Dunkelzeit - Erin Flanagan - E-Book

Dunkelzeit E-Book

Erin Flanagan

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Beschreibung

Gunthrum, Nebraska, 1985. Es ist das erste Wochenende der Jagdsaison, und der geistig beeinträchtigte Hal, Landarbeiter auf der Farm von Alma und Clyle und gewissermaßen ihr Adoptivsohn, geht mit Freunden jagen. Am selben Wochenende verschwindet ein junges Mädchen aus dem Ort spurlos. Als Hal von seinem Ausflug zurückkehrt, sind Blut im Truck und eine Delle am Kühlergrill, und Hals Erklärungen lassen zu wünschen übrig. Schon bald beginnt man in Gunthrum zu spekulieren. Und nach und nach wird für Alma und Clyle die Frage, wozu Hal fähig sein könnte, immer dringlicher – denn wer sonst sollte an diesem Verbrechen schuld sein?

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Seitenzahl: 482

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Erin Flanagan

Dunkelzeit

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer

© Atrium Verlag AG, Zürich, 2023

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Deer Season bei der University of Nebraska Press, Lincoln

© 2021 by the Board of Regents of the University of Nebraska.

Translated by arrangement with the University of Nebraska Press.

Aus dem Englischen von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Getty Images/Will & Deni McIntyre

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-225-5

 

www.atrium-verlag.com

www.facebook.com/atriumverlag

www.instagram.com/atriumverlag

 

 

Für Judy und Ken Flanagan

1

Alma hielt das vier Wochen alte Ferkel an ihrer linken Hüfte und klemmte es mit dem Ellbogen fest. Mit der rechten Hand knickte sie sein Ohr übers Auge, während Clyle ihm die Spritze senkrecht auf den Nacken setzte und das Antibiotikum injizierte. Das Schwein quiekte und wollte sich aus Almas Griff winden, doch Clyle packte es bei den Hinterläufen, hob es hoch und zog ihm einen grünen Markierstift über den Rücken. Auf dem Boden rutschten die Hufe des Ferkels ein paar Mal auf dem Zement aus, ehe es Halt fand und durch die Bucht zum Rest des Wurfs rannte.

So verbrachte Alma ihren Samstagnachmittag nicht gern. Niemand verbrachte so seinen Samstagnachmittag gern, aber Hal hatte sich am Freitag zusammen mit einigen anderen nichtsnutzigen Kerlen in das erste Wochenende der Jagdsaison verabschiedet. Sie fixierte ein weiteres Ferkel auf dem Knie, damit Clyle ihm eine Spritze geben, es mit dem Stift markieren und auf den Boden lassen konnte. Jetzt waren nur noch drei unmarkierte Ferkel übrig, die sich gegen die Bretterwand am anderen Ende des Stalls drückten. Clyle nahm die Sperrholzplatte, die er immer zum Treiben der Ferkel benutzte, und schob sie von links nach rechts, bis er eines der jungen Schweine eingekeilt hatte, dann bückte er sich und packte es bei den Hinterbeinen.

Kaum zu glauben, dass Clyle all das jede Woche machte und die körperlichen Strapazen, die Monotonie und den Lärm dieser Arbeit auf sich nahm, aber Alma hatte schon vor langer Zeit eingesehen, dass ihr Mann ein besserer und geduldigerer Mensch als sie selbst war. Ein Jahr zuvor war sie in die Wechseljahre gekommen, und ihr Arzt hatte ihr mit einem Grinsen auf seinem nichtssagenden Gesicht mitgeteilt, dass dieser Zustand ein Jahrzehnt lang andauern könne – als wollte er sagen: »Na, wie gefällt Ihnen das?« Sie erinnerte sich nicht mehr daran, wie lange die Wechseljahre bei ihrer Mutter gedauert hatten, aber nach nur einem Jahr hatten sie und Clyle zu spüren bekommen, wie sehr die Veränderungen sie belasteten. Schon früh in ihrer Ehe hatte er einmal gesagt, dass sie eine Frau sei, die sich wegen ihres Naturells kaum schlechte Laune leisten könne.

Clyle reichte Alma das nächste Ferkel – ein großes, sieben Kilogramm schweres –, und sie brachte es in die richtige Position, bedeckte das Auge mit dem Ohr und rieb sanft seine Schnauze, um es zu beruhigen. Es könnte alles noch schlimmer sein, versuchte sie sich ins Gedächtnis zu rufen. Es könnte nicht nur die monatliche Spritze sein, sondern Kastrationstag – etwas, das sie sich geschworen hatte, nach der Anstellung von Hal nie wieder zu tun.

Hal arbeitete jetzt seit fast einem Jahrzehnt auf der Farm, aber dieses Jahr hatte er zum ersten Mal eine Jagderlaubnis bekommen, und Almas Nerven lagen blank, seit er mit seinen Kumpels losgezogen war. Am Donnerstag, als er Alma von der Einladung zur Jagd erzählt hatte, spürte sie ein erstes Unbehagen. Sie verstand nicht, warum Larry Burke und Sam Gary ihn bei ihrem Ausflug nach Valentine dabeihaben wollten. Klar, sie hatte Hal gern um sich, aber sie war mit Waffen und männlichem Imponiergehabe nicht mehr so leicht zu beeindrucken wie mit achtundzwanzig. Am Donnerstag hatte sie Larrys Frau angerufen, um herauszufinden, was da los war. Wie sich herausstellte, hatte Larrys Cousin einen dringenden Termin außerhalb der Stadt und konnte es nicht ertragen, dass sein Hochsitz am ersten Wochenende der Jagdsaison ungenutzt bleiben sollte. Deshalb hatte er Larry eingeladen. »Sag ihnen, sie sollen ein Auge auf Hal haben«, sagte Alma, und sie konnte sich vorstellen, wie sich Cheryl und Larry später darüber amüsieren würden, dass Alma Costagan angerufen hatte, um auf den Deppen aufzupassen. Nein, sie sah in anderen Menschen wirklich nicht nur das Gute. Damit hatte Clyle recht.

Clyle wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Eins noch«, sagte er, als ob sie nicht zählen könnte. »Bist du bereit?«

»Ich stehe doch hier, oder?«, blaffte sie ihn an. Sie musste schreien, um das Quieken der Schweine und das Geklirr von Metall auf Metall zu übertönen, wenn die älteren Schweine mit ihren Schnauzen die Futterbehälter aneinanderstießen. Als sie von Chicago nach Nebraska gezogen waren, hatte Alma geglaubt, die Stille hier auf dem Land würde ohrenbetäubend sein, aber in einem Stall mit quiekenden Schweinen war das nur eine ferne Erinnerung.

Sie hob das letzte unmarkierte Ferkel hoch und hielt sein Ohr nach unten. Clyle stach in die feste Haut und drückte den Kolben der Spritze herunter. Das Tier stieß einen durchdringenden Schrei aus. Clyle markierte den Rücken, und Alma ließ das zappelnde Tier zu Boden fallen, wo es zwei Mal buckelte, ehe der kleine Körper im restlichen Wurf verschwand. Sie schüttelte die schmerzenden Arme aus. Morgen würde sie von blauen Flecken übersät sein.

Clyle steckte den Markierstift in die Tasche seiner Jacke und sammelte die leeren Spritzen ein. »Bist bestimmt froh, wenn Hal am Montag zurückkommt.«

Alma schnaubte. »Der kriegt von mir was zu hören.« Das Letzte, was sie zu ihm vor der Abfahrt gesagt hatte, war: »Du rufst mich jeden Tag an, Hal, verstanden? Ich übernehme die Gebühren, egal wie hoch.« Sie hatte ihm die Telefonnummer noch einmal aufgeschrieben, weil er sie natürlich nicht auswendig konnte, und ihm den Zettel in die Hand gesteckt. Aber jetzt war Samstag, und er hatte noch kein Wort von sich hören lassen. Es gab doch sicher eine Telefonzelle in Valentine, warum hatte er also noch nicht angerufen?

»Er ist bestimmt zu beschäftigt«, sagte Clyle, als ob sie die Frage laut gestellt hätte. »Gestern Abend zu viel Bier und heute Morgen in aller Frühe auf den Hochsitz.«

Vermutlich hatte er recht, trotzdem machte Alma die Sache zu schaffen.

Sie sah sich noch einmal im Pferch um und zählte die grünen Striche auf den Rücken der Schweine, um sicherzugehen, dass sie alle geimpft hatten. Schon jetzt waren die Ferkel von Tag zu Tag ein bisschen weniger niedlich: die Backen wurden fülliger, die Nasenlöcher im Rüssel größer; die Ferkelniedlichkeit begann ab der vierten Woche zu schwinden. Anfang der Woche hatte Hal zwei Ferkeln die Schwänze kupieren müssen, weil die Wurfgeschwister versucht hatten, sie abzubeißen. Je älter, desto hässlicher, dachte sie. Und desto klüger und verschlagener.

Clyle beugte sich vor und kraulte eines der Ferkel hinter dem Ohr, und die anderen kamen herbeigelaufen. Sie schnüffelten wie eine Hundemeute an seiner Hand und hofften auf seine Zuneigung.

»Immer noch unglaublich niedlich«, sagte er, und sie fragte sich, wie zwei Menschen so unterschiedliche Sichtweisen haben konnten.

»Kann sein«, räumte sie ein. »Aber warte mal ab.«

2

Das vertraute Geräusch, mit dem seine Mutter den Bräter aus dem unteren Regal in der Vorratskammer zog, tönte durch das Haus, als Milo Ahern die Treppe herunterkam. Sonntags machte sie immer Braten, den die Familie dann nach dem Kirchgang aß. Piekfein, mit Stoffservietten im Esszimmer. Milo verabscheute Braten mit Kartoffeln und Möhren, genauso wie die welken Zwiebelschalen, die immer im Mülleimer lagen und ihren Gestank im ganzen Haus verbreiteten, bis ihm sein Vater nach dem Essen auftrug, den Müll zur Tonne zu bringen. Vielleicht verabscheute Milo auch gar nicht so sehr den Braten, sondern das, wofür er stand: das ewige Wiederkäuen der Sonntagspredigt, die ganze Familie am Esstisch, Woche für Woche das gleiche verdammte Essen. Wie sagt man: »Vertrautheit bringt Verachtung hervor«? Seine Englischlehrerin hatte ihnen letzte Woche erzählt, dass dieser Ausspruch von Äsop stamme und dass Mark Twain noch »und Kinder« hinzugefügt habe. Das klang ziemlich zutreffend. Sie lasen gerade Die Abenteuer des Tom Sawyer im Unterricht. Milo hatte schon Die Abenteuer des Huckleberry Finn durch und hielt das für das bessere Buch, aber Mrs. Toner hätte bei dem Versuch, im Klassenzimmer über Schwarze zu sprechen, sofort einen Herzinfarkt bekommen.

In der Küche stand seine Mutter am Schneidbrett, eine Schürze über Bluse und Rock. Tante Sally saß am Tisch. »Guten Morgen, Sonnenschein«, sagte sie und prostete ihm mit einer Tasse Kaffee zu. »Trinkst du so was schon?«

»Noch nicht«, sagte er, und sie nickte.

»George hat vor sechs Monaten damit angefangen. Davon kriegt er Haare auf der Brust. Er hat versucht, ihn schwarz zu trinken, wie sein Vater, aber das hat er nicht runtergekriegt. Also tue ich ihm drei Löffel Zucker in die Tasse. Nur Zucker, keine Milch, dann merkt sein Dad den Unterschied nicht.« George war Milos vierzehnjähriger Cousin und eine richtige Nervensäge. Er hatte letzte Nacht sein Zimmer mit ihm teilen müssen. George hatte ihn gezwungen, auf dem unteren Ausziehbett zu schlafen, und dann hatte er sich über die Bettkante gebeugt und einen Speichelfaden herunterrinnen lassen, um zu sehen, wie nahe er damit an Milos Stirn kommen konnte, bevor er ihn zurückschlürfte. Einmal war es zu spät gewesen, und die Spucke war in Milos Ohr gelandet, und dann hatte Milo die ganze Nacht von Spinnen geträumt.

Milos Tante und Onkel und sein Cousin waren nach Gunthrum gekommen, um bei seiner Konfirmation dabei zu sein, seinem »lebenslangen Treuegelöbnis gegenüber Christus«. Milos bester Freund Scott hatte ihm während einer der ersten Stunden im Konfirmationsunterricht zugeflüstert: »Ich gelobe niemandem lebenslange Treue, und schon gar nicht einem Mann.« Der Unterricht fand nach der Schule statt. Er hatte begonnen, als sie zehn Jahre alt waren, und jetzt, mit zwölf, waren sie reif für das große Finale. Der Unterricht sollte ihnen eigentlich dabei helfen, in der Gemeinde mit gutem Beispiel voranzugehen, aber in Wahrheit hatte er ihnen nur gezeigt, dass man in der Kirche genauso leicht schummeln konnte wie in der Schule. Jedenfalls war das bei Scott so gewesen, Milo hatte heimlich gelernt. Wobei es ihm natürlich viel zu peinlich war, das vor seinem Freund zuzugeben.

Das waren seine zwei großen Geheimnisse: dass er gern lernte und gern Regeln befolgte. Ziemlich dürftig im Vergleich zu den Geheimnissen seiner Schwester. Am Abend vorher hatte er das sachte, gleichmäßige Geräusch gehört, das Peggys Fenster beim Öffnen machte, und danach das vertraute Schaben an der Regenrinne. Im letzten Sommer hatte sein Vater mit zurückgeschobener Basecap draußen gestanden und herauszufinden versucht, was mit dem Haus geschehen war. »Völlig abgerieben«, sagte er und meinte die Farbe, als er das Fallrohr der Regenrinne von der Holzverkleidung zog. Glaubte er, dass in Iowa jetzt die Bären los waren? Dass den Hirschen plötzlich Daumen gewachsen waren? Später an jenem Wochenende war Milo von seinem Vater dazu verdonnert worden, auf die Leiter zu steigen und die Wand hinter dem Fallrohr neu zu streichen. Kein Wunder, dass ihm Tom Sawyer nicht gefiel.

Pastor Barnes hatte ihnen gesagt, dass die Zeremonie heute so ähnlich wie eine Kindstaufe ablaufen würde – nüchternes Taufbecken, Wasser auf den Kopf –, mit dem Unterschied, dass sie die Fragen selbst beantworten würden, statt ihrer Eltern. Lisa Rasmussen, ein Mädchen aus seiner Schulklasse, war mit ihrer Mutter und ihrem Bruder fünfundvierzig Minuten nach Sioux City gefahren. Da waren sie dann in eine Methodistenkirche beim YMCA gegangen, wo die Leute in ihren Badeanzügen am Schwimmbecken getauft wurden. Letzte Nacht hatte er außer von Spinnen auch davon geträumt, dass er zu seiner Konfirmation käme und man es dort genauso wie bei den Methodisten machen wollte. Weil er keine Badesachen dabeihatte, musste er sich nackt ausziehen, und alle lachten ihn aus. Er fragte sich, warum diese Sache mit Gott so anstrengend sein musste.

»Milo?«, fragte Tante Sally noch mal.

»Entschuldigung, ja?«

»Freust du dich auf die Feier heute?«

Ehe er antworten konnte – und was hätte er sagen sollen? Ja, solange ich nicht nackt sein muss? –, öffnete sich die Tür. Sein Vater, Onkel Randall und George kamen herein, und sie brachten den frischen, frostigen Geruch des Schnees mit sich. Am Vorabend gegen zehn Uhr hatte ein Sturm eingesetzt, was so früh im November ungewöhnlich war.

»Kalt da draußen«, sagte sein Dad und beugte sich vor, um seine Frau auf die Wange zu küssen, aber Milo wusste, dass das nur Schau war. Seine Eltern gingen liebevoller miteinander um, wenn seine Tante und sein Onkel zu Besuch waren. Als er klein gewesen war, hatte Peggy ihm erzählt, dass Randall und ihre Mom früher mal etwas miteinander gehabt hätten. Das hatte ihn lange Zeit verwirrt – wie konnte es sein, dass zwei Verwandte ein Pärchen waren? –, aber die Sache wurde klarer, als er acht war und die Logik hinter dem Familienstammbaum verstanden hatte. Seine Eltern hatten sich seit einer halben Ewigkeit nicht mehr geküsst, abgesehen von dem obligatorischen Bussi, wenn sein Vater bei Cagney & Lacey in seinem Fernsehsessel aufwachte und schlafen ging. Seinem Vater gefiel die blonde Frau in der Serie, die weiche, flauschige Pullis in Pastellfarben trug.

»Randall hat nicht dran gedacht, eine Jacke zum Füttern mitzunehmen«, sagte sein Vater. »Musste eine alte Windjacke anziehen.« Seine Mom hatte eine zweite Waschmaschine für die Sachen, die sie im Stall trugen. Es war ihre alte Maschine, die letztes Jahr um ein neues Modell ergänzt worden war. Joe goss sich eine Tasse Kaffee ein und nahm einen Schluck, dann schenkte er eine zweite Tasse ein und reichte sie seinem Bruder.

»Du hättest ihm doch deine Jacke geben können«, sagte Milos Mom und mahlte Pfeffer aus einer Mühle auf das Fleisch im Bräter.

»So schlimm war es nicht«, sagte Randall, aber seine Hände schienen steif zu sein, und die Haut war rot, mit weißen Falten an den Knöcheln. Onkel Randall lockerte seinen Griff um die warme Kaffeetasse.

»Eins von den Schweinen war tot«, rief George dazwischen und blähte seinen Bauch auf. »Ganz angeschwollen, mit dicken Adern auf dem Bauch.«

»Ach, um Himmels willen«, sagte Tante Sally.

»Das war so geil«, fuhr George fort. »Ich hab’s an den Füßen genommen und zu dem Baum gezogen, wo immer die toten Tiere abgeholt werden.«

»Wasch dir die Hände«, sagte Sally, aber George rührte sich nicht. Wenn Milo nicht machte, was seine Mutter sagte, dann … Tja, er wusste nicht mal, was dann passieren würde. Peggy war diejenige, die rebellierte, nicht er. Wie zum Beweis stand er schon mit vom Duschen nassem Haar in der Küche – und trug ein unbequemes Oxfordhemd und eine Cordhose –, während sie noch nicht mal aufgestanden war.

Sally reichte George seine Tasse mit gezuckertem Kaffee, nahm dann die Kanne und goss Randall und Joe nach. »Ihr macht euch jetzt besser fertig, Jungs. Wir wollen doch an Milos großem Tag nicht zu spät kommen.«

Es gab drei Badezimmer im Haus: eines für ihn und Peggy, eines, das an das Schlafzimmer seiner Eltern grenzte, und eines im Keller, wo sein Vater nach der Arbeit duschte. Aber wegen des Wasserdrucks konnte immer nur eine Person im Haus duschen.

Sein Dad meinte, er werde die Dusche im Keller nehmen, George könne in den ersten Stock gehen und Randall in das Bad neben dem Elternschlafzimmer. »Pass auf, dass du den Teppich nicht dreckig machst, Ran«, sagte er. »Du bist ja nicht mehr dran gewöhnt, dass deine Stiefel schmutzig werden.« Dabei hatte Randall die Stiefel schon auf der Veranda ausgezogen – ein Paar, das er von seinem Bruder hatte borgen müssen und das ihm eine Nummer zu groß war.

»Du kannst dir einfach keinen fiesen Witz verkneifen. Stimmt’s, Joe?«, sagte Randall.

Joe lachte. »Dafür sind große Brüder da.«

Milos Mom stand am Schneidbrett und schälte Möhren und würfelte sie. »Milo«, sagte sie, »geh doch mal hoch und sieh nach, ob Peggy schon auf ist.«

»Ist sie nicht.«

Sie deutete mit dem Schäler auf ihn: »Dann weck sie auf.« So viel zu seinem besonderen Tag. Reichte es nicht, dass er einen Vertrag mit Christus einging? Musste er jetzt auch noch seine Schwester wecken?

»Und du«, sagte Tante Sally und zeigte auf George, »du stinkst.«

Milo folgte George nach oben, wo George in sein Zimmer ging. Er zog sich dabei schon das Hemd über den Kopf, und Milo sah, dass sein Rücken mit vierzehn kräftiger war als noch vor einem Jahr. Zehn Zentimeter größer war er auch. Milos Brustkorb sah immer noch aus wie mit neun, bloß mit längeren, schlaksigeren Armen dran. Milo wollte gerade an Peggys Tür klopfen, doch dann überlegte er es sich anders und platzte einfach in ihr Zimmer. Er wollte sie erschrecken und ein bisschen ärgern.

Er öffnete den Mund, um »Aufstehen!« zu rufen, aber das Bett war leer und schlampig gemacht wie meistens – unter der zerknitterten Tagesdecke lugte eine lange Ecke des Lakens hervor, das Kissen war ans Kopfteil gedrückt. »Peg?« Er wartete, ob sie antwortete, und ging dann nachsehen, ob sie im Badezimmer war. George kam aus Milos Zimmer, seinen Kulturbeutel aus schwarzem Leder mit goldenem Reißverschluss in der Hand.

»Hast du Peggy gesehen?«, fragte Milo.

George schüttelte den Kopf, während er demonstrativ seinen Rasierapparat hervorkramte. »Warum?«

»Ach, egal.« Milo wollte George nicht um seinen Kulturbeutel beneiden – aber er konnte nicht anders. Er mochte es, wenn Dinge geordnet und gut organisiert waren, und ihm gefiel die Vorstellung, dass er irgendwo hinmusste, ein Hotel mit Zimmerservice vielleicht oder ein Musikcamp im Sommer. Milo dachte an das Schaben des Fensters in der vergangenen Nacht und das verräterische Geräusch, als Peggy sich am Fallrohr abwärts hangelte. Sie musste sich davongeschlichen haben, vermutlich um sich mit Laura zu treffen, und danach hatte es so viel geschneit, dass alle Spuren verschwunden waren. Mit Familienbesuch im Haus war das ziemlich kühn von ihr gewesen. Tante Sally und Onkel Randall übernachteten auf einem Klappbett im Wohnzimmer, gleich neben dem Fallrohr, und alle wussten, dass Onkel Randall wegen seines Rückens nicht gut schlief. Milo stellte sich vor, wie Peggy später kleinlaut nach Hause kommen würde, vielleicht mit Blasen an den Füßen, weil sie irgendwelche bescheuerten Mädchenschuhe getragen hatte. Er wäre dann der frisch konfirmierte Goldjunge, der gerade sein Leben als frommer Diener Gottes begonnen hatte. Milo wollte ja kein schadenfroher Arsch sein, aber Mannomann, wegen dieser Sache würde sie ganz schön Ärger kriegen.

Er ging zurück zu seiner Mom in die Küche. »Kann ich kurz mit dir reden?« Er hatte das Gefühl, dass dies etwas war, was er seiner Mutter besser nicht vor Tante Sally sagen sollte, die immer noch am Tisch saß und mit einer Schere in der Hand eine Ausgabe von Good Housekeeping durchblätterte.

»Was ist denn, Milo? Ich habe zu tun.« Seine Mutter hielt ihre nassen Hände in die Höhe, eine Kartoffel in der einen Hand, ein Messer in der anderen.

»Na ja, ich muss dir was sagen.«

»Geht das nicht hier?«

»Es ist wegen Peggy. Sie ist nicht da.«

Tante Sally sah hoch, und seine Mutter hielt inne. »Was meinst du damit?«

»Ich meine, dass sie nicht in ihrem Zimmer ist. Ich glaube, sie hat gar nicht in ihrem Bett geschlafen.«

Tante Sally schüttelte den Kopf und blätterte die nächste Seite um. »Man hört ja immer, dass Mädchen am Anfang leichter sind, aber später schwieriger.« Sie deutete auf die Zeitschrift. »Hab ich hier drin gelesen, vor ein paar Wochen.«

Seine Mom schlug sich mit der Rückseite der Hand, die die Kartoffel hielt, leicht gegen den Kopf. »Ich Dummchen. Habe ganz vergessen, dass sie bei Laura übernachtet hat. Die beiden verbringen kaum eine Nacht getrennt.« Sie legte die Kartoffel hin und wischte sich die Hand an der Schürze ab. »Ich rufe ihre Mutter an.« An der Küchenwand hing ein Telefon, doch sie ging durch den Flur ins Schlafzimmer.

Das könnte sein, dachte Milo. Sie war einfach bei Laura eingeschlafen und deshalb nicht nach Hause gekommen. Aber wahrscheinlicher war, dass Peggy das Ganze geplant hatte, weil sie wusste, dass sie keinen Anschiss kriegen würde, solange Besuch da war. Milo und seine Schwester schienen an Insomnie zu leiden. Milo hatte diese Krankheit neulich in der Bücherei im Gesundheitsführer A–Z der Mayo-Klinik nachgeschlagen. Peggy bettelte an Wochentagen darum, aufbleiben und Letterman schauen zu dürfen, und an den Wochenenden strich sie bis mindestens zwei Uhr früh durchs Haus. Oder sie stand mitten in der Nacht vor dem offenen Kühlschrank und schaute hinein. »Was suchst du?«, hatte Milo sie einmal dabei angesprochen, und Peggy hätte fast einen Herzinfarkt bekommen. Dann hatte sie ihm einen Schlag auf den Kopf verpasst und ihn ein kleines Ekel genannt, weil er sie so erschreckt hatte.

In den Nächten, in denen beide nicht schlafen konnten, spielten sie manchmal Uno oder Gin Rommé. Es kam sogar vor, dass die Geschwister sich zwischen dem Hinklatschen der Zieh-Vier-Farbenwahlkarte und dem Ende des Spiels wie richtige Menschen unterhielten. Für einen zwölfjährigen Außenseiter und eine Volleyball spielende Cheerleaderin hatten sie mehr gemeinsam, als andere vielleicht vermuteten. Ihre Gespräche drehten sich oft um die Zeit nach der Schule, wenn sie aufs College gehen würden. Wenn ihre Kleinkleckersdorftage in Gunthrum endlich hinter ihnen lagen.

Milo blieb mitten auf der Treppe stehen und hielt sich mit einer Hand am Geländer fest. Sie war doch nicht etwa abgehauen? Hatte ihn allein gelassen?

Es war vielleicht zwei Wochen her, dass sie eine richtige Unterhaltung geführt hatten. Peggy war dienstags nach ein Uhr nachts mit zerknitterten Klamotten und nach Whiskey riechendem Atem ins Haus zurückgeschlichen. Sie hatte den Kopf zu seiner Zimmertür hereingesteckt und gefragt, ob er noch wach sei. »Was sonst, wenn du beim Reinschleichen so einen Lärm machst?«

Sie setzte sich auf die Ecke seines Bettes – merkwürdig! – und fragte ihn, wie es in der Schule so lief.

»Was ist los mit dir?«, fragte er. Schulfragen um ein Uhr morgens? Sie musste betrunken sein. Auf ihrem Hals, direkt über dem Schlüsselbein, leuchtete ein rot-violetter Fleck. »Ist das ein Knutschfleck?«

Sie kicherte und hielt sich die Hand vor den Mund. »Vielleicht.«

»Echt sexy, Peggy. Ein paar Blutgefäße im Namen der Liebe zum Platzen zu bringen.«

»Ich habe nichts von Liebe gesagt«, antwortete sie und kitzelte seinen Fuß. »Aber auch nicht, dass es keine ist«, fuhr sie in einer Art Singsang fort.

Milo holte die Hausschuhe aus dem Schrank, setzte sich auf die Bettkante und schlüpfte hinein. Bei ein paar Runden Uno redeten sie darüber, wie Peggy auf die UNL gehen und einer Sorority beitreten würde, um dann einen Typen aus einer anderen Verbindung kennenzulernen, der in eine richtige Stadt ziehen wollte, mit Einkaufzentren und Fischrestaurants und Kulturkram wie einem Museum voller Kunst, die sie nicht verstand. Milo wollte direkt an die Küste in eines von den besseren geisteswissenschaftlichen Colleges, wo er eine Fremdsprache lernen und versuchen würde, seine Kommilitonen mit einem Monokel zu beeindrucken. Sie meinte, damit würde er wie Charlie McCarthy aussehen, die Bauchrednerpuppe, aber sie hielt ja auch neonfarbene Federohrringe für topmodisch, sie hatte also keine Ahnung. Beide stimmten darin überein, dass sie auf keinen Fall wie ihre Eltern enden wollten, auch wenn Peggy einige der jüngeren Eltern ganz cool fand. »Nicht wirklich cool«, hatte sie gesagt. »Aber so in die Richtung. Erwachsen halt. Das ist es, was ich sein will«, hatte sie gesagt. »Erwachsen.«

Sie versprach, dass er sie am Wochenende besuchen dürfe, wenn sie sich in Lincoln am College eingelebt hatte. Sie würde ihn in die Campusbuchhandlung mitnehmen und ihm im Kino die XXL-Portion Popcorn spendieren. Sie sagte, dass sie ihn sogar auf eine Party mitnehmen würde, obwohl Milo wusste, dass er sich die ganze Zeit im Badezimmer verstecken würde.

Milo schüttelte den Kopf. Nein, sie würde ihn nicht einfach sitzen lassen.

Milo hörte die Absätze seiner Mutter auf der Treppe auf dem Weg in Peggys Zimmer und dann wieder runter in den Keller, wo sein Vater duschte. Milo lief ihr schnell nach, denn im Lauschen war er Profi. Peggys Freundinnen übernachteten am Wochenende oft bei ihnen, und sie unterhielten sich über die läppischsten Sachen, aber so dämlich ihre Gespräche auch waren, wollte Milo doch kein Wort davon verpassen. Den Boden eines Glases an die Tür drücken und das Ohr an seine Öffnung halten? Das funktionierte überhaupt nicht. Aber durch einen Spalt in der Tür drangen alle möglichen Arten von Informationen.

Seine Eltern unterhielten sich im Flüsterton. Milo konzentrierte sich, bis die Stimmen einzeln erkennbar wurden, wie die Töne eines Liedes. »Ich habe sie zuletzt gesehen, als sie schlafen gegangen ist«, sagte seine Mutter.

»Und um welche Uhrzeit war das?«

»Halb zehn? Zehn?« Milo verdrehte die Augen. Vor Mitternacht ging Peggy niemals wirklich schlafen. »Ich dachte, sie wollte weg von George.« Sie senkte die Stimme, und Milo konnte sie nicht mehr verstehen.

»Tja, wir müssen los«, antwortete sein Vater auf eine Frage seiner Mutter. »Milos verdammte Konfirmation fängt gleich an.«

Kurz darauf klapperten die Absätze seiner Mutter über den Betonboden, und Milo huschte hoch in sein Zimmer, um seine Krawatte zu holen. George stand im Badezimmer. Er hatte ein Handtuch um die Hüfte geschlungen, und sein speckiger Brustkorb war nackt. Der sich entwickelnde Bizeps zuckte, während er den Rasierer durch die zentimeterdicke Schicht aus Schaum zog, die er auf Wangen und Hals verteilt hatte. Ein nasser Waschlappen lag nachlässig auf dem goldenen Schmuckständer in Baumform, der in der Ecke des Waschtisches stand. Peggys Armbänder und Halsketten baumelten von den Ästen herab, und zwischen den Blättern leuchteten Ohrringe hervor, alle paarweise angeordnet und mit der schönen Seite nach vorn. Das silberne Armband mit einem Football, einem Footballhelm und einem Stollenschuh als Anhängern hing vom obersten Ast herab. Sie trug es immer als Cheerleaderin.

»Wo guckst du hin?«, fragte George, und selbst unter der Schaumschicht war sein dämliches Feixen unübersehbar.

»Wohin schon? Gibt ja nichts zu sehen.« Milo starrte demonstrativ auf den schwabbeligen Rumpf seines Cousins, dann verschwand er schnell in seinem Zimmer, bevor George Vergeltung üben konnte.

Zwanzig Minuten später stiegen die beiden Familien in ihr jeweiliges Fahrzeug, traten sich dabei die schneebedeckten Schuhe an den Kanten der Autotüren ab und lenkten ihre Autos in die Stadt – Milo saß im LeSabre seiner Mom, mit seinem Vater am Steuer, und Onkel Randall und seine Sippschaft fuhren in ihrem neuen Cadillac. Als sie am vorangegangenen Abend in dem glänzend weißen Wagen vorgefahren waren, war sein Vater mit einem Bier in der Hand hinausgegangen und hatte, noch ehe er sie begrüßte, »Wie zum Teufel konntet ihr euch den leisten?« gefragt.

Am Ende der Auffahrt sah Milo das tote Ferkel. Es war wahrscheinlich keine neun Wochen alt, und an seiner Schnauze erkannte man, dass die Leichenstarre schon eingesetzt hatte. In dem anderen Auto zeigte George begeistert auf den Kadaver.

 

Auf ihrem Weg nach Gunthrum lenkte sein Vater wie üblich mit dem Handgelenk. Dadurch konnte er den Zeigefinger zum Gruß heben, wenn sie den spärlichen Gegenverkehr auf dem Highway 57 passierten. »Wo kommt das ganze Geld her?«, fragte er und sah Milos Mom an. »Bislang war er ständig klamm.«

»Jetzt hat er jedenfalls einen Cadillac«, stellte Milos Mom nüchtern fest.

Im Eingangsbereich der Kirche erkundigte sich Pastor Barnes nach Peggy, und Milos Mutter log und sagte, sie liege mit Kopfschmerzen im Bett. Tante Sally und Onkel Randall hatten sich schon auf eine Kirchenbank gesetzt. »Schon wieder?«, sagte Pastor Barnes und schüttelte den Kopf. »Die Arme.«

Aber Milo wusste, was ihre »Kopfschmerzen« in Wahrheit waren: ein Kater. Peggy war eine gute Lügnerin, oder vielleicht waren ihre Eltern auch bloß dumm, denn sie glaubten ihr jedes Mal. Noch so eine mysteriöse Kopfschmerzattacke, und man würde sie im Rettungshubschrauber nach Omaha ins Clarkson-Hospital fliegen. Allerdings war es diesmal keine von Peggys Lügen, es waren ihre Eltern, die logen, und das machte die Sache viel spannender.

Milo nahm seinen Platz zwischen seiner Mom und George ein. Scott und Ross saßen drei Reihen vor ihnen. Scott drehte sich dauernd um und wackelte mit den Ohren. Ein dämlicher Trick, den Milo schon Hunderte Male vor dem Spiegel ausprobiert hatte, aber wie sehr er es auch versuchte, es gelang ihm nicht. Er grinste seinen Freund an, und Scott streckte langsam, ganz langsam die Zunge heraus, bis sie fast das Ohr der Person neben ihm erreichte, einer humorlosen Frau in einem grün-blau karierten Pullover. Sie packte Scotts Zunge mit der Hand, und er würgte überrascht, was die Aufmerksamkeit seiner Mutter rechts von ihm erregte. Milo prustete und hielt sich schnell die Hand vor den Mund, bevor er laut lachen musste. Seine Mutter warf ihm einen scharfen Blick zu. Nicht der richtige Zeitpunkt zum Danebenbenehmen, schien dieser Blick zu sagen. Nicht der richtige Zeitpunkt, um Aufmerksamkeit auf die Familie Ahern zu lenken.

Die Frau ließ Scotts Zunge los, und er warf Milo noch rasch einen Blick über die Schulter zu, der so viel wie Nicht zu fassen! besagte, aber Milo hatte den Kopf jetzt nach vorn gedreht und sah seinen Freund nur am Rand seines Blickfeldes. Als seine Mutter ihn ein zweites Mal anschaute, hielt er den Blick starr auf Pastor Barnes gerichtet, der gerade über irgendetwas Langweiliges redete. Milos Mutter tätschelte seine Hand und ließ ihre dann auf seiner liegen. Wahrscheinlich sollte mir das total peinlich sein, dachte Milo, aber er war zu beschäftigt mit dem Hochgefühl, dass er zumindest dieses eine Mal in seinem Leben das Lieblingskind war.

Pastor Barnes legte eine Pause in seinem weitschweifigen Sermon ein, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zurückzugewinnen. »Und nun«, sagte er, »mögen sich unsere Konfirmanden des Jahres 1985 bitte erheben.« Milo und Scott standen gleichzeitig auf, ebenso eine im gesamten Kirchenraum versprengte Anzahl weiterer Zwölfjähriger. »Bitte kommt zu mir nach vorn«, sagte Pastor Barnes, und Milo zwängte sich an den Knien seines Vaters, seiner Tante, seines Onkels und seines Cousins vorbei. Er vermisste es fast, dass Peggy ihn schmerzhaft in die empfindliche Unterseite seines Armes kniff.

 

Pastor Barnes goss Wasser über Milos Kopf, und ein Rinnsal lief zu seinem Mund herab. Milo presste instinktiv die Lippen aufeinander. Vermasselte er damit die Taufe? Hatte er vielleicht gerade Jesus abgewiesen? Schwer zu sagen, aber es fühlte sich jedenfalls wie Schummelei an. Er sah auf seine Hände und war peinlich berührt, dass er Wundmale erwartet hatte, aber abgesehen von den abgekauten Nägeln waren es ganz normale Hände.

Zwanzig Minuten später begab sich die Gemeinde im Gänsemarsch zurück in den Eingangsbereich. Sein Vater klopfte Milo auf den Rücken, und seine Mutter küsste ihn auf die Wange. Dann tuschelten sie eine Weile miteinander, ob sie sich vor Kaffee und Kuchen drücken konnten oder ob das erst recht Aufmerksamkeit erregen würde. Milo hatte gehofft, sich nach der Konfirmation anders zu fühlen, reiner, vielleicht sogar leichter, aber bis auf einen feuchten Fleck am Hinterkopf fühlte er sich genau wie immer. Und Peggy beschäftigte seine Eltern selbst in ihrer Abwesenheit mehr.

»Wir können uns nicht einfach so davonstehlen, Joe«, flüsterte seine Mutter, und dann kam Tonya Gary zu ihnen. Sie umarmte Milo und gratulierte ihm und erzählte seiner Mutter anschließend von dem Blaubeerkuchen mit Zitronenguss, den sie mitgebracht hatte und den seine Mutter »unbedingt probieren« müsse. Mrs. Gary war eine Freundin seiner Eltern, obwohl sie viel jünger war. Ein Phänomen der Kleinstadt: Die Leute taten sich entsprechend ihrer Interessen zusammen, nicht aufgrund ihres Alters. Im Großen und Ganzen gab es zwei Gruppen von Leuten: solche, die gern Alkohol tranken, und solche, die das nicht taten. Während seine Mutter keine große Trinkerin war, galt das für seinen Vater nicht, und an den meisten Freitagen und Samstagen landeten seine Eltern abends in irgendeinem Partykeller in der Nachbarschaft, während die Kinder im Wohnzimmer vor dem Fernseher geparkt wurden. Weil Tante Sally und Onkel Randall zu Besuch waren, hatten sie am Vorabend zwar auf die übliche Party verzichtet, aber sein Dad und sein Onkel waren trotzdem auf ein paar Drinks aus dem Haus gegangen.

»Ich bleibe nur kurz auf ein Stück Kuchen«, sagte seine Mutter, und Joe warnte: »Aber nicht zu lange.« Da war seine Mutter schon auf halbem Weg in die Küche.

Milo ging zu Peggys Freundin Laura, die mindestens ihren zweiten Donut aß.

»Warum hat deine Mom mich eigentlich wirklich angerufen?«, fragte Laura, den Mund voller Gebäck. Als Mrs. Ahern sie nach dem Gottesdienst angesprochen hatte, hatte sie behauptet, Peggys Kirchenschuhe zu suchen.

»Peggy ist nicht nach Hause gekommen.«

Laura riss die Augen auf, ein Donutkrümel hing in ihrem Mundwinkel. »Du meinst, überhaupt nicht?«

»Sieht so aus.«

»Ach du Scheiße«, flüsterte sie. Eine alte Frau – also, wirklich alt – starrte sie mit geisterhaften Augen an.

»Seid ihr letzte Nacht zusammen gewesen?«, fragte er, und Laura warf ihm einen Blick zu, der Hältst du mich für bescheuert? zu sagen schien. »Ich sag’s auch keinem weiter«, fügte er hinzu. »Glaub mir, wenn ich euch in die Pfanne hauen wollte, hätte ich das schon längst tun können.«

»Eine Zeit lang. Auf der Castle Farm.« So wurde die verlassene Farm nördlich der Stadt genannt, weil sie so heruntergekommen war. »Das ist ein ironischer Name«, hatte Peggy ihm einmal erklärt – als ob er eine Erklärung für Ironie bräuchte. Er arbeitete sich damals gerade durch ein Buch über literarische Ausdrücke, das die Bibliothekarin für ihn eigens bei der Wayne State University bestellt hatte. Sie hatte es auf ihren Tisch geknallt und ihm zugeschoben: »So, du Schlaumeier. Test ist in einer Woche.« Aber sie zwinkerte, als sie das sagte, und sie ließ ihn auch nicht wie sonst einen Blutschwur ablegen, wenn Schüler Bücher aus dem College bekamen.

»Meinst du, es geht ihr gut?« Zum ersten Mal spürte er einen Anflug von Furcht. Vorhin hatte er wegen des Ärgers, den sie sich einhandeln würde, Schadenfreude empfunden, und danach war er sauer gewesen, weil er dachte, sie hätte ihn vielleicht im Stich gelassen. Aber jetzt?

»Glaub mir«, sagte Laura und klaute sich ein Stück Donut von seinem Teller, »deine Schwester kann gut auf sich aufpassen.« Damit hatte sie wahrscheinlich recht. Seine Schwester war in einem Drogeriemarkt um eine Anzeige wegen Ladendiebstahls herumgekommen, obwohl sie mehrere Labellos hatte mitgehen lassen, und einmal war sie betrunken nach Hause gekommen und hatte mit ihrem Vater Chips gegessen, ohne dass er was gemerkt hatte. Milo hatte einmal neben ihr im Auto gesessen, als sie ein Stoppschild überfuhr und den Polizisten beschwatzte, ihr keinen Strafzettel zu schreiben. Na gut, der Polizist kannte ihren Dad, aber trotzdem.

Milo dachte darüber nach – dachte richtig gründlich nach –, in welche Art von Ärger Peggy geraten sein könnte.

»Außerdem ist sie jetzt bestimmt schon zu Hause«, fuhr Laura fort. »Ich wette, sie hat sich in ihr Zimmer geschlichen und schafft es irgendwie, eure Mom zu überzeugen, dass sie die ganze Zeit da war. Sie ist so dünn, dass eure Mom sie unter der Bettdecke einfach übersehen hat.«

»Wann hast du sie am Samstagabend zuletzt gesehen?« Milo hoffte, dass er wie Captain Furillo in Polizeirevier Hill Street klänge, oder, besser noch, wie Mick Belker. Leider hatte er kein Notizbuch, in das er ihre Antwort schreiben konnte.

»Gestern Abend?« Laura hielt ein Holzstäbchen mit einer Schokokugel in der Hand, mit dem man Kakao machen konnte. Jetzt tippte sie damit auf ihre Unterlippe. Deshalb war sie Milo von Peggys Freundinnen die liebste: Sie stand an einem öffentlichen Ort und sprach mit einem Zwölfjährigen. »Ich schätze mal, kurz vor Mitternacht. Ich bin dann mit Kerry gegangen, weil der bei meinen Eltern unten durch ist, seit er mich letztes Wochenende nicht rechtzeitig nach Hause gebracht hat. Da war alles in Ordnung mit ihr.«

Kerry und Peggy waren im Jahr davor zusammen gewesen, aber wie meistens hatte Peggy die Beziehung schnell beendet. Milo hatte ausgedehnte Unterhaltungen darüber belauscht, dass Laura sich für Kerry interessierte (selbstverständlich, schließlich war er Quarterback in Gunthrums Footballmannschaft und Starting-Center-Spieler im Basketballteam und hatte obendrein eine Föhnfrisur wie Tom Wopat aus Ein Duke kommt selten allein), und Peggy hatte Laura ihren Segen gegeben. In einer Klasse mit dreiundzwanzig Schülern waren gewisse Wiederholungen beim Spuckeaustausch nicht zu vermeiden.

»Wollte sie jemand nach Hause fahren?«

Laura pustete in ihren Pony und stupste Milo mit der Schulter an. »Sie meinte, das würde schon passen. Mindestens zwei von den Footballspielern waren noch nicht hackedicht, die hatten am nächsten Tag Gewichtstraining. Es gab also genug Leute, die sie nach Hause bringen konnten.« Sie blinzelte Milo an. »Meinst du, ich hätte bei ihr bleiben sollen?«

»Nein, sie hätte nach Hause kommen sollen, aber dafür kannst du nichts.«

Laura lachte. »So wie ich Peggy kenne, heißt das bloß, dass sie eine tolle Geschichte zu erzählen hat.«

Auf der anderen Seite hielt seine Mutter die Hand mit fünf weit gespreizten Fingern in die Höhe: noch fünf Minuten, bis es Zeit zu gehen war. »Ich hole unsere Mäntel«, sagte Milo, als George mit geschwellter Brust herbeistolzierte und Laura anzüglich angrinste.

»Träum weiter«, sagte Laura, und George sackte wieder in sich zusammen. Sie hielt Milo zurück, indem sie ihm eine Hand auf den Arm legte. »Sag ihr, dass sie mich anrufen soll, ja?«

»Ja, sobald sie ihren Anschiss hinter sich hat.« Bei der Lautstärke, mit der sein Vater brüllte, würde ein vorsichtiges Lauschen kaum nötig sein.

Im Eingangsbereich fand Milo den schwarzen Mantel, den sein Vater nur an Sonntagen trug. Es war ein schwerer Wollmantel, und er unterschied sich von denen der anderen Väter nur dadurch, dass er auf demselben Haken hing wie Milos eigener, kindischer Anorak, den er seit der fünften Klasse trug und der mittlerweile an den Handgelenken zwei Zentimeter zu kurz war. Wenn ihm seine Mutter das Fünfminutenzeichen gab, blieben Milo normalerweise noch mindestens fünfzehn Minuten Zeit für Donuts und Preiselbeersaft, und dann hockte er immer noch eine ganze Weile auf dem Rücksitz des Buick und las in einem Buch, bis sich seine Eltern endlich von all ihren Bekannten losgeeist hatten. Er zog seinen Anorak an und trug den Mantel seines Vaters in den Gemeinschaftsraum. Seine Mutter hatte ihren bereits angezogen und ihre Handtasche über die Schulter gehängt.

»Komm schon«, sagte sie zu Milo, und an die Frau gerichtet, neben der sie stand, fügte sie hinzu: »Wir fahren jetzt besser nach Hause und sehen, wie es Peggy geht.«

»Die Arme«, sagte die Frau, und Milos Mutter lächelte.

Sie gingen zu Tante Sally und Onkel Randall, die sich mit Pastor Barnes unterhielten, der vom Kindergarten bis zum letzten Schuljahr mit Randall in dieselbe Klasse gegangen war. Es war eine seltsame Vorstellung, dass Pastor Barnes – der ihn die Apostel gelehrt hatte, aber mit den Jungs in der Klasse auch ein hochpeinliches Gespräch über die Bienchen und die Blümchen in einer ehrbaren christlichen Ehe zu führen versucht hatte – genauso wie alle anderen zur Highschool gegangen war. Es war genauso seltsam, dass sein Vater da hingegangen war und dass der vier Jahre jüngere Onkel Randall einst auf ihrer Farm gelebt hatte. Pastor Barnes klopfte Randall auf den Rücken und sagte, dass es schön sei, ihn mal wieder getroffen zu haben.

»Ja, Harry, das finde ich auch«, sagte Randall. Milo konnte gar nicht glauben, dass jemand den Pastor beim Vornamen nannte. Selbst seine Eltern, die zwar älter waren, sich aber an seine Rolle im Ort gewöhnt hatten, nannten ihn Pastor Barnes.

Draußen fielen dicke, feuchte Schneeflocken. Tante Sally und seine Mutter liefen mit ihren Absätzen in Trippelschritten zu ihren Autos. Seine Mutter hielt sich zum Schutz gegen den Schnee den Programmzettel des Festgottesdienstes über den Kopf. Die Druckerschwärze, mit der dort Milos Name geschrieben stand, verlief auf der Rückseite zusammen mit der aller anderen evangelisch-lutherischen Kinder seiner Klasse. Peggys Konfirmationsprogramm hing bei ihnen gerahmt in der Diele.

Milo malte sich aus, wie sie zu Hause ankommen würden: Sein Vater würde den Buick auf der Garagenseite seiner Mutter abstellen, während Randall noch zwei oder drei Kilometer zu fahren hatte, weil er die unbefestigten Straßen nicht mehr gewohnt war. Er und seine Eltern würden die Autotüren hinter sich zuknallen, das Kurbelgeräusch der sich schließenden Garagentür würde wegen der Kälte lauter sein als sonst. Sie würden zur Haustür laufen – Milo wahrscheinlich vorweg – und sie öffnen, der strenge Geruch des fast durchgegarten Bratens würde ihnen entgegenschlagen. Ein Geruch, bei dem ihm zuerst das Wasser im Mund zusammenlaufen würde, bis ihm wieder einfiel, dass er keinen Braten mehr mochte, dass er das ausgetrocknete Fleisch satthatte.

»Peggy?«, würde ihre Mutter die Treppe hochrufen, und dort auf dem Parkplatz vor der Kirche stockte Milo fast der Atem bei der Frage, ob sie antworten würde.

3

Clyle sah auf seine Uhr, während Hals Pick-up über die verschneiten Spuren der Fahrbahn holperte. Es war fast halb neun. Clyle konnte an beiden Händen abzählen, wie oft Hal nach acht Uhr morgens bei der Farm angekommen war – normalerweise war er schon gegen Viertel vor da, weil er hoffte, Alma zu Eiern mit Schinken überreden zu können, wenn er es schaffte, sie zwischen ihrer Schulbustour und dem nächsten Punkt auf ihrer Aufgabenliste abzupassen. Normalerweise klappte das.

»Heute morgen Ärger gehabt?«, erkundigte sich Clyle, als Hal vom Fahrersitz sprang.

»’tschuldigung. Hab vergessen, meine Uhr zu stellen.« Hal sah so aus, wie er nach Clyles Erfahrung eigentlich jeden Montagmorgen aussah: geschwollene Augen, aschgraue Haut – das Ergebnis einer zwei oder drei Nächte dauernden Sauftour. Clyle war sich sicher, dass es nach zwei Tagen im Hochsitz mit Larry und Sam noch schlimmer sein würde. Auch er hätte in dieser Situation sicherlich einiges getrunken.

»Wie war der Jagdausflug?«

Auf Hals Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, doch er wich Clyles Blick aus. »Ich habe einen Hirsch geschossen. Eine Kuh, aber eine richtig große.«

Clyle versuchte, seine Überraschung zu verbergen. Er brachte Hal jetzt seit neun Monaten das Schießen bei, hätte aber nicht geglaubt, dass er, wenn es darauf ankam, auch den Mumm hatte, wirklich den Abzug zu drücken und ein Tier zu töten. »Gut gemacht!«

»Wirklich groß. Fast wie ein Bock.« Hal wandte sich um und holte seine Hausschuhe aus der Fahrerkabine des Pick-ups, um sie dann neben denen von Clyle auf den Küchenteppich zu stellen.

Almas Ford Vega bog von der Schotterstraße am Ende der Zufahrt ab und holperte über die Auffahrt auf sie zu. Sie stellte den Motor ab, stieg aus dem Auto und zeigte mit ihrem behandschuhten Finger auf Hal. »Mit dir habe ich ein Wörtchen zu reden.«

Er hob schützend die Hand vor die Brust. »Mit mir?«

»Ja, mit dir. Du solltest mich aus der Jagdhütte anrufen und Bescheid geben, dass du gut angekommen bist. Aber du hast keinen Mucks von dir gegeben. Keinen Ton.«

Hal streckte das Kinn in die Höhe und warf Alma einen herausfordernden Blick zu. »Ich muss mich bei dir nicht melden. Ich bin kein Kind.«

»Nein, das bist du nicht«, stimmte sie zu. »Du bist erwachsen. Und als Erwachsener trägst du die Verantwortung, dich an deine Versprechen gegenüber anderen Menschen zu halten. Hast du das verstanden, Hal?« Sie sprach in ihrem Busfahrerton, wie Clyle das nannte, den sie normalerweise benutzte, um Kinder dazu zu bringen, still zu sein und auf sie zu hören – streng genug, dass ein Zwölftklässler sich brav hinsetzte. Manchmal schlug sie den Ton auch ihm gegenüber an – Warum hast du den Müll noch nicht rausgetragen, Clyle Costagan? Glaubst du, ich bin dein Dienstmädchen? –, und obwohl ihm das nicht gefiel, tat er doch, was sie wollte.

»Lasst uns reingehen und frühstücken«, sagte Clyle.

Alma nickte kurz. »Ja, gut. Aber nur, weil ich hungrig bin.« Sie drehte sich zu Hal um. »Rührei oder Spiegelei?«

»Ich bin nicht hungrig.«

»Ach, jetzt stell dich nicht so an. Ich habe gerade eine ganze Busladung voller Jammerlappen chauffiert, die sich die ganze Zeit darüber beschwert haben, dass der Schneesturm ausgerechnet am Wochenende gekommen ist und die Schule nicht ausgefallen ist. Jetzt will ich mich nicht auch noch von dir volljammern lassen, Hal Bullard.« Hal kniff die Lippen zusammen. »Also dann«, sagte sie und ging ins Haus. Sie ließ die Tür hinter sich zuknallen.

Drinnen steckte Clyle zwei Scheiben Toast in den Toaster und nahm die Butter und die Erdnussbutter aus dem Schrank. Er schenkte sich und Hal Kaffee ein, für Hal wie immer mit viel Sahne und Zucker. Sie saßen auf ihren angestammten Plätzen, und Clyle schaltete das Mittelwellenradio ein, um den morgendlichen Bericht für Schweinezüchter zu hören. »Na, erzähl mal von deinem Ausflug«, sagte Clyle. »Hat’s Spaß gemacht?« Er wusste, dass Alma sich das ganze Wochenende Sorgen gemacht hatte, auch wenn sie das natürlich nicht zugab. Er hatte es an der gereizten Art gesehen, mit der sie die Fehler in ihrer Häkelarbeit korrigierte und anmerkte, dass dieser aufdringliche Remington Steele die arme Laura Holt wirklich mal in Ruhe lassen könne. Gesprächiger war sie selten geworden.

»Keiner hat gedacht, dass ich so eine große Hirschkuh schießen kann. Hab ich aber.« Hal hielt seine Hände, als würde er ein Gewehr halten, und kniff ein Auge zu.

»Klar hast du das«, sagte Clyle, aber er hatte da so seine Zweifel. »Sag mal, gilt deine Jagderlaubnis nicht nur für Böcke?«

»Nein«, sagte Hal abwehrend. »Die gilt für alles Rotwild.« Als er das sagte, schossen ihm die Tränen in die Augen. Clyle hatte sich in den fast zehn Jahren, die Hal für ihn arbeitete, immer noch nicht daran gewöhnt, wie schnell Hal weinen musste.

Wenn man einen flüchtigen Blick auf ihn warf, kam man nicht auf die Idee, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er hatte im Alter von zwei Jahren einen Schwimmunfall gehabt, und seine Behinderung war die Folge von Sauerstoffmangel. Deswegen sah er nicht aus wie andere Zurückgebliebene. Sauerstoffmangel. Für die meisten Menschen war Hal ein attraktiver Mann. Eins fünfundachtzig groß, breite Schultern, wettergegerbte, sonnengebräunte Haut, volles rotbraunes Haar. In Hollywood hätte sich keiner nach ihm umgedreht, aber hier in dieser Gegend erregte er die Aufmerksamkeit vieler Frauen – bis sie ein paar Worte mit ihm wechselten.

Clyle hatte das schon öfter beobachtet. Sie waren ein oder zwei Städte weiter unterwegs, um etwas zu besorgen, und gingen mittags in ein Diner oder waren in der Post, um eine Sendung für Alma aufzugeben. Vielleicht würde die Frau hinter dem Tresen ein Schwätzchen mit Hal beginnen, den Busen vorgeschoben, eine Hand womöglich neckisch auf seinen Arm gelegt, doch dann würde Hal etwas sagen, das sie irritierte. Vielleicht sprach er ein wenig zu begeistert über eine bestimmte Fernsehsendung oder lachte über etwas, das sie gesagt hatte – aber eher, wie ein kleiner Bruder lachen würde, laut wiehernd, sodass das Zahnfleisch der oberen Schneidezähne bloßlag, während er einen unbemerkten Blick auf ihre Brüste zu erhaschen versuchte. Sie veränderte dann rasch ihre Körperhaltung, blinzelte mehrmals in rascher Folge und trat einen Schritt zurück, weil sie erkannt hatte, dass etwas nicht ganz stimmte.

In solchen Augenblicken fühlte sich Clyle immer hilflos, denn es war nicht zu leugnen, dass Hal sich für diese Frauen interessierte. Clyle hatte sich gelegentlich dazu überwunden, mit Hal darüber zu sprechen, was mit dessen Körper geschah, wenn er ein hübsches Mädchen sah, oder wie es wohl war, wenn man sich verabredete. Und Clyle, so wahr ihm Gott helfe, erklärte Hal, was er tun konnte, um den physischen Druck abzulassen, und zwar vorzugsweise unter der Dusche, damit die Bettwäsche nicht schmutzig wurde. Tagtäglich war es, als ob er einen zwölfjährigen Jungen aufziehen würde, einen Jungen, der niemals groß wurde, aber die Bedürfnisse eines Mannes hatte.

»Dann habe ich mich wohl geirrt«, sagte Clyle, obwohl er wusste, dass er recht hatte. Hal hatte nur die Genehmigung erhalten, Böcke zu schießen, das wusste er, aber es war sinnlos, jetzt darauf herumzureiten. Tot war tot. Clyle bestrich einen Toast mit Butter, gab einen großen Klumpen Erdnussbutter darauf und legte das Brot auf einer Papierserviette vor Hal auf den Tisch. Dann wiederholte er die Prozedur für sich selbst. Hal schniefte auf der anderen Seite des Tisches. »Willst du darüber reden?« Wahrscheinlich war Hal niedergeschlagen, weil er den falschen Hirsch geschossen hatte und deshalb bei der Kontrollstelle zusammengestaucht worden war und eine saftige Geldstrafe bekommen hatte. Außerhalb der Zulassung zu jagen, brachte einen unweigerlich in Schwierigkeiten.

»Sie haben es mir nicht zugetraut«, sagte Hal, und seine Stimme war so leise, dass Clyle ihn kaum hörte.

Alma kam aus dem Badezimmer zurück, nahm einen Karton mit Eiern aus dem Kühlschrank und knallte eine Pfanne auf den Herd. »Wer hat dir was nicht zugetraut, Hal?«

»Larry und Sam. Die meinten, ich könnte keinen Hirsch schießen. Sie haben gedacht, sie könnten meinen Anteil selbst schießen.«

Clyle war verärgert, dass diese Burschen Hal derart ausnutzen wollten, doch das beantwortete noch nicht die Frage, warum sie ihn überhaupt eingeladen hatten. Das waren keine Männer, die etwas aus purer Gutmütigkeit taten. Vor ein paar Jahren hatte Hal ihn mit schwerer Zunge aus dem OK Corral angerufen, weil seine Freunde ihn dort hatten sitzen lassen. Clyle hatte sich um ein Uhr morgens auf den Weg gemacht. Bei seiner Ankunft saß Hal auf dem Bordstein und hielt den Kopf zwischen die Knie gesenkt. Ein Speichelfaden hing aus seinem Mund in die Lache zu seinen Füßen. Ein blaues Auge hatte er auch. Es war das Jahrgangstreffen seiner Highschool gewesen, fünf Jahre nach dem Abschluss. Was für eine alberne Idee, zu einem Zeitpunkt ein Jahrgangstreffen zu veranstalten, wenn keiner sich auch nur ein Fitzelchen verändert hatte – was man an dem Vorfall in jener Nacht ja deutlich sehen konnte. Die Leute hatten Hal einen Schnaps nach dem anderen ausgegeben und ihn besoffen gemacht. Sie hatten ihn wie eine Kirmesattraktion behandelt, um ihn dann sitzen zu lassen. Später fand Clyle heraus, dass sie ihn auch dazu überreden wollten, eine junge Frau zu küssen, die früher Cheerleader gewesen war. Jetzt war sie verheiratet und hatte einen Abschluss in Psychologie, und es hieß, dass sie kreischend durch die Kneipe gelaufen sei. Alle hatten Hal ausgelacht, als er ihr mit ausgestreckten Armen wie Frankensteins Monster hinterhergehumpelt war. Als ihr Mann nach diesem Tänzchen aufgekreuzt war, hatte er Hal einen Schwinger verpasst, was ihm im Gegenzug einen Volltreffer eintrug, und als Peck Randolph eintraf, fand sich keiner, der für Hal ein gutes Wort einlegte.

Dieses Jahrgangstreffen war natürlich weder der erste noch der letzte Anlass, bei dem sich Hal betrunken hatte. Ihm schmeckten die süßen Drinks, Southern Comfort oder Wodka mit Orangensaft und nicht etwa Bier oder Whiskey pur, und er trank sie wie ein Kind in großen, gierigen Schlucken, als ob er befürchtete, dass ihm jemand auf die Schliche kommen und das Getränk wegnehmen könnte.

Hal schlief in jener Nacht bei ihnen auf dem Sofa, und als er am nächsten Morgen aufstand, kapitulierte sein Körper. Er hielt sich die Hand vor den Mund und wollte ins Badezimmer rennen, schaffte aber nur die halbe Strecke. Alma hatte ihn zwar nach Strich und Faden zusammengestaucht, aber dann hatte sie die Sauerei auf Händen und Knien aufgewischt. Ungefähr einmal monatlich übernachtete Hal bei ihnen, entweder weil er sich in der Kneipe betrunken hatte oder weil er mit Clyle zu Hause ein paar Drinks zu viel gehoben hatte – oder auch nur, weil er müde war, nachdem er bei ihnen zu Abend gegessen und einen Fernsehfilm geschaut hatte. Irgendwann fingen sie an, das Gästezimmer im ersten Stock als Hals Zimmer zu bezeichnen, als wäre er bei ihnen aufgewachsen. Clyle und Alma waren beide der Meinung gewesen, dass der Jagdausflug keine gute Idee sei, aber Hal war nun mal ein erwachsener Mann, und er konnte nicht die ganze Zeit mit zwei alten Vögeln wie ihnen zusammenhocken. Er brauchte Freunde, und er musste, wie jeder andere Achtundzwanzigjährige auch, gelegentlich Dampf ablassen.

Alma schlug die Eier in die Pfanne.

»Ich habe sie da sitzen lassen«, sagte Hal.

Alma wandte sich um und wischte sich die Hände an dem Geschirrtuch ab, das sie in den Bund ihrer Jeans gestopft hatte. »Wen hast du wo sitzen lassen?«

»Larry und Sam.«

»In Valentine?«, fragte Clyle.

Hal nickte, und Clyle lächelte hinter seinem Kaffeebecher. »Ich wette, dass Ihnen das nicht besonders gut gefallen hat.«

»Ganz bestimmt nicht!«, pflichtete Hal bei. »Aber am Samstag bin ich aufgestanden, und sie waren weg. Kein Zettel, nichts. Sie sind zum Mittagessen zurückgekommen, und wir haben die Schinkensandwiches gegessen, die du mir eingepackt hast« – er nickte Alma zu und lächelte unsicher –, »und dann haben sie mir gesagt, ich kann nicht mitkommen. Es wäre nicht sicher. Sie waren schon auf der Jagd gewesen und hatten jeder einen Hirsch geschossen, und dann haben sie einen auf dicke Hose gemacht.« Seine Augen glitzerten. »Ich habe sie einfach da sitzen lassen und bin nach Hause gefahren, als sie mir gesagt haben, dass ich nachts nicht mit ihnen in den Hochsitz darf.«

»Du bist Samstagabend nach Hause gefahren?«, fragte Alma, und Clyle fragte gleichzeitig: »Wann hast du denn die Hirschkuh geschossen, Hal?«

»Nicht weit von der Hütte war ein Hirsch. Da hab ich meine Waffe genommen und geschossen.« Er hielt sich die Hand aufs Herz. »Genau dahin.«

»Bei der Hütte?«, fragte Clyle. Das ergab wenig Sinn. Hirsche waren zwar nicht so schlau wie Schweine, aber dumm waren sie auch nicht, und sie lernten schnell. Dass sich ein Hirsch während der Jagdsaison so nah an einer Jagdhütte aufhalten sollte, wäre selbst dann ungewöhnlich, wenn es reichlich Rotwild gab.

»Nicht direkt dort. Ein Stück von der Hütte weg, würde ich sagen. Nicht so nah, dass da Blut ist.«

Clyle warf Alma einen kurzen Blick zu. »Da ist kein Blut?« Auch das ergab wenig Sinn.

»Nein, nicht direkt bei der Hütte.«

»Du hast es also ein Stück von der Hütte weg geschossen?«

»Ich denke schon. Ja.«

»Hast du bei der Kontrollstelle eine Strafe gezahlt, weil deine Zulassung nicht für Hirschkühe gilt?«

Hal wich seinem Blick aus. »Die Kontrollstelle war zu.«

Clyle warf Alma erneut einen Blick zu. So etwas hatte er befürchtet. Hal hatte Stein und Bein geschworen, dass Larry mit einer eingeschränkten Genehmigung auf dem Land seines Cousins jagen durfte und dass alles mit rechten Dingen zuging, aber diese Kontrollstelle war so wenig geschlossen gewesen, wie sie auf dem Mond lag. Hals Kontingent war wohl ihr Notfallplan gewesen, falls sie nicht durch die Kontrolle kämen; er hätte dann den Kopf für alles hinhalten müssen, was nicht der Genehmigung entsprach.

Clyle seufzte matt. »Du kannst nicht einfach illegal jagen, Hal. Ich habe dir das Schießen nicht beigebracht, damit du die Regeln brichst.«

»Ich habe die Regeln nicht gebrochen! Ich habe die Kuh anständig und ehrlich geschossen und sie auf die Ladefläche vom Pick-up gelegt. Als ich nach Hause gekommen bin, hab ich versucht, die Sache selbst zu Ende zu bringen, aber das war eine Riesensauerei, also hab ich’s sein lassen und bin stattdessen ins OK gegangen.«

Clyle dämmerte, was geschehen war: Hal hatte versucht, den Hirsch auszunehmen. »Wo hast du das gemacht, Hal?«, fragte Clyle, während er in aller Ruhe seine Serviette faltete.

»In meiner Küche. Ich dachte, ich will es ja eh essen, dann ist das am vernünftigsten.«

Clyle legte einen Finger auf das Pulsieren in der Nähe seines Auges und versuchte, sich die Sauerei vorzustellen. Bestimmt war alles voller Blut. Selbst jetzt im Frühwinter, nach zwei verschneiten Tagen, würde es in der Küche zu stinken begonnen haben.

»Wo ist die Hirschkuh jetzt?«

Hal sah Clyle flehentlich an. »Du hast mir gesagt, dass ich kein Fleisch verschwenden soll, weil das Wild sein Leben gibt, damit ich zu essen habe, aber ich habe keinen Bissen davon gegessen. Keinen einzigen.«

Um das Problem mit der Genehmigung würde sich Clyle später kümmern. Er hatte einen Freund bei der Naturschutzbehörde, den er anrufen konnte, um die Sache geradezubiegen, auch wenn das wahrscheinlich ein paar Hundert Dollar kosten und Hal dafür eine Ermahnung wegen Fehlverhaltens kassieren würde. »Wir fahren wohl besser zurück zu dir. Uns darum kümmern, dass deine Küche sauber ist.«

»Ich hab schon sauber gemacht«, antwortete Hal, aber Clyle wusste, was das bedeutete. Hal war sehr gut bei Routinearbeiten und Tätigkeiten, die er kannte: das Geschirr nach dem Abendessen abzuwaschen, sein Bett zu machen, sein Hemd in die Hose zu stecken. Aber bei allem, was neu war, musste Clyle ihn Schritt für Schritt anleiten, langsam und akribisch. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er vor fast einem Jahr angefangen hatte, Hal das Schießen beizubringen, und wie langsam und methodisch Hal anfangs die Waffe geladen hatte. Doch wenn etwas nicht nach Plan lief oder Hal von seinen Gefühlen überwältigt wurde, dann ging nichts mehr. Clyle hatte schon oft beobachtet, wie Hal von unvorhergesehenen Ereignissen völlig aus der Fassung gebracht wurde. Das Gleiche galt, wenn er mit seinen eigenen Grenzen konfrontiert war.

Alma schaufelte Rührei auf drei Teller, von denen sie zwei auf den Tisch stellte, dann holte sie eine große Flasche Chlorreiniger unter der Spüle hervor. »Hier«, sagte sie. »Ich würde es selbst machen, aber ich muss den Bus vor der Nachmittagstour zur Inspektion bringen und noch was in der Stadt besorgen.«

»Ich schaff das allein«, sagte Hal und schaufelte sich das Ei in den Mund, von dem er so nachdrücklich behauptet hatte, dass er es nicht essen wolle.

»Ich helfe dir, das Haus sauber zu machen«, sagte Clyle.

»Was ist mit den Impfungen? Waren die heute nicht dran?«

»Das hat noch Zeit.«

»Aber wir …«, setzte Hal an, doch Clyle hob die Hand. »Na gut.« Hal nahm die Serviette vom Schoß und wischte sich den Mund ab.

Nachdem sie ihre Teller in die Spüle gestellt hatten, folgten Clyle und Alma Hal nach draußen zu seinem Pick-up, der beim Drahtsilo stand. Als Clyle Alma vor vierzehn Jahren zum ersten Mal die Auffahrt heruntergefahren hatte, hatte sie ihn gefragt, ob dort die Tiere gehalten würden. Clyle warf einen schnellen Blick auf Hals Ladefläche: Eine fünfzehn Zentimeter breite, blutige Schleifspur verlief vom Führerhaus über die gesamte Ladefläche und die Ladeklappe. Clyle spürte einen Stich der Sorge, als er sich erinnerte, wann er zuletzt Blut in einem Pick-up gesehen hatte: Das war im Fahrerhaus seines eigenen Wagens gewesen, nachdem Hal in der Highschool einen Jungen krankenhausreif geschlagen hatte.

»Du meine Güte«, sagte Alma und reichte Clyle den Chlorreiniger. »Viel Spaß, ihr beiden. Ich muss in die Stadt.«

Sie ging zurück ins Haus, und Clyle deutete auf die Ladefläche. »Das musst du wegwischen, Junge.«

»Weiß ich doch«, sagte Hal abwehrend. »Ich hab’s mir schon vorgenommen.«

Clyle seufzte. Manchmal fragte er sich, wie Hal überhaupt allein zurechtkam. Was war ihm durch den Kopf gegangen, als er den Hirsch durch die Haustür und den Flur in die Küche geschleift hatte (alles zum Glück mit Linoleumboden)? Hal hatte ein kleines Stück Ackerland einige Kilometer nördlich von der Farm der Costagans gepachtet, die Pacht betrug 125