Wolkenfern - Joanna Bator - E-Book

Wolkenfern E-Book

Joanna Bator

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Beschreibung

Nach einem Verkehrsunfall erwacht Dominika aus dem Koma, umsorgt von ihrer Mutter und Grażynka Rozpuch, einer alten Familienfreundin, die ihr den Platz in der Spezialklinik bei München verschafft hat. Statt nach Polen zurückzukehren, bricht Dominika, von Fernweh getrieben, ins Ungewisse auf, lebt als Fotografin unter Emigranten in New York und London, bis sie eines Tages den Ort findet, an dem sie bleiben will. Hineingewoben in diese weibliche Odyssee ist die Geschichte Grażynkas, die vor dem Krieg als Findelkind von einem Frauenpaar, den »Teetanten«, aufgezogen wird. Als die SS im Städtchen die polnische Bevölkerung deportiert, gelingt es den Teetanten, das Kind in die Obhut einer Nonne zu geben. Aus dem KZ zurückgekehrt, sehen sie, wie ihre Nachbarn sich um die Besitztümer der verschwundenen jüdischen Familien streiten. Und von Grażynka keine Spur… Zeiten und Erzählebenen kunstvoll verknüpfend, rollt Joanna Bator ein großes Panorama aus, das sich über Kontinente und ein ganzes Jahrhundert erstreckt. Wolkenfern ist ein Roman über Fremdheit und Heimatsuche. Vor allem aber handelt er von den vielgestaltigen Beziehungen zwischen Frauen − atemberaubend kühn, in einer sinnlichen, mitreißenden Sprache. Wolkenfern ist ein literarisches Schwergewicht, ein Buch, das auch emotional tief berührt.

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Seitenzahl: 648

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Inhalt, Autor

Nach einem Verkehrsunfall erwacht Dominika aus dem Koma, umsorgt von ihrer Mutter und Grażynka Rozpuch, einer alten Familienfreundin, die ihr den Platz in der Spezialklinik bei München verschafft hat. Statt nach Polen zurückzukehren, bricht Dominika, von Fernweh getrieben, ins Ungewisse auf, lebt als Fotografin unter Emigranten in New York und London, bis sie eines Tages den Ort findet, an dem sie bleiben will.

Hineingewoben in diese weibliche Odyssee ist die Geschichte Grażynkas, die vor dem Krieg als Findelkind von einem Frauenpaar, den »Teetanten«, aufgezogen wird. Als die SS im Städtchen die polnische Bevölkerung deportiert, gelingt es den Teetanten, das Kind in die Obhut einer Nonne zu geben. Aus dem KZ zurückgekehrt, sehen sie, wie ihre Nachbarn sich um die Besitztümer der verschwundenen jüdischen Familien streiten. Und von Grażynka keine Spur …

Zeiten und Erzählebenen kunstvoll verknüpfend, rollt Joanna Bator ein großes Panorama aus, das sich über Kontinente und ein ganzes Jahrhundert erstreckt. Ein Roman über Fremdheit und Heimatsuche, der von den vielgestaltigen Beziehungen zwischen Frauen erzählt − atemberaubend kühn, in einer sinnlichen, mitreißenden Sprache.

 

Joanna Bator, 1968 geboren, studierte in Wrocław Kulturwissenschaft und Philosophie, publizierte in wichtigen polnischen Zeitungen und Zeitschriften. Die deutsche Übersetzung ihres Romans Sandberg (2011) durch Esther Kinsky war ein literarisches Ereignis. Seither gilt Joanna Bator als eine der wichtigsten neuen Stimmen der europäischen Literatur. 2013 erhielt sie den Nike-Literaturpreis und 2014 den Spycher: Literaturpreis Leuk. Nach mehreren Jahren in Japan lebt Joanna Bator heute wieder in Polen.

Im suhrkamp taschenbuch liegt außerdem vor: Sandberg. Roman (st 4404).

Impressum

Die polnische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel

Chmurdalia

im Verlag W. A. B., Warschau. © Wydawnictwo W. A. B 2010

 

 

 

 

 

 

© ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4574

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagabbildung: Rafael Astorga

Umschlaggestaltung: Michels, Göllner

Satz: Memminger MedienCentrum AG

 

eISBN 978-3-518-73461-2

www.suhrkamp.de

Joanna Bator

Wolkenfern

Roman

Aus dem Polnischen von Esther Kinsky

Suhrkamp Verlag

 

Wolkenfern

 

Etwas Silbriges tut sich in der Wolken Ferne

Bolesław Leśmian, Glück

Joasia, man kann doch nicht alles glauben, was die Leute reden. Ja, Mama, das weiß ich, aber man kann dasselbe doch auch einfach weiter erzählen.

Illustrierter Polenkurier, Kraków, 20. Dezember 1942

Eine Geschichte muss einen Anfang haben …

Vor meinem Fenster stand die Zigeunerin, blutüberströmt war sie, singt Jadzia Chmura ihrer Tochter vor. Die Mutter holt aus ihrer Stimme, was sie kann, lockt mit Sirenengesang und wirbelt im Zimmer umher wie ein Aufziehspielzeug. Die Tochter ist reglos und still, so wie sie eingeschlafen ist, so schläft sie weiter. Wach auf, Dornröschen! Dominika hört Jadzias Worte nicht, nur leere Klänge, die herabtaumeln wie langsam im Wasser treibende Fetzen. Das Schlimmste ist, dass man in ihrem Traum nichts zählen kann. Sie fängt bei eins an, doch schon die zwei entschlüpft ihr und verschwimmt, wird verdrängt von weißen Schlieren, Schwärmen, Rudeln, Wolken. Manchmal steigt Dominika ein Geruch in die Nase, dann klammert sie sich daran wie an einen Ariadnefaden; der Wurzelgeruch von Kolonialwarenläden, die Düfte exotischer Basare, von denen sie einmal gelesen hatte, und der Geruch von Verbranntem, alles fließt ineinander.

Das Epizentrum der weißen Explosionen ist Dominikas Kopf, genauer gesagt die rechte Seite ihres Kopfes. Dort nehmen die Schmerzwellen ihren Anfang, laufen allmählich abebbend aus in ihren Fingerspitzen, die im Rhythmus der inneren Explosionen leicht zittern. Seitdem Dominika schwerverletzt neben dem brennenden Auto gefunden wurde, hat sie weder die Augen geöffnet noch ein Wort gesprochen. Sie schlief im Krankenhaus von Wałbrzych, und sie schlief auf der Reise in die deutsche Klinik, wohin sie mit Hilfe von Grażynka und deren deutschem Mann gebracht wurde. Sie schlief sogar im Hubschrauber! Auch hier schläft sie jetzt, Koma, sagen die Ärzte, und dieses Wort erschreckt Jadzia, die achtzehn Jahre lang an ihr spinnert-spleeniges Kind gewöhnt gewesen ist, mutwillig und wirbelig wie ein Brummkreisel. Wach auf!, bittet Jadzia verzweifelt, wach auf!, singt sie. Seit einiger Zeit, die sich da, wo Dominika ist, nicht messen lässt, tauchen undefinierbare Dinge aus dem Weiß auf, farblos, unzählbar und vibrierend. Vielleicht liegt es an ihrer rastlosen, mit Worten vollgestopften Mutter, die an ihrem Bett wacht, dass diese Dinge in Dominikas Schlaf Eingang finden. Diese Bröckchen Welt sind weiß wie die Füße der Muttergottes am Sonntag, wie Mehl aus der Mühle von Urgroßvater Adam, die kleinen Partikel tanzen im Licht, das durch die Sparren fällt, und Dominika will die Hand danach ausstrecken, doch die Hand ist schwer wie ein Stein. Sie sind weiß wie die Orangenblüten im Wałbrzycher Palmenhaus, wie die Baisers, die Jadzia ihrer Tochter in der Küche auf Piaskowa Góra gebacken hat, Dominika spürt fast den Geschmack auf der Zunge, und ihr läuft das Wasser im Mund zusammen. Weiße Baisers und der Puderzucker, mit dem das gewürfelte Rachatlukum bestreut ist, die Süße von Brot mit Sahne; Dominika erinnert sich an die Hände von Oma Kolomotive, die sie an einem weißen Tisch mit Sahnebrot gefüttert hat. Die weißen Zähne des griechischen Jungen, der in eine süße Waffel beißt, lächelt und läuft, läuft, läuft, wobei ihm der Tornister auf dem Rücken hüpft. Dominika versucht, sein Lächeln zu erwidern, doch da ist Asche neben ihr, weiße Knochen, ihr Lächeln schneidet durch Eis. Dominika sieht weiße Treppenstufen, die zum Meer hinabführen, und will immer schneller und schneller über die Stufen hinunterlaufen, nur weg von Tod und Vernichtung, doch das Bild platzt wie eine Seifenblase, bevor sie ans Wasser gelangt. Stattdessen tauchen die weißen Zöpfchen der seit Jahren verschwundenen Tante Basienka auf, die immer ein Lied vom Mädchen süß wie Himbeer und Honig vor sich hin sang; der Geruch von verbranntem Fleisch. Plötzlich sieht Dominika die Asche des Zalesier Hauses ihrer Großmutter Zofia, Schnee fällt darauf, im Wind bewegen sich froststeife Bettlaken und schlagen aneinander wie Knochen. Wieder spürt Dominika einen angenehmen Geruch und einen vertrauten schrecklichen Geruch, jemand singt Vor meinem Fenster stand die Zigeunerin, jemand ruft ihren Namen, als schrie er aus vollem Hals in einen Brunnen: Dominika!

Die Strömung trägt sie nach oben, dorthin, wo die Stimme ist. Dominika spürt etwas, das fast Bewegung und Leben ist; Eins, flüstert sie oder träumt, dass sie es flüstert. Direkt über ihr ist nur noch eine dünne Schicht Eis oder Spiegel­glas, die sie bloß zu zertrümmern braucht, um zu wissen, wem diese Stimme gehört, und auf eins folgt dann zwei, drei, die Welt. Dominika steckt ihre ganze Kraft in diese Eins, die der erste Dominostein sein soll, genau am Anfang, denn es gibt nichts Schöneres als die Ordnung der Zahlen. Die Stimme lockt und ruft sie immer weiter, jetzt weiß sie, dass die Stimme schön ist, sie will die Hände danach ausstrecken, aber da verlassen sie ihre Kräfte, sie spürt, dass sie es nicht schafft, diesmal nicht; sie sinkt zurück in Dunkel, Starrheit und Stille. Durch ihre Fingerspitzen läuft wieder ein Zittern, das nur ihre Mutter Jadzia sieht, aber ihr glaubt niemand, denn die Bewegung ist nur ganz kurz, im Nu ist sie vorüber, und die Finger, die schon Farbe bekommen hatten, sind wieder weiß.

Ich habe mich nicht getäuscht! Jadzia stärkt sich selbst im Glauben und schreit die Krankenschwester auf Polnisch an. Jedes einzelne Wort spricht sie ganz klar und überbetont aus, als könnte das helfen, als würden dadurch die Worte verschiedener Sprachen einander gleich. Sie hat sich bewegt! Mit der Hand! Jadzia ist so fest überzeugt, sie stampft mit den Füßen auf und brüllt. Sie hat sich bewegt! Mit der Hand! Wie kann es sein, dass jemand kein Polnisch versteht?! Wie kann man nicht verstehen, wenn einer langsam und deutlich sagt, dass sie sich bewegt hat! Mit der Hand! Meine Tochter! Sie wedelt ihre Hand vor dem Gesicht der schwarzen Krankenschwester hin und her, um übertrieben die ganz kleine Bewegung zu demonstrieren, deren sie Zeuge geworden ist. Ja, sie hat die Hand so bewegt, als wollte sie nach etwas greifen, das kann ich bei der Muttergottes beschwören!

Jadzia war völlig baff, als sie Sara in der deutschen Klinik bei München zum ersten Mal sah. Heilige Muttergottes! Das war vielleicht ein Schock! Grażynka hatte ihr gut zureden müssen, dass Sara Jackson eine ganz und gar zuverlässige und erfahrene Krankenschwester war, der sie die im Koma liegende Tochter ruhig anvertrauen konnte. Aber so etwas, heilige Muttergottes! Jadzia wollte sich lange nicht überzeugen lassen. Wie war das möglich? Warum sollte ausgerechnet die sich um Dominika kümmern? Vom Mund wird sie sich alles absparen, ihre im Jackenfutter eingenähten Rücklagen herausholen und hergeben, damit Dominika nur das Beste bekommt, und nicht bloß das Erstbeste. Man konnte ja richtig überschnappen mit den Nerven hier, jeder normale Mensch konnte einen Rappel kriegen in dieser BeErDe. Jadzia befürchtete, Dominika könnte in ihrer Abwesenheit aufwachen und sich vor der schwarzen Sara erschrecken, aber noch mehr fürchtete sie, ihre Tochter könnte über­haupt nicht mehr aufwachen. Grażynka hingegen war von Anfang an fest überzeugt, dass Dominika aus dem Koma erwachen würde. Sie wird schon aufwachen, sagte sie, immer mit der Ruhe, und Jadzia wollte ihr so gerne glauben, aber gleich­zeitig ärgerte sie diese ruhige Gewissheit angesichts ­ihrer Sorge und Unruhe. Schöne Hellseherin!, brummte sie. Blind wie ein Maulwurf und kann keine Nadel mehr einfädeln, aber in die Zukunft will sie gucken können! Und als sie Sara sah, hätte sie sich mit Grażynka fast in die Haare gekriegt, ja um ein Haar hab ich mich mit ihr in die Haare gekriegt, wird Jadzia später erzählen, wenn dieser Krankenhaus­alptraum Geschichte ist. Diese Schwarze soll was von all diesen Maschinen verstehen, an die Dominika angeschlossen ist und die für sie, Jadzia, nichts als schwarze Magie sind? Sie soll Bescheid wissen und nichts durcheinanderbringen bei all diesen Knöpfen, Schaltern, Griffen und Schläuchen? Schwarz ist sie und hat die Haare gelb gefärbt, ganz kurz abrasiert, so hallodri-schnallodri irgendwie. Schwarze Deutsche – wo gibt’s denn so was? Vertürkte, das ja, damit kann man heutzutage rechnen, aber ganz und gar Schwarze? Schwarz wie die Erde, aber wie, und mit gelben Haaren? Ja­dzia behagt das nicht sehr, von jeher hat sie nichts für Spleenige und Hallodris übrig. Als sie erfährt, dass Sara Amerikanerin ist, wird ihre Laune auch nicht besser. BeErDe, Amerika und Koma, das ist nun wirklich zu viel. Sie hat sich bewegt! Mit der Hand! Sara Jackson überprüft die Kurven auf dem Monitor, auf dem die von der Mutter erspähte Bewegung nicht wahrnehmbar ist oder etwas weniger Wichtiges bedeutet, das Sprühen aufeinandertreffender Elektronen vielleicht oder das langsame Zusammenschlagen von Gehirnwellen, und will Jadzia beruhigen, die schon längst nicht mehr zu beruhigen ist und außerdem weder Deutsch noch Englisch kann.

Wenn die Krankenschwester den Raum verlässt, seufzt Jadzia Chmura, wie nur sie es kann. Langsam bläht sie sich auf wie ein Wasserball, nach und nach füllen sich ihre Waden, Schenkel, Pobacken und ihr runder Bauch mit Luft, ihre Brust und ihre gepolsterten Schultern dehnen sich aus, und dann, als hätte sich jemand auf sie gesetzt, entweicht die Luft sausend, es könnte einen geradezu wundern, dass von Jadzia nicht nur ein runzliges Fleckchen Haut auf dem Boden zurückbleibt. Sie weiß, dass ihre Tochter die Hand bewegt hat, und diese schwarze Spinnerin wird noch einsehen, dass sie, Jadzia, recht hat. Wenn all die Luft entwichen ist, setzt Jadzia sich in Bewegung: Sie geht und sie redet, seit Wochen hat sie nichts anderes gemacht. Sie solle mit der schlafenden Tochter sprechen, hatte man ihr geraten, aber sie hatte nicht gewusst, wie sie das anfangen sollte, wie sollte das gehen, wie redete man mit jemandem, der nicht antwortete, nicht lächelte, keine Widerworte gab, mit jemandem, aus dem Schläuche staken und dessen ganzer Kopf in einem Verband steckte? Deshalb fing sie immer wieder an, brach mitten im Satz ab, bettelte: wach doch auf, mein Töchterchen!, beschwor: wach auf, ich werde auf den Knien nach Jasna Góra rutschen, um der Muttergottes zu danken!, und fluchte: Steh auf, verdammt noch mal, ich schnapp hier noch über, musst du denn immer Fisimatenten machen? Wie viel kann man denn schlafen? Schläfst du, um mich zu ärgern? Um die eigene Mutter zu ärgern! Heilige Muttergottes! Ja­dzia fand keine Worte, um in diese Schlafstille zu sprechen, in dieses Nichthören. Bis Grażynka ihr den Rat gab: Red so, als würdest du einen Brief schreiben. Stell dir vor, Dominika ist irgendwo weit weg, vielleicht im Ferienlager oder an der Uni in Warschau, im Ausland, irgendwo, und du sitzt ruhig am Tisch und schreibst ihr einen Brief. In deiner Küche auf ­Piaskowa Góra sitzt du und schreibst, was du getan hast und was ungetan geblieben ist, was du in Erinnerung behalten willst und was du vergessen hast, von guten Dingen und von den schlechten, die sich noch nicht zum Guten gewendet haben. Und wenn dir die Worte ausgehen, wenn nur noch Krümelchen bleiben, dann knete daraus was, und wenn es sich zum Reden nicht eignet, dann sing einfach, Jadzia, sing.

Und plötzlich wusste Jadzia, wie sie anfangen sollte, sie seufzte tief und sagte: Kind, mein Kind, so fängt sie an, und sie kann nicht stillsitzen und auch nicht aufhören zu reden, als könnten ihre Worte und Wanderungen um das Bett ein Gegengewicht zur Reglosigkeit ihrer Tochter und zur Stille bilden. Jadzia erzählt, was sie getan hat und was ungetan geblieben ist, was sie in Erinnerung behalten hat und was vergessen werden soll, von guten Dingen und von den Schlechten, die sich noch nicht zum Guten gewendet haben. Sie redet vom Steigen der Preise und des Luftdrucks, vom fallenden Regen und vom Luftdruck, der fällt, von Krampf­adern und Hoffnungen auf die Zukunft, die wunderbar wäre, wenn sie zum Beispiel im Lotto gewinnen würde. Dann würden sie sich Sachen kaufen! Dann könnten sie in Szczawno Zdrój was bauen, wo sich die Wałbrzycher Bourgeoisen ihre Palästchen hinstellten, vier Zimmer und ganz allein für uns, meine Tochter, mit Garten und mit Terrasse. Und im Sommer nach Sopot, für den ganzen Juli, um Jod zu tanken. ­Jadzia redet vom Geist ihres Mannes Stefan, der manchmal auf den Babel zu Besuch kommt und in seinem Nest vor dem Fernseher sitzt; er kommt immer nur dann, wenn sie allein ist, und außer Dominika und dem Pfarrer bei der Beichte hat sie noch keinem davon erzählt. Sie gucken sich zusammen die Ziehung der Lottozahlen an und gewinnen wie­der nichts, denn wer bei Lebzeiten den Wind im Gesicht gehabt hat, dem geht es im Jenseits auch nicht besser. Danach kommt meistens ein Naturprogramm, das könnte Jadzia sich allein nie angucken, aber mit Stefan doch, natürlich. Einmal hat Jadzia solche Angst gekriegt, als sie eine ­Sendung über Warane auf Komodo gesehen haben, dass sie nicht einschlafen konnte. Kind, ich sag dir, ich hab vielleicht Angst gehabt! Heilige Muttergottes, diese Warane! Und dann erzählt ­Jadzia Chmura ihrer schlafenden Tochter von den Waranen, die groß sind wie Drachen, ganz widerwärtige Schnauzen haben, sie leben auf exotischen Inseln und sind ganz und gar vorsintflutlich. Vorsintflutlich, stell dir das mal vor. Die Worte, die ihr gefallen und die sie noch nie hat ausprobieren können, lässt Jadzia sich auf der Zunge zergehen, als koste sie frisches Tatar: Warane auf Komodo, Töchterchen, vorsintflutlich. Sie fressen nur Fleisch, wie dein Papa seligen Angedenkens, obwohl er ja auch Kartoffeln dazu gegessen hat. Nur Kartoffeln, Dziunia, immer wollte er noch mehr Kartoffeln. Und was die für Schnauzen haben, heilige Muttergottes, mein Mädelchen, die haben vielleicht Schnauzen, diese Warane! Angeblich sollen die furchtbar aus dem Maul stinken, diese vorsintflutlichen Warane von Komodo. Und sie spucken und rotzen herum wie Józek Sztygar, wenn er sich unten am Babel Haarwasser hinter die Binde gekippt hat. Kind, so ein Waran, der macht nur happs-klapps mit dem Maul, und schon hat er einen ganzen Körper verschlungen, ein ganzes Schwein oder einen Dorfneger von den Komodoinseln. Denn die sind dort schwarz wie deine Krankenschwester, mein Mädchen, wenn du die nur sehen könntest! Heilige Muttergottes! Negerlein Bimbo lebt in Afrika, pechschwarz ist er an Haut und Haar.

Mädelchen, wenn du die siehst! Schon allein deshalb lohnt es sich aufzuwachen. So viele merkwürdige Dinge gibt es auf der Welt, Warane, Töchter, die schon seit Wochen schlafen, schwarze Krankenschwestern … Jadzia Chmura wird es ganz schwindlig. Diese schwarze Spleenige hat einen Hintern, der ist dreimal so groß wie Jadzias, die Tochter, die ihre eigene Mutter Dickerchen genannt hat, die wird noch mit eigenen Augen sehen, wie ein Dickerchen aussieht. Mädelchen! Die Mutter schiebt ihr Gesicht ganz nah ans Ohr der schlafenden Dominika und versucht mit einem durchdringenden Flüstern in diesen Schlaf vorzustoßen: Mädchen, die hat einen Arsch wie ein drei­türiger Kleiderschrank, sie blitzt mit den Augen, dass es zum Fürchten ist, obwohl sie allem Anschein nach ein ganz anständiges Mädchen ist.

Und wenn ihr wirklich nichts mehr einfällt, was sie sagen könnte, dann fängt Jadzia an von der Zigeunerin zu singen, die vor dem Fenster stand, blutüberströmt war sie, denn das hatte ihre Mutter Zofia ihr vorgesungen – bei den seltenen Gelegenheiten, wenn ihr der Sinn nach Singen stand. Noch in Zalesie hatte Jadzia die letzten Zigeunerlager gesehen, hinter den wilden Himbeerhecken hatte sie die glänzenden Pferdebäuche und die langen Röcke der Frauen erspäht, die heute hier, morgen ganz woanders sein konnten und bis heute vielleicht ohne eine Küche voll Bunz­lauer Zierkeramik auskamen und ohne hochglanzpoliertes PVC. Diese unmögliche Möglichkeit erfüllte Jadzia mit einem befremdenden Wehmutsgefühl. Die Augen, sie sprachen zu mir, die Stunde der Trennung ist hier, sang Jadzia, damit ging ich in die Nacht so düster und schwer. Weine nicht, Mutter, du sollst dich nicht grämen, mein Schmerz wird nicht heilen von deinen Tränen … Mein Liebster, er hat mir das Herz gestohlen, leben will ich nimmer, so tief betrogen.

Ein paar dieser Worte dringen durch. Dominika sieht sie von unten, wie die Unterseite von Laub auf einer Eisschicht. Sie sind fein und symmetrisch geädert wie Glasfenster, ihre Form sagt, dass es ein Vorher und Nachher gibt, einen Geruch. Eins, zählt sie. Etwas kommt in Bewegung, und Dominika hat das Gefühl, als rutsche sie durch einen Tunnel, der so eng ist, dass ihr der Atem ausbleibt, gleich erstickt sie, sie schreit aus Leibeskräften, aber kein Laut kommt heraus. Dann schmerzt die Stelle, wo ihr Schädel wieder zusammenwächst, so sehr, als sei ihr Kopf wieder geborsten und das von einer Membran geschützte Innere des Kopfes und die blanken Knochen lägen offen. Dominika sieht wirbelnde Kreise von Weiß, die glühen wie Eisen, und sie kehrt dahin zurück, wo es weder Zahlen noch Worte gibt. Das Hirn ist etwas sehr Empfindliches, erklären die Ärzte der verzweifelten Jadzia, es ist wie Pudding in einer Schale, ein leichtes Schütteln reicht, und schon ist ein Unglück geschehen, und Ihrer Tochter war ja sogar der Schädel geborsten. Es ist ein Wunder, dass sie überlebt hat. Wir müssen warten, sagen sie immer wieder. Die Ärzte sehen eine Störung in der Hirntätigkeit von Dominika Chmura, achtzehn Jahre, eine kleinere Fehlleistung, deren Bedeutung sich aufklären wird, wenn das Mädchen aufwacht. Eins, denkt Dominika, aber eins ist wie ein scharfes Stück Metall, das in das schmerzende Fleisch eindringt und die Welt nicht in Gang bringen kann, die vor zwei Monaten stehengeblieben ist. Nach jedem Versuch, die harte, glänzende Oberfläche zu durchstoßen, sinkt sie wieder dahin hinab, wohin nur verwaschene, halbdurchsichtige weiße Schatten dringen.

Je mehr Dominika schweigt, desto mehr redet Jadzia, je starrer Dominika ist, desto mehr Bewegung kommt in die Mutter, die wie ein fliederfarbener Kreisel durch das Krankenzimmer flitzt. Jeden Morgen bringt Grażynka sie hierher, jeden Abend ist Jadzia nur mit Mühe wegzuholen, wenn sie vom Reden zwar erschöpft ist, aber immer noch unverdrossen summt. Vor meinem Fenster stand die Zigeunerin, blutüberströmt war sie, die Augen, sie sprachen zu mir, die Stunde der Trennung ist hier. Jadzia nimmt nichts von der Strecke zum Haus der Kalthöffers wahr und wird sich nie bewusst, dass sie fast zwei Monate in der BeErDe verbracht hat, von der sie einst beim Betrachten der Otto-Kataloge geträumt hat. Der ganze Aufenthalt vergeht am Bett ihrer Tochter, und sie wird ihn im Vergessen vergraben und immer behaupten, sie habe nichts vom Leben gehabt, denn sie sei nie weiter von Piaskowa Góra weg gewesen als in Świno­ujście oder in Karpacz. Und als sie einmal nach Warschau gefahren ist, um Izaura und Leoncio zu sehen, da hat sie sich auf der Rückfahrt im Speisewagen eine Lebensmittelvergiftung geholt, diese Schmutzfinken, was hatte sie aber auch geritten, dort Kutteln zu essen.

Als der Herbst anfängt und es bis ins Krankenhaus nach dem Rauch auf den Feldern riecht, wacht Jadzia immer noch am Bett ihrer Tochter. Zum werweißwievielten Mal singt Jadzia Weine nicht, Mutter, du sollst dich nicht grämen, mein Schmerz wird nicht heilen von deinen Tränen. Der Wind lässt das Fenster des Krankenzimmers zufallen, und in dem Augenblick schlägt Dominika Chmura die Augen auf.

I

Mehrmals im Monat ging Grażynka in den Wald, der hinter den Feldern begann, man sah ihn aus den Fenstern ihres Hauses, die dunkelblaue Reihe ausgefranster Baumwipfel auf dem Hügelkamm. Im ganzen Dorf Mehrholtz war sie die Einzige, die in den Wald ging, denn niemand wusste so recht, wem der Wald gehörte, der Streit um die Eigentümerschaft hatte sich lang hingezogen und war bis heute nicht entschieden. Der Wald liegt inmitten von ordentlich bestellten Feldern, die alle ihre Besitzer haben, doch er selbst ist herrenlos, nur ein Pfad führt zu ihm, und der beginnt am Haus von Grażynka und Hans Kalthöffer.

In Mehrholtz fährt man mit dem Auto zum Supermarkt, wie es sich gehört, und zu Fuß geht man höchstens in die Kirche oder zum Bäcker. Wenn man schon spazie­ren geht, dann feiertags im Park, oder im Einkaufszentrum, aber nicht im Wald. So etwas ist unstatthaft, und unstatthaft ist auch Grażynka Kalthöffer geborene Rozpuch selbst mit ihrer polnischen und höchst verdächtigen Herkunft. In Mehrholtz gibt es jede Menge Leute, die sie nicht reingelassen hätten, wenn sie etwas zu sagen hätten. Zu sagen haben sie nichts, aber zu reden haben sie viel, und reden tun sie, stets hoffend, das Gewicht ihrer versammelten Worte werde schwer auf dem Leben der Fremden lasten. Frau Korn späht hinter ihren Vorhängen hervor und erzählt hinterher allen, die sich für das Leben der Frau von ihrem Hans interessieren – und das sind viele –, dass diese Polin wie eine Verrückte über den Hof fegt und dass sie doch tatsächlich in den Wald schweift, dass sie einfach dreist im Wald herumschweift, man wüsste doch gerne, was sie wohl im Wald zu schweifen hat? Frau Zorn, die im Nachbarhaus ihren Beobachtungsposten bezieht, weiß die Antwort auf diese Frage, sie hat auf alles eine Antwort parat, bestimmt macht sie da ihre Ausschwei­fungen! Jawohl, Ausschweifungen macht sie, und zwar wie!, stimmt Frau Korn zu. Nachdem diese Tatsache jetzt festgestellt worden ist, können Frau Korn und Frau Zorn ihre Phantasie auf den Spuren von Grażynka schweifen lassen, die dort im Wald Ausschweifendes macht, im Stehen, an Bäumen, im Gras liegend, wild und tierisch und auf werweißwas für ausländische Methoden, diese Schlampe, ja, das ist sie. Das können sie Hans’ polnischer Frau nicht nachsehen. Hat sie im Haus etwa nicht genug zu tun? Im Haus gibt es Arbeit, wer weiß, was es im Wald gibt, im herrenlosen. Und alle naselang kommt Grażynka mit einem Streuner nach Hause, wie sie selbst einer ist – mit einer Katze, einem Hund, einer Negerin. Eine Negerin, schwarz wie der Teufel, pflegen Frau Zorn und Frau Korn immer abwechselnd mit Wohlgefallen zu sagen. Eine schwarze Frau hat sie aus dem Wald mitgebracht, eine Schwarze mit gelben Haaren, das ist doch nicht normal; normale Sachen kann man hier in Mehrholtz auf Anhieb von unnormalen unterscheiden, und das ist gut so. Ach, seufzt erst Frau Korn und dann Frau Zorn, ach, wenn Hans doch eine hiesige Frau genommen hätte, dann wäre es sauber und ordentlich bei ihm, es würde gekocht, wie es sich gehört, nahrhaft und sparsam, aber so – nicht genug damit, dass er fremde Bankerte ernährt und kleidet, obendrein ist sie noch so eine Herumtreiberin, die im Wald schweift, anstatt sich mal ruhig auf den Hintern zu setzen. Und haben Sie letztens gesehen, wie sie herumläuft, liebe Frau Korn?, fragt Frau Zorn. Ja, das hab ich gesehen, liebe Frau Zorn, sagt Frau Korn, wer weiß, wen sie als Nächsten anschleppt? Frau Korn und Frau Zorn hoffen, dass sie das als Erste wissen werden, wenn sie wachsam auf ihrem Posten hinter den Gardinen bleiben. Sie sind sich einig, dass man bei Grażynka, der Frau von ihrem Hans, auf alles gefasst sein muss; ihre Augen sind wild, anders als die der Hiesigen, die langen Haare hat sie gefärbt. Frau Korn und Frau Zorn sind der Meinung, ab einem bestimmten Alter müsse eine Frau die Haare kurzgeschnitten tragen, sich dezent kleiden und einen anständigen Hund halten, der einen Fremden verbellt, bevor er ihn sieht. Aber Grażynka? Frau Korn seufzt, Frau Zorn seufzt. Bei der Frau von ihrem Hans, da fällt man über die zugelaufenen Streuner, und die krumm- und schiefbeinigen Promenadenmischungen winseln sich jedem um die Beine. Ein Hund gehört abgerichtet! Und Katzen hat sie, die lassen sich schon nicht mehr zählen! Katzen kann man nicht abrichten, da sind sich Frau Zorn und Frau Korn einig, aber wenn man ihnen kein Futter gibt, dann werden sie schon ­jagen, um nicht zu verhungern. Grażynkas Nachbarinnen rechnen gern, und sie rechnen damit, dass die Beziehung von ihrem Hans mit der Polin den Winter nicht überdauern wird, bis zum Herbst Geschichte sein wird. Die werden auf Dauer nicht miteinander auskommen, liebe Frau Korn. Er wird sie wegjagen, liebe Frau Zorn, in den Osten zurück, samt ihren Bankerten und verkrüppelten Kötern. Wer hatte denn so etwas je gesehen? Sie jedenfalls nicht, weder Frau Korn noch Frau Zorn, und voreinander tun sie so, als mache es ihnen nicht das geringste Vergnügen, etwas zu sehen, was ihnen ungewohnt ist; sie pressen sich die Nasen an der Fensterscheibe platt, und wenn sie könnten, würden sie sich so direkt an Grażynka pressen. Also wirklich! Heute Morgen zum Beispiel geht Grażynka in den Stall und ist gekleidet wie zum Tanz, Rüschen, Pünktchen, der Hintern halbnackt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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