Dunkle Bestie - Lisa Jackson - E-Book
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Dunkle Bestie E-Book

Lisa Jackson

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Beschreibung

Eine verbotene Party im Wald, ein totes Mädchen und eine bestialische Spur: Nach den Thrillern "Schneewolf" und "Raubtiere" ist "Dunkle Bestie" Fall 7 für die toughen Detectives Selena Alvarez & Regan Pescoli aus der Feder der amerikanischen Bestseller-Autorin Lisa Jackson! Grizzly Falls, Montana: Bei einer heimlichen Party im nächtlichen Wald wird Detective Pescolis Tochter Bianca von einer dunklen Bestie angefallen. Auf der halsbrecherischen Flucht stolpert sie schließlich über die Leiche ihrer seit Tagen vermissten Mitschülerin Destiny. Als ein Kriminaltechniker einen riesigen Fußabdruck neben der Toten entdeckt, gibt es in Grizzly Falls, Montana, kein Halten mehr: Eine Jagd auf die Bestie bricht aus, die sogar ein Reality-TV-Team in die Stadt lockt. Sehr zum Unmut der Detectives Pescoli und Alvarez, deren Arbeit durch den Rummel zusätzlich erschwert wird. Dann verschwindet ein weiteres Mädchen … Die komplette Thriller-Serie (Ein Fall für Alvarez und Pescoli) im Überblick: Band 1: Der Skorpion Band 2: Der Zorn des Skorpions Band 3: Zwillingsbrut Band 4: Vipernbrut Band 5: Schneewolf Band 6: Raubtiere Band 7: Dunkle Bestie

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Seitenzahl: 616

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Lisa Jackson

Dunkle Bestie

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Kristina Lake-Zapp

Knaur e-books

Über dieses Buch

Grizzly Falls, Montana: Bei einer heimlichen Party im nächtlichen Wald wird Detective Pescolis Tochter Bianca von einer dunklen Bestie angefallen. Auf der halsbrecherischen Flucht stolpert sie schließlich über die Leiche ihrer seit Tagen vermissten Mitschülerin Destiny. Als ein Kriminaltechniker einen riesigen Fußabdruck neben der Toten entdeckt, gibt es in Grizzly Falls, Montana, kein Halten mehr: Eine Jagd auf die Bestie bricht aus, die sogar ein Reality-TV-Team in die Stadt lockt. Sehr zum Unmut der Detectives Pescoli und Alvarez, deren Arbeit durch den Rummel zusätzlich erschwert wird. Dann verschwindet ein weiteres Mädchen …

Inhaltsübersicht

Kapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigKapitel fünfundzwanzigKapitel sechsundzwanzigKapitel siebenundzwanzigKapitel achtundzwanzigKapitel neunundzwanzigKapitel dreißigKapitel einunddreißigKapitel zweiunddreißigKapitel dreiunddreißigEpilogDankLisa Jackson bei KnaurMontana-»To Die«-ReiheNew-Orleans-ReiheSan-Francisco-ReiheWest-Coast-ReiheSavannah-ReiheStand AloneLeseprobe zu Lisa Jackson: Opfertier
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Kapitel eins

Sie war so gut wie tot.

Er würde sie umbringen, ganz bestimmt.

Entsetzt starrte sie auf den Schwangerschaftstest in ihrer zitternden Hand. Ja, sie war definitiv schwanger. Mit wackligen Knien stand sie in der Kundentoilette des Drogeriemarkts vor dem Waschbecken, hob den Kopf und blickte in den Spiegel. Weit aufgerissene, blaue Augen blickten ihr unter den hellblonden Ponyfransen entgegen. Augen, in denen nackte Panik stand.

Du wirst Mutter. Mit siebzehn … Nun, sie würde achtzehn sein, wenn das Baby zur Welt kam.

Ihre Kehle wurde eng, und sie blinzelte gegen die Tränen an. Sie durfte nicht weinen, nicht jetzt. Dafür war später noch genügend Zeit. Schniefend wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen, dann stopfte sie den Schwangerschaftstest in ihre Handtasche und warf die Verpackung in den Mülleimer. Vorsichtshalber zog sie ein paar Papiertücher aus dem Handtuchspender, zerknüllte sie und legte sie obendrauf. So ein Unsinn, schalt sie sich anschließend. Kein Mensch weiß, dass du hier bist. Sie war extra nach Missoula gefahren und hatte den Test gleich hier, im Drogeriemarkt, gemacht, und jetzt würde sie wieder nach Hause fahren.

Was sollte sie nur tun?

Mit brennenden Wangen und dem Gefühl, sämtliche Kunden und Angestellte könnten ihr ihr Geheimnis vom Gesicht ablesen, huschte sie aus der Kundentoilette Richtung Ausgang und wäre beinahe über einen Jungen gestolpert, der die Regale mit Haarspray und Deo auffüllte.

»He, pass doch auf!«, rief er.

»Entschuldige«, murmelte sie und eilte an der Verkaufstheke vorbei, hinter der zwei Apotheker die Kunden mit rezeptpflichtigen Medikamenten bedienten.

Sie stieß die Tür auf und floh hinaus in den Augustsonnenschein. Die Augen gegen die Helligkeit zusammengekniffen, rannte sie über den Parkplatz auf den alten Ford Taurus ihrer Mutter zu und sprang in das aufgeheizte Wageninnere. Sie ließ den Motor an, legte den Rückwärtsgang ein und trat aufs Gas. Hinter ihr gellte eine Hupe. Erschrocken bremste sie. Eine brünette Frau in einem Honda zeigte ihr den Mittelfinger und fuhr vorbei.

Destiny kümmerte das nicht.

Sollte die Tussi doch ausflippen.

Es gab Wichtigeres im Leben.

Schwanger. Du bist schwanger.

O nein.

Ein Baby? Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Wie sollte sie sich um ein Baby kümmern? Ihr Vater wäre ihr mit Sicherheit keine Hilfe. O Gott … ihr Vater. Er war bestimmt stinksauer.

Sie holte dreimal tief Luft, ließ das Fenster hinunter, weil sich die verdammte Klimaanlage mal wieder nicht einschaltete, und fuhr vorsichtig vom überfüllten Parkplatz.

Vielleicht würde sie ihm gar nichts erzählen. Die Schwangerschaft vertuschen, das Kind allein zur Welt bringen … aber wie? Nein, sie konnte ihren Eltern nichts verraten, allerdings würde sich das Baby auch nicht einfach in Luft auflösen, nur weil sie sich das wünschte.

Und eine Abtreibung? Auf keinen Fall. Entschlossen schob sie den Gedanken beiseite. Ihre Cousine hatte eine Abtreibung vornehmen lassen und sich das nie verziehen. Und dann war da auch noch Mom. Wie oft hatte sie betont, dass Destiny nicht nur eine »freudige Überraschung«, sondern eine »Fügung des Schicksals« gewesen sei, weshalb sie nun den Namen »Destiny« – Schicksal – trug! In über zwanzig Jahren Ehe war Helene Montclaire nur ein einziges Mal schwanger geworden, obwohl sie und Destinys Vater Glenn den Herrn um ein Geschwisterchen für ihre einzige Tochter angefleht hatten. Helene war sogar einmal weinend zusammengebrochen, voller Kummer und Verzweiflung, weil sie kein weiteres Kind bekommen konnte.

Undenkbar, dass sie dieses zarte Leben auslöschen würde. Bestimmt gab es eine andere Möglichkeit. Destiny drückte aufs Gas und schaffte es bei Gelb über die Ampel, dann bog sie auf den Highway und fuhr in südlicher Richtung stadtauswärts.

Sie könnte das Baby zur Adoption freigeben, überlegte sie, die Augen gegen die grelle Sonne zusammengekniffen. Ohne das Tempo zu mindern, tastete sie im Handschuhfach mit einer Hand nach ihrer Sonnenbrille, dann schob sie sich die Ray Bans auf die Nase. Vor ihr tuckerte ein schwer beladener Heulaster. Destiny bremste.

Das Baby zur Adoption freigeben – eine gute Idee. Genau das würde sie machen. Sie würde zu einem Anwalt gehen und einen Adoptionsvertrag aufsetzen lassen. Mist. Um das Kind zu Adoptiveltern geben zu können, musste sie es erst einmal zur Welt bringen. Was würde vorher passieren? Was, wenn sie einen riesigen Babybauch vor sich herschob? Allzu viele Monate würde sie die Schwangerschaft nicht verbergen können, zumal sie sehr schlank war. Eine Kugel an verräterischer Stelle würde nicht unbemerkt bleiben.

Außerdem war da auch noch der Vater des Babys.

Er war ein echtes Problem.

Oder nicht? Vielleicht bestünde die winzige Chance … Olieber Gott, bitte lass ihn nicht ausrasten! Vor Angst bildete sich erneut ein Kloß in ihrer Kehle. Destiny schluckte angestrengt. Er flippte bei jeder Kleinigkeit aus, und was passierte, wenn er von ihrer Schwangerschaft erfuhr, wollte sie sich lieber gar nicht vorstellen.

Wäre das Ganze doch nur ein Traum!

Es ist ein Traum. Aber ein richtig schlimmer Albtraum.

Sie stellte das Radio an, hörte in die verschiedenen Sender rein, doch nichts gefiel ihr, also schaltete sie es wieder aus. Vor ihrer mit Insektenleichen übersäten Windschutzscheibe erstreckte sich der graue Asphalt. Trist. Bedrückend. Was um alles auf der Welt sollte sie tun?

Sie schaute in den Rückspiegel. Ihre blaue Augen blickten noch genauso besorgt drein wie vorhin in der Apotheke. Unsicherheit stand darin, und tatsächlich war sie hin- und hergerissen. Sollte sie das Baby wirklich behalten? Was hatte ihr der Pastor ihrer Gemeinde, Reverend Tophman, nach der Bibelstunde in seinem Privatbüro unter dem spitzgiebeligen Dach ganz in der Nähe des Glockenturms geraten? Sie solle sich mit Gott besprechen, wann immer in ihrem Leben ein Problem auftauchte. Beten helfe immer.

»Du bist stärker, als du ahnst, Destiny«, hatte er mit seiner sanften Stimme behauptet, dann hatte er ihr liebevoll übers Haar gestrichen. Seine Finger glitten in ihren Nacken, und er zog hastig die Hand zurück, als habe er sich verbrannt. Oder als melde sich plötzlich sein Gewissen. Oder als komme jemand die Treppe herauf. Die Holzstufen knarrten tatsächlich. Seine Frau Janie hatte das Büro betreten.

Als habe sie es geahnt.

Destiny holte tief Luft und konzentrierte sich auf den Verkehr. Sie würde den Rat des Pastors annehmen, sich mit Gott besprechen und nach einer Lösung suchen. Das Baby war nicht das Problem. Hier ging es um die Umstände. »Ein Stolperstein auf dem Weg des Lebens«, würde Reverend Tophman sagen.

Draußen flogen Äcker, Felder und Weiden mit grasenden Rindern und Pferden vorbei. Bis nach Grizzly Falls waren es etwa fünfzig Meilen. Gedankenverloren durchquerte Destiny das breite Tal in Richtung der Ausläufer der Bitterroot Mountains und merkte nicht einmal, dass sie bereits die Brücke über den Grizzly River hinter sich ließ.

Zu Hause angekommen, parkte sie den Wagen und betrat die Küche. Zum Glück war ihre Mutter damit beschäftigt, Pfirsiche einzumachen, weshalb sie ihre Tochter nicht wie sonst mit Fragen bombardierte, sondern sich lediglich erkundigte, warum sie heute später als sonst von der Arbeit gekommen sei. Destiny erzählte, sie habe sich noch mit einer Freundin getroffen, floh dann aus der überhitzten, nach Zucker riechenden Küche und zog sich in ihr Zimmer zurück. Auf dem Bett liegend, hing sie ihren Gedanken nach, sprach mit Gott, allerdings gab der ihr keine Antwort auf ihre Fragen.

Handeln wäre definitiv besser als Beten, beschloss sie, weshalb sie sich nach dem Abendessen – es gab kalten Schinken mit Kartoffelsalat und zum Nachtisch frische Pfirsiche mit Schlagsahne – von ihren Eltern verabschiedete, um einen Spaziergang zu machen.

Ihre Mutter hatte nichts dagegen. »Bleib nur nicht zu lange fort«, bat sie und ließ sich in ihren Armsessel sinken. Destinys Vater hatte den Fernseher eingeschaltet, die Füße hochgelegt und die Lesebrille aufgesetzt. Neben ihm auf dem Beistelltisch lag eine aufgeschlagene Zeitung.

Ein typischer Abend im Haus der Familie Montclaire.

Abgesehen davon, dass die einzige Tochter ungefähr in der achten Woche schwanger war. Ob man wohl den exakten Zeitpunkt bestimmen konnte, wann es passiert war? Sozusagen auf den Tag genau?

Das wäre ausgesprochen hilfreich.

Ihr Vater schaute kaum auf, als die Fliegengittertür hinter seiner Tochter ins Schloss fiel. Das Haus war umgeben von eingezäunten Feldern. Destiny schlenderte über das umliegende Pachtland. Noch vor ein paar Wochen hatten hier üppig grüne Heuwiesen geblüht, die in der Sommerhitze silbern schimmerten. Inzwischen hatte man die Ernte eingebracht, weshalb sie nun über sonnengebleichte Stoppelfelder marschierte.

Ein durchhängender Stacheldrahtzaun trennte die bewirtschafteten Äcker vom Wald. Destiny hob ihn hoch und schlüpfte vorsichtig darunter hindurch. Der Wald war ihr vertraut, sie liebte die dicht stehenden Bäume, ihren ganz persönlichen Zufluchtsort, der ihr mitunter vorkam wie ein Heiligtum. Im Schatten sank die Temperatur ein wenig, aber die Luft, die nach Kiefern und staubiger Erde roch, war immer noch warm. Trocken.

Destiny zog ihr Handy aus der Tasche, warf einen Blick aufs Display und verschickte zwei SMS. Anschließend rief sie Donny an.

Während sie darauf wartete, dass er dranging, lauschte sie den Geräuschen des Waldes, dem Rauschen der Kiefernzweige über ihrem Kopf, dem Flattern der Vögel in den Bäumen, ihrem leisen Gurren und Tschilpen. Der Wald war Balsam für ihre aufgewühlte Seele.

Donny meldete sich nicht. Destiny beschloss, ihm keine Nachricht auf der Mailbox zu hinterlassen. Das brachte sie nicht über sich.

Wieder schaute sie aufs Display, aber es waren keine Antworten auf ihre SMS eingegangen.

Natürlich war er sauer auf sie.

Er war in letzter Zeit immer sauer.

Anstatt erneut anzurufen, schickte sie ihm eine Textnachricht, in der sie ihm mitteilte, dass sie zu ihrem Treffpunkt in der Nähe des Staubeckens unterwegs sei. Sie bat ihn, sich dort mit ihr zu treffen oder ihr zumindest eine SMS zu senden, dann schlug sie den Wanderweg ein, der über den Hügel führte. Der Weg war steil und führte etwa zwanzig Minuten bergauf. Als sie auf der Hügelkuppe ankam, war sie schweißgebadet, doch von jetzt an ging es bergab. Destiny blieb stehen, um zu verschnaufen. Gleich würde sie all ihren Mut zusammennehmen müssen. Ihr fiel auf, wie dämmrig es inzwischen geworden war.

Die Sonne versank hinter den Bergen im Westen, die Kiefern, Tannen und Espen warfen lange Schatten. Die Vögel verstummten, Fledermäuse flatterten durch die Baumkronen. Die Stille war unheimlich.

Knack!

Ein Zweig brach. Destiny wirbelte herum.

Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf.

Immer mit der Ruhe! Da ist nichts.

Die Augen angestrengt zusammengekniffen, schaute sie von einem Dickicht zum nächsten, aber nichts bewegte sich, kein Tier ließ sich blicken. Nicht einmal ein Hase oder ein Waschbär. Zumindest konnte sie keinen entdecken. Trotzdem wollte ihre Furcht nicht weichen. Sie fühlte sich, als würde sie beobachtet.

Das bildest du dir bloß ein.

Du bist mit den Nerven runter, das ist alles.

Dennoch wurde sie den Verdacht nicht los, dass in diesem allzu stillen Wald etwas nicht stimmte. Anstatt ihr wie sonst Trost zu spenden, machte er ihr Angst.

Sie biss sich auf die Lippe. Schlagartig fielen ihr sämtliche Zombie-, Werwolf- und Vampirfilme ein, die sie gesehen hatte. Auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut.

Du bist ein schutzloses Mädchen inmitten einer unbarmherzigen Wildnis.

Destiny blieb stehen und schaute sich um.

Hör auf mit dem Unsinn!

Noch einmal sah sie prüfend in alle Richtungen, und als sie nichts Außergewöhnliches bemerkte, setzte sie ihren Weg fort. Doch die Gänsehaut blieb.

Es ist nichts, redete sie sich ein, trotzdem hielt sie furchtsam Ausschau nach zähnefletschenden Pumas und Schwarzbären. Womöglich gab es hier sogar Wölfe. Hatte man sie nicht wieder angesiedelt? Sie hatten in der Schule darüber gesprochen. Und was war mit Rotluchsen und … o Gott … Schlangen. Klapperschlangen. Ihr Vater hatte ihr erzählt, sie seien nachtaktiv. Oder brachte sie da etwas durcheinander?

Mist.

Entspann dich. Du kennst dich hier aus, und etwas Furchteinflößenderes als ein Stachelschwein ist dir nie über den Weg gelaufen.

Die Nerven gespannt wie ein Flitzebogen, tastete sie sich Schritt für Schritt voran, tiefer in den Wald hinein, die Ohren gespitzt. Ihr Puls raste. Sie hörte … nichts. Keine Schritte, kein Rascheln, kein Atmen – gar nichts. Dennoch spürte sie die unsichtbaren Augen, die auf ihr ruhten.

Als sich die Dunkelheit herabsenkte, was schnell ging zu dieser Jahreszeit in Montana, tippte sie auf die Taschenlampen-App an ihrem Handy, um sich zu vergewissern, dass sie nicht vom Weg abgekommen war. Sie hatte nicht mehr viel Akku – wie sollte es auch anders sein? –, außerdem wollte sie nicht, dass irgendwer oder irgendetwas sie bemerkte, deshalb schaltete sie die Lampe kurz darauf wieder aus und tastete sich vorsichtig den steilen Pfad zum Grund der Schlucht hinab.

Sie hörte und roch den kleinen Fluss, bevor sie ihn sah – ein dunkles Band, das sich durch den Wald schlängelte. Der Wanderweg ging in einen staubigen Trampelpfad über, der direkt am Ufer entlangführte. Am Wasser angekommen, wandte sie sich in schnellem Tempo flussaufwärts. Dieser Abschnitt war flach, der Fluss gurgelte und schäumte über die Steine, bevor er in tiefere Becken mündete. Wiederholt meinte Destiny, Schritte hinter sich zu hören, doch immer wenn sie stehen blieb, war bis auf die Geräusche des Wassers alles ruhig.

Sie atmete tief ein und wieder aus.

Du führst dich auf wie eine Verrückte. Wie eine Verrückte, die sich selbst fertigmacht. Niemand folgt dir, niemand macht Jagd auf dich. Weder irgendwelche blutrünstigen Kreaturen noch hohläugige Zombies. Nein, Destiny, die einzige Irre, die heute Abend in diesem unwegsamen Gelände unterwegs ist, bist du selbst. Du alberne, schwangere Kuh.

So viel zum Thema aufmunternde Worte, dachte sie, während sie weiterstapfte. Hier unten, gleich am Ufer, standen die Bäume nicht ganz so eng zusammen. Destiny wandte sich nach rechts und nahm den Pfad steil bergauf. Dort waren die Bäume wieder dichter und öffneten sich nach etwa zehn Minuten zu einer Lichtung, die früher ein beliebter Parkplatz für Wanderer gewesen war. Ganz in der Nähe befand sich ein ehemaliges Holzfällerlager, aber der Betrieb war längst eingestellt worden. Heute wurde der Parkplatz nur noch selten benutzt, die kiesbedeckte Abstellfläche war überwuchert von Gras und Moos. Hier war ihr Treffpunkt.

Sollte sie ihm von der Schwangerschaft erzählen?

Ja oder nein?

Destiny schluckte angestrengt und nahm all ihren Mut zusammen.

Hm. Sie konnte doch nicht einfach so herausplatzen, dass sie ein Baby bekam! Nein, erst mal würde sie einschätzen müssen, ob er noch wütend war, und wenn ja, wie sehr. Wer konnte schon ahnen, wie er reagieren würde? Und dann war da noch ihre kleine Lüge … na ja, eher eine dicke, fette Lüge, wenn sie ehrlich war. Sie leckte sich die vor Nervosität trockenen Lippen. Beinahe hätte sie kehrtgemacht und die Beine in die Hand genommen. Er brauste so schnell auf … vielleicht sollte sie sich lieber nicht mit ihm treffen.

Doch noch bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, hörte sie das Dröhnen eines PS-starken Motors. Zu spät. Ein Jeep bog von der schmalen Zufahrtsstraße auf den Parkplatz ein, die Lichtkegel der Scheinwerfer strichen über die umstehenden Baumstämme. Destinys Herz fing an zu rasen. Nein, das war eine schlechte Idee. Eine ganz schlechte. Er würde ausflippen!

Sie hätte ihm keine SMS schicken sollen.

War nicht bereit, ihm die Wahrheit zu gestehen. Reflexartig legte sie die Hand auf ihren flachen Bauch.

Genau das war ihr Problem: Häufig handelte sie, ohne die Dinge vorher durchdacht zu haben. Hatte ihre Mutter ihr das nicht schon tausendmal vorgehalten?

Sie machte einen Fehler, wenn sie sich jetzt mit ihm traf. Einen kolossalen Fehler. Zumal es inzwischen stockdunkel war. Niemand wusste, dass sie hier war. Niemand außer ihm. Wie sollte sie durch den Wald nach Hause finden, wenn er sie nicht heimbrachte? Eilig griff sie nach ihrem Handy. Mist. Der Akku war endgültig leer. Jetzt würde sie niemanden bitten können, sie, wenn nötig, abzuholen. Und Hilfe rufen – sollte er wieder einmal ausrasten – konnte sie auch nicht. Wie blöd war sie eigentlich? Warum hatte sie sich nicht an einem öffentlichen Ort mit ihm verabredet? Es wäre sicherlich sehr viel leichter und vor allem weniger riskant gewesen, ihm die Nachricht in einem Coffeeshop oder in einem Park voller Leute zu überbringen … Dann hätte er sich zusammenreißen müssen.

Ach, Destiny, was hast du angerichtet? Sag’s ihm nicht. Nicht heute Abend. Sei nett zu ihm, provozier keinen Streit. Denk dran: Du hast mit ihm Schluss gemacht. Du hast die Oberhand. Und er ist stinksauer.

Noch einmal überlegte sie, einfach wegzulaufen, doch dann hielt der Wagen an. Seine Scheinwerfer erfassten sie.

Sie wappnete sich, kniff die Augen zusammen und trat aus dem Lichtkegel.

Er ließ den Motor im Leerlauf und stellte auch die Lichter nicht aus. Als er die Tür öffnete, schaltete sich die Innenbeleuchtung ein, ein Alarmton erinnerte daran, dass der Motor noch lief. Er war ein großer Mann. Kräftig. Muskulös. Ein Sportler, der am College aktiv trainierte.

Ob er eine Waffe bei sich hatte? Er rastete wirklich schnell aus, aber eine Pistole oder ein Messer …

Angespannt beobachtete Destiny, wie er ausstieg und die Tür zuknallte.

»Destiny?«, rief er mit rauer, gedämpfter Stimme.

»Hier.«

Er kam zu ihr herüber und baute sich vor ihr auf. Destiny fühlte sich wie ein Zwerg. »Was willst du?«

Es wäre verrückt, ihm jetzt von dem Baby zu erzählen. Nicht, wenn er in dieser Verfassung war. »Ich, ähm, ich dachte, wir sollten reden.«

»Worüber?«

»Du weißt schon.«

»Darüber, dass du mich per SMS abserviert hast?« Seine Augen funkelten gefährlich.

Destiny fing an zu zittern, aber sie zwang sich, sich ihre Furcht nicht anmerken zu lassen.

»Weißt du, was ich dachte, als ich die SMS bekam? Ich dachte, das sei ein Scherz, jemand habe dein Handy geklaut, um mir einen Streich zu spielen. Echt komisch. Haha.«

»Ich weiß.«

»Das war so was von feige, Des«, schnauzte er. Seine Stimme wurde immer lauter. »Eine beschissene Textnachricht? Wie mies ist das denn?«

»Ich hätte mit dir reden sollen.«

»Ja, zum Teufel, hast du aber nicht. Hast einfach die Nachricht geschickt, und das war’s.« Er spuckte auf die Erde. »Und was, bitte schön, soll das jetzt? Dieses überraschende Treffen heute Abend? Warum hast du mich hierherbestellt?«

Sie hörte den Spott in seiner Stimme, spürte seinen Zorn.

»Soll das ein Versuch sein, mich zurückzubekommen? Wenn ja, vergiss es! Es gibt kein Zurück. Es ist vorbei!« Er machte einen Schritt auf sie zu, stand nun ganz dicht vor ihr, aber sie wich nicht zurück, auch wenn sie sich am liebsten verkrochen hätte. Er durfte nicht merken, dass sie Angst vor ihm hatte.

»Ich wollte bloß wissen, warum«, log sie. Kein Wort von dem Baby. Nicht hier. Und schon gar nicht allein. »Warum hast du mich betrogen, hm? Mit dieser Tussi vom College, Veronica oder wie die Schlampe heißt?«

»Ich habe dir gesagt, dass sie mir nichts bedeutet.« Seine Stimme wurde leiser, anscheinend war er überrascht über die Wendung, die das Gespräch nahm.

»Tja, hast du deshalb ständig bei ihr übernachtet?« Jetzt war es an ihr, sauer zu sein. »Du bist doch praktisch bei ihr eingezogen!«

»Und darüber willst ausgerechnet du dich beschweren, Des? Weil du dich nie mit anderen triffst?« Er beugte sich drohend vor.

Sie schaute auf und sah seine zornlodernden Augen, in denen sich das Licht der Scheinwerfer widerspiegelte. »Wir wissen doch beide, dass du herumgehurt hast!«

»Wie bitte? Nein! Wer hat dir das denn erzählt?«

»Ob du’s glaubst oder nicht: Ich habe Freunde. Denkst du nicht, dass die mir berichten, was hier abgeht, wenn ich nicht da bin?« Seine Lippen bildeten eine schmale Linie, seine Hände waren zu Fäusten geballt.

Das letzte Mal, als sie ihn so wütend gesehen hatte, war er ausgerastet und hatte eine Delle in Emmett Tufts’ Ford getreten. Ein andermal hatte er Bryant Tophman fast krankenhausreif geprügelt, weil er sich bei einer Party an sie herangemacht hatte.

»Deine Freunde lügen.«

»Ganz bestimmt nicht!« Anklagend den Zeigefinger ausgestreckt, blaffte er: »Wenn es um uns geht, lügen sie nicht. Und weißt du auch, warum?« Bevor sie etwas erwidern konnte, sprach er weiter: »Weil mir das mit uns etwas bedeutet hat, Des.« An seinem Kinn zuckte ein Muskel. »Und zwar verdammt viel.« Er sah ihr direkt ins Gesicht. Sie konnte das Bier in seinem Atem riechen, den dünnen Schweißfilm auf seiner Haut sehen. »Und jetzt ist alles vorbei, du verlogenes kleines Miststück, und zwar endgültig. Jetzt musst du mich nicht länger hintergehen, kannst herumhuren, soviel du willst –«

Klatsch!

Instinktiv holte sie aus und verpasste ihm eine Ohrfeige, so fest, dass sie schmerzhaft seine Bartstoppeln in ihrer Handfläche spürte.

O nein! Warum hatte sie das getan?

Er erstarrte. Ungläubig stierte er sie an. Dann hob er die Fäuste. Ohne zu zögern, wirbelte Destiny herum und rannte den Weg zurück, den sie gekommen war, über den Parkplatz in den Wald und am Fluss entlang.

Er folgte ihr blitzschnell, und weil er wesentlich größer war, hätte sie gegen ihn im Grunde keine Chance gehabt, aber sie war flink und wendig, und sie kannte die Gegend wie ihre Westentasche.

Lauf, Destiny! Lauf, lauf, lauf!

Sie hörte, wie er hinter ihr herjagte.

»Ich bringe dich um!«, brüllte er, was sie keine Sekunde bezweifelte. Sollte er sie tatsächlich in die Finger bekommen, würde er sie erwürgen, so viel stand fest. Mit den Händen, die sie gestreichelt, die sie liebkost hatten, die sie hatten stöhnen lassen vor Verlangen.

Denk nicht daran, lauf!

Sie duckte sich unter tief hängenden Zweigen hindurch und wich einem Baum aus, der mitten auf dem Pfad wuchs. Wenige Sekunden später hörte sie ein dumpfes Geräusch, gefolgt von einem Schmerzensschrei. Wahrscheinlich war ihm ein Ast ins Gesicht geschlagen. Hoffentlich. Das wäre genau das, was sie brauchte: Tannennadeln, die ihm in die Augen stachen, damit er nichts mehr sehen konnte!

Sie rannte schneller. Seine Schritte wurden leiser. An der Gabelung schlug sie den steilen Weg hangaufwärts ein und meinte schon, sie habe ihn abgehängt, doch sie hatte sich getäuscht.

Plötzlich hörte sie hinter sich schwere Schritte, der Boden bebte. Wie konnte das sein? Hatte er eine Abkürzung genommen? Sich durchs Unterholz geschlagen?

Nein!

Sie hastete den Hügel hinauf, als sie plötzlich eine große Hand auf ihrer Schulter spürte.

Destiny stolperte, schrie auf und versuchte, sich zu befreien, aber es war zu spät. Seine starken Finger ließen sie nicht mehr los. Er wirbelte sie zu sich herum. Sie versuchte, ihm ins Gesicht zu sehen, ihn anzuflehen, ihr nichts zu tun, ihm zu sagen, dass es ihr leidtat, aber sie konnte in der Dunkelheit nichts erkennen.

Seine Hände schlossen sich um ihren Hals.

Destiny versuchte zu schreien, doch über ihre Lippen drang nur ein heiseres Krächzen. Sie bekam keine Luft mehr. Er drückte immer fester zu. Sie wehrte sich, zerrte an seinen Händen und stellte fest, dass er Handschuhe trug. Hatte er etwa geplant, sie umzubringen?

Ihre Lungen brannten. Sie brauchte dringend Luft!

Lieber Gott, mach, dass er aufhört! Bitte!

Panisch trat sie nach ihm, ruderte wie wild mit den Armen, ohne gezielte Schläge zu landen, und hoffte, sie könnte ihm ihr Knie in den Schritt rammen.

Ihre Lungen standen kurz davor, zu explodieren.

Der Scheißkerl wollte sie umbringen. Erwürgen. Daran bestand kein Zweifel.

Schmerz schoss durch ihren Körper, die nachtdunklen Bäume verschwammen vor ihren Augen.

Panisch packte sie erneut seine behandschuhte Hand. Wenn sie ihn doch nur beißen könnte!

Luft! Du brauchst Luft, Destiny, nur einen einzigen Atemzug. Bitte lieber Gott, bitte lass mich Atem holen!

Ihr Schädel hämmerte.

Lieber Gott, bitte hilf mir. Rette mich! Und rette bitte auch mein Baby!

Sie spürte, wie ihre Augen aus den Höhlen traten. Kraftlos sackten ihre Arme herab, ihre Knie begannen zu zittern. Mit allerletzter Kraftanstrengung holte sie zu einem neuerlichen Schlag aus – vergeblich. Ihr wurde schwarz vor Augen. Wenigstens ließ jetzt der Schmerz nach.

Nein … gib nicht auf … Das Baby … Ach, mein liebes, kostbares Baby …

Und dann spürte sie nichts mehr.

[home]

Kapitel zwei

Das war eine dumme Idee.

Eine ganz dumme Idee.

Bianca Pescoli rannte durch den dunklen Wald. Zum Glück stand ein silberner Mond am Himmel, sonst hätte sie nicht die Hand vor Augen erkennen können. Wie hatte sie nur so blöd sein können, mitten in der Nacht hierherzukommen? Sie hatte sogar ihre Mutter belogen, und warum? Bloß weil die anderen sie zu diesem dämlichen Spiel mitten im Wald überredet hatten. Genervt schlug sie nach einer Mücke. Es war heiß, obwohl es schon nach Mitternacht war, und die Grillen zirpten. Aus der Ferne vernahm sie Stimmen, dann war es wieder still. Kein Laut war zu hören, bis auf das Zirpen. Sie beschloss, sich so dicht wie möglich am Weg zu halten, damit sie sich nicht verirrte.

Hoffentlich ging ihr Plan auf.

Der staubige Wanderpfad führte immer weiter den Hügel hinauf. Felsen durchbrachen den trockenen Boden, das dichte Dach der Kiefern schluckte das Mondlicht. Verdammt, war das dunkel! Warum hatte sie sich bloß darauf eingelassen?, fragte sie sich wohl zum millionsten Male. Der Weg war so steil, dass ihre Beine zu schmerzen begannen. Mist! Mist! Mist!

Maddie hatte die Idee gehabt. Madison Leona Averill, Biancas beste Freundin. Nun, nach der heutigen Nacht würde sie den BFF-Status ganz sicher ändern, darauf konnte Maddie Gift nehmen.

Ein Zweig peitschte ihr ins Gesicht. Bianca schrie auf, dann schlug sie sich erschrocken die Hand vor den Mund. Hoffentlich hatte sie niemand gehört! Allein darum ging es bei dieser idiotischen Teenie-Versteckspiel-Version: Man durfte sich nicht entdecken lassen. Innerlich fluchend, blieb sie stehen und rieb sich die Wange. Ihre Wadenmuskeln brannten, ihre Lungen ebenfalls.

Sie hätte nicht herkommen sollen, so viel stand fest, aber jetzt war es zu spät für einen Rückzieher. Ein paar ihrer Mitschüler hatten den Geistesblitz gehabt, sich »zur Geisterstunde« auf dem kaum noch genutzten Wanderparkplatz bei dem alten Holzfällerlager zu treffen, ganz in der Nähe des großen Speichersees – Reservoir Point. Das Land gehörte den Longs. Biancas Stiefvater arbeitete auf der Long-Ranch als Verwalter, und das war das nächste Problem: Sollte Nate Santana herausbekommen, dass ihre Clique und sie das Grundstück unbefugt betreten hatten, um in den Wäldern Party zu machen und Verstecken zu spielen, würde er einen Wutanfall bekommen und sie vermutlich bis ans Ende ihres Lebens zu Hausarrest verdonnern – vorausgesetzt, ihre Mutter brachte sie nicht vorher um.

Leise schnaufend setzte sie sich wieder in Bewegung und erreichte endlich den Scheitelpunkt des Hügels. Von hier aus schlängelte sich der Weg in steilen Serpentinen durch die Bäume bergab. Bianca starrte angestrengt in den dunklen Wald vor ihr, dann warf sie einen Blick über die Schulter. Die Finsternis schien undurchdringlich. Plötzlich hatte sie das Gefühl, jemand sei hinter ihr. War ihr wirklich einer der Jungs auf diesen steilen Hügel gefolgt? Natürlich, Bianca, genau darum geht es bei diesem Spiel. Trotzdem war die Vorstellung, dass sich einer ihrer Mitschüler auf sie stürzte, beängstigend. Wer auf sie angesetzt war, wusste sie nicht. Außerdem: Vielleicht war gar kein Teenager hinter ihr, sondern ein Reh oder ein Elch. Oder ein Berglöwe. Ein Bär? Jetzt mach mal halblang. Bestimmt hoppelte bloß ein Kaninchen durchs Unterholz. Bei allem, was größer war, würde sie einen Herzinfarkt bekommen.

Reiß dich zusammen.

Sie schluckte mühsam, dann atmete sie tief durch. Der Wald schien auf sie zuzurücken, sie immer enger zu umschließen – Wände aus Blättern, Nadeln und Holz, die sie zu erdrücken drohten. Erneut warf sie einen Blick über die Schulter. Nichts als Schwärze, sosehr sie sich auch bemühte, etwas zu erkennen. Halt, blitzte dort nicht etwas auf? Augen hinter einem Baum, die sie beobachteten?

Vor Angst wurde ihr eiskalt. Bianca hielt den Atem an.

Keine Panik. Denk dran: Es ist nur ein Spiel. Du bist in diesen Wäldern aufgewachsen, es gibt keinen Grund zur Furcht.

Die Augen verschwanden, wie verschluckt von der unersättlichen Dunkelheit.

Gott sei Dank.

Knack.

Ein Zweig brach.

Bianca wirbelte herum.

Plötzlich stieg ihr ein moschusartiger Geruch in die Nase. Unangenehm. Leicht faulig. Angestrengt spähte sie in die Finsternis, doch sie sah nichts. Dafür hörte sie ein tiefes, warnendes Knurren. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf.

Was zum Teufel war das?

Sie nahm sich nicht die Zeit, eine Antwort auf ihre Frage zu finden, stattdessen stürzte sie los. So schnell sie konnte, rannte sie den steilen Hügel hinab Richtung Fluss. Sie rutschte aus, fing sich wieder, stürmte weiter.

Das Knurren wurde lauter. In der Ferne heulte ein Kojote.

Lauf! Schneller!

Ihr Atem ging keuchend, ihre Lungen brannten.

Weiter! Weiter! Weiter! Bleib nicht stehen!

Nach einer Weile gelangte sie zu zwei großen Felsen rechts und links des Wanderwegs. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zum Fluss und zum Parkplatz. Keuchend hielt sie an, lehnte sich gegen einen der beiden Gesteinsbrocken und lauschte. Nichts. Im Wald war es totenstill. Sogar der Kojote hatte aufgehört zu heulen.

Seltsam. Vor weniger als einer Stunde waren knapp zwanzig Teenager zu diesem albernen Spiel aufgebrochen. Wo steckten sie alle?

Ihre Wagen parkten auf dem mit Unkraut überwucherten Parkplatz, alte Klapperkisten, allesamt Pick-ups oder SUVs. Aus dem einzigen neuen Fahrzeug, dem BMW von Austin Reece, hatte laute Musik gewummert. Die Jugendlichen hatten in Grüppchen zusammengestanden und sich unterhalten, manche hatten Alkohol mitgebracht, einige rauchten. In der Luft hing der Geruch von Gras.

Ein paar der Mädchen aus der Clique kannte Bianca schon lange, zum Beispiel die rothaarige Simone Delaney aus ihrem Englischkurs oder Seneca Martinez aus dem Leichtathletik-Team. Bevor Biancas Mutter Nate Santana geheiratet und zu ihm in das neue Haus gezogen war, waren Seneca und sie Nachbarn gewesen – wenn man denn von Nachbarn sprechen konnte. Das kleine Blockhaus, in dem Bianca groß geworden war, lag am Ende einer langen Zufahrt mitten im Wald, und auch jetzt wohnte sie nicht weniger abgeschieden. Keine Ahnung, warum Mom außerhalb ihres Jobs als Detective der Mordkommission beim Büro des Sheriffs von Pinewood County so menschenscheu war. Wenn es nach Bianca ginge … Aber es ging ja nicht nach ihr. Nie. Auf alle Fälle waren Seneca und sie morgens gemeinsam mit dem Bus zur Schule gefahren, enge Freundinnen waren sie allerdings nicht. Und Lindsay Cronin? Sie war ganz nett, aber sie drehte ihr Fähnlein mit dem Wind. Man wusste nie, woran man bei ihr war. In der einen Minute war sie die beste Freundin, in der anderen ein erbitterter Feind. Seltsam.

Maddie war schon einmal bei einer von diesen nächtlichen Partys gewesen, und zwar aus einem ganz simplen Grund: Sie hoffte, bei Teej O’Hara landen zu können. Als hätte sie auch nur den Hauch einer Chance!

Ach, Maddie, sei doch mal realistisch. Alle wissen, dass Teej in Lara Haas verknallt ist. Und bei ihr muss selbst er hinten anstehen.

Lara war definitiv das »It-Girl« in Biancas Clique. Und Teej mit seinem mörderischen Lächeln, dem durchtrainierten, muskulösen Körper und seiner Schlagfertigkeit spielte zumindest in seiner abgehobenen Selbstwahrnehmung in einer ganz anderen Liga als Maddie. Bestimmt wusste Maddie, dass er sie nur ausnutzte, aber ihr schien das nichts auszumachen. Offenbar war ihr jedes Mittel recht – Hauptsache, Teej verliebte sich irgendwann in sie.

Was ganz bestimmt niemals passieren würde.

Als sie auf dem Parkplatz herumgestanden und darauf gewartet hatten, dass das Spiel endlich anfing, hatte Maddie kaum zugehört, was Bianca sagte, und das nicht nur, weil diese die Idee, sich nachts von ihren Mitschülern durch den Wald jagen zu lassen, total bescheuert fand.

»Ich würde lieber wieder nach Hause fahren«, hatte sie gedrängt. »Das bringt doch nichts.«

»Sei nicht so eine Spielverderberin.« Maddie leuchtete mit dem Handy in die Dunkelheit und blickte angestrengt nach links und rechts.

»Teej steht da drüben bei Austin«, flüsterte Bianca und deutete auf eine Gruppe Jungs, schwarze Silhouetten im Licht der Scheinwerfer von Reece’ silbernem BMW. Sie reichten etwas herum, was aussah wie eine Flasche. »Castillo und Devlin sind auch dabei«, fügte Bianca hinzu. »Was für eine Überraschung.« Die beiden hingen immer mit Teej zusammen, stets in der Hoffnung, etwas von seiner Popularität würde auf sie abfärben.

Endlich hatte Maddie Teej entdeckt. Ihre Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln.

»Du weißt schon, dass der Sinn des Spiels darin besteht, vor ihm wegzulaufen, oder?«, erinnerte Bianca ihre Freundin.

»Ja, aber nicht zu schnell.« Maddie sah Bianca mit hochgezogener Augenbraue an, die im selben Moment wusste, dass sie auf sich allein gestellt wäre. Und tatsächlich: Sobald Reece »Los!« rief und die Mädchen in den Wald rannten, verlor sie Maddie aus den Augen. Als hätte ihre Freundin, die sie angefleht hatte, sich aus dem Haus zu stehlen und sie zu dieser »Party« zu begleiten, von Anfang an vorgehabt, Bianca stehen zu lassen.

Bestimmt tat Maddie im Augenblick alles dafür, sich von Teej »fangen« zu lassen – wenn er sie nicht längst geschnappt hatte.

Aber das erklärte nicht, warum niemand von den anderen in der Nähe war. Auf dem Parkplatz hatte Kywin Bell die Spielregeln erklärt, ein Neunzehnjähriger mit durchdringenden blauen Augen und so kurz geschorenen blonden Haaren, dass sein Kopf fast aussah wie kahl rasiert. Der nicht sonderlich gesprächige, gut eins neunzig große Kywin hatte in seinem letzten Highschool-Jahr als herausragender Football-Spieler Berühmtheit erlangt.

Mittlerweile waren mehrere Monate vergangen, Kywin hatte seinen Abschluss gemacht und arbeitete nun im hiesigen Futtermittel- und Landwirtschaftshandel, doch am liebsten war er noch immer mit seinen ehemaligen Schulkameraden zusammen, auch wenn die jünger waren als er. Er behauptete, aufs College gehen zu wollen wie sein älterer Bruder, der noch größere sportliche Erfolge erzielt hatte als er – er warte lediglich darauf, das richtige Angebot für die College-Mannschaft zu bekommen. Was Unsinn war. Bianca wusste, dass die meisten Colleges ihre Bewerber längst ausgewählt hatten, die meisten Teams trainierten bereits für die anstehende Saison. Es war schließlich schon Ende August!

Entweder war Kywin ein Lügner, oder er machte sich selbst etwas vor – vielleicht auch beides. Austin Reece und er waren für das Einsammeln der Handys und Taschenlampen zuständig gewesen – das gehörte zu den Spielregeln. Eine brennende Zigarette im Mundwinkel, hatte Kywin den anderen erklärt, dass sich die Mädchen verstecken und die Jungs sie suchen mussten.

Austin lachte schnaubend. »Nein«, schaltete er sich überlegen ein, »die Jungs sind Jäger, und die Mädchen sind Beute. Die Beute muss versuchen, den Jägern zu entwischen oder sie in die Irre zu führen – sämtliche Tricks sind erlaubt.«

Die beiden Jungen, der hochgewachsene, breitschultrige Austin und der muskelbepackte Kywin, tauschten einen wissenden Blick aus, der bei Bianca sämtliche Alarmglocken schrillen ließ. Das Mädchen, das zuletzt geschnappt wurde, sei die große Gewinnerin, erklärte Reece, und Bianca fragte sich, wieso. Was für einen Preis würde die Gewinnerin erhalten? Diese Frage beantwortete Kywin, der Schwachkopf, nicht. Auch die anderen Jungs grinsten bloß vielsagend. Die meisten dieser Idioten kannte sie schon seit dem Kindergarten, einschließlich Teej, der sich mit seinem durchtrainierten Körper zu einem echten Hingucker entwickelt hatte.

Entsprechend hatte sich auch sein Ego entwickelt, was gar nicht gut war, und seine beiden Kumpel Rod Devlin und Joaquin Castillo waren auch nicht viel besser.

Keine Minute später waren die Mädchen in den Wald gestürmt. Die Jungs ließen ihnen einen kleinen Vorsprung, dann setzten sie ihnen nach. Bianca hörte sie brüllen und schreien und mit donnernden Schritten durchs Unterholz jagen. Dieses dämliche Versteckspiel war nervend und gleichzeitig Furcht einflößend. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich tatsächlich als Beute. Adrenalinbefeuert bahnte sie sich einen Weg durch eine Schonung mit Setzlingen. Sie würde sich nicht erwischen lassen, auf gar keinen Fall! Lautlos bewegte sie sich vorwärts, umrundete vorsichtig ein Gebüsch.

Plötzlich schoss eine fleischige, schweißnasse Hand aus der Dunkelheit auf sie zu und packte sie bei der Schulter. Bianca schrie auf und machte einen Satz zur Seite, dann erkannte sie Kywin Bell, diesen blöden Mistkerl.

»Hab ich dich, du kleine Cop-Tochter-Schlampe! Dir werd ich’s zeigen!«, knurrte er drohend. Was war das für ein Spiel? Kywins Stimme klang fies, gemein. Lüstern. Was hatte er mit ihr vor? Das wollte sie lieber nicht in Erfahrung bringen. Geschmeidig wie eine Katze entwand sich Bianca seinem Griff und raste davon.

Verdammt, ist das dunkel! Wo ist der Weg? Du darfst dich jetzt nicht verlaufen!

Endlich sah sie den Wanderweg vor sich, den sie als Kind oft mit ihrem Vater gegangen war.

»He! Warte!«, hörte sie Kywin hinter sich. »Ich hatte dich schon!«

Sie achtete nicht auf ihn. Sollte er ruhig toben. Er war bekannt dafür, dass seine Frustrationsschwelle auf einer Messlatte von eins bis zehn extrem weit unten hing, bei neun, würde sie sagen, wenn’s hochkam, bei acht. Ständig ging der Spinner in die Luft.

Wenn er noch einmal versuchte, sie zu schnappen, würde sie ihm in die Eier treten. Schade, dass sie keine Schuhe mit Stahlkappen trug, die wären weitaus besser gewesen als ihre rosa Nikes. Die noch dazu Reflektoren hatten. Sollte irgendwer mit einer Taschenlampe in ihre Richtung leuchten, wäre sie verraten, selbst Mondschein konnte gefährlich werden.

Daran hättest du vorher denken sollen! Jetzt ist es zu spät. Lauf!

Nach einer Weile blieb sie stehen, schnappte keuchend nach Luft und wartete darauf, dass sich ihr Herzschlag normalisierte. Sobald das Rauschen in ihren Ohren nachließ, lauschte sie auf Geräusche von den anderen, doch ringsherum war nichts als Stille. Keine Stimmen. Kein Kreischen von einem »erbeuteten« Mädchen, kein Gelächter. Keine Schritte. Kein einziges Geräusch außer ihrem eigenen Atmen.

Seltsam.

Irgendetwas stimmte nicht. Und zwar ganz und gar nicht.

Plötzlich schrie eine Eule. Eine Fledermaus flatterte durch die Baumkronen. Bianca fuhr zusammen.

Wo zum Teufel waren die anderen?

Langsam kam ihr der Verdacht, in eine Falle geraten zu sein. War dieses »Spiel« vielleicht nur ein mieser Scherz, um ihr, der Cop-Tochter, eins auszuwischen? Hatten die anderen sie in diesen Wald gelockt und machten nun woanders Party – ohne sie?

Toll.

Bianca fröstelte trotz der Wärme, die von dem nadelübersäten Waldboden aufstieg.

Schluss mit der Paranoia. So etwas würde Maddie niemals tun. Selbst wenn sie nicht ihre beste Freundin war. Oder? Außerdem bist du gar nicht wichtig genug, um von den anderen aufs Korn genommen zu werden. Wahrscheinlich merkt niemand außer Maddie, dass du überhaupt noch hier draußen bist.

Hm. Sie wusste nicht, was sie glauben sollte.

Eine düstere Stimme in ihr mahnte, dass sie durchaus das Ziel eines solchen bösen Scherzes sein könnte – sie war die Tochter einer Polizistin, weshalb ihr die anderen nicht selten mit Misstrauen begegneten. Hatte ihre Mom nicht vor ein paar Monaten Kywins alten Herrn verhaftet, weil der wieder einmal gewalttätig geworden war? Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte Franklin Bell seine Exfrau halb totgeschlagen. Genauso unbeherrscht wie Kywin. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.

Naheliegend, dass sein aufgeblasener Scheißkerl von Sohn es ihr heimzahlen wollte. Wie hatte er sie genannt? Eine »Cop-Tochter-Schlampe«? Mist. Sein Kumpel Reece war auch nicht besser. Als einziger Sohn eines reichen Anwalts war er clever, selbstgefällig und verschlagen – ein typischer Sonnyboy. Igitt.

Und dann waren da noch die anderen. Donald Justinson zum Beispiel, der Sohn der Bürgermeisterin, der gerade das College abgeschlossen hatte. Ein absolutes Weichei. Und erst Bryant Tophman, der Pastorensohn! Ein gottesfürchtiger Unschuldsengel – zumindest in den Augen seiner Familie, die sein wahres Gesicht nicht kannte. Er war vermutlich der Schlimmste der Bande, das, was seine Mutter »den Teufel in Menschengestalt« nennen würde. Der Anführer war er nicht – diese Ehre blieb Austin Reece vorbehalten –, aber Toph, wie sie ihn nannten, war ein Aufrührer, der die anderen stets zu allem möglichen Blödsinn anstiftete.

Wäre sie bloß nicht hergekommen!, dachte Bianca jetzt. Warum hatte sie sich von Maddie überreden lassen?

Weil du bescheuert bist.

Fröstelnd rieb sich Bianca die Arme und überlegte, zum Parkplatz zurückzukehren. Wovor fürchtete sie sich? Es waren doch bloß Jungs, Jungs, die sie aus der Schule kannte, auch wenn sie sie nicht mochte. Gerade als sie sich zum Gehen wandte, hörte sie es. Ein Rascheln, als wirbele der Wind trockene Blätter auf, oder als gleite eine Schlange durchs sonnenverbrannte Gras.

Ihr Herz setzte für einen Schlag aus.

Jetzt war alles wieder still.

Unheimlich still.

Bianca bekam eine Gänsehaut.

Angestrengt starrte sie ins Unterholz.

Nichts.

Kein Wind. Nicht einmal ein laues Lüftchen.

Was war das für ein Geräusch gewesen?

Nun hörte sie es erneut.

Es schien näher zu kommen.

Nein, ein Rascheln war das nicht, eher das Zurückschnellen von Zweigen und ein gedämpftes Pochen.

Schritte? Hatte jemand sie entdeckt und schlich sich an, um sie zu schnappen?

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung. Ein Schatten huschte vorbei. Ganz in der Nähe raschelte es. Eine Klapperschlange? Unsinn, die würde nicht solch einen Schatten werfen.

Biancas Haut kribbelte.

Ohne nachzudenken, rannte sie los. Hinter ihr schnaubte es laut, als würde sie von einem riesigen Tier verfolgt.

Was zum Teufel war das?

Lauf, Bianca! Sieh dich nicht um! Lauf!

Nach etwa hundert Metern warf sie doch einen Blick über die Schulter und sah ein gewaltiges Biest, das ihr auf den Hinterbeinen nachstellte. Das Mondlicht spiegelte sich in seinen Augen, die zu glühen schienen. Nein, das stimmte nicht. Es hatte nur ein Auge. Oder? Was um alles auf der Welt konnte das sein? Ein Mensch? Eine Bestie? Großer Gott, das Ding war am ganzen Körper behaart und mindestens zwei Meter groß! Ein tiefes Knurren drang aus seiner Kehle.

Bianca stieß einen entsetzten Schrei aus.

Das ist ein Scherz, Bianca, ein ganz übler Scherz! Lass dich nicht reinlegen!, riet die Stimme der Vernunft, doch sie hörte nicht darauf, nicht, wenn ihr ein Monster so dicht auf den Fersen war. Sämtliche Instinkte waren auf Flucht gepolt. Vor ihr rauschte Wasser. Der Fluss! Endlich! Sie rutschte den steilen Pfad hinunter, bemüht, nicht umzuknicken. Zweige schlugen ihr ins Gesicht, Spinnweben verfingen sich in ihren Haaren.

Auf einmal brach neben ihr das Ding aus dem Gebüsch.

Wieder hörte sie sein grimmiges Knurren. Ein Unheil verkündendes Grollen.

Schneller, lauf schneller!

Bianca schlug einen Haken und verschwand zwischen einer Gruppe eng stehender Tannen. Ihre Turnschuhspitze blieb an einer aus dem Boden ragenden Wurzel hängen. Ihr Knöchel knackte. Bianca geriet ins Straucheln, stürzte vornüber und verdrehte sich schmerzhaft das Bein.

»Aaahhh!« Mit voller Wucht prallte sie auf die harte, steinige Erde und schlug mit dem Kinn auf. Sie spürte, wie die Haut aufplatzte.

»Uff!« Sämtliche Luft wich aus ihren Lungen.

Steh auf! Du musst weglaufen, um die Schmerzen kannst du dich später kümmern!

Mit zusammengebissenen Zähnen rappelte sie sich hoch und humpelte weiter. Verdammt, tut das weh!

Wenn sie dem Fluss folgte, würde sie zum Speichersee gelangen. Von dort war es nicht allzu weit bis nach Hause, wo sie in ihr Bett kriechen und sich die Decke über den Kopf ziehen konnte.

Grrrr!

Ein weiteres Knurren, dicht hinter ihr. Ein strenger Geruch stieg ihr in die Nase. Die Bestie stank ekelhaft nach Moschus. Sie stürmte los, doch ihr Knöchel machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie knickte erneut um, ging zu Boden und rollte die Böschung zum Wasser hinab. Die Welt um sie herum drehte sich. Panisch versuchte sie, sich an niedrigen Ästen oder vorstehenden Wurzeln festzuklammern, ihre Fingernägel brachen ab, und sie schürfte sich die Handflächen auf. Ihr Handgelenk prallte gegen einen jungen Nadelbaum. »Auauau!«, schrie sie, dann »Iiiieee!«, als sie plötzlich über einen schmalen Uferstreifen in den Fluss rollte. Eiskaltes Wasser schwappte über sie.

Steh auf! Er ist immer noch hinter dir her! Bring dich in Sicherheit!

Benommen hob sie den Kopf. Alles drehte sich immer noch. Sie war klatschnass, an ihrem ganzen Körper gab es keine einzige Stelle, die nicht wehtat.

Los, Bianca, steh auf! Du kannst hier nicht liegen bleiben!

Mühsam rappelte sie sich hoch. Wo war das stinkende Monster mit dem glühenden Auge und dem behaarten Körper?

Weg. Gott sei Dank.

Lauf den Fluss entlang zum Speichersee und von dort aus nach Hause.

Aber was war mit den anderen? Maddie …

Zum Teufel mit den anderen, zum Teufel mit Maddie! Hau ab! Sofort!

Mühsam watete sie ein paar Schritte durchs knietiefe Wasser. Auf einmal stieg ihr der seltsame, faulige Geruch in die Nase. O nein, die Bestie ist hier!

Ihr Bein stieß gegen etwas Glitschiges. Ein Stock! Darauf konnte sie sich stützen, um ihren Knöchel zu schonen. Eilig griff sie danach. Nein, das war kein Stock. Dafür war das, was sie in der Hand hielt, zu weich. Beinahe schwabbelig, und innen drin mit etwas Hartem. Puh, dieser Gestank! Wie ein Skunk oder wie ein totes Tier …

Sie wagte kaum zu atmen.

In dem Moment teilten sich die Wolken, und silbernes Mondlicht fiel auf den Fluss.

Entsetzt starrte Bianca auf die Wasseroberfläche. Das weiße, aufgequollene Gesicht eines jungen Mädchens – eines toten jungen Mädchens – starrte ihr entgegen. Blondes Haar trieb um ihren verwesenden Kopf, die Lippen fehlten, anstelle der Augen gähnten schwarze Höhlen. Bianca erstarrte vor Entsetzen. Das Mädchen kam ihr bekannt vor. Destiny? Destiny Rose Montclaire? Gehörte diese entstellte Fratze tatsächlich ihrer Mitschülerin? Bianca ließ den Arm los, den sie in der Hand hielt, watete, so schnell es ihr schmerzender Knöchel zuließ, ans Ufer und stieß einen Schrei aus, der laut genug war, um sämtliche Toten in ganz Pinewood County zum Leben zu erwecken.

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Kapitel drei

Regan Pescoli riss die Augen auf. Im Zimmer war es dunkel. Santana schnarchte leise im Bett neben ihr, die blaue Anzeige des Digitalweckers zeigte 2.32 Uhr. Auf dem Nachttisch summte und vibrierte ihr Handy.

Na prima, dachte sie sarkastisch. Das war das Problem an ihrem Job als Detective beim Büro des Sheriffs von Pinewood County. Man musste jederzeit damit rechnen, nachts aus dem Schlaf gerissen zu werden. »Schlafus interruptus«, wie Deputy Pete Watershed zu sagen pflegte. Watershed war ein Blödmann, aber selbst Blödmänner konnten mitunter lustig sein.

Mit einer Hand tastete Regan nach ihrem Smartphone, doch statt es zu erwischen, fegte sie es vom Nachttisch. Mist. Mit einiger Mühe rutschte sie an den Bettrand, beugte sich vor und hob das verdammte Ding vom Fußboden auf.

»Pescoli«, meldete sie sich gähnend und setzte sich blinzelnd auf. Das Letzte, was sie sich in ihrem momentanen Zustand wünschte, war, aus dem Bett steigen, sich anziehen und zu einem Tatort fahren zu müssen. Genervt strich sie sich mit der freien Hand die Haare aus dem Gesicht und versuchte, die Reste eines Albtraums abzuschütteln, die ihr durch den Kopf geisterten.

»Hier spricht Rule«, sagte eine Männerstimme. Kayan Rule arbeitete als Deputy für das Department, ein großer, sportlicher Afroamerikaner, den man sich eher im Trikot eines Power Forwards beim Basketball vorstellen konnte als in einer Polizeiuniform. Er war ein guter Cop und ein wahrer Adonis mit einem mörderischen Lächeln. »Ich dachte, du möchtest vielleicht zum alten Holzfällerlager auf dem Gelände der Longs kommen.«

»Da hast du dich getäuscht«, gab sie etwas zu scharf zurück, was sie sofort bereute. »Was ist denn passiert?«, fragte sie freundlicher.

Neben ihr drehte sich Santana zu ihrer Seite um. Trotz der Dunkelheit konnte sie sein schwarzes Haar auf dem Kissen erkennen. Seufzend schlug ihr Ehemann die Augen auf und stützte sich auf einen Ellbogen, um sie fragend anzuschauen.

Regan ignorierte ihn.

»Deine Tochter ist bei mir«, fuhr Kayan fort.

»Meine Tochter?«, wiederholte sie ungläubig, schlagartig hellwach. Ihr Herzschlag beschleunigte. »Bianca?« Als hätte sie noch eine Tochter.

»Ja.«

»Was macht sie da? Was hat sie angestellt?« Vor Pescolis innerem Auge zogen die verschiedensten Bilder vorbei: Bianca, die man mit einem Jungen, Alkohol, Marihuana oder gleich allem zusammen erwischt hatte. Perfekt. Gerade jetzt, da Jeremy, ihr Ältester, sein Leben langsam in den Griff bekam, fing ihre Tochter an zu rebellieren. Genau das, was sie in ihrem Zustand brauchte.

»Sie ist über eine Leiche gestolpert. So hat sie sich zumindest ausgedrückt.«

»Wie bitte? Bianca hat eine Leiche entdeckt?« Das war absurd. Bianca übernachtete bei einer Freundin. Oder nicht?

Überrascht es dich wirklich, dass deine Tochter dich belügt? Komm schon, Regan, denk mal dran, wie du mit siebzehn warst!

»Bianca ist also mit einer Leiche beim ehemaligen Holzfällerlager der Longs«, fasste Pescoli stirnrunzelnd zusammen.

»Nicht ganz«, korrigierte Kayan. »Sie hat die Leiche in der Nähe von Reservoir Point gefunden.«

»Aha.« Pescoli versuchte zu begreifen, was der Deputy ihr mitteilte, versuchte, wie ein Cop zu denken, nicht wie eine Mutter. »Wer ist das Opfer?«

»Wissen wir noch nicht mit Bestimmtheit. Weiblich. Ein Teenager, vielleicht fünfzehn oder sechzehn. Kein Ausweis. Letzte Woche wurde ein Mädchen als vermisst gemeldet, am Freitag, um genau zu sein. Destiny Rose Montclaire. Wir sind gerade dabei, das zu überprüfen.«

Ein Teenager. Fast noch ein Kind. Pescolis Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »Kennt Bianca das Mädchen?«

»Sie meint ja, allerdings waren sie nicht befreundet. Das behaupten alle Kids, die hier auf dem Parkplatz sind, aber auch das überprüfen wir noch.«

»Wer ist denn noch mit Bianca auf dem Parkplatz am Holzfällerlager?«

»Eine Gruppe von Teenies. Sie haben eine Party gefeiert und eine Art Versteckspiel veranstaltet. Jungs jagen Mädchen.«

Pescoli schluckte. Das wurde ja immer schlimmer!

»Bei der Jagd ist deine Tochter über die Leiche gestolpert. Wir nehmen die Aussagen auf und sind dabei, die Spuren zu sichern, aber das kann noch eine Weile dauern. Wie ich schon sagte: Ich dachte, du würdest gern herkommen.«

»Ja, da hast du recht. Aber erst einmal möchte ich mit Bianca sprechen.«

»Okay, ich reiche dich weiter.«

Was um alles in der Welt hatte Bianca mitten in der Nacht am Reservoir Point zu suchen? Mit wem war sie da? Mit der Freundin, bei der sie angeblich übernachtete? Warum hatte sie ihre Mutter belogen? Dutzende Fragen schossen Pescoli durch den Kopf.

»Mom?«, fragte Bianca mit leiser, zittriger Stimme. Sie klang total verängstigt, ganz anders als die dickköpfige, rechthaberische Bianca, die Pescoli kannte.

Schlagartig war Pescolis Ärger verflogen. »Ja, Schatz, ich bin’s.« Sie rollte sich bereits aus dem Bett, was ihr bei ihrem unförmigen Körper so einige Schwierigkeiten bereitete. Fast wäre sie über ihre Hausschuhe gestolpert. Mit einem energischen Fußtritt beförderte sie die Dinger aus dem Weg und wich Cisco, ihrem gefleckten Terriermischling, aus, der aufsprang und um Pescolis Füße tollte. Obwohl er schon fast dreizehn war, führte sich Cisco immer noch auf wie ein Welpe.

»Hol mich ab, Mom, bitte«, flüsterte Bianca.

»Das mache ich.« Bemüht, nicht versehentlich auf den aufdringlichen Hund zu treten, tappte Pescoli ins angrenzende Bad und fragte: »Was ist passiert? Was hast du am Reservoir Point zu suchen? Ich dachte, du übernachtest bei Maddie.«

»Das tue ich doch auch. Ich meine, ich hab bei ihr übernachtet, aber sie wollte unbedingt zu dieser Party. Eine Gruppe von Kids ist hierhergefahren, um so ein blödes Spiel zu spielen. Hör mal, Mom, ich erkläre dir alles, wenn du hier bist.« Ihre Stimme schraubte sich eine Oktave in die Höhe, fast klang sie wieder wie das kleine Mädchen, das Pescoli großgezogen hatte. Was an und für sich nicht schlecht war.

»Hast du das tote Mädchen erkannt?«

»Erst nicht. Es war dunkel, und …« Sie räusperte sich. Pescoli merkte, wie sehr sie sich zusammenriss, um nicht in Tränen auszubrechen. »Die Polizisten haben ihr mit einer Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet, und ich glaube … ich glaube, es ist ein Mädchen von meiner Schule. Im ersten Highschool-Jahr war sie in meinem Englischkurs. Destiny. Hat Kayan dir das nicht gerade gesagt? Herrgott, Mom! Ich will jetzt nicht darüber sprechen!«

»Das wirst du aber müssen –«

»Ja, verdammt, ich weiß, aber bitte, bitte komm erst mal her!«

»Bin schon unterwegs. Bleib bei Kayan. Er ist ein guter Kerl. Ich bin in … ähm, ich bin so schnell da, wie ich kann.«

»Beeil dich!«

Pescoli drückte das Gespräch weg und knipste das Licht im Bad an. Gegen die plötzliche Helligkeit anblinzelnd, betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel, dann schweifte ihr Blick abwärts. Ach du liebe Güte! Nicht dass jetzt der richtige Zeitpunkt war, sich wegen ihres Äußeren Gedanken zu machen, aber sie sah aus wie ein gigantisches Fass. In der fünfunddreißigsten Schwangerschaftswoche hatte ihr Bauch ein gewaltiges Ausmaß angenommen. Etwas umständlich schlüpfte sie in ihre Umstandsklamotten – Jeans, T-Shirt und Jacke. Doch eigentlich war nicht der Bauch das Problem, dachte sie, als sie sich wieder aufrichtete, sondern ihr aufgedunsenes Gesicht, die kraftlosen rotblonden Locken und die tiefen dunklen Ringe unter den Augen. Groß und normalerweise sportlich, hatte sie nie zu den Frauen gehört, die während einer Schwangerschaft »strahlten«, weder mit neunzehn bei Jeremy noch drei Jahre später bei Bianca und schon gar nicht jetzt mit knapp vierzig.

Strahlen hin oder her, dachte sie, als sie aus dem Bad zurückkehrte und sich auf die Bank am Fußende des Bettes sinken ließ, um ihre Schuhe anzuziehen. Jetzt galt es, sich um Bianca zu kümmern. Cisco hatte sich winselnd in sein Körbchen verzogen. Sturgis, der schwarze Labrador, den sie im vergangenen Winter zu sich genommen hatte, lag zusammengerollt neben Santanas Husky Nikita in seinem eigenen Hundebett und verfolgte mit wachem Blick, die Schnauze auf den Rand gelegt, jede ihrer Bewegungen. Pescolis Herz zog sich schmerzhaft zusammen, wenn sie an seinen früheren Besitzer, Sheriff Dan Grayson, dachte. Sie vermisste Grayson. Er hatte das Department mit fester, fairer Hand und kühlem Kopf geleitet. Ganz anders als Hooper Blackwater, der gegenwärtige übereifrige grobschlächtige Angeber, der das Büro des Sheriffs von Pinewood County führte wie eine Militärbasis auf feindlichem Territorium.

»Was ist los?«, fragte Santana vom Bett aus.

»Bianca.« Geschafft. Pescoli war erfolgreich in einen Schuh geschlüpft. »Sie ist mit ein paar Jugendlichen beim Reservoir Point und hat ein totes Mädchen entdeckt. Näheres weiß ich noch nicht.« Sie quälte sich in den zweiten Schuh und schnitt eine Grimasse. Wie konnte man selbst an den Füßen zunehmen? Mühsam rappelte sie sich hoch und trat an den Kleiderschrank, um ihre Waffe aus dem Safe zu nehmen. »Könnte eine Weile dauern.«

»Ist das okay für dich?«, fragte er, plötzlich hellwach.

»So etwas ist nie okay. Was für eine Frage! Ein Mädchen ist tot!« Gereizt vergewisserte sie sich, dass die Waffe geladen war, dann steckte sie sie in ihr Schulterholster. »Schon gar nicht, wenn ausgerechnet meine Tochter die Leiche entdeckt hat!«

»Du würdest doch sowieso hinfahren, auch wenn Bianca nicht dort wäre.«

»Das ist mein Job«, erinnerte sie ihn.

»Ja, das weiß ich.« Er schwang seine nackten Beine aus dem Bett. Santana schlief vorzugsweise unbekleidet. Was ihr für gewöhnlich sehr gut gefiel. Jetzt allerdings würde sie sich nicht von seinem Prachtkörper ablenken lassen. »Du solltest längst in Mutterschutz sein.«

»Ja, Mom.«

Santanas Augenbraue wanderte in die Höhe, dann verzog er die Lippen zu dem schiefen Grinsen, bei dem sie immer weich wurde, und griff hinter sich, um ein Kissen nach ihr zu werfen.

»Daneben!«, rief sie und watschelte aus dem Schlafzimmer.

»Das hab ich extra gemacht. Auf Schwangere darf man nicht zielen«, kam es träge zurück.

»Ich warne dich: Ich bin bewaffnet!«

Schluss mit den Plänkeleien, du musst zu deiner Tochter, die in weiß Gott was verstrickt ist, rief sie sich zur Ordnung und tappte die Treppe hinunter.

»Warte, ich komme mit!«, rief Santana hinter ihr her.

Sie hörte seine Schritte auf dem Holzfußboden.

»Nein. Offizielle Polizeiangelegenheit.«

»In die die Tochter meiner schwangeren Ehefrau involviert ist.«

»Das ist mir klar!« Wieso führten sie dieses Gespräch? Santana wusste, wie sie zu ihrer Arbeit stand. Sie war mit Leib und Seele Detective. Ein guter Detective.

Regan durchquerte die Küche, nahm Schlüssel und Brieftasche von dem kleinen Tisch neben der Hintertür zur Garage und griff gerade nach dem Knauf, als sie seine Stiefelabsätze auf den Bodendielen über sich vernahm. Na schön, sollte er mitkommen, wenn er unbedingt wollte. Aber er musste seinen eigenen Wagen nehmen.

Sie betrat die Garage und drückte auf die Fernbedienung für das Garagentor. Die Lichter flammten auf. Zwei Sekunden später saß sie im Wagen und rollte rückwärts auf die Auffahrt, wo sie wendete und aufs Gas trat. Im Rückspiegel sah sie Santana, der in seinen Pick-up stieg. Ohne auf ihn zu warten, fuhr sie die lange Auffahrt zur Straße entlang.

Ihr Haus war nagelneu, erbaut auf dem Grundstück, das Santana von Brady Long, seinem Boss, geerbt hatte. Santana hatte jahrelang für die vermögende Familie Long als Pferdetrainer und Ranch-Verwalter gearbeitet. Nach dem Tod des alten Long führte Santana den Ranch-Betrieb weiter. Ursprünglich waren die Longs im Bergbau tätig gewesen, dann hatten sie auf Holz- und Weidewirtschaft umgesattelt. Auch das Land beim Reservoir Point gehörte ihnen.

Und dort wartete Bianca auf sie.

Pescoli drückte das Gaspedal durch.

 

Ihre Mom traf als Erste ein. Keine fünfzehn Minuten, nachdem ihr schwarzer Kollege sie angerufen hatte, rollte ihr Jeep auf den Parkplatz. Noch nie im Leben war Bianca so froh gewesen, ihre Mutter zu sehen, obwohl das wirklich peinlich war, denn ihre Mom war nicht nur ein Cop, sondern noch dazu schwanger. Und das in ihrem Alter! Ein Baby mit fast vierzig, da war man doch schon uralt! Keine einzige ihrer Freundinnen hatte eine Mutter, die schwanger war, genauso wenig wie eine von ihnen bei der Polizei arbeitete. Noch dazu bei der Mordkommission. Dieses Kreuz hatte allein Bianca zu tragen.

Trotzdem zitterten ihr vor Erleichterung die Knie, als sie ihre Mom aus dem Jeep steigen und mit großen Schritten den Parkplatz überqueren sah.

»He. Wie geht es dir?« Ihre Mutter schloss sie in die Arme, und Bianca brach in Tränen aus.

»Schrecklich«, schluchzte die. Sie wusste, dass sie ihre Gefühle lieber unter Kontrolle halten sollte, dass sie sich anhörte wie die Drama-Queen, für die ihr Bruder Jeremy sie hielt, aber das war ihr im Augenblick egal. Sie hatte Angst. Furchtbare Angst. Konnte nicht fassen, was sie gesehen hatte: das tote Mädchen, das Monster, den grässlichen Kywin Bell.

»Alles wird wieder gut.«

Bianca schüttelte den Kopf. Gar nichts würde wieder gut. Nicht nach dem, was sie erlebt hatte.

»Erzähl mir, was passiert ist«, bat ihre Mutter leise und warf dem Deputy einen Blick zu. »Gib uns eine Minute, Rule. Wir sind in meinem Jeep.«

Im selben Augenblick näherte sich ein weiteres Fahrzeug und hielt an. Bianca schnappte nach Luft. Santanas Pick-up. Großartig. Der neue Mann ihrer Mutter war da. Stiefdaddy. Er war kein schlechter Kerl, aber wer brauchte schon einen Stiefvater?

Bianca ganz bestimmt nicht.

Schon gar nicht jetzt.

Die ganze Situation kam ihr surreal vor: Überall parkten Polizeiwagen mit rot und blau blinkenden Lichtbalken, die den Parkplatz in zuckendes Stroboskoplicht tauchten. Die Kids, die hergekommen waren, um zu feiern, saßen dicht zusammen, beaufsichtigt von Deputys, und warteten darauf, von ihren Eltern abgeholt zu werden.

Als sie die Leiche entdeckt hatte, hatte Bianca einen markerschütternden Schrei ausgestoßen und war die Uferböschung hinaufgestürmt, wo sie beinahe mit Teejs Freund Rod Devlin zusammengeprallt wäre.

»Warum hast du so geschrien?«, fragte er.

»Sie ist tot!«, kreischte Bianca.

»Was? Wer?«

»Weiß ich doch nicht!« Sie deutete hektisch zum Flussufer.

Er folgte ihrem Blick und entdeckte die grotesk aussehende Tote im flachen Wasser. »Heilige Scheiße! Eine Leiche?« Schlagartig wurde er selbst leichenblass. Die Augen weit aufgerissen, fragte er: »Ist das eine Leiche, Bianca? Sag schon!«

»Ja«, stammelte sie.

Teejs Freund machte ein paar Schritte zurück. Bianca packte ihn am Arm. »Warte! Das ist noch nicht alles. Hier draußen ist irgendetwas – keine Ahnung, was genau, aber es ist echt groß. Behaart. Es hat mich gejagt. Ein … ein Monster!«

Rod sah sich panisch um. Auf einmal hörten sie in der Nähe Stimmen. Gott sei Dank, die anderen!

»Du bist doch verrückt, Bianca!«, stieß Rod hervor, aber er sah so aus, als wolle er jeden Augenblick die Flucht ergreifen.

»Bin ich nicht! Das Ding hat mich gejagt. Es hat ausgesehen wie … Bigfoot. Außerdem hat es grässlich gestunken. Faulig. O Gott!« Bianca stand kurz davor zu hyperventilieren. »Wir müssen Hilfe holen!«

Rod warf einen weiteren entsetzten Blick auf den Fluss. »Zu spät!«

»Ich weiß, aber wir müssen die Polizei informieren. Du … du hast doch ein Handy, oder? Rod? Du hast dein Handy bestimmt behalten. Bitte ruf die Neun-eins-eins!«, flehte sie.

»Was?« Er schüttelte vehement den Kopf, seine braunen Haare flogen um sein Gesicht. »Auf keinen Fall! Ich melde doch keine Leiche! Und schon gar nicht Bigfoot. Hast du noch alle Tassen im Schrank? Nein, nein, ich werde die Polizei nicht anrufen, ganz bestimmt nicht.«

»Dann ruf halt einen Rettungswagen!«