Dunkle Gemäuer - Julia Bernard - E-Book

Dunkle Gemäuer E-Book

Julia Bernard

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Beschreibung

In einem alten Siechenhaus lauert der Tod

Nachdem die Kamerafrau einer Horrorfilm-Produktion unter mysteriösen Umständen spurlos verschwunden ist, werden die Privatermittler Suzanne Griesbaum und Henry Marbach vom Regisseur auf den Fall angesetzt. Wenig später taucht die Kamerafrau am Set im Willstätter Horrorhaus wieder auf, allerdings als Leiche.

Hat sich die Tote wirklich bei einem Unfall auf der steilen Kellertreppe das Genick gebrochen, wie Staatsanwalt Paul vermutet? Suzanne und Henry sind nicht davon überzeugt und schließen auch einen Mord nicht aus. Als dann auch noch einer der Hauptdarsteller des Films aus dem Horrorhaus verschwindet, scheint sich der Verdacht des badisch-schwäbischen Duos zu bestätigen: Hier ist ein Verbrecher am Werk!

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Seitenzahl: 518

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31

Über dieses Buch

Nachdem die Kamerafrau einer Horrorfilm-Produktion unter mysteriösen Umständen spurlos verschwunden ist, werden die Privatermittler Suzanne Griesbaum und Henry Marbach vom Regisseur auf den Fall angesetzt. Wenig später taucht die Kamerafrau am Set im Willstätter Horrorhaus wieder auf, allerdings als Leiche. Hat sich die Tote wirklich bei einem Unfall auf der steilen Kellertreppe das Genick gebrochen, wie Staatsanwalt Paul vermutet? Suzanne und Henry sind nicht davon überzeugt und schließen auch einen Mord nicht aus. Als dann auch noch einer der Hauptdarsteller des Films aus dem Horrorhaus verschwindet, scheint sich ihr Verdacht zu bestätigen, dass hier ein Verbrecher am Werk ist.

Über die Autorin

Julia Bernard ist das Pseudonym der Autorin Julia Hofelich. Sie studierte zunächst Germanistik und Komparatistik, bevor sie zu Jura wechselte. Nach ihrem Referendariat arbeitete sie als Rechtsanwältin und absolvierte ein Fernstudium zur Drehbuchautorin. Julia Hofelich ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Titelmotive: © Mauritius Images: Panther Media GmbH/Alamy | Wolfgang Weinhäupl | Roland T. Frank | Pixtal | © www.buersosued.de

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-1759-5

luebbe.de

lesejury.de

Prolog

Er würde diesen Tag nicht überleben. Aber Tod und Hölle schreckten ihn nicht, genauso wenig wie die »ehrbaren Bürger«, die in diesem Moment mit Stangen und Mistgabeln bewaffnet auf das Siechenhaus zustürmten. Ein stinkender, geifernder Mob. Der Lärm, den sie verursachten, war ohrenbetäubend. Hildebrandt starrte durch das offene Fenster im oberen Stock auf das Gewühle hinunter. Seine Lippen verzogen sich zu einem heimtückischen Lächeln und gaben den Blick auf braune, verfaulte Zähne frei. »Das hier ist mein Haus!«, brüllte er der Menge zu. »Und es wird immer mein Haus bleiben!«

Der Mob ignorierte ihn. Die ersten Häscher waren an der maroden Haustür angekommen; sie würde dem Ansturm nicht lange standhalten.

Hildebrandt entzündete seine Lampe. Mit leiser, beschwörender Stimme sprach er in die grünliche Flamme: »Jeden, der mein Haus gegen meinen Willen betritt, werde ich töten. Heute und bis in alle Ewigkeit.«

Im Licht ihrer Taschenlampe blätterte die Frau gespannt das Notizbuch des Regisseurs weiter durch, das sie vor ein paar Minuten im nächtlich verlassenen Filmcateringzelt gefunden hatte. Zu ihrem großen Bedauern befanden sich bisher noch keine Tagebucheinträge oder Geheimnisse darin, sondern lediglich noch mehr Bemerkungen und kurze Texte zu Hildebrandt, dem Massenmörder. Auf seiner Geschichte basierte der Horrorfilm »Dunkle Gemäuer«, der hier gedreht wurde. Ganz so realitätsnah, wie der Regisseur das gerne darstellte, war die Verfilmung allerdings nicht, das wurde der Frau nach ein paar Seiten klar. Da waren einige Leichen hinzugefügt worden, zum Beispiel die, die auf dem Flammkuchenblech gebacken wurde. Sie hatte sich sowas die ganze Zeit schon gedacht. Mit einem schiefen Grinsen sah sie auf. Es war mittlerweile ziemlich spät. Hoffentlich würde die Nachricht bald kommen, damit sie loslegen konnte. Sie hatte nicht vor, länger als nötig hierzubleiben. Bald, sehr bald würde sie ihr Ziel erreicht haben. Sie klappte das Notizbuch entschlossen zu.

Ein Zeitungsartikel fiel heraus, sie hob ihn auf und überflog ihn. Unter der Überschrift Kann man dem Bösen entkommen? fand sich eine Zusammenfassung des historischen Kriminalfalls um den Serienmörder Gottlieb Arnoldus Hildebrandt, der im Jahre 1421 drüben im Horrorhaus gewütet haben sollte und am Ende grausam gelyncht worden war. Es folgte ein Bericht über die Skelette mit gebrochenem Genick, die man im Laufe der Jahre im Keller des Gebäudes ausgegraben hatte, und über die mumifizierte Leiche aus der Mauer, die den Strick, mit dem sie erhängt worden war, noch um den Hals liegen gehabt hatte. Der Artikel endete mit den Worten: Geht Hildebrandt also bis heute um und überfällt seine unschuldigen Opfer? Wer das Willstätter Horrorhaus an einem dunklen Wintertag besichtigt, könnte das fast glauben.

Die Frau schüttelte den Kopf. Das Haus da drüben war nichts weiter als ein uraltes Gebäude mit knarrenden Dielen. Wenn dort irgendetwas umging, dann höchstens ein paar Spinnen. Sie steckte das Notizbuch in die Innentasche ihres Blazers, sie würde es später in einer Mülltonne irgendwo auf einem Autobahnrastplatz entsorgen. Eine kleine, letzte Rache. Der Regisseur war selbst schuld, so herablassend, wie er sie alle behandelte. In dem Funkgerät, das neben ihr auf dem Stehtisch lag, knackte es plötzlich. Die erlösende Nachricht kam. Perfekt! Alles lief nach Plan.

Sie warf einen Blick aus dem Cateringzelt. Alles ruhig und verlassen. Dann ging sie leise zum Horrorhaus hinüber, das sich schwarz und einsam gegen den Nachthimmel erhob.

Die dunkle Gestalt mit dem Strick in den behandschuhten Händen, die sich lautlos aus dem Schatten löste und ihr folgte, bemerkte sie nicht.

Kapitel 1

Nachdem die Autoscheinwerfer erloschen waren, war es auf dem Parkplatz stockfinster. Privatermittlerin Suzanne Griesbaum stieg aus ihrem Renault aus. Der Fall der verschwundenen Kamerafrau, der sie hergeführt hatte, war eindeutig einer der seltsamsten Ermittlungsaufträge, die sie je übernommen hatte. Aber auch hier musste es logische Erklärungen für all die scheinbar unerklärlichen Vorkommnisse geben, und die würde sie finden. Sie schloss ihre Jacke. Es war kalt, und der Novemberwind heulte gespenstisch. Am dunklen Himmel zogen Wolkenfetzen dahin.

Zügig ging sie zu dem alten, mit kahlen Weinranken bewachsenen Fachwerkhaus hinüber. An der Eingangstür schwankte eine Glühbirne an einem Kabel und ließ zwei verkrüppelte Büsche Monsterschatten werfen.

Suzanne schaute an der Fassade hoch. Hier, im Willstätter Horrorhaus, das im Moment als Kulisse für den Horrorfilm »Dunkle Gemäuer« diente, war vor drei Tagen die Kamerafrau Mona Laurent auf geheimnisvolle Art und Weise mitten in den Dreharbeiten spurlos verschwunden. Da seit dem Verschwinden niemand mehr etwas von ihr gehört hatte, hatte die Produktionsfirma Suzanne vorgestern damit beauftragt, die Frau wiederzufinden.

Kurz vor ihrem Verschwinden war die Kamerafrau von mehreren Leuten in einem der Zimmer im oberen Stock gesehen worden, dann war sie plötzlich weg gewesen, als habe sie sich in Luft aufgelöst. Wenn Suzanne den panischen Bericht des Regisseurs Danilo Petrow am Telefon richtig verstanden hatte, konnte die Frau das Haus unmöglich ungesehen verlassen haben. Im Haus war sie allerdings auch nicht mehr gewesen, denn sämtliche anwesende Filmmitarbeiter hatten erfolglos nach ihr gesucht. Die Sache schien unerklärlich, und Petrow hatte von einem »übernatürlichen Phänomen« gesprochen. Bislang war es Suzanne noch nicht gelungen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, aber das würde sie sicherlich noch hinkriegen.

Ihre Schritte knirschten auf dem kalten Boden, als sie an dem Gebäude entlangging.

Der Regisseur, ein schlanker, kleiner, etwa sechzigjähriger Mann mit einer dicken schwarzen Intellektuellenbrille und einem Vollbart, wartete bereits an der Hausecke auf sie. Er wirkte angespannt. »Danke, dass Sie sofort nach meinem Anruf vorhin vorbeigekommen sind, obwohl es Sonntagabend ist«, sprudelte er los, nachdem sie sich die Hand gegeben hatten. »Aber ich mache mir große Sorgen um Mona. Als ich jetzt noch die Zeichnung gesehen habe, bin ich einfach panisch geworden.« Er atmete gepresst aus. »Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«

»Ich helfe Ihnen gerne«, sagte Suzanne und folgte dem Regisseur ums Haus herum. »Außerdem war ich gerade auf dem Heimweg von München. Über Willstätt zu fahren war nur ein winziger Umweg.«

Sie verspürte einen schmerzlichen Stich im Magen, weil sie wieder an das hinter ihr liegende Wochenende denken musste. Bis gegen siebzehn Uhr war sie in der bayrischen Hauptstadt bei einem Musikwettbewerb gewesen, um ihre Lieblingsband Dieselskandal und vor allem deren Sänger Liam zu unterstützen, für den sie seit Langem von ganzem Herzen schwärmte. Die Death Metal Band hatte eine geniale Show abgezogen, und »Scotch and Skeletons« und »My Bitch drives an old Banger« waren Hammersongs, aber trotzdem war Dieselskandal auf dem letzten Platz gelandet. Auf dem letzten. Eine schreiende Ungerechtigkeit. Keine Ahnung hatten diese Juroren von guter Musik. Liam, den sie seit Kurzem nicht nur von der Bühne, sondern auch persönlich kannte, war so geknickt gewesen, dass sie es kaum hatte ertragen können. Sie hatte daher all ihren Mut zusammengenommen und ihn gefragt, ob er nicht Lust hätte, sich ein paar Tage bei ihr auf dem Hof zu erholen, wo er schon einmal kurze Zeit gewohnt hatte. Und wundervollerweise war er, spontan wie er war, tatsächlich in ihr Auto gestiegen und mitgefahren. Sein Manager Achim, ein Anwalt, war unerwarteterweise auch gleich noch mitgekommen, weil er Liam in seiner gedrückten Stimmung nicht hatte alleinlassen wollen.

»Hier«, sagte Petrow in diesem Moment, blieb stehen und richtete den Strahl seiner Handytaschenlampe auf einen offenbar von der Filmcrew angebrachten Pappfensterladen im Untergeschoss. Dort hatte jemand ein großes, krakeliges Strichmännchen gemalt, dessen Kopf wie eine abgeknickte Blüte nach unten hing. Petrow zeigte auf den Hals des Männchens und sagte mit zitternder Stimme: »Für mich sieht das wie ein Genickbruch aus.«

»Glauben Sie nicht, dass sich hier nur ein Kind verewigt hat? Eines, das nicht sonderlich gut malen konnte, und dann ist ihm der Hals krumm geraten?«, versuchte Suzanne, den Regisseur zu beruhigen.

»Ein Kind?« Petrows Stimme überschlug sich fast. »Niemals.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ich kann nur hoffen, dass diese abscheuliche Zeichnung nicht Mona darstellen soll.«

»Bisher gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass Ihre Kamerafrau tot ist, und schon gar nicht, dass ihr das Genick gebrochen wurde. Auch die Polizei geht nicht von einem Verbrechen aus«, sagte Suzanne.

»Mona wurde hier im Willstätter Horrorhaus das letzte Mal gesehen. Jetzt taucht hier ein Strichmännchen mit gebrochenem Genick auf«, widersprach Petrow. »Das kann doch kein Zufall sein. Kennen Sie die Geschichte des Gebäudes nicht?«

»Ich weiß, dass sich einige düstere Legenden …«

»Das sind keine düsteren Legenden, sondern wahre Begebenheiten.« Er tippte mit dem Finger mehrfach auf den Hals des Männchens. »Immer wieder wurden im Laufe der Jahre Menschen im Horrorhaus ermordet, und alle Ermordeten hatten ein gebrochenes Genick! Das sind Fakten. Glauben Sie mir, ich habe das Drehbuch zu diesem Film selbst geschrieben und mich wirklich ausführlich mit sämtlichen Forschungsergebnissen und historischen Quellen befasst.«

Er räusperte sich. »Das Haus ist uralt und diente viele Jahre als Siechenhaus, in dem man ansteckende Kranke isoliert hat, wussten Sie das? Die Mittelalterversion von Quarantäne. Nur dass damals so gut wie niemand das Haus lebend wieder verlassen hat.« Erneut tippte er auf den Hals des Männchens. »Und dann haben die hier zu allem Unglück auch noch Gottlieb Arnoldus Hildebrandt als Hausmeister und Nachtwächter eingestellt. Ein Monster. So hat das Morden angefangen. Schon in der ersten Nacht fiel er ohne Vorwarnung die Vorsteherin des Hauses an, die Siechenmutter Christina, und brach ihr das Genick. Einfach so. Er hatte Spaß am Töten, und in den folgenden Nächten hat er neben Christina noch mindestens fünf dahinsiechende Kranke und einen Müller getötet. Durch Genickbruch. Als er schließlich erwischt wurde, hat er behauptet, er habe die Leute ›seinem Haus‹ opfern müssen, um es gnädig zu stimmen. Können Sie sich das vorstellen? Am Ende wurde Hildebrandt von einem wütenden Mob die Kellertreppe hinabgestoßen, wobei er – seltsamerweise ebenfalls durch Genickbruch – gestorben ist.«

Petrow stieß pfeifend Luft aus. »Aber das Morden hat damit nicht aufgehört. Hildebrandt wurde zum Wiedergänger oder zum Geist, hier unterscheiden sich die Quellen etwas. Nur eines ist sicher: Bis heute kommen immer wieder Menschen im Horrorhaus um.« Er zeigte auf sein Genick. »Und das sind keine Legenden. Man hat die Skelette gefunden. Im Boden des Kellers und eingemauert in Zwischenwänden. Vielleicht liegt Mona jetzt auch schon da unten verscharrt.«

»Gibt es dafür irgendeinen konkreten Hinweis?«, fragte Suzanne. Nun wurde ihr doch etwas mulmig zumute.

»Das glücklicherweise nicht, aber vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich eine Zeichnung mit einem abgeknickten Hals in diesem Zusammenhang für so beunruhigend halte.«

Suzanne strich ihre schulterlangen blonden Haare hinter die Ohren. An Übernatürliches glaubte sie zwar nicht, aber es war selbstverständlich vorstellbar, dass das Strichmännchen als Drohung gemeint war, so kindlich es auch aussah. »Hat Ihre Kamerafrau Feinde?«

Petrow schien zu überlegen. Schließlich sagte er: »Hier am Set nicht, nein. Kleine Querelen vielleicht, aber nichts Gravierendes.« Er schürzte die Lippen. »Und über ihr Privatleben weiß ich so gut wie nichts. Aber sie ist ein ruhiger und zuverlässiger Mensch. Wen sollte sie so verärgert haben?« Er knetete seine Hände. »Wenn ich ehrlich bin, gibt es nur einen, den ich mir da vorstellen … Halten Sie mich bitte nicht für verrückt, aber ich glaube mittlerweile, dass diese Dreharbeiten verflucht sind. Es hört sich absurd an, aber was, wenn Hildebrandt etwas dagegen hat, dass wir seine Geschichte verfilmen, und gerade mit allen Mitteln versucht, uns aus seinem Haus zu vertreiben? Wenn er deswegen Mona etwas angetan hat?« Er zog seinen eleganten Mantel enger um sich.

»Hildebrandt ist seit Jahrhunderten tot. Ich glaube nicht, dass er etwas mit der Sache zu tun hat.« Suzanne machte mit dem Handy Fotos von dem Strichmännchen. »Aber es wäre natürlich schon möglich, dass jemand, und zwar jemand aus Fleisch und Blut, etwas gegen Ihren Film hat. Erst die ganzen Requisiten, die verschwunden sind. Jetzt auch noch die Kamerafrau. Und dann taucht dieses Strichmännchen auf. Vielleicht hängt das alles zusammen?«

Petrow schaute auf den Boden und nickte langsam. Suzanne steckte ihr Handy wieder ein. Seit Beginn der Dreharbeiten geschahen tatsächlich seltsame Dinge am Set. Angefangen hatte es damit, dass immer wieder Kamerazubehör und Requisiten auf merkwürdige Weise abhandengekommen waren. Als ob wirklich jemand versuchte, die Dreharbeiten zu behindern. Ihre Detektei bearbeitete auch diese Vorkommnisse, bislang ohne Ergebnis. War es vorstellbar, dass der Requisitendieb jetzt auch noch dafür gesorgt hatte, dass ein Mensch verschwand? Hatte er die Kamerafrau entführt, um dem Film zu schaden?

»Haben Sie eine Idee, wer außer diesem Geist etwas gegen Ihren Film haben könnte?«, hakte sie nach.

Petrow wand sich sichtlich. Dann sagte er so schnell, dass er sich fast verhaspelte: »Nein, auf gar keinen Fall. Wer sollte denn außer Hildebrandt etwas gegen meinen Film haben?«

Sie hatte das Gefühl, dass er ihr gerade nicht die Wahrheit gesagt hatte. »Sind Sie sicher?«

Er nestelte an seinem Mantel herum. »Ganz sicher. Es ist eisig hier draußen. Wollen wir nicht endlich ins Haus gehen? Dann zeige ich Ihnen noch die Stelle, an der unsere Kamerafrau verschwunden ist. Alles andere können wir ja morgen klären.«

Sie stimmte zu, auch ihr war trotz ihrer Daunenjacke ziemlich kalt. Gemeinsam gingen sie zur Tür. Der Regisseur zog einen altmodischen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloss. Die Tür sprang mit einem leisen Quietschen auf.

»Ich bin ungern bei Nacht hier«, gestand er, drückte einen Lichtschalter und machte einen zögerlichen Schritt über die Schwelle. Alles an ihm schien sich gegen das Haus zu sträuben. Wie bei einer Katze, die gezwungen wird, ins Wasser zu springen.

»Aber spielen viele Szenen in einem Horrorfilm nicht bei Nacht?« Neugierig folgte Suzanne ihm in das berüchtigte Willstätter Horrorhaus. Abgestandene Luft und ein schwacher Schimmelgeruch schlug ihr entgegen. Sie fand das alte Haus mit dem Lehmboden und den weißen, abgenutzten Wänden nicht sonderlich gruselig.

»Das ist richtig, so kann man die Urangst der Zuschauer vor der Dunkelheit nutzen, um den Film für sie noch bedrohlicher zu machen. Blöd nur, dass eben nicht nur die Zuschauer diese Urangst haben. Die Szenen in den Rheinauen sind kein Problem für mich, aber hier … Na ja, es heißt, Hildebrandt gehe nur nachts um …« Petrow lächelte peinlich berührt. »Im Haus drehen wir zur Sicherheit jedenfalls nur am Tag. Mit lichtundurchlässigen Pappfensterläden. Sie haben ja gerade einen gesehen.« Während er erzählte, stiegen sie eine knarzende Holztreppe ins Obergeschoss hoch. Suzanne kam ganz schön außer Atem und schwor sich, endlich ein paar Kilo abzunehmen und mehr Sport zu treiben. Nicht, dass sie dick war, aber ihre Jeans saß in letzter Zeit schon ein bisschen stramm an den Oberschenkeln und am Bauch. Abgesehen davon war einunddreißig eindeutig zu jung, um beim Treppensteigen zu keuchen.

Oben angekommen, gingen sie den Flur bis fast zum anderen Ende entlang. Schließlich blieb Petrow stehen und zeigte auf einen mit einer Kette und einem großen Durchgang-verboten-Schild gesperrten Treppenabgang zu seiner Rechten. »Das hier ist übrigens die ehemalige Bedienstetenstiege. Hier ist Hildebrandt immer hochgeschlichen, wenn die Mordlust ihn überkam.«

Suzanne schaute hinunter. Die Wendeltreppe war baufällig und führte in mit schwarzen Schatten gefüllten Windungen zurück ins Untergeschoss.

Gegenüber der Wendeltreppe befand sich eine schmale Tür, die der Regisseur nun aufstieß. Die beiden betraten ein ärmliches kleines Zimmer mit grauen Wänden. Der Wind jammerte im gemauerten Kamin und rüttelte an den auch hier angebrachten Pappfensterläden. Knarrend ging die Tür wie von Geisterhand wieder zu, und für eine Sekunde war es stockfinster, bis Petrow, der seinem lauten Keuchen zufolge ziemlich panisch wurde, den Lichtschalter gefunden und gedrückt hatte. »Genau das meine ich. Das sind diese Dinge, die Hildebrandt tut.« Er holte immer noch leicht keuchend Luft, ging zwei Schritte vor und blieb neben dem einzigen Möbelstück im Raum stehen, einer schmalen Holzpritsche. »Hier im ehemaligen Schlafzimmer der ermordeten Siechenmutter wurde Mona das letzte Mal gesehen. Donnerstagabend gegen 18.00 Uhr.« Seine Stimme klang angespannt.

»Wer hat sie hier gesehen?«

»Ihr Mann. Er wollte sie abholen. Er stand draußen im Hof und war überzeugt davon, sie durchs Fenster in diesem Raum ausgemacht zu haben. Beim Befestigen eines Pappfensterladens. Unser Hauptdarsteller, Benni Koch, hat sie wenige Minuten vor ihrem Verschwinden ebenfalls hier oben gesehen. Und die beiden waren nicht die Einzigen. Wir waren gerade dabei, mit kleiner Besetzung Szenen durchzusprechen und nebenbei im ganzen Gebäude die Fensterläden anzubringen, und Mona hat geholfen. Aber als der Ehemann ins Haus ist, war sie einfach weg.«

Das konnte bedeuten, dass die Frau lediglich keine Lust gehabt hatte, ihren Ehemann zu treffen, dachte Suzanne. »Wissen Sie zufällig, ob sie Streit mit ihrem Mann hatte?«, fragte sie.

Petrow fuhr sich mit der Hand über den Bart. »Wie gesagt, über ihr Privatleben weiß ich wenig. Aber ich habe den Eindruck, dass sie eine glückliche Ehe führt. Ihr Mann schien auch ziemlich besorgt zu sein, nachdem sie wie vom Erdboden verschluckt war. Hat sogar die Polizei gerufen. Wir mussten schließlich unsere Arbeit an dem Tag abbrechen, weil er so einen Wirbel gemacht hat.« Er fummelte an seiner Brille herum. »Und selbst wenn die Eheleute Streit gehabt haben sollten, erklärt das immer noch nicht, wie sich Mona in diesem Haus in Luft auflösen konnte.« Er machte eine hilflos wirkende Bewegung mit der rechten Hand.

»Könnte sie nicht einfach ungesehen das Gebäude verlassen haben?«

»Nein, eben nicht.« Petrow klang ungeduldig. »Zwei Darsteller und ich haben gerade unten im Flur eine Szene durchgesprochen. Wenn sie durch die Haustür gewollt hätte, hätte sie an uns vorbeigemusst, aber niemand hat sie gesehen.«

»Und die Haustür ist die einzige Tür? Keine sonstigen Ausgänge?«

Petrow nickte.

»Bestünde die Möglichkeit, dass Frau Laurent heimlich durch ein Fenster hinausgestiegen ist?«

»Hier oben wäre das nicht gegangen, da sind die Fenster viel zu klein, wie Sie sehen. Sie hätte sich außerdem den Hals gebrochen, wenn sie rausgesprungen wäre. Und unten? Von der Größe der Fenster her wäre es möglich. Mona hätte durch die gesperrte Bedienstetenstiege, die ich Ihnen gerade gezeigt habe, vielleicht auch ungesehen ins Untergeschoss gelangen können. Allerdings hatten wir zu dem Zeitpunkt, als sie verschwunden ist, unten bereits an allen Fenstern die Pappfensterläden angebracht. Sie sehen ja hier, dass die ziemlich gut befestigt sind.« Er zeigte auf die zwei winzigen Fenster, hinter denen die robuste Pappe mit dickem Draht und viel Klebeband festgemacht war. »Das ist unten genauso. Und in den meisten Zimmern haben wir innen sogar noch eine weitere Abdeckung auf den Scheiben, die aussieht wie eine normale Wand. Damit das im Film so wirkt, als wären es fensterlose Räume. Da rauszuklettern, ohne dass jemand etwas bemerkt, ist unmöglich. Wir waren etwa fünfzehn Leute hier im Haus. Zumindest hätte sie einen Fensterladen entfernen müssen, aber die waren alle noch dran. Und warum um alles in der Welt hätte sie überhaupt durch ein Fenster hinaussteigen sollen? Das ergibt doch gar keinen Sinn. Und wo ist sie dann jetzt? Warum hat seither niemand mehr etwas von ihr gehört?« Petrow schüttelte den Kopf.

»Könnte sie sich im Haus versteckt gehalten haben, als Sie nach ihr gesucht haben, und das Gebäude erst später verlassen haben?«

»Nein, das ist unmöglich. Wir haben alles mehrfach und sehr gründlich abgesucht, sogar den Keller und die Bühne. Wir dachten erst, dass sie ohnmächtig geworden oder gestürzt ist und irgendwo liegt. Ganz ehrlich, ich hatte wirklich Angst, dass wir sie mit gebrochenem Genick finden. Aber Gott sei Dank war sie einfach nur weg.« Wieder schob er seine Brille nach oben. »Wir können uns das Ganze einfach nicht erklären. Und dann war da ja noch die Sache mit dem Leuchten.«

»Was für ein Leuchten?«

Petrow druckste ein wenig herum, dann sagte er: »Na ja, es gibt das Gerücht, dass kurz bevor in diesem Haus jemand stirbt, ein geheimnisvolles grünes Licht aufleuchtet. Das Hildebrandtslicht. Es heißt, die Flamme von Hildebrandts Nachtlampe, die er bei seinen unsäglichen Taten mit sich geführt hat, hätte sich kurz vor einem Mord immer grün gefärbt.« Er räusperte sich. »Unser Hauptdarsteller ist sich sicher, dass er an dem Tag, an dem Mona verschwunden ist, ein grünes Licht im Zimmer der Siechenmutter gesehen hat.«

»Könnte das irgendeine Filmbeleuchtung gewesen sein?«

»Eben nicht, nein.«

»Gut. Ich würde die Leute, die an dem Tag hier waren, gerne einmal befragen«, sagte sie. »Vor allem mit dem Ehemann und dem Hauptdarsteller Benni Koch sollte ich sprechen. Und gibt es vielleicht jemanden am Set, mit dem Frau Laurent befreundet ist und der mehr über ihren Verbleib wissen könnte?«

»Monas Ehemann ist ein Zahnarzt und Kieferorthopäde aus Kehl. Dr. Laurent«, erläuterte Petrow. »Und mit unserem Hauptdarsteller könnten Sie morgen kurz hier reden, wenn Sie möchten. Benni hat Mona nicht nur vor ihrem Verschwinden noch gesehen, er ist auch derjenige, mit dem sie sich hier vermutlich am besten verstanden hat. Was den Rest meiner Leute angeht …« Petrow räusperte sich erneut. Schließlich brachte er hervor: »Es wäre mir lieber, wenn zunächst nicht alle erführen, dass Sie wegen Mona ermitteln. Ich meine, die Polizei war ja schon hier und … Falls wirklich nichts weiter dahintersteckt als ein banaler Streit zwischen Eheleuten oder Mona einfach mal eine Auszeit von den Dreharbeiten gebraucht hat, wäre es … Es wäre nicht sonderlich gut für meinen Ruf als Regisseur, wenn jeder denken würde, dass ich wegen Hildebrandt Panik geschoben habe, verstehen Sie?«

Sie nickte. »Wenn meine Detektei nicht offiziell ermitteln soll, bestünde die Möglichkeit, dass wir einen Detektiv undercover in die Filmproduktion einschleusen. Jemanden, der bei den Dreharbeiten vor Ort ist und unauffällig so viel wie möglich über Ihre Kamerafrau und deren seltsames Verschwinden herausfinden kann. Gleichzeitig können wir so dem Requisitendiebstahl auf den Grund gehen.«

Der Regisseur nickte: »Ein Undercover-Detektiv klingt gut.« Er musterte Suzanne mit zusammengekniffenen Augen. »Haben Sie schon einmal in einem Film mitgespielt? Sie könnten die Rolle einer Bauernmagd übernehmen. Ich glaube, diese mittelalterlichen Trachten würden Ihnen stehen. Haben Sie nicht neulich erwähnt, dass Sie Ziegen mögen? Wir besorgen eine, die Sie hinter dem Horrorhaus auf einer Weide … Das könnte sogar in eine Splatterszene münden. Hildebrandts Geist könnte zum Beispiel in die Ziege fahren und sie zum Mordwerkzeug machen. Da müsste ich das Drehbuch ein wenig umschreiben, aber das ist kein Problem. Vielleicht kommen Sie ganz groß raus. Ich meine, ›Dunkle Gemäuer‹ ist nicht irgendein billiger Horrorfilm, er wird unter Insidern schon als Kandidat für den Deutschen Filmpreis gehandelt.« Er lächelte stolz.

Nur über meine Leiche, dachte Suzanne, auch wenn sie sich ein klein wenig geschmeichelt fühlte. Petrow war ein preisgekrönter Filmemacher, und eine Menge Leute würden sich vermutlich einen Finger abhacken, wenn sie dafür in einem seiner Filme mitspielen könnten. »Ich glaube, die Schauspielerei ist überhaupt nichts für mich. Aber ich schaue morgen mal, wer von meinen Leuten dafür in Frage kommen könnte.«

»Wunderbar, danke. Ich hoffe, Sie werden Mona schnell wiederfinden und herausbekommen, ob hinter ihrem Verschwinden etwas … etwas Übernatürliches steckt. Und es wäre natürlich großartig, wenn Sie auch den Requisitendieb dabei entlarven. Wir können es uns nämlich langsam nicht mehr leisten, den Dreh von irgendwelchen Szenen zu verschieben, weil wichtige Gegenstände plötzlich fehlen. Ich habe selbst einiges an Geld in den Film …«

Wie als Kommentar ertönte über ihnen plötzlich ein lautes, hässliches Kratzen. Der Regisseur zuckte zusammen und wurde ganz blass. »Wir müssen hier raus. Sofort«, stieß er hervor.

Es dauerte eine Weile, bis Suzanne ihn davon überzeugen konnte, dass es sich bei den Geräuschen nur um ein Tier handelte, wahrscheinlich um einen Marder. So richtig schien er ihr aber nicht zu glauben, und sie wandten sich zum Gehen. Trotz Petrows Protesten bestand sie darauf, über die gesperrte, dunkle Bedienstetenstiege nach unten zurückzugehen, da sie herausfinden wollte, wie die Kamerafrau in diesem Haus hatte »verschwinden« können. Unten angekommen, blieb Suzanne stehen und sah sich um. Angenommen, die Kamerafrau war hier unbemerkt heruntergekommen, was konnte sie nun getan haben? Der Ausgang der Stiege war hinter einem massiven, großen Schrank mit dreckigen Glastüren verborgen. Von hier aus konnte man die Eingangstür des Hauses nicht sehen und von dort aus auch nicht gesehen werden. Und direkt neben dem Stiegenabgang befand sich eine wurmstichige schwarze Holzpforte, die mit seltsamen Monsterfratzen verziert war. Da hinein hätte Mona Laurent problemlos ungesehen schleichen können. Wobei sich natürlich immer noch die Fragen stellten, warum um alles in der Welt sie das getan haben sollte und wo sie jetzt war. Suzanne zeigte auf die Pforte. »Wo geht es da hin?«, fragte sie.

»In den Keller.«

Sie griff nach der Klinke. Im Gegensatz zu den anderen Türen des Hauses, die sie bisher geöffnet hatten, ging die Kellertür vollkommen lautlos und geschmeidig auf. Als habe jemand sie erst vor Kurzem frisch geölt, was Suzanne in Anbetracht des maroden Zustands des Rests des Hauses recht auffällig fand.

»Bitte, lassen Sie das. Auf keinen Fall können wir bei Dunkelheit in diesen Keller.« Petrow klang panisch. »Das Licht ist mies, und die Treppen sind sehr steil. Das ist lebensgefährlich! Wir bräuchten zumindest eine starke Taschenlampe, aber noch besser wäre es, wenn die Scheinwerfer an wären, und das sind sie nur bei Tag. Dann läuft nämlich unser Generator. Die Elektrik hier im Haus ist mehr als unzuverlässig.«

Suzanne konnte gar nicht richtig zuhören. Gebannt starrte sie in den schwarzen Keller hinunter. Eine unnatürliche Kälte schien aus der Dunkelheit aufzusteigen, modrig und feucht. Ein Gefühl der Beklemmung machte sich plötzlich in ihr breit. Als werde sie von etwas beobachtet. Sie wusste, dass das Unfug war, dass es keine Untoten und keine Geister gab, aber sie musste sich richtiggehend zwingen, die Hand auszustrecken und den Lichtschalter an der Wand neben der Treppe zu drücken. Ein dunkelgelbes Licht flackerte auf und gab den Blick frei auf eine steile Treppe, dann wurde es mit einem Schlag stockfinster. Die Pappfensterläden waren wahrlich lichtundurchlässig.

Hinter ihr schrie Petrow auf. Auch Suzannes Herzschlag beschleunigte sich. In der Sekunde, bevor das Licht ausgegangen war, hatte nämlich etwas aus dem Keller zu ihr heraufgestarrt. Es hatte ausgesehen wie eine Skelettfratze. Schnell tastete sie sich Richtung Tür. Ein paar Sekunden später klickte es, das Licht ging wieder an. Der Regisseur hatte Schweißperlen auf der Stirn. »Sie spüren es auch, oder?«, fragte er. »Dass mit dem Haus etwas nicht stimmt?«

»Absolut nicht, nein. Mir sitzt nur das Wochenende ein bisschen in den Knochen«, brachte sie heraus. Was war das da unten gewesen?

Der Blick, den Petrow ihr zuwarf, zeigte deutlich, dass er ihr das nicht abnahm.

»Aber ich denke, es schadet tatsächlich nicht, wenn wir uns den Keller morgen bei Tag und in Ruhe anschauen«, fügte sie hinzu.

Sie verließen das Gebäude. Sobald sie wieder draußen in der eisigen Novemberluft standen, ärgerte sich Suzanne über ihre Ängstlichkeit, die so gar nicht typisch für sie war. Eine Skelettfratze, so ein Unsinn. Wahrscheinlich war es eine alte Jacke oder sowas gewesen, die in dem schlechten Licht ein wenig unheimlich ausgesehen hatte. Sie musste wirklich sehr erschöpft sein.

Nebeneinander gingen Petrow und sie zum dunklen Parkplatz zurück, wo Liam und Bandmanager Achim auf sie warteten. Der Sänger von Dieselskandal sah immer noch vollkommen niedergeschlagen aus, wie er da an die Motorhaube gelehnt dastand und auf die schwarze Kinzig starrte. Suzannes Herz krampfte sich vor Mitleid zusammen, gleichzeitig hatte sie ein paar Schmetterlinge im Bauch. In den nächsten Tagen würde sie alles tun, was in ihrer Macht stand, um Liam wieder aufzumuntern und ihm klarzumachen, dass die Juroren Idioten und Dieselskandal die genialste Band der Welt war.

Achim kam ihnen nun entgegen geschlendert, und Suzanne stellte ihn Petrow vor. Der Anwalt drückte dem Regisseur herzlich die Hand, dann sagte er: »Sie sind aber nicht der Petrow, oder? Der ›Uschi legt den Richter flach‹ gemacht hat? War ein Kultfilm, als ich Jura studiert habe.«

Petrow blieb wie angewurzelt stehen. »Sie kennen mein Frühwerk?« Er lächelte, ein wenig unangenehm berührt, wie es schien. »Uschi war ein besonderer Film«, fügte er dann hinzu. »Porno trifft feministische Sozialkritik, sowas ging nur in den Neunzigern.«

»Die Sozialkritik isch mir wohl entgangen.« Achim zog die Augenbrauen hoch.

»Na, die Uschi kam doch aus schwierigen Verhältnissen«, half der Regisseur ihm auf die Sprünge. »Hat sich dann aber bis zur Sekretärin hochgeschlafen. Was ich immer als Symbolbild für die Unterdrückung der Frau im kapitalistischen Patriarchat des Justizsystems angesehen habe.«

Achim verzog die Lippen zu einem Grinsen. »Für einen politischen Film wurde es aber ziemlich ausführlich gezeigt. Wie Uschi sich hochgeschlafen hat, meine ich.« Und bevor Petrow, der grimmig die Stirn in Falten legte, etwas erwidern konnte, fragte der Anwalt: »Und jetzt sind Sie ins Horrorgenre gewechselt?«

»Ich mache, was der Markt von mir will«, stieß der Regisseur hervor. Er sagte es auf eine Art, als sei »der Markt« eine Gottheit, die zu ihm spräche, und zwar nur zu ihm. Allerdings auf eine ziemlich herrschsüchtige Art, die ihn zwang, Dinge zu tun, die er eigentlich gar nicht wollte.

Suzanne hatte mit einem Mal ein unangenehmes Gefühl im Bauch. Irgendetwas an der Art, wie Petrow das mit dem Markt gesagt hatte, war seltsam gewesen. War es vorstellbar, dass er gar keine Lust hatte, »Dunkle Gemäuer« zu drehen, vielleicht, weil er Angst vor Hildebrandt hatte, und daher jetzt selbst dafür sorgte, dass der Film nicht zustande kam, indem er Requisiten und sogar eine Kamerafrau verschwinden ließ? Aber warum hätte er den Job als Regisseur dann überhaupt annehmen und behalten sollen?

Kapitel 2

Am nächsten Morgen stand Suzanne um sechs Uhr auf. Es war noch stockdunkel draußen und ziemlich kalt. Sie duschte leise, um den im Gästezimmer schlafenden Liam nicht zu wecken, zog sich Jeans, dicke Socken und einen flauschigen Wollpulli an und schlich hinunter in den Hausflur. Dort schlüpfte sie als Erstes in ihre Gummistiefel und ging hinüber zum Ziegenstall, um ihre Ziegen zu füttern und ausgiebig mit ihnen zu knuddeln, vor allem mit Flecki und Robbi. Danach ließ sie die Tiere auf die große Weide hinaus. Auf dem Rückweg zum Haus sah sie, dass in der Einliegerwohnung Licht brannte. Bandmanager Achim war offenbar ebenfalls schon wach, vielleicht hatte er auch überhaupt nicht geschlafen. Die Niederlage seiner Band hatte ihn mit Sicherheit genauso tief getroffen wie sie selbst.

In der Küche bereitete Suzanne den Teig für Rosinenbrötchen vor und holte aus ihrer Vorratskammer ein Glas selbstgemachtes Quittengelee, Birnen, Äpfel und Mandarinen. Während die Brötchen aufgingen und schließlich köstlich duftend im Ofen backten, schnitt sie Obst für einen Obstsalat, deckte den Tisch für drei und brühte Kaffee auf. Sie hatte eigentlich gehofft, dass der Geruch ihres Frühstücks Liam wecken und an den Tisch locken würde. Der Arme hatte seit gestern Mittag nichts als eine schlabbrige Brezel gegessen und war am Abend nach ihrer Rückkehr nur wortlos und geknickt ins Gästezimmer geschlichen, wo er sich eingeschlossen hatte. Aber der Sänger kam nicht hinunter, und so frühstückte Suzanne mit einem schweigsamen Achim und fuhr schließlich ins Büro.

Bei der Suche nach Vermissten war es wichtig, möglichst viel über die verschwundene Person, ihren Tagesablauf und etwaige Gründe ihres Verschwindens herauszufinden. Insbesondere, ob sie freiwillig verschwunden war oder ob es sich um eine Entführung oder ein Unglück handelte, ob die Person sich also in einer Notlage befand und man schnell handeln musste. Oder ob sie gar tot war. Im Fall der Kamerafrau war nun sogar die Art des Verschwindens rätselhaft und musste aufgeklärt werden. Möglicherweise ließen sich daraus nämlich Rückschlüsse über ihren momentanen Verbleib ziehen.

Zunächst googelte Suzanne die Vermisste. Mona Laurent war etwa fünfzig, sportlich, geradezu mager, und hatte Strähnchen in den blondierten langen Haaren und trug etwas zu viel Make-up. Sie hatte schon drei renommierte Preise für ihre Arbeit gewonnen und bei einigen größeren Filmproduktionen mitgearbeitet. Eine sichtlich erfolgreiche Frau, der ihre Karriere wichtig schien und die ihrem professionellen Internetauftritt nach nicht so wirkte, als haue sie heimlich durch Fenster ab oder verstecke sich in Kellern. Dennoch musste sie irgendetwas in der Art getan haben. Denn nach ihrem kurzen Besuch im Horrorhaus gestern erschien es Suzanne kaum möglich, dass jemand die Frau spur- und lautlos getötet oder entführt hatte; nicht in einem nicht sonderlich großen Gebäude, in dem dazu noch fünfzehn Leute herumliefen. Vorstellbar war natürlich, dass sie durch eine Drohung zum Abhauen gezwungen worden war. Die geheimnisvolle Art und der Ort des Verschwindens legten aber auf jeden Fall den Schluss nahe, dass es eine Verbindung zu den Dreharbeiten von »Dunkle Gemäuer« gab. Ob auch ein Zusammenhang mit den Requisitendiebstählen existierte, musste man ebenfalls überprüfen.

Suzanne holte sich die Akte Verschwundene Requisiten und ging sie durch. Bei der ersten Besichtigung eines Drehorts in den Rheinauen vor einigen Monaten waren Petrows Mantel sowie mehrere nachgebaute mittelalterliche Folterinstrumente verschwunden. Am ersten Tag der Dreharbeiten vor knapp zwei Wochen waren zwei besonders teure Kameraobjektive, eine Galgenattrappe und eine für die Filmaufnahmen präparierte Galgenschlinge plötzlich unauffindbar gewesen. Das Kostüm des Hauptdarstellers und seiner Filmtochter sowie fünf spezialangefertigte Perücken waren wenig später abhandengekommen, ebenso wie einige Schlachtermesser und eine »blutige« Sense. Ein Flammkuchenblech war außerdem mit Sprühfarbe verunstaltet worden.

Suzanne las die Berichte und Notizen ihrer Mitarbeiterin Fiona durch, die die Requisitendiebstähle eigentlich betreute, im Moment aber krank war. Es waren immer genau die Gegenstände verschwunden, die am nächsten Tag für die Dreharbeiten gebraucht worden wären. Was darauf schließen ließ, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Dieb, sondern wirklich um einen Saboteur handelte. Und zwar um einen Insider, der das Drehbuch und den Drehplan genau kannte. Suzanne klopfte mit den Fingern leicht auf den Tisch. Und nicht nur die Auswahl der Stücke, sondern auch die Art, wie die Gegenstände verschwunden waren, sprach für einen Dieb mit erheblichen Insiderkenntnissen. Die Requisiten waren häufig in der Nacht entwendet worden, oft aus dem verschlossenen Horrorhaus. Obwohl am Anfang der Dreharbeiten ein Wachdienst organisiert worden war, hatte der Saboteur und Dieb es trotzdem geschafft, unbemerkt Requisiten zu klauen. Und nachdem ihre Mitarbeiterin Fiona, die die nächtliche Observation des Horrorhauses übernommen hatte, an einer Magen-Darm-Grippe erkrankt war, war sofort danach das Flammkuchenblech mit Sprühfarbe verschandelt worden, als ob der Saboteur gewusst hätte, dass Fiona nun nicht mehr vor Ort war. Suzanne biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Es war bereits zu erheblichen Verzögerungen der Dreharbeiten gekommen, und nachdem am Donnerstagabend dann auch noch die Kamerafrau verschwunden war, hatte am Freitag sogar den ganzen Tag nicht gedreht werden können, da ein adäquater Ersatz so schnell nicht hatte gefunden werden können.

Suzanne runzelte die Stirn. War es vorstellbar, dass die vermisste Kamerafrau selbst die Saboteurin war, weil sie aus irgendwelchen Gründen einen Groll gegen das Filmprojekt oder gegen Petrow hegte? Sie hatte mit Sicherheit immer ganz genau gewusst, welche Szenen am nächsten Tag an der Reihe gewesen wären, und mit teuren Kameraobjektiven kannte sie sich natürlich auch aus. Sie war von Anfang an an allen Drehorten sowohl in den Rheinauen als auch im Horrorhaus dabei gewesen. Und jetzt war sie verschwunden, weil sie vielleicht befürchtet hatte, bald aufzufliegen? Verschwunden mit einem Knall, der dem Filmprojekt noch weiter geschadet hatte? Das war keine schlechte Theorie!

Nach ihren ersten Recherchen im Büro fuhr Suzanne nach Kehl, um dem Ehemann der Kamerafrau einen unangekündigten Besuch abzustatten, ihn zu befragen und dabei hoffentlich die wahren Gründe für das Verschwinden seiner Ehefrau herauszufinden und möglichst viele Anhaltspunkte über ihren momentanen Verbleib zu bekommen.

Dr. Laurents Praxis war riesig und befand sich in einer Villa in vorderster Reihe zum Rhein. Im offenen, menschenleeren Wartebereich standen chromglänzende Freischwinger auf weißem Marmor. Beruhigende Klaviermusik drang aus hinter Palmen versteckten Lautsprechern, und der Geruch nach Desinfektionsmittel wurde von Lavendelduft beinahe überdeckt. Der Blick durch die große Fensterfront auf den Fluss und die Passerelle des deux Rives, eine Fußgängerbrücke von Kehl nach Frankreich hinüber, war grandios. Von einem großen Bildschirm an der Wand strahlten perfekte weiße Gebisse herunter, und ein eingeblendeter Text informierte über die neue Studie eines angeblich unabhängigen Instituts, wonach Menschen mit gebleachten Zähnen deutlich bessere Chancen auf Führungspositionen in der Wirtschaft hatten.

Suzanne trat an den futuristischen Tresen, der wirkte, als sei er aus einem Raumschiff ausgebaut worden. Sie fühlte sich ein wenig underdressed in ihrem Wollpulli und der Jeans, auf der, wie sie jetzt bemerkte, ein kleiner Grasfleck war, wie er entstand, wenn man von einer Ziege angeknabbert wurde. Hinter dem Tresen saßen einige junge Frauen, die meisten davon mit »unsichtbaren« Zahnspangen oder unnatürlich weißen Zähnen, denen das Bleaching aber offensichtlich noch keine Führungsposition in der Wirtschaft beschert hatte. Die rosa Praxisuniformen, auf denen Zahnarzt- und Kieferorthopädiezentrum Dr. Laurent stand, sahen so eng und unbequem aus, dass Suzanne eine Woge des Mitleids mit den Arzthelferinnen verspürte und sich wieder pudelwohl fühlte in ihren Klamotten.

Dr. Laurent, ein hochgewachsener, attraktiver Mann um die sechzig, kam einige Minuten, nachdem Suzanne sich angemeldet hatte, mit festem Schritt in den Wartebereich, um sie abzuholen. »Mein Name ist Gerard«, schnurrte er und reichte ihr eine manikürte Hand, »und Sie müssen Susanne sein?« Er lächelte sie an, aber das Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen.

»Süsann«, berichtigte sie, ein wenig erstaunt, dass der Mann sie gleich mit Vornamen ansprach.

»Ach, verzeihen Sie, meine Liebe, hier im Grenzgebiet weiß man ja nie, wie man die Namen aussprechen muss. Süsann also.« Er lachte affektiert. »Bitte, meine Liebe, kommen Sie doch mit hinüber in mein Büro.« Er legte ihr die Hand auf den Rücken und drängte sie geradezu aus dem Empfangsbereich.

Suzanne war der Typ auf Anhieb unsympathisch, aber sie zwang sich zu einem Lächeln und ging mit ihm in ein ganz in Türkis und Weiß gehaltenes Büro. Der Zahnarzt ließ sich an einem gläsernen Schreibtisch nieder, hinter dem tropische Fische in einem überdimensionierten Aquarium zwischen künstlichen Felsen in Gebissform herumschwammen. Auf dem Boden des Aquariums lagen bunte Zahnspangendöschen, die sich wie Muscheln öffneten und schlossen und aus denen Luftbläschen emporstiegen. Laurent bot Suzanne mit einer kaum sichtbaren Handbewegung an, sich auf einen der Freischwinger zu setzen. Er nahm ein Stück Draht, das vermutlich normalerweise für Zahnspangen verwendet wurde, aus einem Schälchen mit unterschiedlich geformten Drahtstücken und begann, damit herumzuspielen. »Also, worum geht es? Und bitte fassen Sie sich kurz, ich muss arbeiten.« Sein künstliches Lächeln erlosch.

Sie sagte: »Ich wurde engagiert, um das Verschwinden Ihrer Frau …«

»Diese Typen von Splatter and more Productions haben Sie angeheuert, um Mona zu suchen? Die und dieser Petrow sind doch schuld daran, dass sie weg ist!«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Meine Frau ist in dem Haus verschwunden, in dem diese Leute gerade drehen. Wer sollte denn sonst schuld sein?« Der Zahnarzt beugte sich nach vorn, schien ihren Wollpulli und ihre ungebleachten Zähne zu mustern.

Suzanne lehnte sich vorgeblich entspannt zurück, obwohl ihr der Blick unangenehm war. »Haben Sie eine Ahnung, wo Ihre Frau jetzt sein könnte?«

»Bedauerlicherweise nicht.« Er verdrehte den Draht brutal zu einem knotenartigen Gebilde und warf ihn mit einer wütenden Bewegung in die Schale zurück, in der schon einige dieser Knoten lagen.

»Gibt es Freunde, Verwandte oder einen Ort, wo sie öfter hingeht?«, fragte sie.

»Mona ist gerne alleine, sie hat keine Freundinnen und männliche Freunde schon gar nicht. Die einzige Verwandte ist ihre Schwester Camille, aber mit der hat sie zum Glück vor Jahren gebrochen. Camille ist nämlich ein Junkie.« Der Zahnarzt nickte grimmig. »Ansonsten ist meine Frau in ihrer Freizeit am liebsten mit mir zusammen. Ich bin schließlich ihr Mann. Wir lieben uns sehr.«

»Können Sie sich einen Grund vorstellen, warum Ihre Frau weggegangen sein könnte?«, fragte sie.

»Nein, absolut nicht. Wir führen eine unglaublich harmonische Ehe, und Mona ist sehr glücklich. Ich kann ihr das Leben bieten, das sich jede Frau wünscht. Sie ist außerdem eine recht erfolgreiche Kamerafrau. Sie hat schon Preise gewonnen.«

»Wie sieht denn der normale Tagesablauf Ihrer Frau aus? War irgendetwas vor ihrem Verschwinden anders als sonst?«

»Nein, alles wie immer. Sie ist aufgestanden und hat gefrühstückt. Morgens trinkt sie gewöhnlich lediglich ein Glas lauwarmes Wasser, damit sie ihre gute Figur behält.« Er schien Suzannes Oberkörper mit den Augen abzuscannen und schüttelte schließlich kaum merklich den Kopf. »Dann macht sie den Garten oder geht zum Shoppen oder zum Yoga. Oder zur Arbeit. Wenn sie gerade Arbeit hat. In den letzten zwei Monaten war sie häufig bei Dreharbeiten. Eine Reportage über irgendwelche Schmetterlinge auf der Schwäbischen Alb und die Biografie eines völlig überschätzten Stuttgarter Schriftstellers.«

Er betonte die Sätze auf eine Art, als seien die Tätigkeiten seiner Frau, vor allem ihre Arbeiten beim Film, eine bodenlose Zeitverschwendung. »Und jetzt noch der Horrorfilm. Ich war ehrlich gesagt dagegen, dass sie da auch noch mitmacht. Ich mag vielleicht ein wenig konservativ sein, aber ich finde, eine verheiratete Frau sollte ihren Lebensschwerpunkt im heimischen Nest haben und nicht irgendwo hinter einer Kamera. Sie hat mir versprochen, es sei das letzte Projekt für längere Zeit, daher … Ich kann ihr nun mal nichts abschlagen.« Er lächelte kalt. »Das einzig Gute an Petrow ist, dass er hier in der Nähe dreht und Mona das Wochenende frei hat. Da muss sich dieser Regisseur nämlich immer um seine kranke Mutter kümmern.«

Suzanne waren der Typ und seine Einstellung gegenüber seiner Frau sowas von unsympathisch, dass sie sich um einen freundlich-neutralen Tonfall richtiggehend bemühen musste. »Kommt Ihre Frau gut mit Herrn Petrow zurecht? Oder hatte sie Probleme bei der Arbeit?«

»Davon weiß ich nichts. Aber selbst wenn es Probleme gegeben haben sollte: Warum um alles in der Welt hätte sie deswegen verschwinden sollen? Sie hätte einfach kündigen können.«

Das stimmte natürlich. Aber falls sie die Saboteurin gewesen sein sollte, hatte sie so, wie es gelaufen war, sowohl Petrow als auch dem Film den größeren Schaden zugefügt. Suzanne strich ihren Wollpulli glatt. »Ich würde gerne wissen, was an dem Tag passiert ist, als Ihre Frau verschwunden ist. Herr Petrow hat mir erzählt, dass Sie einer der Letzten waren, der sie gesehen …«

»Kann ich mir vorstellen, dass diese Filmleute von mir wissen wollen, was bei ihnen passiert ist«, brach es aus Laurent hervor, er sprach jetzt laut und bestimmend. »Kein Wunder, dass da Gegenstände und sogar Leute verschwinden, so wie dieser Petrow den Laden führt. Völlig unfähig, der Mann. Er hat sogar mich vor diesem Horrorhaus warten lassen. Ganze fünfzehn Minuten, nur weil er im Flur noch etwas mit der Beleuchtung ausprobieren wollte. Als ob die ihre Arbeiten nicht für ein paar Minuten unterbrechen könnten, damit ich ins Haus kann, um meine Frau abzuholen. Oder damit sie rauskommen kann. Dieser Petrow glaubt, dass alle so ein faules und nichtsnutziges Leben führen wie ein Filmschaffender. Er hält sich für wichtig und will in seinem bunten, sorglosen Künstler-Elfenbeinturm nicht sehen, dass es Leute gibt, die einer wichtigen, systemrelevanten Arbeit nachgehen und eben keine fünfzehn Minuten warten können! Außerdem hatte ich an dem Abend eine Einladung zu einem Privatempfang bei Gräfin Dörthe von Hagendorn-Beckstein, bei der einige wichtige Politiker zugegen sein wollten. Aber anstatt, dass ich Mona mitnehmen und sie sich zu Hause ein bisschen hübsch machen kann, stehe ich mir wegen Petrow die Beine in den Bauch. Und als der Mann dann endlich fertig war, war meine Frau auch noch weg. Ich musste am Ende ohne Begleitung zu Gräfin Hagendorn-Beckstein, obwohl ich mit Gemahlin angekündigt war. Peinlich war das.« Laurents Gesicht hatte sich im Laufe seiner Tirade vor Wut gerötet.

Suzanne deutete ein Nicken an. Eines war sicher: Sorgen, wo seine Frau sein könnte, machte sich dieser Mann nicht. Die Frage war nur, ob es ihm einfach egal war, wo sie steckte, oder ob er es wusste und es ihr nur nicht erzählte. »Ist Ihre Frau schon öfter verschwunden?«, fragte sie.

»Was ist denn das für eine schwachsinnige Frage? Natürlich nicht!« Er griff sich ein neues Stück Draht, drehte es zu einem Knoten und pfefferte es wieder in die Schale zurück.

»Und Sie haben sie am Fenster dieses Horrorhauses zum letzten Mal gesehen?«

Laurent nickte. »Sie hat mir zugewinkt.«

»Könnten Sie sich getäuscht haben?«

»Ich bin doch nicht bescheuert. Meine Frau erkenne ich noch. Außerdem wurde sie von irgendeinem grünen Scheinwerfer angeleuchtet. Sogar ihre Zähne sahen grün aus. Es war grauenhaft.«

»Hat Ihre Frau Feinde? Fühlte sie sich vielleicht in letzter Zeit bedroht?«

Dr. Laurent kniff die Lippen zusammen. Für einen Moment schien er nachzudenken, dann sagte er scharf: »Ich nehme an, Sie spielen auf ihre Vergangenheit an? Ganz ehrlich, das ist eine unverschämte und unsinnige Unterstellung! Mona hat vor Jahren damit abgeschlossen.«

»Was meinen Sie mit ›Vergangenheit‹?«, hakte Suzanne interessiert nach.

Laurent gab ein knurrendes Geräusch von sich. Wieder schien er ihren Wollpulli zu mustern. »Ich denke mir schon die ganze Zeit, dass es zu dieser Produktionsfirma passt, dass sie selbst bei der Auswahl des Privatermittlers spart. Aber offenbar sind Sie noch unfähiger, als ich vermutet habe. Wie wollen Sie denn jemanden aufspüren, wenn Sie nichts über ihn wissen?« Er lehnte sich zurück und sah auf die Uhr. »Gehen Sie woanders spielen. Ich muss jetzt wirklich weiterarbeiten, Süsann.«

Ohne auf seine Beleidigungen einzugehen, bemerkte sie: »Wenn Sie so eine harmonische Ehe führen und einander so sehr lieben, wie Sie behaupten, sollten Sie doch eigentlich ein Interesse daran haben, dass ich Ihre Frau finde, oder? Warum wollen Sie mir nicht helfen?«

Der Zahnarzt lachte herablassend auf. »Wenn ich eine Idee hätte, wo sie sein könnte, und Ihnen irgendwie helfen könnte, dann hätte ich Mona schon lange selbst gefunden. Dafür brauche ich keine übergewichtige ›Detektivin‹, die angezogen ist wie eine Öko-Pippi-Langstrumpf.«

Was für ein Arschloch. Suzanne verschränkte die Arme vor dem Körper. »Könnte es sein, dass Ihre Frau deshalb verschwunden ist, weil sie es mit Ihnen nicht mehr ausgehalten hat? Hatte sie vielleicht keine Lust, noch länger in Ihrem heimischen Nest zu sitzen und sich Ihr Geschwätz anzuhören, Gerard?«

Laurent schlug mit der Hand so auf den Tisch, dass Suzanne zusammenzuckte. Sein Gesicht war plötzlich kalkweiß. »Mona würde mich nie verlassen!« Er sprang auf und kam um den Schreibtisch herum bedrohlich auf sie zu. »Sie haben nicht die leiseste Ahnung. Verschwinden Sie, aber ganz schnell. Und lassen Sie sich hier bloß nie wieder blicken.« Er packte sie grob am Handgelenk, riss sie von ihrem Stuhl hoch und bugsierte sie Richtung Tür.

»Lassen Sie mich sofort los!«, fauchte sie.

Der Mann ließ sie los und hob die Hände beschwichtigend nach oben. Jetzt lächelte er wieder sein kaltes Lächeln.

Nach ihrem Zusammentreffen mit Dr. Laurent dauerte es eine Weile, bis Suzanne sich wieder beruhigt hatte. Übergewichtige Öko-Pippi-Langstrumpf, der hatte sie ja nicht mehr alle! Bestimmt hatte er irgendeinen Dreck am Stecken, weil er ihr nicht helfen wollte, seine Frau zu finden. Hielt sich Mona Laurent im Moment tatsächlich versteckt, weil sie wütend auf ihren Mann war? Oder gar Angst vor ihm hatte? Der Typ war ja ziemlich aggressiv. Hatte er sie vielleicht bedroht?

Sie beobachtete die Praxis noch eine gute halbe Stunde vom Auto aus. Niemand betrat oder verließ das Haus. Offenbar kamen überhaupt keine Patienten. Der Wartebereich war ja auch vollkommen leer gewesen.

Sie durchsuchte das Internet auf dem Handy nach dem Zahnarzt. Neben vielen positiven Bewertungen hatte Dr. Laurent auch einige ziemlich schlechte. Eine Aliza Z. schrieb, er habe sie zu einer Behandlung regelrecht genötigt, eine Nele K., er habe sie angekeift, sie solle ihre Wurzelbehandlung privat bezahlen, denn für den Kassensatz mache er ihr »einen Scheiß in den Mund«, und ein Peter D. beklagte, Laurent habe ihm grundlos zwei völlig gesunde Zähne gezogen, wie sein neuer Zahnarzt festgestellt habe. Suzanne grub noch ein wenig tiefer und fand heraus, dass der Zahnarzt eine Vorstrafe wegen Körperverletzung hatte, die allerdings eine Weile zurücklag. Anscheinend hatte er bei einer jungen Frau eine schmerzhafte Operation im Mund, die zudem vollkommen unnötig gewesen war, ohne ausreichende Betäubung durchgeführt, wie ein Gutachter bescheinigt hatte.

Das passte zu dem Widerling. Brachte sie aber nicht weiter im Fall der verschwundenen Kamerafrau. Sie trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. Sie würde sich umhören. Und mit den Finanzen der Eheleute Laurent konnte sie sich auch einmal befassen. Denn was, wenn die sicherlich unvorstellbar teure Praxis wirklich nicht lief und Mona Laurent deswegen »verschwunden« war? Weil sie möglicherweise Geld hatte, an das der Zahnarzt gelangen wollte? Vielleicht, indem er sie getötet …? Unsinn, wies sie sich zurecht, für Mord gab es nun überhaupt keinen Hinweis. Sie durfte jetzt auch nicht überreagieren, nur weil der Typ sie Öko-Pippi-Langstrumpf genannt hatte. Sie schaltete laut »Leasing a Bomb« von Dieselskandal ein und startete ihr Auto.

Kapitel 3

Gegen elf traf Suzanne sich mit dem Hauptdarsteller von »Dunkle Gemäuer« vor dem Willstätter Horrorhaus. Am Tag wirkte das Gebäude mit seinem abgeblätterten Putz, dem verblichenen Fachwerk und den vertrockneten Weinreben ein wenig trist. Eine Menge Leute wuselten vor der Eingangstür herum, einige waren verkleidet, andere trugen Kabel und Scheinwerfer. Immer noch war es kalt und windig, aber die Sonne schien, und das Wasser der Kinzig glitzerte silbrig.

Benni Koch war ein freundlich aussehender Mann um die vierzig, der ein Mittelalterkostüm aus grobem Leinen unter einer übergeworfenen Daunenjacke trug. Seine lockigen Haare standen wirr vom Kopf ab, und sein rundliches, perfekt rasiertes Gesicht glänzte, als sei es mit einer ziemlich öligen Schminke überzogen worden. Er holte Suzanne, nachdem Petrow sie kurz vorgestellt hatte und dann schnell wieder zu seiner Arbeit zurückgekehrt war, eine Tasse pechschwarzen Kaffee und ein Schokotörtchen mit Smarties vom Cateringtisch und lief dann schweigend mit ihr ein Stück Richtung Parkplatz, da der Regisseur sie gebeten hatte, alles »topsecret und nicht am Set« zu besprechen. Bei einem beinahe kahlen Birnbaum blieben sie stehen. Braune Blätter tanzten im Wind um ihre Füße.

»Ich habe nicht viel Zeit«, sagte Koch schließlich, »aber wegen Mona will ich natürlich gern mit Ihnen sprechen. Hoffentlich finden Sie sie bald, wir brauchen sie unbedingt. Sie hat das perfekte Auge für Bildausschnitte, wissen Sie? Einzigartig. Wenn sie eine Szene aufnimmt, sieht sie lebendiger, bedrohlicher, echter aus, als wenn ein anderer Kameramann das macht.« Er lächelte melancholisch. »Ich bin mir sicher, Mona wird es, sobald sie zurück ist, gelingen, selbst meiner Figur etwas Geheimnisvolles und Würdiges mitzugeben, allein durch die Macht ihrer Bilder. Und ich spiele den Horrorhaus-Hausmeister, diesen Hildebrandt, und der ist weder sonderlich geheimnisvoll noch würdevoll. Er ist ein Psychopath, wie es im Buche steht, zu Lebzeiten, und als Untoter erst recht.« Er schüttelte sich.

»Haben Sie eine Idee, wo Frau Laurent im Moment sein könnte?« Sie nippte an ihrem Kaffee.

»Nein«, sagte er düster. »Am Donnerstag habe ich sie das letzte Mal gesehen. Im Horrorhaus. Kurz vor ihrem Verschwinden. Aber das wissen Sie ja vermutlich schon. Sie war im oberen Stockwerk, wo diese Siechenmutter ihr Schlafzimmer hatte. Wir haben über die komische Minestrone gescherzt, die es an dem Tag im Cateringzelt zu essen gab. Es hört sich jetzt seltsam an, aber als ich das Zimmer verlassen habe, habe ich nochmal zurückgeschaut, und da war so ein grünes Licht um sie herum. Als ob sie von einem sehr schwachen Scheinwerfer angeleuchtet würde. Ich habe dem erst keine Bedeutung beigemessen. Nur als sie dann weg war, haben wir nachgeschaut, und da war kein Scheinwerfer und auch keine sonstige Lampe in dem Raum und … Ich weiß nicht, ob Sie die Geschichte des Horrorhauses kennen, aber dieses Licht, wenn jemand stirbt …« Er sah bedrückt aus. »Nicht, dass ich glaube, dass Mona tot ist, nur … Es war einfach gespenstisch. Mein Opa kommt aus Willstätt, wissen Sie, er hat mir früher manchmal vom Hildebrandtslicht erzählt. Normalerweise leuchtet es, wenn im Haus ein Gewaltverbrechen geschieht. Im Krieg hat es anscheinend auch gelegentlich geleuchtet. Kurz danach kam dann immer die Nachricht, dass wieder einer der jungen Männer aus dem Dorf oder der näheren Umgebung gefallen ist.«

»Halten Sie es nicht für möglich, dass Frau Laurent selbst verantwortlich war für das Licht? Denn wenn Sie keine Lichtquelle im Zimmer gefunden haben, kann das ja eigentlich nur bedeuten, dass Frau Laurent sie mitgenommen haben muss, oder? Eine grüne Taschenlampe vielleicht?«

»Nein, nein, das war das Hildebrandtslicht«, sagte er dumpf und kickte mit dem Fuß ein Steinchen weg. »Wieso hätte sie sich anleuchten sollen? Das ergibt nicht den geringsten Sinn. Sie haben ja eine ganz schön schräge Fantasie.«

»Ich versuche nur, Erklärungen zu finden. Gibt es irgendeinen Grund, wieso Frau Laurent hätte verschwinden wollen? Hat sie sich vielleicht mit Herrn Petrow nicht verstanden? Oder mit ihrem Mann?«

»Keine Ahnung. Aber wenn sie mit Petrow ein Problem gehabt hätte, hätte sie ihn einfach darauf angesprochen. Sie war sehr direkt in solchen Dingen.«

»Sonst irgendeine Idee, die mir weiterhelfen könnte, sie zu finden?«

Der Schauspieler schien eine Weile nachzudenken, dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin mir nur hundertprozentig sicher, dass sie nie im Leben freiwillig weggegangen ist.« Sein Tonfall klang angespannt.

»Warum?«

»Das wäre ihr beruflicher Ruin. Und ihre Arbeit geht ihr über alles. Das schätze ich ja so an ihr. Immer zweihundert Prozent. Einen cooleren Job als beim Film gibt es nirgends, und sie hätte es mit Sicherheit nicht riskiert, zukünftig als unzuverlässig oder psychisch labil zu gelten, weil sie mitten in irgendwelchen Dreharbeiten mit einer grünen Taschenlampe ›untergetaucht‹ ist.« Er strich sich über sein öliges Gesicht.

Das war natürlich ein gutes Argument. Wenn Mona Laurent dennoch freiwillig gegangen sein sollte und damit vielleicht ihre Karriere ruiniert hatte, musste sie einen verteufelt guten Grund dafür gehabt haben. Suzanne trank nachdenklich noch einen Schluck Kaffee. Das Schokotörtchen in ihrer Hand war halb geschmolzen, aber sie wollte keine Fragen mit vollem Mund stellen. »Wie, glauben Sie, ist Frau Laurent verschwunden?«

Koch knetete seine Hände. Er sah ihr jetzt direkt in die Augen und wirkte zutiefst beunruhigt. »Es ist unerklärlich. Verstörend. Im Haus war sie jedenfalls definitiv nicht mehr. Wir haben alles durchsucht, mehrfach, sogar die Schränke, Kommoden und den abgesperrten Teil des Kellers und die Bühne. Aber sie war … einfach weg. Und das Haus konnte sie auch nicht ungesehen verlassen haben, auch wenn ich manchmal denke, dass sie das getan haben muss. Denn Herr Petrow und zwei meiner Kollegen standen im Flur und ihr Mann direkt vor dem Gebäude, und es gibt nur diese eine Tür. Ich war im Nebenzimmer, als sie … Ich habe nicht das leiseste Geräusch gehört. Nichts. Und dann war sie weg. Die Wände in diesem baufälligen Gemäuer sind nicht isoliert, und wenn man über den Boden geht, dann knarzt es an vielen Stellen. Ich hätte es hören müssen, wenn sie das Zimmer der Siechenmutter verlassen hätte.«

»War das Anbringen der Fensterläden nicht laut und hätte ein mögliches Knarzen übertönt?«

»Nicht so laut. Abgesehen davon hätte irgendjemand sie im Flur oder auf der Treppe sehen müssen.«

»Dann muss sie einen Helfer gehabt haben. Jemanden, der sie gesehen hat, aber nichts sagt.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie war mit niemandem so eng.«

»Wer war denn außer Ihnen noch alles im oberen Stock?«

»Keine Ahnung.«

»Herr Petrow meinte, Sie seien derjenige, mit dem sich Frau Laurent hier am besten versteht. Kennen Sie sie gut? Ich meine, auch privat?«, hakte sie nach.

»Ich mag sie, das stimmt. Aber richtig kennen wäre zu viel gesagt«, antwortete er. »Und ich habe ihr sicher nicht beim Verschwinden geholfen, falls es das ist, worauf Sie hinauswollen. Ich könnte es mir im Moment nicht erlauben, meine Arbeit zu verlieren, ich muss einen ziemlich fiesen Kredit abzahlen und brauche jeden Cent. Ich muss dann auch mal wieder.« Er grüßte mit der Hand und ging zügig Richtung Horrorhaus zurück.

Nach dem Gespräch wartete Suzanne am Parkplatz auf Petrow. Sie aß ihr Schokotörtchen und grübelte über Benni Kochs und Dr. Gerard Laurents Aussagen nach und darüber, dass sie noch keinen Schritt weitergekommen war. Aber dann schweiften ihre Gedanken zu Liam und wie süß er immer seine langen Haare nach hinten strich. Sie genoss die Novembersonne auf ihrem Gesicht und den Blick über die silbrig glänzende Kinzig und die angrenzenden Felder und Wiesen. Selbst im Spätherbst war es in der Ortenau einfach wunderschön. Vielleicht konnte sie den Sänger in den nächsten Tagen zu einem kleinen Ausflug überreden? Ein Spaziergang auf dem Auen-Wildnispfad in Neuried vertrieb jedenfalls bei ihr immer jeden Anflug von schlechter Laune. Das würde Liam bestimmt auch wieder aufbauen.

Sie zuckte zusammen, als ihr jemand von hinten auf den Rücken tippte. Es war Petrow, und er machte einen sehr gehetzten Eindruck. »Ich muss eigentlich den Ersatzkameramann einweisen«, sagte er. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn. »Die Notlösung, bis Mona zurück ist. Finden Sie sie bloß schnell! Das Ganze ist eine Riesenkatastrophe. Wir werden Stunden brauchen, bis wir mit dem Neuen halbwegs anständige Bilder bekommen. Wenn wir die überhaupt bekommen, da habe ich erhebliche Zweifel. Lassen Sie uns zügig das Haus anschauen. Ich wäre so froh, wenn Sie danach im Gegensatz zu uns erklären könnten, was mit Mona passiert ist.«

Obwohl er offenbar kurz vor dem Kollaps stand, stieg der Regisseur mit Suzanne unter den neugierigen Blicken einiger Crewmitglieder, denen er sie als »eine gute Bekannte« vorstellte, auf die Bühne. Bis auf die Köttel eines Tieres war das tatsächlich nur ein vollkommen leerer, ziemlich kalter Dachstuhl ohne eine einzige Versteckmöglichkeit. Danach ging es in den Keller. Nach wie vor dachte Suzanne, dass die Kamerafrau am ehesten dorthin gegangen sein musste. Unten an der Treppe konnte sie zumindest klären, was es mit der Skelettfratze auf sich hatte, die sie am Vorabend zu sehen geglaubt hatte: Es war eine am Geländer aufgehängte Maske. Sie schüttelte den Kopf.

Drei Techniker und der neue Kameramann waren damit beschäftigt, in dem düsteren, stickigen Kellerflur, an dessen Wänden Regale mit Requisiten und sonstigem, teilweise verpacktem Filmzubehör standen, Kabel zu verlegen. Am einen Ende des Flurs war eine große, viereckige Öffnung im Boden zu erkennen. Eine aufgeklappte Falltür. »Das ist das ›Loch‹«, erläuterte Petrow. »Dort haben sie Hildebrandt damals zu Tode gestürzt. In meinem Drehbuch zerlegt er da unten auch einige seiner Opfer.«

Vorsichtig näherte sich Suzanne dem Einstieg. Eine lange, beinahe senkrechte Stiege führte in einen zweiten, noch tieferen Keller.

Über herumliegende Kabel kletterten sie die schmalen, wackeligen Stufen hinunter in einen runden Raum von etwa dreißig Metern Durchmesser mit einem Boden aus gestampfter Erde, in dem es nach Moder, Schminke und Kaffee roch und der von zwei grellen Scheinwerfern ausgeleuchtet wurde.

»Wir drehen hier gleich eine Szene«, erläuterte Petrow knapp und rief dem Kameramann, der gerade herunterkam und totenblass aussah, einige harsche Befehle zu. Dann fügte er an Suzanne gewandt hinzu: »Dass es sowas wie dieses Loch gibt, einen mehrstöckigen Keller weit unter der Erde, ist sehr ungewöhnlich, vor allem für ein so altes Haus.«

Suzanne nickte und schaute sich gründlich in dem gruftartigen Raum um. Auch hier nirgends eine Versteckmöglichkeit. Petrow wurde sichtlich immer angespannter und herrschte zwei Filmleute, die im Loch an etwas arbeiteten, das wie eine altmodische, blutige Schlachtbank aussah, ständig an. Die von den Kameras aufgeheizte Luft war hier unten so stickig, dass das Atmen schwerfiel.