Dunkel, fast Nacht - Joanna Bator - E-Book

Dunkel, fast Nacht E-Book

Joanna Bator

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Stadt ist in Aufruhr. Drei Kinder sind verschwunden. Die erfolglosen Ermittlungen befeuern die Gerüchte. Verdächtigungen und Schuldzuweisungen greifen um sich. Gehetzt wird gegen die »Katzenfresser«, die Zigeuner. Im Radio und im Internet lodert die Sprache des Hasses. Als Alicja Tabor in die Stadt ihrer Kindheit zurückkehrt, um als Journalistin Nachforschungen über die rätselhaften Entführungen anzustellen, ereignen sich unerklärliche Dinge, die Atmosphäre ist unheimlich. Joanna Bator schildert, wie Stimmungen kippen können, wie latente Ängste und Traumata sich in jähe Ausbrüche von Wahnsinn verwandeln. Ein Roman über die Brüchigkeit einer Gesellschaft, die ihre gemeinsame Sprache verloren hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 685

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eine Stadt ist in Aufruhr. Drei Kinder sind verschwunden. Die erfolglosen Ermittlungen schüren die Wut der Bürger, befeuern die Gerüchte. Verdächtigungen und Schuldzuweisungen greifen um sich. Im Radio und im Internet lodert die Sprache des Hasses.

 Alicja Tabor, die Erzählerin, hat diese Stadt früh verlassen. Nun kehrt sie als Journalistin zurück, um Nachforschungen über die rätselhaften Entführungen anzustellen. Sie quartiert sich im Haus ihrer Kindheit ein, das seit dem Tod des Vaters leer steht; die Atmosphäre ist düster, die Stimmung im einst so geliebten Garten unheimlich. Erinnerungen an ihre Schwester, die sich mit 17 Jahren das Leben nahm, überwältigen Alicja. Ständig fühlt sie sich beobachtet, um sie herum ereignen sich rätselhafte Dinge.

 Ein selbsternannter Prophet taucht auf. Er behauptet zu wissen, was mit den Kindern geschehen ist. Bald hat er die Stadt fest im Griff, hetzt die Bevölkerung auf, die sich Tag für Tag auf dem Marktplatz versammelt – bis sich am Ende die Stimmung gegen ihn wendet …

 Schon in Sandberg und Wolkenfern begegnete uns Joanna Bator als Virtuosin der Verknüpfung, die in tabuisierten Familiendramen eine ganze Epoche aufleuchten lässt. Subtil und furios schildert sie, wie Stimmungen kippen, wie Ängste sich in Hass und Verfolgungswahn verwandeln. Dunkel, fast Nacht erzählt von einer Gesellschaft, die ihre gemeinsame Sprache verloren hat.

Joanna Bator, 1968 geboren, publizierte in wichtigen polnischen Zeitungen und Zeitschriften und forschte mehrere Jahre lang in Japan, bevor sie mit ihrem Roman Sandberg (st 4404) auch international bekannt wurde. Für Sandberg und Wolkenfern (st 4574) wurde sie 2014 mit dem »Spycher: Literaturpreis Leuk« ausgezeichnet. Dunkel, fast Nacht erhielt 2013 den NIKE, die wichtigste literarische Auszeichnung Polens, und wurde mit mehr als 200 ‌000 verkauften Exemplaren zum Bestseller. Als Gast des DAAD

Joanna Bator

Dunkel, fast Nacht

Roman

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Ciemno,

prawie noc bei der Verlagsgruppe Foksal in Warschau.

Abweichungen der vorliegenden Übersetzung von der Originalausgabe wurden mit der Autorin abgestimmt.

Die Übersetzerin dankt dem Freundeskreis Literaturübersetzer und dem Europäischen Übersetzerkollegium Straelen für die Unterstützung ihrer Arbeit.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr.

Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Dunkel, fast Nacht

Der Weg zurück

Ich folgte den Spuren, die ich vor Jahren hinterlassen hatte, verwundert, wie mühelos meine Füße hineinfanden. Erst nach dem Umsteigen in Wrocław kam mir zu Bewusstsein, dass ich in die Stadt meiner Kindheit unterwegs war. Auf dieser Strecke gibt es keine Eilzüge mehr, Wałbrzych entfernt sich zunehmend vom großstädtischen Wrocław und dem Rest der Welt. Ich setzte mich auf einen Fensterplatz in einem alten Doppelstockwagen und tastete immer wieder nach dem Schlüssel, der durch das Leder meines Portemonnaies Wärme auszustrahlen schien.

Nach Vaters Beerdigung hatte ich den Schlüssel in einen billigen Geldbeutel aus dem Indienladen gesteckt und ihn fünfzehn Jahre lang mit mir herumgetragen. Ich musste ihn immer bei mir haben und gewöhnte mir an, bei jeder Gelegenheit nachzuprüfen, ob er noch da war, ein harter länglicher Gegenstand, wie ein Tier- oder Kinderknochen. Mit diesem Schlüssel hatte ich die Tür des Hauses, das auf Schloss Fürstenstein blickt, hinter mir abgeschlossen und die Stadt verlassen. Und bis vor kurzem gab es in Wałbrzych nichts, was mich zu einer Rückkehr oder auch nur einem Abstecher hierher hätte verlocken können. Um das Haus kümmerte sich Albert Kukułka, unser Nachbar, Freund meines Vaters, ein trauriger einsamer Mann mit Fliegermütze, der nur lächelte, wenn er Geige spielte. Als ich Kind war, hat er als Gärtner im Wałbrzycher Botanischen Garten gearbeitet, ich besuchte ihn in seinen tropischen Gewächshäusern, und er zeigte mir Bananenstauden, Euphorbien, bis unter das gläserne Dach wuchernde Araukarien, fleischfressenden Sonnentau und Leuchtmoos. Er hob mich hoch zum saftigen Grün der Bäume, sodass ich mein eigenes verkleinertes Spiegelbild in den Wassertropfen auf den Blättern erkennen konnte. Wie gebannt wiederholte ich die Namen, die er mir vorsprach: Araukarie, Zantedeschie, Euphorbie. Seit ich nach Vaters Tod aus Wałbrzych weggegangen war, schickte ich Herrn Albert Geld, auch wenn er es nicht annehmen wollte, ab und zu mähte er den Rasen und lüftete die Zimmer, bis auf das größte Zimmer im Erdgeschoss, das auf meinen Wunsch geschlossen blieb. In diesem Zimmer hatte Vater seine letzten Jahre verbracht, hier lagerten noch zahllose Karten von unterirdischen Gängen unter Schloss Fürstenstein und Listen mit Dingen, die er sich von dem Schatz kaufen wollte, den er jedoch nie entdeckt hat. Auf dem mächtigen Schreibtisch aus deutscher Eiche stand eine Fotografie: Vater, Mutter und wir beiden Töchter vor dem berühmten Gebäude, in einen Sommernachmittag vor fast vierzig Jahren gegossen wie Fliegen in Bernstein. Geblieben waren nur ich und das Schloss. Ich wollte nicht, dass Herr Albert sich mit der Traurigkeit ansteckte, die in den Ecken des Zimmers lagerte wie Ektoplasma. Ektoplasma. Die Substanz, aus der Geister gemacht sind, wie meine Schwester Ewa immer sagte. »Und woraus ist Ektoplasma gemacht?«, fragte ich. »Aus Kohlenstaub und Tränen!« Herr Albert hatte auch mit Geistern zu tun, er pflegte das Grab meiner Verwandten, was er sicher auch ohne meine Bitte getan hätte, aber dass ich ihn darum gebeten hatte, linderte meine Schuldgefühle. Fünfzehn Jahre lang war ich nicht nach Wałbrzych gekommen, in Gedanken aber jeden Tag zurückgekehrt, in allen anderen Städten habe ich nur diese eine gesucht, und Herrn Alberts künstliche Tropen im Palmenhaus ließen mich die echten Tropen nur als billigen Ersatz für etwas unwiederbringlich Verlorenes empfinden.

Am Fenster des Zuges zogen Bilder vorbei, die mir bekannt vorkamen wie ferne Traumbilder. In der Dunkelheit hinter der Scheibe formten Licht und Nebel geisterhafte Reisende, zerfloss und versickerte die Stadt, als wären Bewegung und Leben nur eine Insel in einem Meer von Schatten und Leere. Neue Siedlungen und Einkaufszentren machten kahlen, von Schleh- und Weißdornhecken durchschnittenen Feldern Platz, auf den Bäumen am Straßenrand lauerten Raubvögel beharrlich auf allzu leichtfertige Katzen oder Füchse. Bald zeichnete sich in weiter Ferne der Berg Ślęża ab, unten an seinem Fuß gingen in den hingestreuten Häusern nach und nach die Lichter an, flackernd wie Kerzenflammen. Der Zug kroch voran, die Kleider der dicht gedrängten Menschen dampften, und Essensgeruch stieg auf, Plastikbeutel raschelten, Zungen schnalzten.

»Und ich hab meine Barbie im Backofen verbrannt«, sagte auf einmal eine helle Kinderstimme, doch niemand schenkte ihr Beachtung.

Armut klingt überall gleich, und einer ihrer Laute ist das Geschlürf und Geschmatz, wenn Essensreste aus löchrigen Zähnen und schlecht angepassten Kronen herausgesaugt werden. Neben mir knüllte ein Mann in dickem Wollpullover sein Butterbrotpapier zusammen, schmatzte aufdringlich und musterte mich unter buschigen Brauen, seine Augen waren hart wie Chitinpanzer. Ich fühlte mich wie früher als Studentin, wenn ich, was selten vorkam, freitags nach dem Seminar nach Wałbrzych fuhr. Damals änderte ich ständig meine Haarfarbe und erkannte manchmal mein eigenes Spiegelbild nicht, das mir in der Zugtoilette vorwurfsvoll entgegenstarrte. Meine Schwester sagte immer, meine Haare seien kamelfarben. Sie nannte mich »Kamelin«, und ich habe schon damals geahnt, dass dies das schönste Wort war, das sich für mein durchschnittliches Äußeres finden ließ, fühlte ich mich doch selbst mit schwarzen, blondierten oder roten Haaren unscheinbar und farblos. Im Zug nach Wałbrzych fragte ich mich jedes Mal, ob Vater zu Hause umständlich einen Teller Käsebrote zubereiten und eine Kanne georgischen Tee aufsetzen würde, damit wir uns für eine Weile der Illusion eines normalen Familienlebens hingeben konnten. Doch meistens war Vater nicht da, oder er hatte sich voller Verzweiflung in seinem Zimmer vergraben und streckte nur kurz den Kopf heraus, um mit trauriger Verwunderung »Alicja?« zu fragen, als gelte seine freudige Erwartung einer anderen Tochter. Ich antwortete »Papa?«, und vielleicht hörte auch er Enttäuschung in meiner Stimme.

Auf halbem Weg begann die Landschaft plötzlich Wellen zu werfen wie windgepeitschtes Wasser. Regen setzte ein, das Grau vor dem Fenster verdichtete sich zu einer wabernden Masse. Wir hatten eine Gegend erreicht, in der die Nächte schwärzer sind, der Winter schon im November hereinbricht und sich auch dann noch beharrlich hält, wenn andernorts längst die Krokusse und Forsythien blühen. Mit gegenüber saß eine stille Studentin, die ein Heft auf den Knien liegen hatte, neben ihr eine ältere Frau mit einer Miene, als stiege ihr ein unangenehmer Geruch in die Nase und als sei sie sich nicht sicher, ob er von uns ausging oder von ihr selbst. Auf dem Boden zwischen ihren Beinen klemmte eine große karierte Plastiktasche, die zwischen ihren Schenkeln herausstand, als hätte sie sie soeben zur Welt gebracht. Die Schenkel steckten in hautengen, glänzenden Leggings mit Zebramuster, und ihre Besitzerin hielt den Blick auf eine Illustrierte geheftet, von deren Titelbild uns ein blondes Schlagersternchen künstliche Brüste entgegenreckte, rund wie unter die Haut gestopfte Wassermelonenhälften. »Schock! Was soll sie jetzt tun?«, las ich die Schlagzeile. Meine Nachbarin leckte sich den Zeigefinger an und blätterte endlich weiter, ein Spuckefaden glänzte zwischen ihrem Mund und dem abblätternden rosa Nagellack. Sie saugte, schmatzte. Wie aus der Tiefe eines Wałbrzycher Stollens entfuhr ihr ein dumpfes »Ogottogottogott«. Auf der nächsten Seite wölbten sich die Lippen des Sternchens wie zwei pralle Gummireifen kurz vor dem Platzen, was zweifellos den ganzen Waggon mit einer klebrigen Masse überschwemmt hätte. Ohne den Blick von ihrem Heft zu lösen, holte die stille Studentin ein Döschen aus der Hosentasche und verkleisterte sich die Lippen mit künstlicher Himbeer-Glanzcreme. »Ogottogottogott«, seufzte die Frau in Leggings noch einmal und sah mich so starr an, als hätte sie jemanden in mir erkannt. Sie hatte Zebrabeine, aber die Augen gehörten einer Ziege.

»Früher da war ja alles wie SantorEleni wie Boney M war alles besser lebte man wie man lebte diese Jahre bringt uns keiner zurück.«

Ich schwieg, doch die Zebraziege ließ sich nicht beirren und nahm Fahrt auf:

»Boney M in Sopot SantorEleni Lebensmittel ohne Gene eingelegte Gurken Heringe lustig geht's in die Sommerfrische in die grünen grünen Wälder Gurken ohne Gene SantorEleni der ganze Bus am Singen Kinder ins Sommerlager an die polnische See oder in die polnischen Berge Lachen beim Schlangestehen für Fleisch für Knochen über GierekGomułka man lebte man wollte träumte und jetzt Beine in den Bauch Martermeinemarter.« Die Zebraziege begutachtete mich, als suchte sie beim Fleischer Suppenknochen aus. »Sie sehen auch blass aus müde.«

Das sollte offenbar eine Frage sein, und ich nickte, um jedes Gespräch im Keim zu ersticken.

»Sehen Sie selbst!«, freute sie sich und wurde lebhaft. »Müde! Gepeinigt! Mehr tot als lebendig! Sie wollen uns zugrunde richten. Das ganze polnische Volk peinigen. Oder die Haare.« Sie tippte mit dem Finger auf die künstlichen Haare der Sängerin.

»Die Haare?«, wiederholte ich erstaunt.

»Früher hielt eine Dauerwelle ein Jahr die Farbe wusch sich nicht aus«, erklärte Zebraziege und fuhr ohne Punkt und Komma fort. »Ei-Shampoo wie Goggelmoggel dass man Goggelmoggel wollte was Süßes mit Kakao Eigelb auf die Haare mit einem Tuch umwickeln einwirken lassen rumlaufen wie Mama mit Regenhaube für den Krebs Martermeinemarter und Regenhaube in die Waschwanne Bauchspeicheldrüse ganz zerfressen Regenhaube Regenhaut. Regenhaut?«, wiederholte Zebraziege, anscheinend erstaunt über den Klang dieses Wortes, sie schmatzte, zuckte die Achseln und kehrte zu ihrem Artikel zurück.

Die stille Studentin machte ihre glänzenden Lippen auf und zu wie ein Fisch, in ihrem Heft war der Querschnitt eines Fisches mit lateinischen Benennungen eingezeichnet. Der Mann im Schafwollpullover ächzte schwer. Das Stimmengewirr im Waggon nahm zu, nach der kräftigenden Mahlzeit hatten alle wieder Lust auf ein Gespräch. Der Zug beschleunigte ein wenig, es roch nach Alkohol.

»Ein schrecklicher Tod, so tief in die Erde gerammt«, sagte jemand hinter mir.

»Nur Blut, nichts als Fetzen«, fiel eine fistelnde Greisenstimme ein, und da ruckte der Zug und bremste so heftig, dass Gepäckstücke von der Ablage rutschten, ein Kind quiekte, die Zebraziege ächzte abgrundtief »Ogottogottogott« und stopfte die Zeitschrift in ihre karierte Tasche, als wollte sie aufstehen und gehen, zurück in die ersehnten alten Zeiten.

Ein großer Mann in dunklem Mantel durchquerte den Waggon, rempelte mich an, und statt sich zu entschuldigen, verschwand er durch die Schiebetür. An seinem Ohr zerrte ein runder Holzring das Ohrläppchen so weit auseinander, dass es ein saugendes schwarzes Loch umrahmte. Das Licht im Waggon flackerte und erlosch, uns umgab stockdunkle Nacht.

»Kellerkatzen«, sagte jemand, »Kellerkatzen gehören vergiftet.«

Etwas schlug laut auf dem Dach des Waggons auf, und mich durchfuhr eine irrationale Angst, die Erinnerung an stickige, beklemmende Finsternis.

Als der Zug Wałbrzych erreichte, war ich völlig erschöpft. Eine Zeitlang stand ich einfach auf dem verlassenen Bahnsteig herum, über den ein eisiger Regen peitschte, und atmete den Geruch von Kohlenstaub ein. Ich sah den Menschen nach, die schnell in der Unterführung verschwanden, und mich ergriff ein so heftiges Gefühl der Einsamkeit, dass ich mich zwang, zum Bahnhofsgebäude hinüberzugehen. Drinnen war keine Menschenseele. An die Wand hatte jemand KSGórnik Loser/KSGórnik Kings gesprüht, vielleicht sollten sich die Ankömmlinge, bevor sie die Stadt betraten, selbst aussuchen, in welche Richtung sich ihr Leben entwickelte. Draußen kauerte ein Obdachloser oder Alkoholiker an der Wand des Gebäudes, ein Häufchen Elend, dachte ich, und überströmt von einer plötzlichen Traurigkeit, klammerte ich mich an diese leeren Worte wie an einen Rettungsanker. Ich hatte keine Kraft, hinzugehen und den Mann zu fragen, ob er Hilfe brauchte. Der Regen prasselte mit solcher Heftigkeit herab, dass alles unwirklich schien, eine menschenleere Filmkulisse. Der Umriss eines mächtigen Gebäudes mit einem Giebeltürmchen und bogenförmig bekrönten Fenstern, das früher eine Fabrik für Abziehbilder gewesen war, zeichnete sich dunkel gegen den stahlgrauen Himmel ab. Als die Fabrik noch in Betrieb war, hatte die Luft in der Gegend chemisch-süßlich gerochen, und so rochen auch die angefeuchteten Bildchen, mit denen meine Schwester die Türen unseres Hauses verzierte. Die Veilchen und Maiglöckchen, durchscheinend und zart wie feine Häutchen, Ewas ins Wasser getauchte Hände. Ich war überrascht von der Wucht dieses Bildes, das vor meinem inneren Auge erschien, ein Geist aus Kohlenstaub und Tränen.

Am Taxistand vor dem Bahnhof stand ein einziger Wagen, ein schrottreifer Lada, und als ich einstieg und meine Adresse nannte, blickte der Fahrer mich über die Schulter vorwurfsvoll an. Vielleicht wäre er lieber woandershin gefahren. Er hatte das teigige Gesicht eines Menschen, der sich nach scharf Gebratenem die halbe Nacht mit Sodbrennen herumwälzt und um vier Uhr morgens bei dicht zugezogenen Vorhängen in einem Zimmer mit verstaubten Möbeln eine Zigarette raucht. »Fester!«, fuhr er mich an, und ich knallte die Tür noch einmal zu.

Die am Rückspiegel aufgehängte Muttergottesfigur erzitterte, als er den Motor anließ. In dem Haus, zu dem ich nun fuhr, gab es nur ein einziges Marienbild, eine Postkarte mit der Schmerzensmutter aus der gleichnamigen Wałbrzycher Kirche, und obwohl wir nie in die Messe oder zum Religionsunterricht gingen, dachte Ewa sich gereimte Gebete aus und brachte sie mir am Abend bei. Sie richteten sich alle an die Schmerzensmutter, die Patronin unserer Stadt. Wir knieten uns hin, und meine Schwester sagte: »Sprich mir nach, Kamelin: Gottesmutter Gluckenputte hat zwei Flügelein o behüt uns unter Flügeln unter Federn dein.« Und was kam dann?

»Vollidiot! Haben Sie diesen Vollidioten gesehen?« Der Taxifahrer ärgerte sich über das Hupen eines anderen Fahrers. »Deinen Arsch kannst du anhupen, Vollidiot, deinen eigenen Arsch! Deinen Arsch!«, bekräftigte er zufrieden, rülpste und fühlte sich danach offenbar besser, denn er verstummte.

Sein mehlsuppenfahles Gesicht war rot angelaufen. Unsere Blicke trafen sich im Rückspiegel.

»Sie haben wohl einen langen Weg hinter sich? Geht's heim zur Familie?«

Ich nickte wortlos.

»Trautes Heim, Glück allein!« Der Taxifahrer lachte, als stammte dieses Sprichwort von ihm persönlich.

Ich musste an die wenigen Fotos denken, die von meiner Familie geblieben waren, besonders glücklich sahen wir nicht aus. Die Luft in dem alten Lada war stickig von Zigarettenrauch und Schweiß, die sich in die Schondecken über den Sitzbezügen gefressen hatten. Ich habe schon viele Wohnungen gesehen, in denen hässliche, klobige und überflüssige Dinge auf diese Weise vor Abnutzung geschützt werden sollten, und all diese Überwürfe, Deckchen, Wachstücher und zu Parkettschonern umgearbeiteten alten Teppichstücke weckten Mitleid und die Furcht in mir, ein einziger falscher Schritt könnte reichen, und mein Leben würde auch so aussehen, ein verschwendetes Leben, beschwert von unansehnlichen Gegenständen und fehlgeleiteter Sorge.

Ich betrachtete die schlafende Stadt, und jede unverändert gebliebene Stelle weckte in mir zugleich Abneigung und jene Genugtuung, die sich einstellt, wenn man nach Jahren die Landschaft seiner unglücklichen Kindheit wiederentdeckt: das Kino Apollo mit abblätternder waldbeerenblauer Fassade, die Konditorei Oleńka mit ihrem unvergänglichen Angebot an Fettgebäck und Festtagstorten, die alten Romahäuser in der Pocztowa-Straße, die sich mit letzter Kraft aufrecht hielten. Die Muttergottes am Rückspiegel hypnotisierte mich mit ihrem gleichmäßigen Schaukeln, ihr Gesicht auf dem goldgerahmten Kitschbildchen war gelb, die Augen standen seltsam schräg: eine japanische Muttergottes aus Wałbrzych, Patronin der magenkranken Taxifahrer auf Nachtschicht. Neben ihr hing noch etwas, ein Stück Holz oder Knochen mit weiß-roter Schleife. Der Fahrer fing meinen Blick im Rückspiegel auf.

»Glauben Sie an Wunder?«

»Nein.«

»Ha!«, freute er sich, als hätte ich die richtige Antwort gegeben. »Ich auch nicht. Aber Wunder geschehen tatsächlich, wissen Sie. Es reicht, wenn man daran glaubt.«

»An was?«

»An das, woran man eben glauben soll. An eine höhere Macht, die alles lenkt und uns Polen Zeichen gibt. Wie diese Oblate, die sich in Fleisch verwandelt hat, vor ein paar Jahren in Sokółka. Haben Sie davon gehört?«

»Ja, habe ich.«

»Dann erzähl ich's Ihnen. Ich war auf einem Ausflug dort, wissen Sie, in der Kirche konnte man sich eintragen, Busse, Proviant, Mittagessen, alles mit drin. Der Priester hatte bei der Messe die Oblate fallen lassen, und es ist so Brauch, dass er sie in den Kelch ins Wasser werfen muss, wenn er sie fallen lässt. Und nach einer Woche sehen sie nach, und da ist alles rot, das Wasser hat sich in Blut verwandelt. Blut, verstehen Sie, und darin schwimmt ein Klumpen.«

»Ein Klumpen?«

»Warten Sie! Das Blut haben sie auf ein weißes Tuch gegossen, und da stellt sich heraus, es ist kein Klumpen, sondern ein richtiges Stück Fleisch. Sie haben es auf DNS und Blutgruppe testen lassen, und wissen Sie, was dabei rauskam?«

»Was denn?«

»Dass es ein Stück vom Herzen Christi war!«

»Das ist wirklich ein Wunder«, stimmte ich zu, doch den Taxifahrer interessierte meine Meinung nicht.

»Ein Wunder!«, wiederholte er. »Ich hatte zum Beispiel Magenprobleme, egal, was ich aß, Schmerzen, Rennerei ohne Ende, als ob mein Inneres sich, Verzeihung, nach außen stülpen wollte. Ich bin in Wałbrzych zum Arzt, nach Wrocław, zum Professor, Medikamente, alle möglichen Diäten so ein Schnickschnack nur Möhren sollt ich essen wie ein Karnickel alles verseucht Bier Wodka machen sie jetzt aus Pulver statt aus Hopfen oder Gerste schütten sie Pulver rein gehn Sie mal in 'ne Brennerei dann sehn Sie selbst mein Schwager arbeitet da der sagt Pulver schütten sie da rein so sieht's aus in unserm Land wie soll da einer gesund sein sagen Sie selbst dann bin ich zur Praxis und die gleich aufschneiden ich also weiter nach Wrocław zum Professor aufschneiden da weiß man ja was das heißt nicht wahr aufschneiden das sagt sich so leicht will jeder immer gleich aber hinterher tragen sie dich mit den Füßen voran da raus ich also zum Chefarzt und zum Chefarzt gehst du nicht mit leeren Händen ich sag Herr Doktor wenn's ohne Schneiden geht und er nimmt den Umschlag guckt rein sagt ums Schneiden kommen wir nicht drumrum undichdaraufherrdoktor.«

Ich schaltete ab. Mich von allem ringsum abzukapseln hatte ich schon als Kind gelernt, und diese Technik wandte ich auch heute noch häufig an, wobei ich mich immer auf meine Fähigkeit verlassen konnte, den Faden genau dann wieder aufzunehmen, wenn es darauf ankam. Wir fuhren links an Piaskowa Góra vorbei, einer Plattenbausiedlung, über die Vater immer die Nase gerümpft hatte, doch mit Ewa bin ich dort mal in einer italienischen Eisdiele gewesen, der ersten in der Stadt. Wir kauften uns ein Eis für beide, denn für zwei fehlte uns das Geld, wir gingen spazieren und bewunderten unser Spiegelbild in den Schaufensterscheiben. »Stell dir vor, wir wären in Paris, Kamelin, auf einem Boulevard an der Seine, auf den Champs-Élysées!« Ich erinnerte mich an den süßen Vanillegeschmack und wie eifersüchtig und stolz ich war, dass meine schöne Schwester alle Blicke auf sich zog. Dem Taxifahrer wollte ich meine Erinnerungen nicht preisgeben, aber wenn ich in meinem altgedienten Toyota unterwegs gewesen wäre, den mir in Warschau kurz vor der Abreise eine Straßenbande demoliert hatte, hätte ich jetzt einen Abstecher zu der Eisdiele gemacht.

»Betrüger!« Das Gebrüll des Fahrers riss mich aus meinen Gedanken. »Von außen wie echt aber die echten das weiß nur er wo die zu finden sind verstehen Sie und das ist der auf den wir seit langem gewartet haben ein Mensch ein großer Mann ein aufrechter ich habe es mir gekauft und mir nachts auf den Magen gelegt dazu Leinsamen Leinsamen abgebrüht und die sagen aufschneiden fürnarsch diemitihremaufschneiden. Fürnarsch«, schloss er mit Nachdruck und war endlich still.

Je näher wir unserem Haus kamen, desto schläfriger wurde ich, in einem tranceähnlichen Zustand stieg ich schließlich aus dem Taxi, es rauschte mir in den Ohren, mein Kopf schmerzte. Nach einer Weile, die mir unnatürlich lang vorkam, rollte der Lada davon und verschwand in der schlafenden Straße. Das Haus meiner Kindheit stand dunkel und verlassen vor mir. Ich musste plötzlich an ein Tierheim bei Warschau denken, in dem ich vor kurzem gewesen war, weil ein Kollege aus der Redaktion sich einen Hund aussuchen wollte. Er hatte sich schließlich für eine junge melancholische Mischlingshündin aus Rottweiler und Gott-weiß-was entschieden, aber ich konnte die ungewollten Tiere lange nicht vergessen, die vergeblich hinter den Käfiggittern warteten. Auch dieses deutsche Haus mit den kleinen verschämten Fenstern und dem moosbedeckten Schindeldach, das sich wie eine zu große Mütze darüberstülpte, hatte ich nie gewollt, dennoch gehörte es zu mir, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich holte den Schlüssel aus dem Portemonnaie, schloss auf und stieg mit letzter Kraft die Treppe hinauf, zu dem Zimmer, das ich mit meiner Schwester geteilt hatte. So wie ich war, mit Jacke und Schal, vergrub ich mein Gesicht in das Kissen. Kurz bevor ich in Tiefschlaf versank, bemerkte ich noch, dass Herr Albert mein Bett bezogen hatte, das frisch gewaschene Leinen roch schwach nach Schimmel und Moder.

Ich träumte von meinem Vater. Ich sah ihn ganz deutlich, konnte aber seine Stimme nicht hören, ich starrte auf seine Lippen, die irgendwelche Worte formten, und auf sein angestrengtes Gesicht, Stille umgab mich. Vater sah aus wie in seinen letzten Lebensmonaten, grau und abgemagert, mit fieberglühenden Augen. Er trug eine Nylonjacke, eine an den Knien abgewetzte alte Hose und die Trapperschuhe, die er sich vor Jahren in der Tschechoslowakei gekauft hatte und in denen er auf seiner Schatzsuche die unterirdischen Gänge unter Schloss Fürstenstein erkundete. »Papa!«, rief ich, »Papapapapapa«, mein Atem ließ Staubkörnchen schweben schwül war es staubvoll schwerer Staub die Erde oben als wäre ich irgendwo anders als sähe ich durchs Schlüsselloch tanzenden Staubkörnchen zu kleine umnachtet hab keine angstkeineangst die in einem Lichtstrahl tanzten als wäre jemand neben mir verbirgdeingesicht und hielte mich nichtmich nichts zusehennichts leiseleise nichtatmennicht ich sah nicht wer noch dort war Angst als sollte ich schon jetzt erfahren woichwar wer nebenmir was ich getan hatte, »Papa Papa«, schrie ich, »ichbindapa pawobist dupapa, Papa!«, schrie ich, »Papa, ich höre dich!«, rief ich noch einmal oder wollte es gerade rufen, denn die Stille zerriss mein eigener Name. Im ersten Moment wusste ich nicht, wo ich war, warum nicht das heimelige warme Dunkel meines Warschauer Schlafzimmers, sondern helles Licht und Kälte mich umgaben. Wałbrzych, das Haus meiner Kindheit mit seinen Kachelöfen, den winters mit Watte abgedichteten doppelten Fenstern und Dielenböden mit breiten Ritzen, aus denen ich deutsche Nadeln, Knöpfe, Fingernägel und Haare geklaubt hatte. Diese Fundstücke bewahrte ich aus unerfindlichen Gründen in Streichholzschachteln auf. Ewa schüttelte sich: »Hast du schon wieder einen Deutschen ausgegraben, Kamelin!« Ritzen wie Gräber, wer hatte das gesagt? Ritze, Grab, Dreck, in meinem noch schlaftrunkenen Kopf blitzten diese drei Wörter auf und entwischten unter die Oberfläche des Tages, als ich aus dem Bett sprang. Ich trat auf meinen Schal, als ich die Treppe hinunterrannte, um die Tür aufzumachen, unfassbar, dass ich vor dem Schlafengehen nicht wenigstens die Jacke ausgezogen hatte.

»Alicja«, sagte Herr Albert, und ich sah einen gebrechlichen alten Herrn vor mir statt des kräftigen Mannes, dessen Bild ich in Erinnerung behalten hatte.

Wie war es möglich, dass diese Arme mich hochgehoben hatten bis zu den Kronen der exotischen Bäume? Herr Albert war geschrumpft, er war jetzt kleiner als ich. Sein Gesicht war von Runzeln durchzogen und eingefallen, als hätte ein gefräßiger Schmarotzer es von innen ausgehöhlt, die Augenbrauen waren struppig. Nur die Fliegermütze war noch dieselbe. Dunkel von Schweiß und mehr schlecht als recht mit bunt gemusterten Stoffstücken geflickt, schien sie mit seiner Kopfhaut verwachsen. Ich hatte Herrn Albert nie ohne diese Mütze gesehen, und als ich klein war, dachte ich, er sei bereits mit ihr zur Welt gekommen. Er stand im Nebel, der den Garten eingehüllt hatte, sodass die Bäume wurzellos im milchigen Meer hinter seinem Rücken zu treiben schienen. Es hatte aufgehört zu regnen, doch die Luft war voll eisiger Feuchtigkeit.

»Du bist zurückgekommen.«

Das war keine Frage, aber ich antwortete trotzdem.

»Ich bin nur zum Arbeiten hier, wie ich Ihnen am Telefon gesagt habe. Ich soll eine Reportage über die verschwundenen Kinder schreiben. Danach fahre ich wieder nach Warschau.«

Herr Albert sah mich an, und unter seinen wilden Brauen waren die Augen immer noch so, wie ich sie in Erinnerung hatte, traurig wie die Augen eines Bassets.

»Du bist groß geworden.«

»Ich hatte viel Zeit dazu.«

»Du bist allein gekommen.«

Das war ganz sicher keine Frage, doch ich bejahte.

»Ich fahre überall allein hin.«

»Ich habe alle deine Reportagen gelesen.«

In mir erwachte der Stolz von früher, wenn ich die Namen der Gewächse aus dem Palmenhaus fehlerfrei aufzählte und Herr Albert mich lobte: »Tüchtiges Mädchen«.

»Araukarie, Zantedeschie, Euphorbie«, sagte ich deshalb auch jetzt, und meine Worte verflüchtigten sich in der kalten Luft. Araukarie, Zantedeschie, Euphorbie – wie die Namen aus italienischen Opern weckten diese Bezeichnungen eine leise Trauer in mir, die Trauer darüber, dass kein Name, und sei er noch so schön, das Wesen der Dinge ganz wiedergeben kann.

»Äpfel aus deinem Garten«, sagte Herr Albert und gab mir eine Plastiktüte. Der Duft war so stark und frisch, dass mir fast schwindlig wurde. »Ich habe zwei Steigen voll gepflückt. An dem alten Apfelbaum beim Brunnen sind jetzt die Äpfel reif. Weißt du, welcher?« Ich nickte. »Er muss zum Frühjahr gepfropft werden. Ich kann dir helfen. Das ist ein guter Baum.«

»Im Frühjahr bin ich nicht mehr hier.«

»Man weiß nie.«

»Mir ist es lieber, ich weiß es.«

Herr Albert rückte seine Fliegermütze zurecht und lächelte, und ich spürte, dass ich nur auf meinem Vorsatz beharrte, weil ich Angst hatte. Angst vor diesem Haus, dem November und den schweren Träumen, die mich hier fester an die Vergangenheit banden.

Auf dem Apfelbaum, der noch von den deutschen Eigentümern gepflanzt worden war, hatte ich mich als Kind immer versteckt und durch die Zweige die Welt beobachtet. Der knorrige, moosbewachsene Baum trug kleine rotgeäderte Äpfel. Sie waren so saftig, dass sich krachend die Süße entlud, wenn man hineinbiss. Die roten Adern im Fruchtfleisch riefen mir das feine Netz der Äderchen auf der Wange meiner Schwester in Erinnerung, und mich beschlich eine eigenartige Genugtuung, dass es diese saftige Herrlichkeit bald nicht mehr geben würde. »Alicja!«, rief mein Vater, »Alicja, wo bist du?!«, und ich drückte mich an den Baumstamm und meldete mich erst ein klein wenig später, und dieser winzige Ungehorsam erfüllte mich mit Schuldgefühl und Genugtuung zugleich. In dem Jahr, als meine Schwester starb, hatte der Baum aufgehört zu blühen, und Vater wollte ihn fällen, doch Herr Albert überredete ihn, dem Baum noch eine Chance zu geben. Und jetzt sah es so aus, als wolle Herr Albert mich zu etwas überreden. Ich bat ihn auf einen Tee herein, aber er musste schnell weiter zu dem Parkplatz, wo er sich als Wächter etwas zu seiner Rente dazuverdiente.

»Komm doch mal vorbei.« Er lächelte sein trauriges Lächeln, das genau wie damals vor vielen Jahren seine Augen erhellte.

Ich glaube, es war nicht leicht für ihn, ganz allein in dem Haus zu leben, das unserem glich wie ein Ei dem anderen. Er war nicht verheiratet und hatte auch keine Kinder, und als ich weggegangen war, gab es niemanden mehr, für den er hätte Geige spielen können. Herr Albert und ich sind die letzten Lebenden unserer Familien.

Er stand noch eine Weile schweigend da und sah mir forschend ins Gesicht, vielleicht wollte er die Geschichte der letzten fünfzehn Jahre von ihm ablesen. Als ich die Tür etwas zu schwungvoll hinter ihm zuwarf, fiel das Hufeisen herunter, jemand hatte es als Glücksbringer an der Innenseite aufgehängt, doch das Glück musste diesen Wink übersehen haben. Und das war nicht das Einzige, was an diesem Tag herunterfiel, auseinanderbrach oder sich als hoffnungslos kaputt erwies. Das Haus starb vor meinen Augen, wie zur Rache dafür, dass ich es so lange alleingelassen hatte. Im Tageslicht kamen die Flecken abblätternder Farbe an der Decke zum Vorschein, die Blasen unter den Tapeten, die verzogenen Böden und von Motten bis auf den weißen Kettfaden zerfressenen Sofas. Das Veilchen-Abziehbild an der Badezimmertür war zur Farblosigkeit verblasst, und die einst rosavioletten Blüten und grünen Blätter sahen aus wie Flügel toter Insekten. Ich stand in der rostgesprenkelten Wanne und wartete darauf, dass die betagte Gastherme ansprang und ich duschen konnte, doch als das warme Wasser endlich zu fließen begann, platzte der morsche Duschschlauch der Länge nach auf. »Wir nehmen Keramik- und Terrakottafliesen«, hatte mein Vater versprochen, »oder vielleicht lieber einen Zedernholzboden? Dazu ein Whirlpool, ihr könnt im Whirlpool plantschen wie die kleinen Seehunde im Zoo von Wrocław, was haltet ihr davon? Oder wir lassen uns aus Frankreich eine Messingwanne auf Löwenfüßen kommen?«, hatte er weiter überlegt und in großer Geste mit dem imaginären Geld um sich geworfen. Laufende Reparaturen schienen ihm bei solch hochfliegenden Plänen nicht der Rede wert. Ich ließ Wasser in diese furchtbare Wanne einlaufen und tauchte ganz unter, auch mit dem Kopf, wie als Kind, wenn meine Schwester danebensaß und aufpasste, dass ich nicht ertrank. Damals hatten mich die Geräusche unter Wasser fasziniert: das Klopfen, das Knirschen von Metall auf Stein, Rufe in verschiedenen Sprachen, hohle Klänge, Seufzer. Das war die Welt, in die unser Vater hinabstieg und für die er zuletzt mit dem Leben bezahlte. Wo wir auch gingen und standen, er zeigte mit dem Finger vor uns auf den Boden und sagte mit der Stimme dessen, der fest an etwas glaubt: Irgendwo hier ist er. Irgendwo hier ist Hitlers Schatz. Wenn ich ihn finde, und ich habe jetzt eine absolut akkurate Karte von punktgenauer Peilung, dann wird sich unser Leben zur Unkenntlichkeit verändern. So glücklich würde er uns machen, dass wir einander ganz neu kennenlernen müssten. Irgendwo unter der alten Wanne, in der die Geräusche der unterirdischen Stadt widerhallten, musste der Schatz liegen, den zu suchen sich unser Vater in seinen ausgetretenen tschechoslowakischen Stiefeln und mit einer Bergarbeiterlampe an der Stirn auf den Weg gemacht hatte. Ich hatte zu verstehen versucht, warum er lieber dort unten war als hier, bei mir und Ewa. »Bitte sehr, meine Damen und Herren«, pflegte meine Schwester zu witzeln, »hier sehen Sie Alicja Tabor, die Wasserkamelin, Forscherin der Meere und Ozeane, in die sie eintaucht, wenn sie von der Wüste genug hat! Die einzige Kamelin mit Flossen und Kiemen. Eine seltene Gattung. Unter strengem Artenschutz. Heute erzähle ich Ihnen, was sie im Unterwasserreich unserer Badewanne alles gesehen und gehört hat.« Der Spaß hatte darin bestanden, dass ich wahrheitsgemäß erzählte, was ich hörte – ein Klopfen, wie jemand auf Deutsch oder in einer ähnlichen Sprache zählte, wie ein Glas auf Steinboden zerschellte –, und Ewa dann den Rest dazudichtete. Sie dachte sich Geschichten aus, das konnte sie am besten. Und ich konnte zuhören.

Vielleicht, dachte ich, hatte ich mich geirrt in meinem Glauben, schon so stark zu sein, dass dieses Haus voller Tod und Geister mir nichts anhaben konnte. Ich wusste, dass ich der Angst nicht nachgeben durfte, und war deshalb hier abgestiegen statt in dem von der Redaktion reservierten Hotel, meine Kollegen hatten keine Ahnung, dass mir ein altes Haus in Wałbrzych gehörte. Ich redete nicht gern über die Vergangenheit und knüpfte selten einen so engen Kontakt, dass Vertraulichkeiten von mir erwartet wurden. »Ich habe keine Familie«, sagte ich, wenn mich jemand nach meinen Eltern und Geschwistern fragte.

Mein ganzes erwachsenes Leben hatte ich Kräfte gesammelt, wie man Vorräte für einen langen Winter zusammenträgt, und hatte geglaubt, einigermaßen vorbereitet zu sein auf diese Reise. Als in Wałbrzych Kinder verschwanden, wusste ich, dass die Zeit gekommen war. Nun war ich hier, und das Haus, dessen Schlüssel ich immer bei mir getragen hatte, schnappte mit seinem kariösen Kiefer nach mir. Nach dem Bad mit unterirdischem Konzert beschloss ich, sämtliche Räume zu inspizieren. Wollen wir doch mal sehen, wer hier gegen wen antritt, die Bruchbude gegen mich oder ich, Alicja Panzertier, gegen sie. Im ersten Stock gab es zwei Schlafzimmer, eines hatte früher Ewa und mir gehört. Der Tisch, an dem wir unsere Hausaufgaben gemacht hatten, zwei Stühle, ein leerer Schrank, Flickenteppich, weiter nichts. Das zweite Schlafzimmer war seit Jahren leer, dort stand nur ein Metallbett ohne Matratze, traurig wie ein verlassenes Schiffswrack auf einer Sandbank. Früher einmal, in Zeiten, an die ich mich nicht erinnerte, hatten sich meine Eltern dieses Zimmer geteilt, doch später zog mein Vater nach unten, und von da an war das Arbeitszimmer für ihn Schlafzimmer, Esszimmer und Zufluchtsort in einem. Die Treppe knarrte so laut, dass ich fürchtete, sie könnte unter meinem geringen Gewicht zusammenbrechen. Die Banalität des Verfalls ärgerte mich, vielleicht weil ich im tiefsten Innern erwartet hatte, dieses Haus würde auf spektakulärere und weniger vorhersehbare Weise sterben. Als ich die Tür zu Vaters Zimmer öffnete, schlug mir eine Woge verdichteter Zeit entgegen. Vor dem Fenster wuchs aus einem Buchenwald Schloss Fürstenstein empor. Wenn unser Vater an seinem stets von verstaubten Papier- und Bücherstapeln überhäuften Schreibtisch arbeitete, hatte er, sobald er von historischen Abhandlungen, Karten und Plänen aufsah, dieses Gebäude im Blick. Schloss Fürstenstein, wie es jetzt vor mir lag, Nebelschwaden um seine Mauern, gehörte zu den wenigen Dingen, die mir immer noch so groß und schön erschienen wie in meiner Kindheit. Ich zog die Wanduhr auf, und als ihr Pendel zu schwingen begann, spürte ich, wie die hier eingesperrte Zeit in Bewegung geriet. Etwas machte klick, und die Zeit des Hauses und meine Zeit verhakten sich ineinander. Das mit gelblichem Leder bezogene Sofa, auf dem ich als Kind in den seltenen Momenten saß, in denen unser Vater nicht mit der Schatzsuche beschäftigt war und sich stark genug fühlte, dem Vatersein die Stirn zu bieten, gab einen tiefen Seufzer von sich, als ich mich setzte. Eine Zeitlang saß ich regungslos da und bemühte mich sogar, nicht zu atmen, aber ich empfand nichts als Trauer. Das Leder des Sofas war rauh und rissig, ich streichelte es zur Begrüßung. Ich warf einen Blick in die Küche, die in einem grauen Lichtschein schwamm, als wäre sie voller Wasser, und Wasser war es tatsächlich, das ununterbrochen in die Spüle tropfte, aus einem kleinen Stalaktiten, der sich im Laufe der Jahre gebildet hatte. Von der Tür, die in den Garten führte, zog es kalt herüber, Nebel drängte gegen die Fensterscheiben. Der Tisch und die vier Stühle glichen Skeletten ausgestorbener Tiere, die niemand je hatte benennen oder ins Herz schließen können.

Blieb noch der Keller. Als ich die Tür unter der Treppe aufzog, wehte mir Modergeruch entgegen, die jahrelang eingesperrte Luft entwich wie Ektoplasma unter Druck. Ektoplasma – wie hatte meine Schwester dieses Wort geliebt! »Wenn es friert und du ausatmest, Kamelin, kommt ein besonderer Atem aus deinem Mund, der nicht verfliegt, sondern sich in Mauselöchern, Katzenohren und verlassenen Krähennestern sammelt. In Knallerbsen, in der Milch mit dem goldenen Deckel, in der weißen Milkaschokolade aus der BeErDe.« – »Warum denn das?« – »Wie, warum! Weil Ektoplasma daraus wird«, sagte sie. »Man muss nur ein paar Tränen untermischen, eine Prise Kohlenstaub, und fertig.« Wenn der Wald hinter unserem Haus im Nebel versank, der bis zu den Mauern von Schloss Fürstenstein hinaufkroch, so wie heute, flüsterte sie theatralisch: »Schau mal, Kamelin, hab Angst, Pipinelke, dort wabert das Ektoplasma, jetzt werden Geister geboren.« Ewa spürte überall die Anwesenheit von etwas, das außerhalb der gewöhnlichen Welt der Sterblichen lag. Ohne zu zögern, wäre sie auch jetzt mit mir in den Keller hinabgestiegen, vor dem ich etwas ratlos stand, weil das Licht nicht funktionierte und ich einen Moment lang glaubte, wieder das unterirdische Klopfen zu hören. Auf der Treppe hinunter ins Dunkel fragte ich: »Ist da wer?«, wie die zaudernde Hauptdarstellerin in einem schlechten Horrorfilm. Ich setzte einen Fuß vor, dann den anderen, leuchtete mir mit der Taschenlampe. An den Kellerwänden reihten sich bräunlich verklumpte, wellige Papierstapel: Jahrgänge von Vaters Zeitschriften, verworfene Notizen, Karten mit Wegen ins Nirgendwo, Briefe von anderen Schatzsuchern. Nach und nach erahnte mein Blick im Dunkel weitere Gegenstände, manche hatten die deutschen Hausbesitzer zurückgelassen, als sie nach dem Krieg die Stadt übereilt verließen: eine metallene Singer-Nähmaschine mit der Aufschrift »Waldenburg«, ein Bild mit einem Schutzengel, der Kinder auf einem Steg über einen Abgrund führt, ein paar hässliche, von dickem Staub bedeckte Hirten- und Jägerfiguren aus Porzellan. Unsere Sachen hatten sich auf den älteren Hinterlassenschaften abgesetzt wie eine weitere Schicht, die unter einem schmelzenden Gletscher zum Vorschein kam, und vermoderten nun gemeinsam mit ihnen. Eine »Frania«-Waschmaschine voller Schuhe, eine metallene Kinderwanne, eine ausgediente Batterie, einige von Feuchtigkeit aufgequollene Koffer, eine Lampe mit einem Lampenschirm aus aschgrauen Schnüren und eine große Holztruhe mit aufgemalten Drachen und Blumen, die eine geradezu körperliche Abneigung in mir weckte. Neben ihr stand ein Frisiertisch, der Spiegel so fleckig und verschmutzt, dass ich mein eigenes Bild nicht erkannte, und sicher wäre ich vor diesem bleichen Gesicht mit den großen Augen erschrocken zurückgefahren, hätte ich nicht im selben Moment etwas Entsetzliches entdeckt. Ein großer Kopf, schlaffe Arme und Beine. Bitte nicht, schickte ich ein Stoßgebet an wen auch immer und kämpfte mich durch die dichte Luft dorthin vor. Ein Teddybär. Ein rostroter Plüschbär. Ich ging in die Hocke und leuchtete ihm mit der Taschenlampe in die Glasaugen.

Diesen Plüschbären von der Größe eines zweijährigen Kindes hatte Vater mir aus der DDR mitgebracht. Er war dort auf einer seiner tage- oder wochenlangen Expeditionen gewesen, von denen er immer um einige Złoty ärmer und um eine weitere Wegekarte reicher zurückkam, eine noch bessere Karte als alle vorherigen, aus noch zuverlässigerer Quelle. In Ostberlin traf er sich mit einem Deutschen aus Argentinien, vielleicht auch Bolivien. »Oho, der weiß Sachen, da stehen dir die Haare zu Berge!«, erzählte er aufgeregt. »Mit dieser Karte fühle ich mich wie zu Hause«, freute er sich, seine Augen blitzten, und ich wagte nicht, ihn zu erinnern, dass er hier bei uns zu Hause war und nicht unter der Erde. Kurz darauf machte Vater sich dann mit der neuen Karte wieder auf die Suche nach dem Schatz, winkte uns frohgemut vom Schlosspfad zu, nur um ein weiteres Mal geschlagen zurückzukehren. Wir tauften den rostroten Bären auf den Namen Hans, und an den Abenden erzählte Ewa mir statt Märchen von Prinzen und Prinzessinnen Geschichten von Hans aus der DDR. »Guten Abend, meine Kleine[1]!« Meine schöne Schwester wurde zu Hans, sprach mit tiefer Stimme und deutschem Akzent von Hänschens Abenteuern an der Front, von seiner Begegnung mit den vier Panzersoldaten und von dem Schatz, der unter Schloss Fürstenstein verborgen lag. »Nur Hans weiß, wie man dort hinkommt, meine Kleine! Er hat es nicht einmal Marusia verraten, obwohl er sie heimlich liebte. Nur Hans hat die richtige Karte. Mit dieser Karte finden wir die Perlen von Fürstin Daisy, der letzten Herrin von Schloss Fürstenstein. Die Perlen, Kamelin! Sie sind das Einzige, was zählt.« Meine Schwester fand Hitlers Schatz weniger reizvoll als Daisys sechs Meter lange Kette aus ebenmäßigen Perlen, die schimmerten wie zu Kugeln gerolltes Mondlicht. Wenn wir sie in unseren Besitz gebracht hätten, würden alle unsere Wünsche in Erfüllung gehen, und das Leben läge so klar und rein vor uns wie der Garten nach einem großen Regen. »Hör zu, Kamelin, Pipinelke, hör gut zu, meine Kleine!« Der Bär aus der DDR hob eine Tatze und nickte, seine Augen glänzten. »Unser roter Hans ist ein guter Deutscher. Er hat keine Kinder, Hunde oder Kätzchen getötet, meine Kleine, er hat keine Kinderchen in den Ofen gesteckt, o nein, und wenn es nach ihm ginge, würde der verborgene Schatz von Schloss Fürstenstein schon längst uns gehören.« Die Stimme des Bären drang aus meiner Schwester: »Ja ja, meineKleine, sagt einfach nur, was ihr wollt, macht die Augen zu und eins, zwei, drei!« Meine Schwester wusste genau, was sie wollte. Sie wollte nach Warschau und Schauspielerin werden, den Künstlernamen Daisy annehmen, Daisy Tabor. Wie das klingt! Unser Nachname und der, wie Ewa fand, gloriose und geheimnisvolle Vorname der schönen Herrin von Schloss Fürstenstein. So wie Daisy wollte auch sie die ganze Welt bereisen! Von jedem Ort würde sie uns eine Postkarte schicken. Und welche Geschenke sie erst mitbringen würde!

Vater war es, der Ewa diese Faszination für Fürstin Daisy und die verschwundene Perlenkette einpflanzte. Vielleicht erkannte er in der älteren Tochter seine eigenen Sehnsüchte und wollte Ewa eine außergewöhnliche Gabe übermitteln, da er ahnte, dass die gewöhnlichen Träume sie nicht durchs Leben tragen würden. Wenn er gutgelaunt und hoffnungsfroh an einem neuen Plan saß, durften wir ausnahmsweise sein Zimmer betreten, und er erzählte uns die Geschichte von der letzten Herrin auf Schloss Fürstenstein. Dann saßen wir aneinandergeschmiegt auf dem alten Ledersofa, das Vater kamelfarben nannte und das ich liebte, weil ich Kamele mit Reisen und unendlicher Weite verband, mit all dem, wonach Ewa sich sehnte und was am Ende zu meinem Leben werden sollte. Vater stützte einen Ellbogen auf seinen Schreibtisch. »Vor langer, aber nicht allzu langer Zeit«, begann er, »fand in einem englischen Palast ein Ball statt.« Seine Geschichte war voller Begriffe, die ich noch nicht verstand, Kandelaber, Fräcke, Kotillons, Turnüren, Musselin, Lambrequins, doch der bloße Klang der Wörter reichte aus, um mich zu berauschen. Ich drückte mich enger an die Schulter meiner Schwester, denn ich fürchtete, ihre Empfindungen bei Vaters Geschichte könnten sie so weit von mir und diesem Haus entfernen, dass ich sie nicht einmal auf einem Kamel mehr einholen würde. »Fürstin Daisy hieß in Wirklichkeit Mary Theresa Olivia Cornwallis-West und war die Tochter eines Obersten der britischen königlichen Armee«, erzählte unser Vater. »Cornwallis-West«, flüsterte meine Schwester andächtig. »Die junge Engländerin bezauberte schon damals alle mit ihrer Schönheit«, seufzte Vater, und meine Schwester setzte sich aufrecht hin und legte den Kopf schief, um zu zeigen, was schon bald viele bemerken sollten: dass auch sie alle bezauberte und ihre Schönheit der Anfang einer ebenso schönen Geschichte sein musste. »Mary Theresa Olivia Cornwallis-West heiratete im Alter von achtzehn Jahren den letzten Besitzer von Schloss Fürstenstein, Hans Heinrich XV. von Pless, was waren sie für ein schönes Paar! Bälle, Kandelaber, Crêpe de Chine, Taft, Kotillons«, seufzte Vater. »Auf Hochzeitsreise fuhren sie nach Paris und weiter nach Ägypten, wo sie bestimmt auch Kamelen begegneten«, ergänzte er eigens für mich, denn er wusste, wie sehr mich diese wenig ansehnlichen, dafür aber zähen und starken Geschöpfe faszinierten. Meine Schwester mochte Katzen, so wie Fürstin Daisy, doch mich erfüllten diese Tiere mit leiser Furcht. Bis heute kann ich nicht ganz begreifen, wie ein Wesen Zerbrechlichkeit und Stärke so vollkommen in sich vereinen kann. Doch meine Schwester verstand es, und wenn wir die streunenden Katzen beim Schloss füttern gingen, hatte ich das Gefühl, dass sie jemanden in ihr erkannten, der ihnen ähnlich war. Mir schien, als gehörten diese Schönheit und geheimnisvolle Aura auf so selbstverständliche Weise zu ihr wie damals zu Fürstin Daisy. Ich dachte, wenn ich mich in Ewas Nähe aufhielte, würde vielleicht auch auf mich, die unscheinbare kamelfarbene Schwester, ein wenig von ihrem Glanz und ihrer katzenhaften Anmut übergehen. Das Vibrieren, das Ewa umgab und die Luft um sie herum flimmern ließ wie die Hitze über heißem Sand, schien mir etwas Außergewöhnliches anzukündigen, etwas, das in seiner Herrlichkeit auch Mary Theresa Olivia Cornwallis-West und ihren Perlen eigen war.

In jenem letzten Winter sprach meine Schwester fast ausschließlich von Daisy und den Perlen. Sie weckte mich nachts, wenn ich mit dem roten Hans im Arm schlief, und erzählte mir ein ums andere Mal die Geschichte der Fürstin, immer wieder neu, und ich merkte nicht, dass ihre geweiteten Augen und der kalte Schweiß auf ihrer Stirn die Vorboten einer Katastrophe waren. »Kamelschwesterchen Kamelin, ich bin es, Daisy«, zwitscherte sie. »Das ist Daisy«, wiederholte Hans mit tiefer Stimme, »wach auf, meine Kleine, und hör zu.« Sie legte sich neben mich auf den Rücken und sagte: »Es war einmal ein schwarzer schwarzer Wald in diesem schwarzen schwarzen Wald war ein schwarzes schwarzes Haus in diesem schwarzen schwarzen Haus war ein schwarzes schwarzes Zimmer in diesem schwarzen schwarzen Zimmer war ein schwarzer schwarzer Tisch auf diesem schwarzen schwarzen Tisch war ein schwarzer schwarzer Sarg in diesem schwarzen schwarzen Sarg war eine weiße weiße Leiche.« Ich starb fast vor Angst, doch Ewa kitzelte mich und sprach weiter: »Weiße Leiche an der Leiche eine Perlenschnur Leichenglanz schwarzes Haus Perlenschnur. Nicht schlafen! Sprich mir nach«, sie wurde immer schneller, sodass ich mich verhaspelte. Ich konnte ihr nie folgen, und ich kam nicht zur rechten Zeit, als sie mich brauchte.

Ewas Lieblingsstelle in Vaters Geschichte war Fürstin Daisys Reise nach Ägypten. »Hör zu, Kamelin! Ägypten, der Golf von Aden. Es ist so heiß«, Ewa fächelte sich theatralisch Luft zu, als werde Wałbrzych gerade von einer ägyptischen Hitzewelle heimgesucht, »so heiß, dass man im Sand Eier kochen kann. Deine Lieblingskamele fressen Datteln unter Palmen, und die Kameltreiber träumen im Schatten von kalter Pepsi-Cola und Eskimos. In Ägypten, Schwesterchen, ist die Sonne fünfmal so groß wie hier, und im Süden zünden sich die feinen Männer an ihren Strahlen Zigaretten an. Paff, paff, blasen sie Rauchringe aus, die duften wie frische Basiatörtchen mit Sahne.« Diese Kremtörtchen aus dem Teehaus Madras am Wałbrzycher Marktplatz waren die besten Törtchen der Welt, Basiatörtchenrauch, mir lief das Wasser im Mund zusammen, und meine Schwester erzählte weiter von Daisy: »Ganz in Weiß stand die Fürstin am Meeresstrand und schützte sich mit einem chinesischen Schirmchen gegen die Sonne. Sie sah den ägyptischen Jungen beim Tauchen zu. Dunkelhäutige Jungen, Messer zwischen den Zähnen, Zähne wie Perlen, Pipinelke, hör gut zu. Sie fischten für sie nach Perlen, für die schöne Daisy, und die schaute zu und drehte ihren Schirm mit dem Bambusgriff.« Meine Schwester schmückte ihre Geschichte von Mal zu Mal weiter aus, nur der Höhepunkt blieb derselbe. Nach einiger Zeit begann Daisy sich in dem Provinzhafen zu langweilen, vielleicht erfasste sie die erste Welle der Melancholie und sie wollte weiterreisen in der Hoffnung, ihr zu entkommen. Sie drängte ihren Mann, und der Fürst von Pless trieb die angeheuerten Perlentaucher zur Eile an und beteuerte seiner jungen Frau in den heißen Nächten, dass sie ein wunderbares Leben auf Schloss Fürstenstein führen würden und ihre Melancholie lediglich von der Reisemüdigkeit und dem ungewohnten Klima herrührte. Die Erklärungen der Perlentaucher, dass man nicht gefahrlos wieder und wieder so tief tauchen könne, wollte er nicht hören. Es fehlten nur noch wenige Perlen, bis die Kette die ideale Länge von sechs Metern hätte. »Sechs Meter«, wiederholte Ewa fasziniert und fragte, ob ich mir das vorstellen könne, eine Perlenschnur so lang wie zwei große Pythons aus dem Wrocławer Zoo, wie fünf kleine Kamelschwestern übereinander. Am letzten Tag der Perlensuche machte Daisy eine Bootsfahrt, um dem Taucher noch einmal ganz aus der Nähe bei der Arbeit zuzusehen. Schließlich stieg der Perlentaucher, der immer die prächtigsten Perlmuscheln fischte, entkräftet aus dem Wasser. Er warf der Fürstin eine riesige Muschel vor die Füße, starrte ihr ins Gesicht und stieß ein paar Worte hervor. Dann quoll ihm Blut aus dem Mund, und er brach tot zusammen. Es hieß, der ägyptische Perlentaucher habe die Fürstin mit einem Bann belegt, dessen Folge all die Schicksalsschläge gewesen seien, die der Herrin von Fürstenstein später widerfuhren. »Bann Bann Bann«, wiederholte Ewa, und mir schien das bloße Wort in dieser zwanghaften Wiederholung eine schreckliche Macht zu entfalten. Meine Schwester, die zukünftige Filmdiva, die ein Zug nach Hollywood holen würde, war wie besessen von Daisys Perlen und dem Bann. Die sechs Meter lange Perlenschnur war auf einem berühmten Bild von Daisy verewigt, ein Kunstdruck davon stand auf unserem Schreibtisch. »Ich sehe ihr doch ähnlich, oder?«, fragte Ewa und hielt sich das Foto mit der Fürstin neben das Gesicht. »Sehe ich ihr ähnlich?«, sie piekste Hans in den Bauch und forderte eine Bestätigung. »Ja, du siehst ihr ähnlich«, bestätigte ich, dabei fand ich Ewa viel schöner.

Meine Schwester war überzeugt, dass Daisys Perlen noch in Wałbrzych sein mussten, wir würden sie finden und den Bann brechen. »Aber eine Person allein schafft das nicht. Wenn jemand die Kette für sich behält, wird er eines furchtbaren Todes sterben, es wird ihn von innen zerreißen. Deshalb muss man die Kette zerschneiden und die kostbaren Perlen verteilen. Unbedingt!« Ewa wirkte felsenfest überzeugt. Ich war neugierig, wer Fürstin Daisys Perlen bekommen sollte. »Kriegen wir auch welche?« – »Die Wächter der Perlen kriegen sie«, erklärte Ewa, und ihre Augen leuchteten. »Wer sind denn diese Wächter?« – »Die Wächter der Perlen sind Leute, die eine besondere Eigenschaft haben, eine Kraft, die den Bann des Perlentauchers aufheben kann.« – »Und was ist, wenn wir Fürstin Daisys Perlen nicht finden?« – »Dann wird etwas Schlimmes passieren.« – »Wie schlimm denn?«, wollte ich wissen. »So schlimm, dass auch die gutherzigsten Menschen durchlässig für das Böse werden. Wenn es in ihr Inneres eindringt, sind sie verloren.« – »Wie dringt es denn in sie ein?« Sie drückte mich an sich und kitzelte mich: »Durchs Näschen, durchs Mündchen, unter die Ächselchen, zwischen die Fingerchen …« – »Wir müssen etwas dagegen machen!« – »Deshalb müssen wir ja die Perlen finden und sie ans Tageslicht befördern, aber wir brauchen unbedingt schwarze Sonnenbrillen, denn sonst erblinden wir von ihrem Glanz.« – »Lass sie uns doch unter die Johannisbeersträucher im Garten legen, da findet sie keiner«, schlug ich vor. »Versenken wir sie im Stausee von Zagórze! Sie sollen für immer verschwinden. Oder wir tauschen sie gegen Futter für die Katzen vom Schloss!« Ich war praktisch veranlagt und besaß im Vergleich zu Ewa wenig Phantasie. »Das dürfen wir nicht, Kamelin, sie gehören uns nicht. Aber wir gehen in Zagórze auf die Hängebrücke und schaukeln so hoch wie auf der Schaukel im Jordangarten, was meinst du?« So war Ewa: Trubel, Perlen, Brückenschaukel.

Ich hockte im Keller neben dem verschlissenen Plüschbären aus der DDR und weinte um meine verlorene Schwester. Sie war siebzehn und wusste, dass sie gehen würde. Ewas Geschichten endeten alle gleich. Dank der Karte von Fürstin Daisy kämpfte sich unser tapferes Schatzsuchertrio – Ewa, ich und der rote Hans – durch ein Labyrinth unterirdischer Tunnel, wir überwältigten mächtige Feinde, knackten einen Code und öffneten das große Tor, hinter dem die Perlenschnur im Dunkeln schimmerte. Wir waren schon ganz nah, aber im letzten Moment tauchten immer »sie« auf. »Wer?« – »Brauchen sie denn einen Namen, Kamelin?« – »Ja.« – »Warum?« – »Weil alles einen Namen hat, sogar das Ektoplasma und die Geister.« – »Na gut, dann nennen wir sie eben die Katzenfresser.« – »Katzenfresser?« – »Richtig!« – »Warum denn Katzenfresser?« – »Weil sie Katzen hassen. Die Katzen riechen sie als Erste, sie fauchen, sträuben sich und rasen auf ihren Katzenpfaden davon. Am empfindlichsten reagieren die Katzen von Schloss Fürstenstein. Das sind ganz außergewöhnliche Tiere! Empfindlich wie Seismographen. Fürstin Daisy hat sie als Wachen dagelassen. Manche sind so empfindlich, dass sie sterben, wenn die Katzenfresser auch nur in ihre Nähe kommen.« – »Sterben, bis sie tot sind?« – »Leider, Kamelin, unwiederbringlich tot«, antwortete meine Schwester. »Wie sind die Katzenfresser?« – »Ihre Haut ist kalt und dick, ihr Atem verpestet die Luft und verwirrt die Gedanken, er höhlt den Menschen aus, lässt ihn leer zurück. Und kalt sind sie, Pipinelke, kalt wie eine Leiche. Jemand, in den die Katzenfresser eingedrungen sind, ist kalt wie eine ganze Kühltruhe mit Tiefkühlkost!« – »Wann kommen sie?« – »Wenn die Eingänge offen sind. Meistens im November.« – »Wie sehen die Katzenfresser aus? Kommen sie aus Polen, aus der Sowjetunion oder aus Ägypten?«, fragte ich weiter, denn ich musste alles ganz genau wissen. »Die Katzenfresser«, sagte Ewa, »sind überall, sie nehmen jedes Mal eine andere Gestalt an, Kamelin. Sie sind zäher als Kamele, stärker als Nashörner. Gefräßiger als der Menschenfresserhai. Sie bleiben da und fressen. Sie dringen durch die Wände, in den Körper, und wenn sie erst mal drin sind, sorgen sie dafür, dass alles verfault und sich mit stinkendem Nebel füllt, als wäre eine ganze Tonne Schimmelkäse vergammelt. Sie lauern in den Badezimmerrohren, hinter den Spiegeln, im Kaninchenbau, in den Kaminen und in den Nasenlöchern. Unter den Betten von kleinen Kamelschwestern!« – »Wie erkennt man sie?«, ich ließ nicht locker. »Man muss fragen: Eins zwei drei und Stock und Hut, bist du böse oder gut?«, sagte Ewa, aber das war schon ein Scherz. Der rote Hans warf sich auf mich und kitzelte mich so heftig, dass ich mich vor Schreck und Lachen verschluckte. Ich vertraute darauf, dass Ewa mich vor den Katzenfressern beschützen würde, denn außer ihr hatte ich niemanden. Wie nah die Gefahr war, habe ich selbst dann noch nicht begriffen, als meine Schwester aufhörte zu essen und zu schlafen, als sie nackt am offenen Fenster unseres Schlafzimmers stand und vor sich hin sprach: »In diesem schwarzen schwarzen Haus war ein schwarzer schwarzer Tisch in diesem schwarzen schwarzen Sarg war eine weiße weiße Leiche an der Leiche Perlenschnur Kamelin Pipinelke bete zur Gottesmutter Gluckenputte schwarzes Haus schwarzer Sarg weiße Leiche.« Sie wiederholte es so schnell, dass ich hilflos und erschrocken zu weinen anfing, und da bat sie mich: »Bring mich zum Tierarzt und lass mich einschläfern, Schwesterchen. Und dann wirf mich den Krokodilen zum Fraß vor, lass ihre Haut verarbeiten und lauf in Krokodillederstiefeln in die Welt hinaus. Und sieh dich nicht um.«

Kinder verschwinden

Am Nachmittag setzte ich mich an den Küchentisch und sah mein Material für die Reportage durch. Die Küche war immer der wärmste und hellste Raum im Haus gewesen, und auch wenn der rostige Wasserhahn immer noch tropfte und der Holzboden beängstigend durchhing, als müsste er jeden Moment einbrechen, war es hier sauber. Herr Albert hatte viel Mühe darauf verwendet, das Haus am Leben zu erhalten, und ich wusste, dass ich mich ihm für all die Jahre erkenntlich zeigen sollte. Auf dem Tisch stand eine Schale mit Äpfeln aus meinem Garten. Sie leuchteten und dufteten. Ich nahm mir einen und biss hinein, und mir fiel wieder ein, dass Ewa, Vater und ich stets auf denselben Plätzen um den Tisch gesessen hatten. Ich an der einen Seite, sie mir gegenüber, als hätten sie geahnt, dass uns unterschiedliche Schicksale beschieden sein würden. Schon damals habe ich eine nagende Einsamkeit verspürt, denn sie gehörten trotz allem zusammen, durch die Vorsehung verbunden.

Am Tisch standen immer noch vier Stühle, und ich hatte mich auf den gesetzt, der auch vor Jahren meiner gewesen war. Ich starrte auf die leeren Plätze vor mir, warf das Kerngehäuse weg und schaltete den Computer ein. Es öffnete sich der Ordner KINDER VERSCHWINDEN, Texte und Bilder erschienen, angeordnet mit der mir eigenen Akribie. Im Dokument UMSTÄNDE hatte ich Informationen über die Ereignisse gesammelt, die dem Verschwinden der Wałbrzycher Kinder voraus- oder mit ihm Hand in Hand gegangen waren. Als ich das Material durchsah, beschlich mich wieder ein Gefühl, das mich schon die ganze Zeit verfolgte: als verdichte sich etwas um mich herum, nähme Gestalt an wie das Ektoplasma aus den Geschichten meiner Schwester. Im Januar war ein kleines Tierheim im entlegenen Wałbrzycher Stadtteil Rusinowa abgebrannt. Die Zufluchtsstätte hatte Małgorzata Felis betrieben, eine sechsundsiebzig Jahre alte pensionierte Archivarin, die als wunderlich galt und allein in ihrem Haus lebte. Jemand hatte die Gebäude nachts mit Benzin übergossen und Feuer gelegt. Die Eigentümerin und fast alle Katzen, die im Winter in geschlossenen Räumen schliefen, waren umgekommen. Einhundertsiebenundzwanzig Katzen, wie penibel gezählt wurde, und ich stellte mir einhundertsiebenundzwanzig säuglingsgroße verkohlte Körper vor und den schwärzlichen Rauch, der von dem bis auf die Grundmauern abgebrannten Backsteingebäude aufstieg. Die Brandstifter waren noch nicht gefunden, und das Verbrechen rief kaum Aufsehen hervor, wen kümmerten schon eine alte Verrückte und eine Horde lästiger Tiere? »Gestunken hat's«, sagt ein Bewohner des Stadtteils in einem Interview zur blonden Lokalreporterin Sandra Pędrak-Pyrzycka. »Gestunken von der ihren Katzenbälgen.« Eine junge Frau mit Kind findet, Małgorzata Felis hätte lieber Mütter und Kinder unterstützen sollen als obdachlose Tiere. Mütter hätten ein Anrecht darauf, erst recht Mütter kleiner Kinder. Die Aufregung um das abgebrannte Haus legt sich schnell. Dafür wächst der Unmut über die Armut und Arbeitslosigkeit. Im ehemals deutschen Stadtteil Sobięcin, einem der ärmsten Viertel in der ohnehin nicht reichen Stadt, tritt Schwefelwasserstoff aus, und die Bewohner der Plattenbauten und alten Mietshäuser klagen über eine Kakerlakenplage, so schlimm wie seit Jahren nicht. Im April verschwand das erste Kind, ein Mädchen, zwei Monate später ein Junge, kurz vor meiner Ankunft wieder ein Mädchen. Die Polizei hatte noch nicht die kleinste Spur gefunden, die Ermittlungen traten auf der Stelle. Andżelika, Patryk und Kalinka blieben wie vom Erdboden verschluckt. Wie in der Versenkung verschwunden. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst. So reden die Leute über die verschollenen Kinder, die ganze Stadt ist in heller Aufregung. Im Romaviertel gibt es eine Schlägerei, eine Straßenbande zerstört Autos und schlägt Fensterscheiben ein. Im August betritt der arbeitslose Bergmann Jan Kołek den Wałbrzycher Marktplatz und stellt sich neben dem neuen schwarzen Steinbrunnen auf. In seinem Kohleschacht soll die Schmerzensmutter zu ihm gesprochen haben. Ich betrachte eine Weile das dunkle, hagere Gesicht des angeblichen Propheten. Jan Kołek steht vor dem Brunnen, der auf dem Foto wie ein Sarkophag wirkt. Er ist mager und gebeugt, trägt einen altmodischen Anzug und sieht weder wie ein Verrückter noch wie ein Hochstapler aus, sondern erinnert mich ein wenig an Herrn Albert. Jan Kołek behauptet, die Schmerzensmutter habe die Kinder zu sich geholt, und bei dieser Auslegung der Geschichte wird er bleiben bis an sein Lebensende.

Als Erste verschwand die sechsjährige Andżelika Mizera aus Nowe Miasto. Ich wiederholte den Namen laut und klickte auf dem Bildschirm das Foto des Mädchens an: ein großes rundes Kindergesicht, engstehende Augen, wirres, mit einer Schmetterlingsspange zusammengestecktes hellbraunes Haar. Ein aufgesetztes Fotolächeln entblößt die schlechten Zähne. »Wie als hätt sie sich in Luft aufgelöst«, sagt in einer Dokumentation Andżelikas Nachbarin, eine ältere Frau mit gewölbter glänzender Stirn. Ihr Mund sieht aus wie eingedrückt, vielleicht von einem Schlag, denn ihr linkes Auge ziert unübersehbar ein Bluterguss. »War das ein Wirbelwind immer am Rennen hier und da und hastenichtgesehn übern Hof zum Kiosk Zigaretten holen Treppe rauf Treppe runter Winter Sommer egal welches Wetter immer Hummeln im Hintern Treppe rauf Treppe runter und dann plötzlich wie als hätt sie sich in Luft aufgelöst. Zigeuner vielleicht?«, die Frau blickt fragend drein, doch darauf weiß auch die Reporterin keine Antwort. Ich berührte Andżelikas Gesicht auf dem Bildschirm, es fühlte sich weich, aber kalt an, die elas