielleicht kommt er, um mir zu sagen, dass die Todesstrafe umgewandelt wurde in eine Zuchthausstrafe. Das ist meine Hoffnung, obwohl … ist lebenslanges Zuchthaus soviel besser als ein schneller Tod? Ich weiß es nicht. Ich weiß allerdings, dass sich der Mensch an alles gewöhnt, selbst an die schlimmsten Situationen, so wird vielleicht auch das nicht so schlimm, wie ich es mir jetzt vorstelle …

Ach mein Liebstes, ich will Dir das Herz nicht schwer machen, aber was soll ich sagen? Es gibt so wenig Erfreuliches hier … Doch, eines hat mich gefreut: Wir bekamen gestern Abend eine Gemüsesuppe, die ausnahmsweise einmal herzhaft gewürzt war, das hat mich etwas belebt. Sonst gibt es meist nur Wasser- und Milchsuppe. Dass Du mir immer Kuchen mitbringst, ist vielen hier ein Dorn im Auge. Ich freue mich so sehr, dass Du mich bald besuchen kommst, mein geliebtes Mädchen. Versprichst Du mir eins? Lass uns über die schönen Momente in unserem Leben reden, über die Kinder, unsere Hochzeit, unsere Ausflüge an den Strand … wie sehr ich das alles vermisse! Ich sitze oft hier auf der Holzpritsche, schließe die Augen und lasse im Geiste ganze Landschaften entstehen – komischerweise scheint dort immer die Sonne –, das glitzernde Meer, der warme Sand, die Kinder, die »Backe, backe Kuchen« spielen, und Mohrli, der sich durch den Sand auf die andere Seite des Erdballs buddeln will … Ich hoffe, er frisst jetzt wieder anständig?

Manchmal, vor dem Schlafengehen, spüre ich Deine weichen Arme um mich, die Wärme Deiner Haut … und fühle mich, nur für wenige Augenblicke, getröstet. Werden wir je wieder zusammenkommen?, frage ich mich.

Gerade war Kehrmann da. Er teilte mir mit, dass meine Hinrichtung am 7. Mai stattfinden soll. Aber er hatte auch einen kleinen Hoffnungsschimmer: Er meinte, wenn ich genügend Fürsprecher fände, bestünde die Möglichkeit einer Begnadigung, da ich mir bisher im Leben kein Fehlverhalten habe zu Schulden kommen lassen. Ich weiß jetzt nicht, ob ich hoffen oder bangen soll, meine Liebste …

Regine Johannsen betrat nur zögernd die Bibliothek. Die hohen Regale mit hunderten von Büchern und ledergebundenen Folianten schüchterten sie ein. Die Luft roch abgestanden, kalt. Heinrich Melander deutete auf einen tiefen Ledersessel, in dem die zarte, abgemagerte Regine fast verschwand. Er selbst setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl.

»Was kann ich für Sie tun, Frau Johannsen?«

Regine riss sich zusammen. Sie hatte sich doch tausendmal vorgebetet, was sie dem ehemaligen Chef ihres Mannes sagen, um was sie ihn bitten wollte, doch jetzt erinnerte sie sich an kein einziges Wort.

Er sah so vornehm aus, so unnahbar in seinem dreiteiligen Anzug mit dem Lederrevers und der goldenen Taschenuhr, die er mit leiser Ungeduld immer wieder durch die Finger gleiten ließ. Sein grauer Schnauzer war exakt gestutzt, der Scheitel kerzengerade gezogen. Mit seinen dunklen Augen sah er sie unverwandt an.

Himmel! Er konnte sich doch wohl denken, was sie wollte.

»Bitte« – sie knetete ein Taschentuch zwischen ihren Händen, denn die Tränen wollten schon wieder kommen –, »bitte, können Sie nicht irgendwas für meinen Mann tun? Er hat doch lange und gut für Sie gearbeitet …«

Ihre Stimme verlor sich. Das war der falsche Anfang gewesen! Immerhin hatte Heinrich Melander Frerk rausgeschmissen, angeblich, weil er in angetrunkenem Zustand die Herstellung eines teuren Tretautos völlig verhunzt hatte. Frerk hatte angeboten, das Material zu bezahlen, doch das hatte man abgelehnt. Auch die Erklärung, dass er in der Mittagspause nur ein einziges Gläschen Schnaps getrunken hatte anlässlich der Geburtstagsfeier eines Freundes, hatte ihn nicht gerettet, obwohl die Chefs wissen mussten, dass Frerk sonst nie trank. Dafür wäre auch gar kein Geld übrig gewesen, bei zwei Kindern. Nein, sie musste anders anfangen, noch mal von vorn.

Regine strich sich ein paar karottenrote Strähnen aus dem Gesicht voller blasser Sommersprossen.

»Frerk hat mir geschrieben«, erzählte sie leise und drängend, »einen völlig verzweifelten Brief. Er hat erfahren, dass sein Todesdatum jetzt feststeht: im Mai! In zwei Monaten wollen sie ihn hängen!« Sie rang die Hände. »Bitte … Sie müssen etwas für ihn tun! Er hat Herrn Bassewitz doch nicht erschlagen! Das weiß ich genau, denn er war zu der Zeit bei mir zu Hause. Warum glaubt uns denn niemand, um Himmels willen?«

»Nun ja, gute Frau, er ist gesehen worden, hier auf dem Gelände, das wissen Sie doch. Meine Stieftochter hat ihn erkannt.«

»Kann ich sie sprechen?«, fragte Regine hastig. »Nur für einen kurzen Augenblick? Ich will sie nicht belästigen, aber sie muss sich geirrt haben …«

Heinrich Melander holte ein silbernes Etui aus seiner Anzugtasche, entnahm ihm ein schlankes Zigarillo und zündete es an. Er sah Regine mit einem Ausdruck an, den sie nicht ganz deuten konnte. »Fräulein Borgwart ist nicht mehr bei uns. Tut mir leid, gute Frau, aber ich wüsste nicht, was ich für Sie oder vielmehr Ihren Mann jetzt noch tun könnte. Er wurde rechtmäßig verurteilt, nach den Regeln der deutschen Justiz.«

»Aber das Urteil ist falsch!«, rief Regine verzweifelt. »Frerk ist ein herzensguter Mensch, er könnte niemals einen anderen Menschen erschlagen! Er hat es nicht getan, ich weiß es doch, er war bei mir und hat die Wäsche gelegt!« Sie wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. »Sie können ihn doch nicht aufhängen für etwas, das er nicht getan hat! Gibt es denn keine Gerechtigkeit mehr?«

Heinrich Melander stand auf und wanderte im Zimmer hin und her. »Ich könnte ein Billett an den Innenminister schicken und um Gnade bitten«, sagte er zögernd. »Ich könnte mit dem Richter reden. Aber ob das was nützt …«

»Das würden Sie tun?«, fragte Regine eifrig. »Bitte … würden Sie es tun?«

Er blickte auf sie hinunter, ein hochgewachsener Mann mit undurchschaubarer Miene. »Ich kann es versuchen«, sagte er steif. »Aber machen Sie sich keine allzu große Hoffnungen … Verstehen Sie: Mein ältester Sohn wurde eingezogen, er muss in den Krieg, ich selbst habe auch meine Sorgen …«

Kurz darauf stand Regine Johannsen im Hof des großen Anwesens, noch immer halb betäubt von Melanders Redefluss. Meinte er es ernst, oder hatte er sie nur loswerden wollen? Die Erleichterung, die sie im ersten Augenblick empfunden hatte, als er sie aus dem Zimmer geleitete und sie die großartige, geschwungene Treppe hinunterstieg, die von der Galerie in eine pompöse Halle voller Ahnenbilder führte, war schon wieder einem dumpfen Druck gewichen, den sie als Angst, ja fast schon als Panik erkannte.

In der Ferne erhob sich wie ein Koloss die verwunschene Düne.

Verwundert betrachtete sie die Krokusse, die im hellen Sonnenlicht aus dem Boden sprossen, das grelle Gelb der Forsythienbüsche, die im Heidekraut anfingen zu blühen. Es wurde Frühling, ging es ihr durch den Kopf, und sie erschrak. Für sie war es bisher Winter gewesen, ein langer, kalter, grausamer Winter ohne ein Licht der Hoffnung. Bald, allzu bald würde der Mai ins Land ziehen. Was würde nur aus ihnen allen werden?

Am 7. Mai 1915 beschoss ein deutsches U-Boot das Passagierschiff Lusitania; über tausend unschuldige Zivilisten, die auf dem Weg von New York nach Europa waren, ertranken im kalten Atlantik. Die Zeitungen berichteten weltweit.

Ebenfalls am 7. Mai 1915 wurde in Flensburg der Häftling Frerk Johannsen morgens gegen sechs Uhr durch den Strick hingerichtet.

Auch er ein unschuldiger Mann, doch darüber berichtete keine Zeitung.

Seine junge Frau brach an seinem Grab weinend zusammen.

Kapitel 1

Lilly ließ ihr Strickzeug, das ein langer Winterschal für John werden sollte, sinken. Ihre Hände schwitzten, und ihr war klar, dass es eine wahre Schnapsidee gewesen war, bei dreißig Grad Hitze mit warmer Wolle in Kontakt zu kommen, selbst wenn sie im Schatten saß. Sie legte das Strickzeug beiseite und versenkte Hände und Arme in einem Eimer mit Eiswasser, den sie mit auf die Terrasse gebracht hatte. Außer ihren Händen kühlte er auch eine Flasche mit einem selbstgemachten Mix aus Mineralwasser und Grapefruitsaft. Das kalte Wasser erfrischte Arme und Ellenbeugen; sie spritzte es sich ins Gesicht und aufs Dekolleté und benetzte den Hals, besonders im Nacken. Sofort fühlte sie sich ein bisschen wohler. Große Hitze war einfach nicht ihr Ding, zumal der allgegenwärtige erfrischende Nordseewind heute zu einem heißen Wüstenhauch verkommen war. Nichts außer den Rasensprengern auf den angrenzenden Grundstücken bewegte sich, selbst die watteartigen Wölkchen schienen am unbarmherzig blauen Himmel festgewachsen zu sein. Sommer auf Sylt – er war unberechenbar wie die Lottozahlen. Letzte Woche noch hatte es gestürmt und geregnet, jetzt hielt man es in den schattenlosen Dünen und am Strand kaum aus.

Lilly stand auf, um John die kalte Flasche aus dem Eimer zu bringen. Sie wunderte sich, dass ihm die Hitze nicht mehr zusetzte. Die ganze Zeit hatte sie die eifrigen Klopfgeräusche vernommen, mit dem er in seinem kleinen Dünenverhau den Stein bearbeitete, der einmal zu einem Charakterkopf werden sollte. Vor gut einem Jahr hatte John festgestellt, dass es ihm Spaß machte, Stein künstlerisch zu gestalten. Er hatte sich verschiedene Materialien kommen lassen, sie in einer Dünenmulde auf seinem Grundstück in einem hölzernen Unterstand gelagert, war dann aber monatelang nicht dazu gekommen, sich mit seinem neuen Hobby zu beschäftigen. Er behauptete, ihm fehle die innere Ruhe dazu. Letztes Wochenende aber, nach einem eher geruhsamen Frühjahr, in dem sich die Kriminalität in Grenzen gehalten und sie sich im Flensburger Morddezernat beinahe schon gelangweilt hatten, war er auf die Idee gekommen, einen Kopf zu gestalten, ohne Vorlage, einfach aus der Fantasie heraus. »Mal sehen, wohin mich mein Meißel führt«, hatte er grinsend gesagt und einfach angefangen. Und nun, nach einer Woche, war er immer noch dabei. Beide, Lilly und John, hatten sich Urlaub genommen und an das Wochenende drangehängt, so dass sich Lilly auf ein paar entspannte Tage freute. Sie lief auf nackten Füßen durch den Sand, hinunter in das kleine Dünental, das zu Johns altem Kapitänshaus gehörte, und überraschte ihn in dem hölzernen Unterstand, indem sie ihre immer noch kalten Hände in seinen Nacken legte. Sie fuhr mit der Hand in sein volles braunes Haar, so dass es in alle Richtungen stand, kraulte seinen Hinterkopf gegen den Strich, bis er aufhörte zu meißeln, sich aufrichtete und nach mehr kühlenden Massageeinheiten verlangte.

»Mein Nacken ist völlig verspannt von der Arbeit«, behauptete er.

Lilly stellte die kalte Flasche auf einen Tisch mit verschiedenen Werkzeugen. »Darüber reden wir später, mein Lieber. Hier, trink ein paar Schluck, sonst dehydrierst du noch.« Sie legte den Kopf schief und betrachtete Johns Werk. Immerhin konnte man inzwischen vage erkennen, dass es ein Kopf werden sollte. Welchen Geschlechts, war allerdings unklar. »Das Grübchen in der Wange, ist das Absicht? Oder ist dir da der Meißel abgerutscht?« Sie setzte sich auf den Tisch und ließ die nackten, schon gut gebräunten Beine baumeln.

John Benthien, Erster Hauptkommissar bei der Flensburger Kripo, der sich gerade sein restliches Mineralwasser wie eine Dusche über den Kopf goss, sagte würdevoll: »Alles hier ist Absicht, Lilly.«

»Auch die Kartoffelnase?«

»Ich bin noch dabei, sie zu glätten.« Tropfen des Mineralwassers hingen an Nase und Kinn und suchten sich den Weg nach unten. »Du hast kein Vertrauen zu mir«, klagte John. »Du denkst, ich bin ein blutiger Amateur.«

»Niemals«, versicherte Lilly. »Ich habe vollstes Vertrauen in deine Fähigkeiten. Besonders nach dem dreitägigen Steinmetzlehrgang, den du gemacht hast. Möchtest du was Kaltes essen? Ich hätte griechischen Joghurt mit gekühlten Ananasstückchen im Angebot.«

Dazu konnte John natürlich nicht nein sagen. Lilly sprang vom Tisch, umarmte ihn flüchtig und sagte: »Ich hoffe, du werkelst nicht die ganze Zeit an deinem Kopf herum. Ich will auch noch was von dir haben.«

John warf ihr nur einen Blick zu, aus Augen, die, was die Farbe anbelangte, dem Himmel Konkurrenz machten, dann setzte er schon wieder den Meißel an.

Auf dem Rückweg zur Terrasse fiel Lilly ein Junge auf, der in der kurzen Sackgasse herumlungerte, die zu der Düne führte, auf deren Gipfel das alte Kapitänshaus stand. Ab und zu warf er einen Blick nach oben. Ansonsten war alles menschenleer und grabesstill, kaum ein Auto fuhr die Listlandstraße entlang. Die Reetdächer der Häuser lugten zwischen den Dünen hervor, ab und zu blitzte ein gelber oder blauer Sonnenschirm durch das hoch geschossene Dünengras, selbst das Meer murmelte nur leise vor sich hin und produzierte keine Wellen.

Johns Friesenhaus, das ihm und seinem Vater gehörte – ererbt von den Vorvätern –, ächzte unter der Hitze; der Dachstuhl mit dem Reetdach, das bald mal erneuert werden musste, roch nach altem Holz, nach Staub und Gräsern, hielt das Haus aber angenehm kühl. Lilly ging in die Küche, nahm den cremigen Joghurt aus dem Kühlschrank, süßte ihn mit etwas flüssigem Süßstoff und schnitt die Ananasringe in kleine Stücke, die sie dem Joghurt hinzufügte. Draußen vor dem Küchenfenster, tief unter ihr, schmolz langsam der Asphalt auf der Straße und begann, Blasen zu werfen. Niemand außer dem Jungen war zu sehen, den sie von der Terrasse aus schon beobachtet hatte. Wollte er etwas von John, von ihr oder von Johns Vater, der gerade auf einer Wattwanderung war? Sollte sie ihn rufen, ihn ansprechen? Während sie noch überlegte, war der Junge verschwunden. Sie stellte die beiden Schälchen auf ein Tablett und trug sie hinaus auf die Terrasse, brachte John seins und wurde durch einen zerstreuten Kuss belohnt.

»Iss, bevor es warm wird«, empfahl sie John noch, der ganz versunken schien in seine Arbeit. Dann ging sie zurück zur Terrasse, schob ihren Stuhl ein wenig zur Seite, um mehr Schatten zu bekommen, legte ihre nackten Füße auf einen zweiten Stuhl und genoss jeden Löffel der cremigen Erfrischung.

So ganz konnte Lilly ihr Glück immer noch nicht fassen, dass sie nun mit John zusammen war, der Kollege, mit dem sie seit fünf Jahren bei der Mordkommission in Flensburg zusammenarbeitete. Als sie sich kennengelernt hatten, war John noch mit seiner Lebensgefährtin Karin liiert gewesen und Lilly mit dem Fotografen Simon, der sich zumeist in Kriegsgebieten herumtrieb und daher in der Hauptsache abwesend war. John war ein sehr angenehmer Kollege und Vorgesetzter, teamfähig, fair, der Leistung anerkannte und auch mit Lob nicht geizte. Irgendwann waren beide wieder solo gewesen, und es war eine Art Kameradschaft entstanden, obwohl Lilly sich schon immer eine feste Beziehung hatte vorstellen können. Aber auch John? Sie war sich da nicht so sicher gewesen und hatte sich zurückgehalten – immerhin waren sie Arbeitskollegen –, bis er sich vor einigen Monaten ein Herz gefasst und deutlich gemacht hatte, dass er sich durchaus mehr vorstellen könnte als nur Freundschaft.

Doch ihre Beziehung war schnell auf die Probe gestellt worden. Im eiskalten Februar, während einer sehr belastenden Mordermittlung, kam es zu einer Krise. Simon kehrte schwerverletzt nach Deutschland zurück. Da sie sich in aller Freundschaft getrennt hatten und Simon keine Verwandtschaft mehr in Deutschland hatte – seine Schwester lebte in London –, fühlte Lilly sich verpflichtet, sich um ihn zu kümmern; sie besuchte ihn im Krankenhaus, tröstete ihn, hörte zu und erledigte alle wichtigen Gänge für ihn. Doch seine Bemühungen, sie wieder zurückzugewinnen, lehnte sie ab. Das kam für sie überhaupt nicht in Frage.

Leider, fand Lilly, hatte sie sich damals sehr ungeschickt verhalten, da sie John nicht gleich reinen Wein eingeschenkt hatte. Sie hatte ihn zusätzlich zu den Ermittlungen mit ihren privaten Problemen nicht belasten wollen, und er hatte wohl befürchtet, Simon könnte in ihrem Leben doch wieder eine Rolle spielen.

Inzwischen waren aber alle Missverständnisse ausgeräumt, Simon war weit weg in London, wo er für eine Zeitung arbeitete. Lilly glaubte zwar, dass er sich eine Wiederbelebung ihrer Beziehung noch immer nicht so ganz aus dem Kopf geschlagen hatte, er rief sie häufiger an und wurde ihr manchmal ein bisschen zu vertraulich, aber sie war doch sehr erleichtert gewesen, als sich mit John alles wieder eingerenkt hatte. Simon war schließlich zu einem Invaliden geworden, nachdem ihm eine Landmine den Unterschenkel weggerissen hatte; da musste auch John irgendwann einsehen, dass Lilly das nicht einfach hatte ignorieren können und ihm aus diesem Grund geholfen hatte.

Und nun war alles gut.

Lilly lutschte verträumt an ihrem Löffel mit dem sahnigen Joghurt und fühlte sich einfach nur glücklich. Sonne, Wildhecken von duftenden Kamtschatkarosen, ein altes Haus mit Blick über die wogende Dünenlandschaft hinüber zu einem unwahrscheinlich blauen Meer, John, der zufrieden an seinen Steinen werkelte, die Aussicht auf ein paar freie Tage, pure, reine Schönheit … sie war wirklich ein Glückskind. Jedenfalls im Augenblick. Und Johns liebenswerter Vater war auf einer Wattwanderung. Was konnte man mit diesem Nachmittag alles anstellen, allein im Haus, allein auf dem Grundstück?

Sie kühlte ihre Hände nochmals im Eiswasser, um sie John gleich erneut in den Nacken zu legen, bevor sie ihm sanft den Meißel aus der Hand nehmen würde … als eine Bewegung auf der Terrasse sie ablenkte.

Der fremde Junge, der noch vor einigen Minuten unten um das Haus herumgelungert hatte, war offenbar inzwischen die Düne hochgeklettert, stand am Rande der Terrasse und starrte sie aus großen, dunklen Augen an. Unschlüssig trat er von einem nackten, schmutzigen Fuß auf den anderen. Sie war sich nicht sicher, meinte jetzt aber, ihn schon einmal auf dem Fahrrad hier in der Gegend gesehen zu haben. Sie schätzte ihn auf vierzehn oder fünfzehn. Ein schmuddeliges graues Shirt zipfelte um seine hagere Gestalt, dazu trug er bunte Bermudas. Sein wilder brauner Haarschopf schien seit Tagen nicht mehr gekämmt worden zu sein, um den Hals hatte er ein Lederband hängen. Er hatte ein hübsches Gesicht mit ein paar Pickeln auf dem Kinn, zu lange Arme und eine etwas eingefallene Brust, die nicht dafür sprach, dass er viel Sport machte. Sein Blick war unstet, er vermied es jetzt, sie direkt anzusehen, sondern schaute über die Dünen und die Terrasse, musterte den aufgespannten Sonnenschirm, das leergegessene Joghurtschälchen auf dem mit einem dunkelgrünen Tuch bedeckten Tisch, den Wassereimer, den Stapel von Kriminalromanen.

»Hier wohnt doch der Kripo-Typ aus Flensburg?«, sagte er schließlich, bevor seine Augen wieder auf Wanderschaft gingen. Seine Stimme klang dunkel und rau, der Stimmbruch musste wohl demnächst abgeschlossen sein.

Lilly seufzte innerlich. »Was willst du von ihm?«

Der Junge kam unschlüssig zwei Schritte näher. Jetzt entdeckte sie, dass er etwas in der Hand hielt, das auf den ersten Blick aussah wie kleine, dünne Zweige.

»Ich wollte ihm das hier zeigen.«

»Was ist das?«

Der Junge kam noch einen Schritt näher und ließ seinen Fund auf den Tisch fallen. Lilly fuhr entsetzt zurück.

»Das sind zwei Mittelhandknochen eines Homo sapiens und die proximale Phalange des Daumens – oder des kleinen Fingers, das kann ich nicht so genau entscheiden.«

Lilly, etwas verwirrt von den unerwarteten Fachausdrücken, starrte den Jungen an. »Wo hast du dieses Zeug her?«

»Gefunden«, sagte der Junge lakonisch. Sehr gesprächig schien er nicht zu sein.

Lilly schaute noch einmal auf die Knochen. Es konnten durchaus die Mittelhandknochen einer menschlichen Hand sein, sie hatte in ihrer Berufslaufbahn und in der Rechtsmedizin schon etliche Skelette gesehen. Nur, wo hatte der Junge sein Wissen her? War der Vater Mediziner? Hatte der Junge in seinen Fachbüchern geschmökert, gehörte er zu jenen, die schon in jungen Jahren wussten, was sie einmal werden wollten? Auf jeden Fall war er ein besonderer Typ, wie er so ernst dastand und geduldig darauf wartete, dass sie etwas unternahm.

Lilly stand auf. »Komm mit. Ich bringe dich zu Kommissar Benthien.«

Benthien stand vor dem Steinkopf, von dem er noch nicht wusste, ob er ihm gelingen würde, und begutachtete ihn von allen Seiten. Er hatte keinen Plan gehabt, als er anfing, den Stein zu bearbeiten. Er wusste nur, dass er dem Stein einen Kopf abringen wollte, einen Charakterkopf, doch eine genaue Vorstellung davon hatte er nicht. Er ließ sich sozusagen von seinen Händen leiten, von seinem Unterbewusstsein, ganz im Vertrauen darauf, dass dabei etwas entstehen würde, das zu ihm gehörte, das Ausdruck seiner Persönlichkeit war, etwas ganz Unverwechselbares.

Er trat zwei Schritte zurück und betrachtete sein Werk. Hm … Die Stirn war ganz gut geworden, doch die Wölbung der Augenbrauen machte ihm Sorgen. Er kniff ein Auge zu und fand, dass die Wölbungen ungleichmäßig waren, die rechte schien tiefer zu sitzen als die linke. Aber machte das was aus? Er fand nicht; zwei ungleiche Augen machten ein Gesicht nur individueller, aussagekräftiger, Symmetrie war doch eher langweilig.

Er wollte gerade wieder loslegen, als er Lilly kommen sah, gefolgt von einem halbwüchsigen Jungen, der ihm vage bekannt vorkam. Doch sein Name fiel ihm nicht ein. Benthien langte nach einem Handtuch, mit dem er sich den Schweiß vom Gesicht wischte, bevor er es sich um den Hals legte. Erwartungsvoll sah er seinem Besuch entgegen. Er registrierte, dass Lilly etwas beunruhigt zu sein schien.

»Er möchte dich sprechen«, sagte Lilly und trat für den Jungen beiseite.

»Sie sind doch Kommissar bei der Kripo?«, vergewisserte sich dieser.

Benthien nickte. Woher kannte er den Bengel bloß?

»Ich bin Tristan Melander. Und ich habe das hier gerade auf unserem Grundstück gefunden. Am Fuß der Großen Düne. Knochen einer menschlichen Hand.« Er legte die Knochen auf dem Kopf der entstehenden Skulptur ab.

Im ersten Moment wusste Benthien nicht, was er sagen sollte. Nahm der Junge ihn auf den Arm? Sollte das ein Witz sein? Würden gleich seine Kumpels aus dem hohen Dünengras auftauchen und sich schlapp lachen über den kleinen Scherz, mit dem sie den Kommissar hereingelegt hatten?

Ein Blick ins Gesicht des Jungen sagte ihm, dass er mit seiner Vermutung wohl falschlag. Er wirkte angespannt, interessiert und neugierig. Allerdings wusste Benthien durch seinen Vater, dass dieser Junge, der dem auf der ganzen Insel bekannten Melander-Clan angehörte, durchaus ziemlich speziell war. »Eine Rotzgöre, sagen die Leute«, hatte sein Vater einmal gemeint, als der Junge mit seinem Rad in der Sackgasse mindestens zwanzig Minuten im Kreis gefahren war. Da sein Vater sich öfter und länger auf der Insel aufhielt als John, war er über den neuesten Klatsch in der Nachbarschaft immer bestens informiert.

Benthien nahm die Knochen in die Hand, musterte sie von allen Seiten, prüfte sie. Es schienen tatsächlich Knochen zu sein, ein Material wie Gummi oder Kunststoff konnte er zumindest ausschließen.

»Ein Backenzahn lag auch noch da, aber den habe ich an Ort und Stelle gelassen«, sagte der Junge. »Kommen Sie jetzt mit? Ich habe Steine dahin gelegt, wo ich die Sachen gefunden habe. Wir müssen also nicht lange suchen.«

Irgendwie rührte es Benthien, dass der Junge »wir« gesagt hatte. Offensichtlich hatte er keinen Zweifel daran, dass Benthien seiner Aufforderung Folge leisten würde. Und ihm blieb wohl auch nichts anderes übrig. Wenn dies tatsächlich die Knochen einer menschlichen Hand waren – und es sah ganz danach aus –, musste der Sache nachgegangen werden.

Lilly zog sich schnell etwas über, dann stiegen sie und Benthien ins Auto, während der Junge mit seinem E-Bike hinterherradelte. Der Weg war zwar nicht allzu weit, aber zu Fuß hätten sie sicherlich zwanzig Minuten gebraucht. Sie gelangten auf ein weites Dünengelände, das seit Jahrhunderten im Besitz der Familie Melander war. Heute durfte hier, in den Graudünen, nicht mehr gebaut werden. Das ganze Gebiet stand unter Naturschutz, besonders die Große Düne, eine der selten gewordenen Wanderdünen auf Sylt. Sie erhob sich als ein mächtiger Koloss einige hundert Meter hinter dem Wohnhaus der Melanders, doch sie durfte nicht mehr betreten werden. Das Gelände war riesig und uneinsehbar. Allein die Große Düne war schon über einen Kilometer lang und einen halben Kilometer breit. In einem langgestreckten, flachen Tal lag das Anwesen der Melanders. Benthien warf im Vorbeigehen einen kritischen Blick auf das Haus. Ursprünglich war es ein einfaches Friesenhaus gewesen, wie hier üblich aus rotem Backstein und mit Reetdach. Doch im Lauf der letzten Jahrzehnte hatte man es aufgestockt, das Dachgeschoss ausgebaut und einen Anbau darangehängt. Nun trug es ein gewaltiges, hohes Reetdach, besaß zwei Terrassen und in der Heide einen Swimmingpool. Benthien fragte sich, wer dafür geschmiert worden war, einen solchen Pool im Naturschutzgebiet zu genehmigen. Soweit er wusste, lebten jetzt nur noch drei Personen in dem riesigen Haus, zwei Frauen, beides Witwen, und ein kleines Kind. Tristan und seine Familie wohnten weiter südlich, kurz vor Kampen.

Der Junge lief an dem Haus vorbei, ohne es eines Blickes zu würdigen. Er ging westwärts auf die Große Düne zu, umrundete sie an der schmalen Nordseite und zeigte auf eine Stelle, die er mit Steinen markiert hatte. Hier gingen die letzten flachen Sandausläufer der Düne in die graue Heide über.

»Hier habe ich die Knochen gefunden. Und da liegt auch noch der Zahn.« Er hob ein Taschentuch auf, das er, beschwert mit kleinen Steinen, sorgsam auf den Zahn gelegt hatte, damit er vom Wind nicht fortgeweht oder wieder mit Sand bedeckt wurde.

Benthien und Lilly beugten sich gespannt über den Zahn, ohne ihn anzufassen. »Sieht tatsächlich wie ein menschlicher Backenzahn aus«, stellte Lilly fest. Benthien streifte die dünnen Latexhandschuhe über, die er mitgenommen hatte, und nahm den Zahn in die Hand.

»Müsste ein Dentes molares sein«, sagte der Junge. »Ein hinterer Backenzahn.«

Benthien überlegte kurz, ob der Vater des Jungen Zahnarzt war. Doch dann fiel ihm ein, dass er ein aufstrebender Politiker war. Erstaunt sah er den Jungen an. »Woher kennst du diese ganzen Begriffe?«

Der Junge zuckte mit den Schultern. »Interessiert mich eben.«

Lilly betrachtete den Zahn kritisch. »Scheint schon etwas länger hier zu liegen. Die Wurzel wirkt ziemlich marode, und der Schmelz ist größtenteils abgetragen.«

»Ich kann das nicht beurteilen«, sagte Benthien. »Das muss sich auf jeden Fall ein Fachmann ansehen.«

»Was ist denn hier los?«, erklang eine helle Stimme hinter ihnen. »Was haben Sie auf unserem Grundstück zu suchen?«

Kapitel 2

Benthien drehte sich um und sah eine junge Frau auf sich zukommen. Sie trug ein knappes Top, kurze weiße Shorts und Flipflops. Ihre langen, blondierten Haare hatte sie im Nacken zusammengenommen, die leuchtend blauen Augen waren umrandet mit schwarzem Kajal. Ein lilafarbener Lippenstift war nur nachlässig aufgetragen.

Benthien hatte natürlich keinen Ausweis dabei, deshalb konnte er sich und Lilly nur verbal vorstellen, mit dem Zusatz: Polizei Flensburg. Das »Kripo« ersparte er sich erst einmal.

Die Blondine machte übertrieben große Kulleraugen. »Die Polizei auf unserem Grundstück? Und auch noch aus Flensburg angereist? Habe ich denn was angestellt, Herr Kommissar?« Sie blickte an Benthien vorbei. »He, Tristan, was ist hier los? Hast du schon wieder irgendeinen Blödsinn gemacht?«

Tristan beachtete den Einwurf nicht. Er entfernte sich zielstrebig in Richtung Strand.

Benthien lächelte. »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

Die junge Frau schob ihr Kaugummi von einer Seite auf die andere. Sie lächelte Benthien mit strahlend weißen Zähnen an. Ihr Zahnarzt, dachte er, hatte mit dem Bleaching gute Arbeit geleistet.

»Ich bin Yvonne Melander«, sagte sie und reichte Benthien die Hand, während sie Lilly nicht weiter beachtete. »Ich wohne hier mit meinem Sohn. Aber erzählen Sie doch mal, was Sie hier treiben.« Sie musterte Benthien, ließ den Blick über sein verschwitztes T-Shirt gleiten, über die zerfransten kurzen Jeans und die ausgeleierten Sportschuhe. »Irgendwie«, sagte sie lächelnd, »habe ich mir einen Polizisten aus Flensburg ganz anders vorgestellt.«

»Wir sind nicht im Dienst«, sagte Benthien etwas zögerlich. Er fragte sich, ob er ihr überhaupt von Tristans Fund erzählen sollte. Wiederum, sie wohnte hier. Um eine Erklärung kam er wohl nicht herum. Daher berichtete er ihr kurz, dass man auf dem Gelände menschliche Handknochen gefunden habe und dass demnächst Kriminaltechniker kämen, die der Sache auf den Grund gehen würden.

Yvonne Melander riss die Augen auf, und ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht. »Ein Toter hier auf unserem Grundstück? Das ist ja cool. Obwohl, meiner Schwiegermutter wird es nicht gefallen. Sie ist sehr konservativ.« Sie blinzelte ihm zu, als sei sie sicher, er würde diese konservative Haltung ihrer Schwiegermutter genauso verurteilen wie sie.

Benthien gab dieses konspirative Lächeln nicht zurück. Er beobachtete, wie im Rücken der Frau ein kleiner Junge aus dem Haus kam und freudig auf die Gruppe zulief. Er trug Gummistiefel, ein kurzes T-Shirt, keine Hosen und hatte auf dem Kopf eine Fülle blonder Locken. Yvonne Melander, die ganz auf Benthien konzentriert war und offenbar zum Flirten aufgelegt, bemerkte ihren Sohn erst, als er fast bei ihnen angekommen war.

»Nicky«, schimpfte sie, »du solltest doch auf dem Topf bleiben.«

»Bin fertig mit Aa!«, krähte der Kleine, sauste schnurstracks auf Benthien zu und umschlang sein rechtes Bein. »Papa!«, sagte er und blickte mit seinem süßen Kindergesicht und großen dunklen Augen strahlend zu ihm hoch.

»Das ist nicht dein Papa«, sagte die junge Frau ärgerlich und versuchte, Nicky wegzuziehen, doch der kleine Junge hielt sich mit eisernem Griff an Benthiens Jeans fest. »Er kennt seinen Vater nur von Fotos«, erklärte sie. »Aber meine Schwiegermutter spricht dauernd von ihm und erzählt Nicky Geschichten.«

Benthien ging in die Hocke und sprach den Kleinen an. »Du hast aber einen schönen Bären«, sagte er und zeigte auf ein undefinierbares plüschiges Etwas, das der Kleine in der Hand hielt und dem ein Ohr fehlte. »Wie heißt er denn?«

Der Junge lachte übermütig. »Das ist kein Bär, du Dummer. Das ist ein Wauwau! Aber …«, fügte er traurig hinzu, »er hat ein abbes Ohr.«

Benthien schlug sich an die Stirn. »Natürlich, jetzt sehe ich es auch. Hat er einen Namen?«

»Na, eben Wauwau«, sagte Nicky und schwenkte das Plüschtier an dem verbliebenen Ohr hin und her.

Lilly sagte: »Wauwau passt gut zu einem Hund. Aber meinst du nicht, er will mal baden? Er hat ganz schwarze Füße.«

»Er mag nicht baden!«, krähte Nicky. »Er hat gern swazze Füße.« Er zog Benthien an den Fransen seiner Jeans. »Papa?«

»Schluss jetzt!« Yvonne Melander griff nach ihrem Sohn und packte ihn sich auf den Arm. »Wir müssen jetzt gehen. Wann kommen die Kriminaltechniker? Geben Sie mir vorher Bescheid, Herr Kommissar? Ich würde gerne dabei zusehen, wenn sie eine Leiche ausgraben. Hier passiert selten so was Spannendes.«

»Natürlich, wir sagen Ihnen rechtzeitig Bescheid«, sagte Lilly in einem Tonfall, den Benthien nur zu gut kannte. »Wir rufen Sie augenblicklich an.« Nur wer sie kannte, konnte die Ironie heraushören.

»Dann noch einen schönen Tag«, sagte die junge Frau, während sie Benthien tief in die Augen sah. Ihr kleiner Sohn winkte so heftig, dass er fast das Gleichgewicht verlor und von ihrem Arm purzelte.

»Ein süßer kleiner Junge«, sagte Lilly. »Du scheinst seinem Vater ähnlich zu sehen. Übrigens, wärst du mit ihr allein gewesen, hättest du dich wahrscheinlich gleich hier in den Dünen mit ihr vergnügen können. Die war ja ganz heiß auf dich.«

Benthien entschied sich klugerweise, diese Anspielung zu überhören. »Jacques Melander«, sagte er nachdenklich. »So hieß der Vater des Jungen. Ich kannte ihn vom Sehen. Er ist vor zwei Jahren verunglückt, zusammen mit dem alten Melander, seinem Vater. War eine tragische Geschichte damals. Ich wusste nicht, dass sie seine Witwe ist. Und dass er ein Kind hatte.«

Er hätte ihr noch mehr erzählt, doch er sah, wie Tristan sich mit mürrischer Miene wieder näherte, und verschob es auf später.

»Magst du deine Tante nicht?«, fragte Lilly.

»Diese Bitch? Nö!« Der Junge stopfte die Hände in die Hosentaschen. Er zeigte mit dem Kinn auf die Knochen, die Benthien noch immer in der Hand hielt. »Was wird denn jetzt damit?«

»Sie kommen in die KTU, wo hoffentlich das Alter festgestellt werden kann. Vielleicht sind sie uralt und stammen von einer historischen Leiche. Sie müssen nicht unbedingt zu einer aktuellen Leiche gehören, weißt du.«

»Perfekt ist«, sagte Lilly, »dass wir auch einen Zahn haben. Damit dürfte die Altersbestimmung schneller gehen.«

»Wir bringen die Sachen jetzt zur Polizei nach Westerland, die wird sie weiterleiten. Kann durchaus sein, dass morgen an der Fundstelle nach weiteren Überresten gesucht wird.«

Die Augen des Jungen leuchteten auf. »Vielleicht liegen noch ein paar Leichen in der Düne.«

»Mach keine blöden Witze!«, sagte Benthien.

»Kein Witz! Kennen Sie denn die Geschichten nicht, die sich um die Geisterdüne ranken? Seit Jahrhunderten ist sie verrufen, und es gibt immer noch Leute auf der Insel, die gehen nicht in ihre Nähe. Noch nicht mal auf dieses Grundstück.« Und noch ehe Benthien ein Wort erwidern konnte, wandte sich der Junge zum Gehen, warf ein knappes »Ciao!« über die Schulter und verschwand in den Dünen.

»Seltsamer Knabe«, meinte Lilly. »Will er uns am Ende doch verarschen? Zeig noch mal die Knochen und den Zahn. Sind die wirklich echt?«

Zwei Stunden später lag Benthien mit Lilly im Dünengras neben der Terrasse. Sie hatten die Fundstücke nach Westerland auf die Polizeistation gebracht, und noch heute würden sie ins Labor der Kriminaltechnik aufs Festland verbracht werden. Wahrscheinlich würden morgen die Techniker anrücken und das Areal der Melanders unter die Lupe nehmen. Die Kollegen hatten die Knochen und den Zahn bestaunt und kaum glauben wollen, dass sie an der Großen Düne gefunden worden waren.

»Auf dem Grundstück der Melanders?«, hatte Arndt Schäfer gefragt, Hauptkommissar bei der Westerländer Polizei, den Benthien von früheren Fällen kannte. Er wirkte immer ein bisschen raubeinig, muskelbepackt trotz seiner fünfzig Jahre, seine grauen Haarstoppeln hatte er sich inzwischen kurzrasiert. Auf seinem ewig braungebrannten Gesicht erschien ein spöttisches Lächeln. »Und Tristan hat euch dieses Zeug angedreht? Aber du weißt schon, John, vor dem Jungen muss man sich in Acht nehmen. Der hat sie nicht alle.«

»Die sehen aber verdammt echt aus«, wandte ein uniformierter Kollege ein.

»Ganz egal, sie werden jedenfalls untersucht werden müssen«, sagte Benthien kurz. »Sorg dafür, dass sie per Kurier auf den Weg kommen, Arndt. Ich verlass mich auf dich!«

Nun lagen er und Lilly im Dünensand und starrten in den blauen Himmel. Einen der Sonnenschirme hatten sie so positioniert, dass sie zumindest teilweise im Schatten lagen.

»Weißt du, was die Kängurus in Australien tun, wenn es ihnen zu heiß wird?«, murmelte Benthien. »Sie lecken sich die Vorderläufe, um sich durch ihren Speichel abzukühlen.«

Lilly beugte sich über ihn. »Ich will verdammt sein, wenn ich dir die Beine ablecke.«

»Du liebst mich eben nicht«, sagte Benthien und griff nach der Wasserflasche. »Speichel ist viel effizienter als Leitungswasser. Aber wenn’s sein muss …« Er goss sich Wasser über Beine, Hals und Gesicht und stöhnte wohlig. Dann richtete er die Flasche auf Lilly, schüttelte sie, legte einen Finger halb über die Öffnung und …

»Nein!«, schrie Lilly und sprang auf. »Du Idiot! Tu’s nicht!«

»Was, mein Sohn ist ein Idiot? Da hast du recht, Lilly, manchmal ist er reichlich kindisch.«

Benthien seufzte, sein Vater war zurück. Er hätte gern noch ein wenig Zeit mit Lilly allein verbracht. Immer noch gab es Augenblicke, da schien es ihm völlig unwirklich zu sein, dass er jetzt mit Lilly zusammen war, dass er, nach sechs schwierigen Jahren mit Karin, den Sprung ins kalte Wasser gewagt hatte – nämlich mit einer Kollegin eine Beziehung anzufangen. Manchmal hatte er Angst, dass es eine Seifenblase war, die irgendwann zerplatzen würde wie seine erste kurze Ehe, in der sie beide ziemlich schnell festgestellt hatten, dass sie Unterschiedliches vom Leben erwarteten. Damals war er sehr jung und unreif gewesen, wie er sich heute eingestehen musste. Umso mehr wünschte er sich, dass es mit Lilly klappen würde. Doch manchmal fragte er sich, ob er sich selbst nicht über den Weg traute. Was ließ ihn zögern, mit Lilly zusammenzuziehen? Warum wich er ihr aus, hatte er auf einmal Angst vor der Nähe? Aber er liebte Lilly doch, er wollte nichts lieber, als mit ihr zusammen sein.

Sein Vater platzte mit der üblichen Energie in die schläfrige Idylle und versprühte kribbelige Unruhe. Er war auf seiner Wattwanderung schon wieder ein Stück brauner geworden, wie Benthien neidisch feststellen musste. Obwohl jetzt achtundsiebzig, wirkte er fit und sportlich in seinem Shirt und den gestreiften Bermudas. Den Sommer verbrachte er fast ausnahmslos im Haus auf Sylt, in dem Vater und Sohn auch aufgewachsen waren, ansonsten lebte Benjamin Karl Benthien zusammen mit seinem Sohn in einer großen Altbauwohnung in Flensburg. Nach der Trennung von seiner Lebensgefährtin war John wieder in die väterliche Wohnung eingezogen.

Lilly wandte sich lächelnd dem alten Mann zu. Benthien wusste, dass sie seinen Vater sehr mochte, was auf Gegenseitigkeit beruhte. »Wie war deine Wanderung, Ben?«

»Wieder neue Eroberungen gemacht, Vater?« Auch John hatte sich inzwischen aufgerappelt und war auf die Terrasse gekommen.