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In Östersund wird ein verwahrlostes elfjähriges Mädchen in einem Haus aufgefunden, in dem ein grausamer Mord stattgefunden hat. Das Kind kann sich nur durch Laute verständlich machen und scheint schwer traumatisiert. Eine Pflegefamilie nimmt das Mädchen in seine Obhut, hofft auf Fortschritte und dass es endlich sein Schweigen bricht. Aber ausgerechnet dieser Fall stellt Erik Viklund und sein Team vor neue Herausforderungen. Linnea Bergström wird unabsichtlich involviert und gerät zwischen die Fronten. Sie will auf ihre Weise Licht ins Dunkel bringen und begibt sich dadurch in große Gefahr, obwohl Henning versucht, sie mit allen Mitteln davon abzuhalten.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Anmerkung
Protagonisten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Nachwort
Weitere Bücher der Autorin
Impressum
Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.
Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Tilda rieb fröstelnd die kalten Handflächen aneinander und rief ihren Hütehundmischling Nilson zu sich heran. „Nun komm schon, du Süßer“, lockte sie den Hund, der schwanzwedelnd an ihre Seite zurückkehrte.
Obwohl der Frühling bereits seine Fühler ausstreckte, hatte der Winter das Zepter noch fest in der Hand. In Östersund dauerte es für gewöhnlich länger, bis die Sonne die weiße Pracht unter ihren wärmenden Strahlen dahinschmelzen ließ.
Tilda hatte zum Glück ihre hohen gefütterten Stiefel angezogen und stapfte durch den zentimeterhohen Neuschnee. Nilson trabte eine Weile brav neben ihr her, bis er wieder im Dickicht verschwunden war.
„Treulose Tomate“, sagte Tilda lächelnd und schaute zu einem Bussard auf, der einsam seine Kreise zog. Nachdem sie einige Meter ohne Nilson zurückgelegt hatte, blieb sie stehen.
„Nilson, hierher!“, rief sie, aber der Hund schien auf beiden Ohren taub zu sein. Nun gut, dann eben nicht, dachte sie, und setzte ihren Weg fort. Sie würde noch bis zum Ufer des Sees laufen und dann umkehren, um Nilson aufzusammeln.
Ihre klammen Hände vergrub sie in den Manteltaschen und schaute den Atemwölkchen hinterher, die in Richtung Himmel schwebten. Die langen Spaziergänge am Morgen waren ein Teil ihrer täglichen Routine geworden. Sie konnte sich glücklich schätzen, von zu Hause aus zu arbeiten. Mit Anfang fünfzig war sie beruflich noch einmal durchgestartet und hatte es nicht bereut.
Plötzlich erklang Nilsons aufgeregtes Kläffen in der Ferne und sein ungewöhnliches Verhalten versetzte Tilda in Unruhe. Ein Herdenschutzhund wie er war von Natur aus ruhig und reagierte nur auf drohende Gefahr.
„Nilson?“, rief Tilda besorgt. „Nilson, sofort hierher!“
Aber der Rüde hatte auf stur geschaltet und echauffierte sich lautstark. Sein tiefes Bellen hallte durch die Landschaft und Tilda fühlte sich zunehmend unwohl. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Und so, wie Nilson sich hineingesteigert hatte, könnte es sich durchaus um einen Wolf handeln.
Sie atmete noch einmal tief durch, bevor sie sich aus ihrer Starre löste und die Richtung einschlug, in der sie Nilson vermutete. Wahrscheinlich hatte er ein Wildtier gestellt, denn er schien sich nicht von der Stelle zu bewegen. Tilda kämpfte sich durch dichtes Buschwerk, dessen harte Dornen sich in ihrer Wollmütze und dem Schal verfingen. Leise fluchend setzte sie sich die Mütze wieder auf und bog die Zweige auseinander.
Nur wenig später hatte sie eine freie Fläche erreicht, auf der ein falunrotes Häuschen mit weißen Fensterläden stand. Soweit sie wusste, lebte hier eine betagte Frau, die von ihrem Sohn betreut wurde.
Nilson stand mit aufgestelltem Nackenfell direkt vor dem Eingang und veranstaltete ein fürchterliches Theater. Die Tür stand offen und schwang sacht hin und her. Seltsam, dachte Tilda und näherte sich dem Haus.
„Ist ja schon gut“, versuchte sie, Nilson zu beruhigen, und griff nach dem Halsband des Hundes, um ihn mit sich zu ziehen. Aber Nilson sträubte sich. „Allein werde ich auf gar keinen Fall hineingehen, du bleibst schön an meiner Seite“, sagte sie und legte ihn an die Leine.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie den Flur betrat. Ein merkwürdiger metallischer Geruch hing in der Luft und sie schüttelte sich angewidert. Nilson stieß ein kehliges Knurren aus, das wie Donnergrollen klang. Am liebsten hätte sie sofort die Polizei verständigt, aber sie wollte sich nicht lächerlich machen. Vielleicht war die ältere Dame gestürzt oder brauchte anderweitig Hilfe.
„Hallo? Ist jemand da?“
Ihre Stimme hallte dumpf von den Wänden und alles in diesem Haus wirkte auf eine seltsame Weise bedrückend. Die angrenzende Küche lag im diffusen Dämmerlicht. Die Vorhänge waren zugezogen und es roch wie in einer Schlachterei. Tilda wusste, dass es im Alter sehr beschwerlich werden konnte, das eigene Heim in Schuss zu halten. In dieser Hinsicht baute sie fest auf die Unterstützung ihrer drei Töchter, damit ihr Haushalt später nicht im Chaos versinken würde, so wie es hier der Fall war.
Die Dielen knarrten leise unter ihren Füßen, als sie sich dem nächsten Raum zuwandte. Der Geruch verstärkte sich und Nilson zog erneut die Lefzen hoch, um ein drohendes Knurren auszustoßen.
„Ist ja schon gut“, flüsterte sie und schaute sich suchend um. Schließlich musste es einen Grund geben, warum Nilson sich so aufführte.
In dem winzigen Wohnzimmer, das den Namen eigentlich nicht verdiente, herrschte Unordnung. Getragene Kleidungsstücke lagen auf dem Boden und ein Sessel war umgestoßen. Eine weitere Tür führte direkt ins Schlafzimmer, das sie gerade betreten wollte, als sie einen Laut vernahm. Sie erstarrte in ihren Bewegungen, um zu lauschen. War das Geräusch aus dem Flur gekommen?
Mit einem Mal spannte sich die Leine und Nilson machte einen Satz nach vorn. Tilda wurde förmlich mitgerissen und stolperte ins Schlafzimmer. Auch hier waren die Vorhänge zugezogen und sie stieß mit ihrem Fuß gegen einen weichen Gegenstand.
Der Blick auf den Boden ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren – die alte Frau lag mit eingeschlagenem Schädel blutüberströmt auf dem abgewetzten Teppich.
„Oh Gott, oh Gott, oh Gott“, keuchte Tilda und wich entsetzt zurück.
Fluchtartig verließ sie das Schlafzimmer und hastete in den Flur. Erneut vernahm sie einen wimmernden Laut, aber sie hatte genug gesehen. Draußen vor der Tür stützte sie die Hände auf die Knie und rang nach Luft.
„So eine Katastrophe …“
Mit zitternden Fingern tippte sie die Notrufnummer ein und war kaum eines vernünftigen Satzes fähig. Nach mehreren Anläufen versprach die Beamtin am anderen Ende der Leitung, sofort jemanden vorbeizuschicken.
„Ach Nilson, was machen wir denn jetzt?“, murmelte Tilda.
Sie wollte nur noch weg, aber das durfte sie nicht. Nervös lief sie auf und ab und wartete vergeblich darauf, dass sich ihr Puls wieder normalisierte.
Erneut hörte sie ein leises Wimmern. Himmel, was sollte sie nur tun? Vielleicht lag der Sohn schwer verletzt im Haus und bedurfte dringend ihrer Hilfe? Aber was, wenn sich der Mörder noch in der Nähe aufhielt?
Tilda verscheuchte den beängstigenden Gedanken und fasste sich ein Herz. Sie band Nilson am Zaun fest und betrat nochmals das Haus. Die Tür zum Keller, das hatte Tilda anfangs übersehen, stand ebenfalls offen, und sie vernahm das leise Rascheln von Stoff.
„Hallo? Brauchen Sie Hilfe?“
Alles in ihr sträubte sich, die knarrenden Holzstufen in das diffuse Dämmerlicht hinabzusteigen. Fahrig wischte sie mit zitternden Fingern über das Display ihres Smartphones und richtete den Lichtstrahl nach unten. Sie entdeckte die dunklen Umrisse einer Person, die am Fuße der Treppe lag. Ein weiterer Toter?
Das schaffe ich nicht, dachte sie und wich zurück.
Erneut erklang der wimmernde Laut, dem sie sich nicht entziehen konnte. Wenn die am Boden liegende Person Hilfe benötigte, dann musste sie ihre Angst überwinden. Nicht auszudenken, wenn dieser Mensch verstarb, nur weil sie sich nicht im Griff hatte.
Nilson kläffte abermals und sie konnte hören, wie das morsche Holz des alten Zauns knackte, als er sich aufbäumte. Mit klopfendem Herzen stieg sie die wackeligen Stufen hinunter, während sie sich die schlimmsten Szenarien ausmalte. Am Fuße der Treppe angekommen, lenkte sie den Strahl auf die am Boden liegende Person und ein animalischer Schrei löste sich von ihren Lippen. Keuchend griff sie sich an die Brust und schwankte.
Zu ihren Füßen lag seltsam verrenkt der Sohn der alten Dame und hielt noch immer die blutige Axt mit seiner rechten Hand umklammert. Er musste gestürzt sein und hatte sich dabei wohl das Genick gebrochen. Tilda stupste den Mann mit der Stiefelspitze an. Er war mausetot.
Ob er seine Mutter in einem Anfall von Raserei getötet hatte? Aber was hatte er dann ausgerechnet im Keller gewollt? Und woher war das wimmernde Geräusch gekommen?
Tilda befürchtete das Schlimmste, als sie den Lichtstrahl durch den Kellerraum wandern ließ. Zwei rostige Fahrräder mit platten Reifen, ein altertümlicher Holzschlitten, eine defekte Saftpresse, jede Menge Gerümpel und …
Ihr stockte der Atem, als sie nackte Füße und den schmutzigen Saum eines weißen Nachthemdes hinter einer alten Eichentruhe entdeckte. Wie in Trance näherte sie sich und war schockiert. Auf dem kalten Boden hockte ein Mädchen, das sich schützend die Hand vor die Augen hielt, als der Lichtstrahl es blendete. Es konnte nicht älter als zwölf oder dreizehn Jahre alt sein, wirkte verwahrlost und verstört.
„Komm, reiche mir deine Hand, damit ich dich in Sicherheit bringen kann“, sagte Tilda mit sanfter Stimme. Sie schmeckte die bittere Galle und ahnte, warum der Sohn des Hauses am Fuße der Kellertreppe lag. Nicht auszudenken, was er hätte anrichten können, wenn er nicht gestürzt wäre.
Das Mädchen duckte sich ängstlich unter ihren Worten und Tilda zog überrascht die Hand zurück. „Du musst wirklich keine Angst haben, ich will dir doch nur helfen.“
Tilda war irritiert und mit der Situation komplett überfordert, weil sich das Mädchen wenig kooperativ zeigte. Gutes Zureden half nichts und sie betrachtete es aufmerksam. Feuerrotes, lockiges Haar, grüne Katzenaugen und ein hübsches Gesicht. Woher stammte das Kind? Und warum hatte sie es vorher noch nie gesehen?
Sie startete einen weiteren verzweifelten Versuch, das Mädchen zu überzeugen. „Nun komm schon, dieser Ort ist nicht gut für dich.“ Aber es wandte Tilda wieder den Rücken zu. „Ich muss nach draußen zu meinem Hund, du hörst ja, wie aufgeregt er ist“, sagte sie.
Sie drehte sich um und hetzte die Stufen wieder nach oben hinaus ins Freie. Nilson wedelte mit seiner Rute, als sie sich ihm näherte, und legte seine schweren Pfoten auf ihre Schultern. Tilda vergrub ihr Gesicht im Fell des Hundes.
„Du bist ein Guter. Danke, dass ich mich immer auf dich verlassen kann“, flüsterte sie und strich ihm durchs dichte Winterfell. In der Ferne konnte sie die Sirenen hören. Endlich. Sie atmete auf. Die Verantwortung lastete nun nicht mehr auf ihren Schultern, die Beamten würden schon wissen, was zu tun war. Ganz besonders im Falle des verstörten Mädchens.
Der Streifenwagen kam kurz vor dem Haus zum Stehen und wirbelte den frisch gefallenen Schnee auf. Tilda erteilte dem Rüden ein strenges Kommando, der sich sofort hinsetzte.
„Sind Sie Tilda Hansson, die uns verständigt hat?“, fragte der junge Mann, der seinem Rang nach zu urteilen erst vor Kurzem seine Ausbildung beendet haben musste.
„Ja, die bin ich“, bestätigte Tilda.
„Waren Sie schon im Haus?“
Sie nickte. „Ich wollte nachsehen, ob ich helfen kann, aber …“ Sie stockte.
„Bitte atmen Sie tief durch“, sagte der Beamte. „Und jetzt noch einmal von vorn.“
„Im Schlafzimmer liegt die Besitzerin des Hauses. Der Sohn hat ihr wahrscheinlich mit der Axt …“ Sie stockte.
„Wo ist der Mann?“
„Er liegt im Keller, er … er ist tödlich gestürzt“, stammelte sie.
„Befinden sich weitere Personen im Haus?“
„Ja, ein etwa zwölfjähriges Mädchen, aber ich kenne das Kind nicht.“
„Sollen wir auf Verstärkung warten?“, fragte der jüngere Beamte seinen Kollegen.
„Nein, wir gehen rein.“
Nacheinander betraten die Beamten das Haus und gaben über Funk die Einzelheiten durch. Ein weiteres Fahrzeug näherte sich dem Haus und parkte hinter dem Streifenwagen. Die Beamten in weißen Schutzanzügen blieben abwartend im Wagen sitzen.
Nur wenige Minuten später hatte sich eine regelrechte Fahrzeugkolonne ihren Weg durch das unwegsame Gelände gebahnt und Tilda verfolgte aufmerksam das Geschehen. Sie wollte nur noch nach Hause zurück, einen warmen Tee aufsetzen, die Beine unter dem Küchentisch ausstrecken und diesen Albtraum vergessen. Aber das würde wohl niemals mehr möglich sein. Warum war sie mit Nilson nicht in die entgegengesetzte Richtung gelaufen, so, wie sie es von Anfang an vorgehabt hatte?
Ein blonder Mann und eine bildhübsche Frau in den besten Jahren stiegen aus einem anthrazitfarbenen Volvo und steuerten direkt auf Tilda zu.
„Hallo, ich bin Kriminalhauptkommissar Erik Viklund und das ist meine Kollegin Greta Nordin. Sie haben die Tote gefunden?“
„Nicht ich, sondern mein Hund“, sagte Tilda. „Er ist zu diesem Haus gelaufen und hat die ganze Zeit über gebellt. Als ich nachsehen wollte, ach …“ Ihre Stimme erstarb.
„Wir werden Sie trotzdem vorladen, damit Sie Ihre Zeugenaussage auf der Polizeibehörde zu Protokoll geben können.“
„Kein Problem. Dürfte ich jetzt nach Hause gehen?“, bat Tilda leise.
„Ihre Personalien wurden bereits aufgenommen?“
„Nein.“
„Dann wird das ein Kollege übernehmen.“
Der Kommissar winkte einen Kollegen zu sich heran und nachdem sich Tilda ausgewiesen hatte, durfte sie endlich gehen. Nilson freute sich unbändig, als sie die Leine vom Zaun löste und seine Rute wedelte wie ein Propeller. Sie entfernte sich mit schnellen Schritten und der Schnee knirschte leise unter ihren Sohlen. Nichts würde mehr so wie früher sein.
Er schob seine kalten Hände in die Manteltaschen und beobachtete aus sicherer Entfernung das Szenario. Die Polizisten liefen wie eine Schar aufgescheuchter Hühner herum, kein Wunder bei diesem unschönen Tatort. Die Frau, deren Köter fast durchgedreht war, hatte inzwischen das Weite gesucht.
Zwei Beamte bemühten sich vergebens, das kleine rothaarige Biest aus dem Keller zu locken, und er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Was für eine Tragödie! Sie würden noch ihre wahre Freude mit dem Mädchen haben.
Im Haus war es ziemlich heftig zugegangen, ein ungleicher Kampf. Nun ja, manchmal gewinnt man und manchmal verliert man, dachte er amüsiert. Aber die Natur nahm keinerlei Rücksicht auf den Schwächeren. Entweder biss man sich durch oder man wurde zum Opfer. Und er hatte gewiss nicht vor, in die Opferrolle zurückzukehren.
So wie es aussah, hatten die Kriminaltechniker in ihren weißen Schutzanzügen im Erdgeschoss mit der Arbeit begonnen. Ein weiteres Fahrzeug hielt, aus dem ein Mann und eine zierliche Frau ausstiegen. Allein an der Körperhaltung konnte er erahnen, dass die zwei hier das Sagen hatten. Wölfe erkannten einander.
Ja, auch er machte seine Beute, ging den Weg des geringsten Widerstandes und pickte sich die Schwächsten heraus. Wozu Ressourcen verschwenden?
Beinahe hätte er laut losgelacht, aber er zog sich stattdessen tiefer ins Dickicht zurück. Er würde noch ein paar Minuten bleiben, um das Schauspiel zu genießen, denn die Gelegenheit war günstig. Außerdem war er neugierig, ob es den Beamten gelingen würde, das verstörte Mädchen aus dem Keller ans Tageslicht zu holen.
Er bewegte seine Zehen in den feuchten Schuhen und fluchte leise. Die teuren Wanderschuhe waren die Kronen nicht wert gewesen. Er hatte noch einen strammen Fußmarsch vor sich, da er seinen Wagen ziemlich weit entfernt abgestellt hatte. Nun ja, der Anblick der Polizisten, die auf ihn ziemlich ratlos wirkten, war es wert gewesen.
Erik wandte sich an seine Kollegin. „Greta, die Kollegen brauchen dringend deine Hilfe. Das Mädchen hat sich hinter der Truhe verschanzt und beißt und kratzt, wenn man es nach draußen bringen will. Die Kriminaltechniker wollen mit ihrer Arbeit beginnen.“
„Alles klar, ich werde mein Bestes geben“, antwortete sie und stieg die Stufen in den Keller hinunter.
Erik folgte ihr und blieb am Fuße der Treppe stehen. Er warf einen Blick auf den leblosen Körper von Ole Jonsson und fragte sich, wann und warum dieses Drama seinen Lauf genommen hatte.
„Erik?“
„Äh, ja?“
„Verständige bitte die Jugendhilfe“, sagte sie und formte anschließend mit den Lippen das Wort Psychologe.
Erik hob die Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und lief nach oben. Er beschrieb der Leiterin der Jugendhilfe die ungewöhnliche Situation und Sigrun Lind erklärte sich sofort bereit, alles in die Wege zu leiten und eine passende Pflegefamilie zu organisieren.
„Wir können uns überhaupt nicht erklären, woher dieses Mädchen stammt“, sagte Erik.
„Wahrscheinlich haben Verwandte aus einer Notsituation heraus das Kind dort untergebracht.“
„Die Kollegen durchforsten mittlerweile die freigegebenen Räume auf der Suche nach Hinweisen.“
„Kontrollieren Sie die Telefonliste, da sind Sie mit Sicherheit schneller am Ziel.“
„Das ist bereits geschehen, jedoch ohne Erfolg.“
„Vielleicht könnte es sich auch um eine uneheliche Tochter handeln“, sagte Sigrun.
„Wir gehen der Sache nach, aber jetzt bauen wir auf Ihre Unterstützung.“
„Ich werde zwei erfahrene Kolleginnen vorbeischicken, die sich um das Mädchen kümmern“, versprach sie und legte auf.
Erik schob sein Smartphone wieder in die Jackentasche und kehrte in den Keller zurück. Greta hockte neben der Truhe und strich sacht mit den Fingerspitzen über den Arm des Mädchens.
„Alles ist gut, du bist jetzt in Sicherheit.“
Greta hatte ein Händchen für derartige Situationen, und ihr gelang tatsächlich, woran andere scheiterten. Das Mädchen drehte sich zu ihr um und stand zögerlich auf. Greta legte ihren Arm um das Kind und führte es behutsam zur Treppe.
„Möchtest du mir deinen Namen verraten?“, fragte sie.
Das Mädchen stieß einen unverständlichen Laut aus.
„Kannst du sprechen?“ Greta lächelte freundlich, aber das Mädchen senkte seinen Blick.
Erst jetzt fiel Erik auf, wie dünn und ungepflegt sie war. Das verschmutzte Nachthemd schlotterte um ihren mageren Körper und das feuerrote Haar hing ihr strähnig ins Gesicht. Dennoch …
Ihm fehlten die passenden Worte, um das Mädchen genau zu beschreiben. Da war diese Aura, die es umgab – geheimnisvoll, düster, unnahbar. Wahrscheinlich waren nur die grauenvollen Umstände daran schuld.
Er folgte Greta und dem Mädchen nach draußen. Die zwei Mitarbeiterinnen der Jugendhilfe waren bereits eingetroffen und nahmen das Kind in Empfang. Sie teilten ihnen die Adresse der Pflegefamilie mit und traten sofort den Rückweg an.
Er drehte sich zu Greta. „Was hältst du von dem Ganzen?“
„Bizarr, ein anderes Wort fällt mir dazu nicht ein“, erwiderte sie. „Hoffentlich ist die Kleine in ein paar Tagen vernehmungsfähig. Mich würde brennend interessieren, welches Drama sich in diesem Haus abgespielt hat.“
„Tja, man hört und liest ja immer wieder von diversen Familientragödien, wo ein Wort das andere ergibt, bis einem der Anwesenden der Geduldsfaden reißt“, sagte Erik.
„Aber nicht jeder greift zu einer Axt, um seine Mutter zu attackieren.“
„Ich finde es generell seltsam, wenn Männer in den besten Jahren noch bei ihrer Mutter wohnen.“
„Auch wieder wahr.“ Greta nickt zustimmend.
„Ich werde mal zu Sven gehen und nachfragen, ob er schon Neuigkeiten hat“, sagte Erik.
„In Ordnung. Ich schaue mich währenddessen auf dem Grundstück um.“
Sven Bergman, der Rechtsmediziner, befand sich noch im Schlafzimmer der alten Dame.
„Hallo Sven, schon neue Erkenntnisse?“, fragte Erik.
„Mehr oder weniger. Dass ein Kampf stattgefunden hat, muss ich dir nicht erklären, es gibt unzählige Abwehrspuren. Was mich jedoch erstaunt, dass es so viele sind. Ich meine, ihr Sohn hat eine kräftige Statur, ein Hieb und die alte Dame wäre sofort zu Boden gegangen.“
„Vielleicht wollte er sie anfangs nur einschüchtern, während ihm im Eifer des Gefechts dann doch die Sicherung durchgebrannt ist.“
„Nun ja, das wirst du ihn leider nicht mehr fragen können“, erwiderte Sven.
„Sehr witzig.“ Erik schob die Hände in die Hosentaschen. „Bist du schon im Keller gewesen?“
„Nur kurz, um den Tod des Mannes festzustellen.“
„Und?“
„Wie ungelenk muss dieser Mann die Stufen hinuntergestiegen sein, um auf diese Weise zu stürzen?“, sagte Sven kopfschüttelnd.
„Er war anscheinend in Eile, um die einzige Zeugin zu beseitigen.“
„Sieht wohl so aus. Die üblichen Familiendramen halten uns stets auf Trab.“
„Wenn du nichts weiter für mich hast, würde ich wieder ins Büro zurückfahren.“
„Mach das. Ich werde nur noch die Daten eintragen.“
„Na dann, wir hören wieder voneinander.“
Erik lief nach draußen, um Greta einzusammeln. Bis auf die Identität des Mädchens würde es nicht viel zu ermitteln geben, die Beweislage war mehr als offensichtlich. Sie fuhren zurück, gönnten sich eine kurze Kaffeepause, um sich dann mit dem Team zu einer Lagebesprechung im Konferenzraum einzufinden. Die Stimmung war gelöst, weil keine Sonderkommission gebildet werden musste.
„Wie ist der Stand der Dinge?“, fragte Erik in die Runde.
Greta meldete sich als Erste zu Wort. „Ich habe mit Sigrun Lind von der Jugendhilfe gesprochen, das Mädchen kann sich bedauerlicherweise nur mit Lauten verständlich machen.“
„Wie das?“, fragte Lasse.
„Jördis, die Psychologin, ist an der Sache dran, mehr kann ich dazu nicht sagen. Sie vermutet ein gravierendes Trauma.“
„Kein Wunder, bei dem, was sie mit ansehen musste. Konnte die Identität des Mädchens gelüftet werden?“
„Leider nein, obwohl die Kriminaltechniker das Haus auf den Kopf gestellt haben“, antwortete Lasse resigniert. „Keine Unterlagen, keine Telefonnummern, nichts.“
„Vermisstenanzeigen?“, hakte Erik nach.
Auch auf diese Frage folgte nur das ratlose Kopfschütteln seiner Kollegen.
„Das ist mir unbegreiflich. Sie kann doch nicht vom Himmel gefallen sein“, sagte er.
„Ich habe schon beim Telefonanbieter die Anruflisten angefordert. Am späten Nachmittag sollen sie gefaxt werden“, erwiderte Lasse.
„Immerhin etwas. Wir müssen so schnell wie möglich herausfinden, wer das Mädchen ist, um den Fall abschließen zu können.“
Die Kollegen pflichteten ihm bei, während Erik nachdenklich an seinem mittlerweile kalten Kaffee nippte. Er hatte sich mehr erhofft.
„Schatz, ich bin fertig“, rief Henning und rubbelte mit dem Handtuch sein Haar trocken.
Linnea schlug die Bettdecke zurück und tappte mit müden Schritten ins Badezimmer. Es verlangte eine Menge schauspielerisches Talent, das morgendliche Unwohlsein vor Henning zu verbergen. Schon längst hatte sie das Thema ansprechen wollen, aber sich stets davor gescheut. Nicht der richtige Zeitpunkt, nicht der passende Ort, nicht …
Leise stöhnend stützte sie sich auf dem Waschbecken ab und betrachtete ihr Spiegelbild. Traurige Augen, die ihr entgegenblickten, das Gesicht leicht aufgedunsen. Henning hatte ihre depressive Gemütsverfassung natürlich bemerkt und machte sich Sorgen. Das wiederum setzte sie unter Druck. Warum hatte sie sich bloß auf diesen bärbeißigen Viklund eingelassen? Sie bedauerte, das Rad der Zeit nicht zurückdrehen zu können.
„Ich koche schon mal einen Kaffee“, rief Henning durch die geschlossene Badezimmertür.
Seine Fürsorge beschämte sie und sie hatte schon mehrmals darüber nachgedacht, die Beziehung zu beenden. Er hatte etwas Besseres verdient.
Frustriert wischte sie die Tränen mit dem Handrücken fort. Sie musste endlich reinen Tisch machen, egal wie schlimm es für sie werden würde. Augen zu und durch. Heutzutage war es keine Schande mehr, ein Kind allein großzuziehen.
Sie putzte ihre Zähne, stieg unter die Dusche und ging anschließend in die Küche, um mit Henning gemeinsam zu frühstücken.
„Und, was hast du heute Schönes vor?“, fragte er gut gelaunt.
Lustlos zuckte sie mit den Schultern. „Du hast doch sicher von der Familientragödie gehört? Der Sohn soll seine Mutter erschlagen haben.“
„Ja, so etwas spricht sich wie ein Lauffeuer herum.“ Henning biss in seinen Käsetoast.
„Besson hat mich damit beauftragt, einen Artikel darüber zu schreiben. Weil die Herkunft des Mädchens ungeklärt ist, muss ich noch ein wenig recherchieren.“
„Das klingt nach einer spannenden Aufgabe“, antwortete Henning. „Aber pass bitte auf dich auf, ja? Ich will nicht den wichtigsten Menschen in meinem Leben verlieren.“
Das schlechte Gewissen war kaum auszuhalten, Linn schämte sich abgrundtief.
„Ich werde ein Interview mit Sigrun Lind führen und danach zum Haus fahren, um ein paar Fotos zu schießen und die Eindrücke auf mich wirken zu lassen. Also nichts Weltbewegendes.“
„Muss der Besuch des Hauses wirklich sein?“ Henning zog fragend die Stirn kraus.
„Wenn ich einen Artikel schreibe, dann muss ich mich in die Gegebenheiten einfühlen. Einfach etwas lieblos hinzuschmieren ist nicht meine Art, verstehst du?“
„Und ob ich das verstehe“, antwortete Henning. „Genau aus diesem Grund habe ich mich in dich verliebt, weil du ein warmherziger und zielstrebiger Mensch bist.“ Er stand auf, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Wange. „Ich muss jetzt los und wünsche dir einen schönen Tag. Halte trotzdem die Augen offen, wenn du dich dort draußen umschaust.“
„Das werde ich, Henning. Versprochen.“
Sie hörte, wie die Eingangstür ins Schloss fiel und der Motor seines Wagens ansprang. Seine Fürsorglichkeit rührte sie jedes Mal aufs Neue. Himmel, sie musste endlich ihr Schweigen brechen und für klare Fronten sorgen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich verlogen und feige. Sie wollte Henning nicht verlieren, schon gar nicht, wo es so gut zwischen ihnen lief. Er war der Mann, auf den sie ihr Leben lang gewartet hatte. Und dennoch …
Karin hatte den Standpunkt vertreten, dass ihre Absichten Henning gegenüber nicht der Wahrheit entsprachen. Dass Linn, wenn auch unbewusst, die Chance ergriffen hatte, ihren verborgenen Gefühlen für Erik nachzugeben.
Blödsinn, dachte Linn und verbannte diese unangenehmen Gedanken aus ihrem Kopf. Sie leerte die Kaffeetasse und räumte den Tisch ab, den Henning wie üblich liebevoll gedeckt hatte. Im Badezimmer legte sie noch ein wenig Make-up auf, um die dunklen Augenringe zu kaschieren, zog sich im Flur Jacke und Mantel über und machte sich auf den Weg zu Sigrun Lind.
Die kurze Strecke hatte sie rasch zurückgelegt und stellte den Volvo auf einem Parkplatz in Fußnähe ab. Dann betrat sie das Gebäude, in dem die Jugendhilfe untergebracht war.
„Guten Morgen, Frau Bergström.“ Sigrun Lind reichte ihr zur Begrüßung die Hand. „Folgen Sie mir doch bitte in mein Büro.“
Linn lief hinter ihr den langen Flur entlang und betrat das Büro, das sehr behaglich eingerichtet war. Verschiedene Topfpflanzen in unterschiedlichen Wachstumsstadien säumten das Fensterbrett und besiedelten die Aktenschränke. Bunte Bilder schmückten die Wände, die von Kindern gemalt worden waren.
„Setzen Sie sich doch.“ Sigrun deutete auf einen bequemen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. „Also, was wollen Sie wissen?“
„Ich würde gern mehr über das Mädchen erfahren. Aber Sie müssten mich kurz briefen, was ich für den Artikel verwenden darf und was nicht.“
„Nun ja, die Angelegenheit gestaltet sich ziemlich schwierig …“, sagte Sigrun zögerlich.
„Inwiefern?“
„Wir hatten recht schnell eine passende Pflegefamilie gefunden, die bereits zwei Kinder von uns betreut. Aber Madita – wir haben gemeinsam diesen Namen ausgesucht, um sie überhaupt ansprechen zu können – hat sich von unseren Plänen wenig begeistert gezeigt.“ Sigrun stieß einen tiefen Seufzer aus.
„Sind diese Informationen für die Presse relevant?“
„Eher nicht. Ich möchte unbedingt vermeiden, dass man uns unprofessionelles Verhalten vorwirft.“
„Ich verstehe“, erwiderte Linn.
„Madita ist so verstört, dass sie auf die anderen Kinder losgegangen ist. Sie hat die Kleinen gebissen und gekratzt, sobald sich diese ihr genähert haben. Die Psychologin war der Meinung, dass ein Haushalt ohne weitere Pflegekinder besser geeignet wäre.“
„Haben Sie schon eine passende Familie gefunden?“
„Nein, wir sind noch auf der Suche.“
„Wenn Sie dem Mädchen einen Namen gegeben haben, dann bedeutet das sicherlich, dass sie immer noch nicht spricht. Oder irre ich mich da?“
„Tja, das ist das große Problem an dieser Geschichte. Ich kann nur hoffen, dass wir das Rätsel um Maditas Herkunft bald lösen können.“
„Wie gestaltet sich der Alltag mit ihr? Isst und trinkt sie normal, leidet sie unter Albträumen?“
„Die Pflegemutter hat mir berichtet, dass die Portionen, die sie zu sich nimmt, denen eines Spatzen gleichkommen. Außerdem würde Madita nachts durchs Haus geistern und ihnen den Schlaf rauben. Eine ungünstige Konstellation, da die anderen Pflegekinder morgens zur Schule müssen.“
„Ich habe mir schon gedacht, dass es schwierig werden würde, bei dem, was dieses Mädchen erlebt haben muss“, sagte Linn.
„Am besten wäre natürlich für alle Beteiligten, wenn sich die Eltern von Madita recht bald melden würden. Ich stelle mir immer wieder die Frage, warum ausgerechnet die Jonssons das Mädchen aufgenommen haben.“ Sigrun schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich meine, das Kind hätte bei der Behörde gemeldet werden und zur Schule gehen müssen. Außerdem finde ich es erstaunlich, dass keine persönlichen Dinge von ihr im Haus gefunden wurden. Madita wird dieses altmodische Nachthemd doch nicht Tag und Nacht getragen haben?“
Sigrun Lind zuckte ratlos mit den Schultern, aber auch Linn dachte sich ihren Teil. War das Mädchen vielleicht gefangen gehalten worden? An Missbrauch wollte sie gar nicht erst denken.
„Ist das Mädchen einem Arzt vorgestellt worden?“
„Selbstverständlich.“ Sigrun errötete.
„Und?“
Die Leiterin holte tief Luft. „Ich möchte, dass davon nichts an die Öffentlichkeit dringt, versprechen Sie mir das?“
„Sie können auf mein Wort zählen“, antwortete Linn.
„Eigentlich dürfte ich Ihnen das gar nicht sagen, aber die Kleine ist keine Jungfrau mehr.“
„Also doch Missbrauch?“
„Wir wissen es nicht genau, aber es sieht ganz danach aus.“
„Das macht mich fassungslos“, sagte Linn.
„Das ging uns ähnlich. Wahrscheinlich ist es zu diesem Eklat gekommen, als die Mutter mitbekommen hat, was ihr Sohn da mit dem Mädchen treibt. Aber letztlich müssen wir die Ermittlungen abwarten. Bitte berichten Sie nur von Maditas Verwahrlosung und dass sie von nun an jede erdenkliche Hilfe erhält. Wer Hinweise auf die Identität des Kindes geben kann, soll sich an die Polizei oder an die Jugendhilfe wenden.“
„Das werde ich tun, vielen Dank für Ihr Vertrauen.“ Linn erhob sich und schulterte ihre Tasche.
„Warten Sie, ich begleite Sie nach draußen“, sagte Sigrun Lind und brachte Linn vor die Tür, wo sie sich von ihr verabschiedete.
Linn warf die Tasche auf den Beifahrersitz und glitt hinters Steuer. Was für ein bizarrer Fall, dachte sie und war dankbar für den Vertrauensbonus, den Sigrun Lind ihr gewährt hatte. Dann startete sie den Motor und ließ Östersund hinter sich.
Das Anwesen der Jonssons lag außerhalb und ein unbefestigter Schotterweg führte zum Haus. Die vielen Fahrzeuge hatten den einst so unberührten Schnee in eine braune matschige Masse verwandelt. Holpernd bewegte sich ihr alter Volvo über die Piste, bis er einige Meter vor dem Haus zum Stehen kam. Einzelne Nebelschwaden webten sich zwischen den Bäumen entlang und verliehen der Umgebung einen gespenstischen Touch.
Linn stieg aus dem Wagen und rieb sich fröstelnd über die Arme. Was für ein ungemütlicher Tag. Sie machte ein paar Fotos und näherte sich dem Haus. An der Eingangstür befand sich wie erwartet das polizeiliche Siegel und verwehrte ihr den Eintritt. Sie warf stattdessen einen neugierigen Blick durch die Fenster im Erdgeschoss. Bis auf einen umgeworfenen Stuhl deutete nichts auf einen Kampf hin und im Schlafzimmer waren die Vorhänge zugezogen.
Vielleicht auch besser so, dachte Linn. Seit ihrer Schwangerschaft war sie noch dünnhäutiger geworden, was diese Dinge betraf. Nicht nur einmal hatte sie erwogen, diese Art von Journalismus ad acta zu legen und stattdessen einen Blog zu eröffnen, um in Zukunft ihre Brötchen auf diese Weise zu verdienen. Sie konnte gut recherchieren und spannende Geschichten erzählen und würde damit sicher einige Leser anlocken. Aber noch war es nicht soweit.
Sie umrundete das Haus und machte sich währenddessen einige Notizen. Der kleine Garten im hinteren Bereich wirkte verwahrlost und auch die Dachrinne hätte repariert werden müssen. Hier draußen war es schon recht einsam ohne einen einzigen Nachbarn weit und breit. Ein Bach plätscherte leise murmelnd vor sich hin, an dessen Rand sich hübsche Eisformationen gebildet hatten. Aber der Frühling stand in den Startlöchern und die Sonne würde Eis und Schnee bald zum Schmelzen bringen.
Sie war so in die Erkundung des Grundstücks vertieft, dass sie ihren Blick erschrocken hob, als ein paar Meter neben ihr etwas auf den Boden fiel. Hatte jemand einen Stein nach ihr geworfen? Ängstlich presste sie den Notizblock an ihre Brust und schaute sich suchend um.
„Hallo?“
Natürlich war es nicht gerade von Vorteil, auch noch die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber wer verhielt sich in solchen Situationen schon rational?
Ihr Blick wanderte zu dem dichten Dornengestrüpp, das einige Meter vom Haus entfernt wucherte. Linn glaubte, rotes flammendes Haar zwischen den einzelnen Zweigen zu erkennen, war sich aber nicht sicher. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und schaute nochmals hin.
Ein Fuchs preschte plötzlich aus dem Dickicht und war innerhalb weniger Sekunden aus ihrem Blickfeld verschwunden. Sie stieß ein erleichtertes Lachen aus. Bloß gut, dass sie die Fotos schon gemacht hatte. Sie eilte zum Wagen zurück, riss die Autotür auf und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Die mysteriöse Geschichte des stummen Mädchens mit dem Flammenhaar machte sie nervös, und das abgelegene Haus tat sein Übriges dazu.
Linn drehte den Schlüssel im Zündschloss herum, wendete und fuhr auf dem schnellsten Weg nach Östersund zurück.
Astrid Michelsen deckte den Tisch für das Abendessen. Der Gemüseauflauf im Backofen verströmte einen appetitlichen Duft und sie hoffte, dass es dem neuen Gast schmecken würde. Bisher hatte das Mädchen all die Gaumenfreuden, die sie liebevoll zubereitet hatte, verschmäht. Aber Astrid war voller Zuversicht, dass sich das rasch ändern würde.
„Björn, Madita, das Essen ist fertig“, rief sie in Richtung Flur und stellte die dampfende Keramikschale auf den Tisch.
Björn tauchte als Erster in der Küche auf und kurz darauf setzte sich Madita ebenfalls zu ihnen an den Tisch. Astrid verteilte die Portionen und wünschte ihrem Mann und Madita einen guten Appetit.
Das Mädchen stocherte wie üblich lustlos mit der Gabel auf dem Teller herum und schob die Gemüsestücke von einer Seite auf die andere. Astrid war schon kurz davor, Madita zu ermahnen, aber Björn schüttelte kaum merklich seinen Kopf. Er empfand ähnlich und sie schenkte ihm einen dankbaren Blick.
„Madita, du musst etwas zu dir nehmen“, bat er.
Seine Worte schienen sie nicht zu erreichen, denn sie verzog keine Miene.
„Madita, was ist los?“, fragte nun auch Astrid mit sanfter Stimme, ohne eine Reaktion zu erhalten.
Björn zuckte ratlos mit seinen Schultern. „Jetzt komm schon“, hob er abermals seine Stimme. „Du musst eine Kleinigkeit essen, wenigstens mir zuliebe.“
Und tatsächlich, Madita hob den Kopf und musterte Björn mit einem tiefgründigen Blick aus ihren grünen mandelförmigen Augen. Dann führte sie die Gabel zu den Lippen und begann die große Portion zu essen.
„Wunderbar“, freute sich Björn und strahlte übers ganze Gesicht. „Siehst du, Astrid, ich wusste, dass wir es schaffen.“
Astrid schluckte und konnte Björns Freude nicht teilen. War sie tatsächlich eifersüchtig, weil es ihr nicht wie üblich gelungen war, als Erste Zugang zu einem Pflegekind zu finden?
Nach dem Abendessen räumte Astrid den Tisch ab und spülte das Geschirr. Madita hatte sich wie üblich in das Zimmer zurückgezogen. Stundenlang konnte sie am Fenster sitzen und hinausschauen. Astrid ahnte, dass es schwer werden würde, sich diesem besonderen Mädchen anzunähern. Sicher, Björn und sie hatten sich kurzfristig bereiterklärt, Madita aufzunehmen. Trotzdem hoffte sie, dass mögliche Verwandte des traumatisierten Kindes schnellstens ausfindig gemacht werden konnten.
Sie waren jetzt in einem Alter, in dem sie ein wenig mehr Ruhe und Zeit für sich beanspruchten, nachdem sie jahrelang Pflegekinder betreut hatten. Im letzten Jahr hatten sie sich sogar ein Wohnmobil zugelegt, um damit quer durch Europa zu touren. Hoffentlich machte Madita ihnen da keinen Strich durch die Rechnung.
Astrid stellte das saubere Geschirr zurück in den Schrank und klopfte anschließend an Maditas Zimmertür. „Hallo Madita, was hältst du von einem Spieleabend? Ich bin mir zwar nicht sicher, ob du das kennst, aber es macht verdammt viel Spaß.“
Madita saß natürlich wieder vor dem Fenster und starrte mit ausdrucksloser Miene hinaus in den Garten.
„Möchtest du dir vielleicht einen warmen Pullover überziehen?“, fragte Astrid, aber sie erhielt keine Antwort.
Sie konnte nicht verstehen, warum das Mädchen den ganzen Tag in der dünnen Nachtwäsche herumlief, es musste doch frieren. Dabei war Madita von der Jugendhilfe neu eingekleidet worden, aber sie rührte kein einziges der Kleidungsstücke an.
Enttäuscht schloss Astrid die Tür und ging ins Wohnzimmer, wo Björn es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte. Sie setzte sich zu ihm auf die Couch.
„Ich habe Madita einen Spieleabend vorgeschlagen. Aber ich fürchte, dass es dafür noch zu früh ist.“ Sie seufzte.
Björn legte seinen Arm um ihre Schultern. „Ach was, das ist eine tolle Idee, um das Mädchen aus seinem Schneckenhaus zu locken“, sagte er. „Wie hat sie reagiert?“
„Das Übliche, sie hat mir nicht geantwortet.“
„Hm, soll ich es noch einmal versuchen?“
„Wenn du meinst …“, antwortete Astrid.
„Na klar.“ Björn klopfte sich enthusiastisch auf die Schenkel und stand auf. Nur eine Minute später kehrte er mit Madita im Schlepptau ins Wohnzimmer zurück. „Einem gemeinsamen Spieleabend steht nun nichts mehr im Wege“, verkündete er freudig.
Björn hatte ein Händchen für schwierige Persönlichkeiten. Weil ihnen eigene Kinder verwehrt geblieben waren, hatten sie sich in jungen Jahren dazu entschlossen, Pflegekindern ein Heim zu schenken. Und bis zum heutigen Tag hatten sie diese Entscheidung nicht bereut.
Astrid holte ein Kartenspiel aus dem Schrank, dass Madita nicht überfordern würde. Geduldig erklärte sie ihr, worauf sie achten musste. Die grünen Augen des Mädchens musterten sie aufmerksam und Astrid fühlte sich unwohl. Sie setzte sich an den Esszimmertisch und teilte die Karten aus.
„Madita, kannst du zählen?“, fragte Björn.
Astrid meinte, ein leichtes Schulterzucken zu sehen, war sich aber nicht sicher.
„Nun gut, fangen wir an“, sagte er freundlich lächelnd.
Zu Astrids Erstaunen beherrschte Madita tatsächlich die Regeln des Spiels, aber als es zum Auszählen der Spielkarten kam, wusste das Mädchen nicht weiter. Astrid versuchte mit einer Engelsgeduld, Madita das Zählen beizubringen, aber Björn winkte irgendwann ab.
„Das ist wahrscheinlich doch zu viel für sie“, raunte er ihr zu.
„In Ordnung, beenden wir das Ganze. Ich habe sowieso leichte Kopfschmerzen und wollte zeitig ins Bett“, sagte Astrid. „Madita, ich wünsche dir eine gute Nacht und schlaf schön.“
Nach einer ausgiebigen Dusche zog sie sich ins Schlafzimmer zurück, und es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen war. Sie erwachte kurz, als Björn sich neben sie legte.
„Astrid, bist du noch wach?“, flüsterte er.
„Mhm.“
„Ob du es glaubst oder nicht, Madita kann jetzt bis zehn zählen“, berichtete er voller Stolz.
„Ich dachte, du wolltest sie nicht überfordern?“
„Sie hat sich mit Lauten verständlich gemacht, dass ich ihr das Zählen beibringen soll. Klasse, oder?“ Er klang enthusiastisch.
Manchmal vermisste auch sie das Gefühl, wieder gebraucht zu werden, und sie konnte Björn nur zu gut verstehen. Und dass Madita nach diesen schockierenden Erlebnissen überhaupt wieder am Leben teilnahm, grenzte schon an ein Wunder.
„Gute Nacht, Björn“, murmelte sie und drehte sich auf die andere Seite. „Wir sind auf dem richtigen Weg, ganz sicher.“
„Das denke ich auch …“
Mitten in der Nacht fuhr Astrid aus dem Schlaf. Hektisch tastete sie nach dem Schalter der Nachttischlampe und knipste das Licht an. Ein ungewohntes Geräusch hatte sie geweckt. Ihr Blick schwenkte nach rechts und sie stieß einen überraschten Schrei aus.
„Meine Güte, Madita, hast du mich erschreckt.“
Das Mädchen stand direkt neben ihrer Betthälfte und starrte stumm auf sie herab. Unangenehm berührt zog Astrid die Decke bis zum Kinn und setzte sich auf. Björn schnarchte leise neben ihr, ihn konnte nicht einmal ein Kanonenschlag wecken.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie nach.
Auch diesmal blieb Madita ihr eine Antwort schuldig. Ob das Mädchen schlafwandelte? Astrid rutschte nach vorn zur Bettkante und griff nach Maditas Hand, die sich kalt anfühlte.
„Geht es dir nicht gut?“
Das Mädchen entzog Astrid seine Hand, deutete auf die Bettmitte und artikulierte sich mit unverständlichen Lauten.
„Ich verstehe nicht, was du möchtest“, sagte Astrid und fühlte sich hilflos. „Soll ich dich zurück in dein Bett bringen?“
Madita schüttelte energisch den Kopf. Sie lief ein paar Schritte und blieb direkt vor der Bettmitte stehen. Astrid schwante, was sie vorhatte.
„Oh nein, du willst doch nicht etwa …“
Sie rüttelte heftig an Björns Schulter, ohne dass er davon erwachte. Madita war flink wie ein Wiesel und machte es sich zwischen ihnen bequem. Astrid umfasste das Handgelenk des Mädchens und versuchte, es aus dem Bett zu ziehen. Aber Madita sträubte sich.
„Bitte, das ist unser Bett“, flehte Astrid und verfluchte Björns narkotischen Schlaf.
Madita drehte ihr den Rücken zu und rollte sich wie ein junges Kätzchen zusammen. Astrid kamen ernste Zweifel, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatten. Schon jetzt fühlte sie sich völlig überfordert, obwohl sie ein überaus geduldiger Mensch war. Zumindest hatte sie das immer von sich gedacht.
Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere und kontrollierte im Minutentakt die Uhrzeit. Ab und zu döste sie ein, um dann wieder aus dem Schlaf zu schrecken. Am liebsten hätte sie Madita direkt in ihr Zimmer geschleift, aber sie wusste auch, dass das Mädchen Schlimmes durchgestanden hatte. Vielleicht konnte Björn ihr verständlich machen, dass sie nachts zwar um Hilfe bitten, aber keinesfalls im Ehebett nächtigen durfte.
Als endlich die zarte Morgenröte aufzog, atmete Astrid auf. Leise stahl sie sich aus dem Bett und huschte ins Badezimmer. Erst jetzt wurde ihr so richtig bewusst, wie wichtig ihr die Privatsphäre geworden war. Nach der morgendlichen Routine bereitete sie das Frühstück zu und klopfte eine halbe Stunde später an die Schlafzimmertür. Als sich nichts rührte, trat sie ein.
Die zwei schienen noch immer tief und fest zu schlafen. Madita sah wie ein kleiner Engel aus – entspannte, wunderschöne Gesichtszüge, das rötliche Haar fächerartig auf dem Kopfkissen ausgebreitet. Dennoch …
Björn war der Erste, der erwachte und sich räkelte.
„Nanu, wen haben wir denn hier an Bord?“ Verwundert hob er seinen Kopf und stupste Madita an. „Aufwachen bitte.“
Sie öffnete ihre Augen und richtete sich mit der unverwechselbaren Geschmeidigkeit einer Katze auf. Madita würde im Erwachsenenalter sicher reihenweise den Männern den Kopf verdrehen, dachte Astrid mit einem Hauch von Bewunderung, als das Mädchen aus dem Zimmer huschte.
„Hat sie die ganze Nacht über hier geschlafen?“, fragte Björn und rieb sich die Augen.
„Ja“, antwortete Astrid und setzte sich zu ihm auf die Bettkante.
„Hast du es ihr erlaubt?“
Astrid stieß einen entrüsteten Laut aus. „Nein, natürlich nicht. Sie ist, ohne lange zu zögern, auf die Matratze gekrabbelt und hat sich hingelegt. Als ich sie aus dem Bett werfen wollte, hat sie sich gesträubt, und ich konnte nicht anders, als in diesem Augenblick Mitleid zu empfinden. Vielleicht könntest du ihr begreiflich machen, dass sie das nicht darf. Noch besser wäre es allerdings gewesen, wenn du wach geworden wärst“, fügte sie vorwurfsvoll hinzu.
„Tja …“ Björn grinste verlegen und strich sich durchs Haar.
„Nun gut. Das Frühstück ist fertig, das wollte ich nur gesagt haben.“
Astrid stand auf und kehrte in die Küche zurück. Madita saß schon am Tisch, zwar frisch geduscht, aber im üblichen Nachtlook. Dieses Kind würde Björn und sie noch vor so manche Herausforderung stellen. Hoffentlich waren sie gewappnet dafür.
Erik und Greta betraten den Bereich der Rechtsmedizin und wurden wie üblich von der sterilen Kälte und dem Geruch nach Desinfektionsmitteln empfangen.
„Hallo, ihr zwei“, sagte Sven Berg zur Begrüßung.
„Dir auch einen schönen guten Morgen“, erwiderte Erik.
Sven streifte sich den Mundschutz und die Handschuhe über. „Falls ihr keine weiteren Fragen habt, können wir loslegen.“
Erik und Greta nickten wortlos.
Sven lenkte den hellen Strahl der Lampe auf den Leichnam von Hilda Jonsson. Ihr Anblick hatte es in sich, eine Seite des Schädels war eingedrückt und verunstaltet. Erik hörte, wie Greta geräuschvoll die Luft ausstieß.
„Bereit für die Obduktion?“, fragte Sven sicherheitshalber noch einmal nach und Greta nickte zustimmend.
Mit routinierten Handgriffen führte Sven Vermessungen durch und dokumentierte die Verletzungen. Im Anschluss daran öffnete er den Körper der alten Dame, um die inneren Organe zu entnehmen und zu wiegen. Am Ende vernähte er die Körperöffnung mit großen Stichen und schob Hilda Jonsson zurück ins Kühlfach.
„Ich habe ja schon einige Opfer von häuslicher Gewalt auf meinem Tisch liegen gehabt, aber dieser alten Dame wurde übel mitgespielt“, sagte Sven.
„Inwiefern?“, fragte Erik.
„Entweder stand der Sohn unter Drogen- oder Alkoholeinfluss oder er hatte seine Brille nicht aufgesetzt. Die Axthiebe sind so stümperhaft ausgeführt, dass Hilda Jonsson bis zu ihrem Tod sehr gelitten haben muss. Ob Mutwilligkeit dahintersteckt, kann ich erst nach erfolgter Obduktion des Sohnes und der Auswertung der Laborbefunde sagen.“
Erik nickte Sven zu. „Na dann, worauf wartest du?“
Sven zog das Laken von Ole Jonsson und begann mit dem Prozedere.
„Die Todesursache war Genickbruch, aber das wisst ihr sicher schon“, kommentierte Sven. „Allerdings fällt mir auf, dass auf seiner Kleidung Blutspritzer fehlen, die bei der Tötung seiner Mutter unweigerlich hätten entstehen müssen.“
„Hast du schon eine Vermutung, warum das so ist?“, fragte Greta.
„Nicht wirklich, wenn ich ehrlich bin. Wenn ich den Eintrittswinkel der Axt vor Augen habe, dann müssten sich Blutspritzer in diesem Bereich auf seinem Hemd befinden. Es könnte aber auch sein, dass er eine Jacke getragen und diese anschließend ausgezogen hat. Habt ihr etwas in der Art gefunden?“
„Mir ist nichts bekannt. Die Kriminaltechniker haben wie üblich ganze Arbeit geleistet und keinen Winkel des Hauses ausgelassen.“
„Tja, dann weiß ich es auch nicht.“
„Ich werde auf jeden Fall noch einen Kollegen losschicken, um die nähere Umgebung des Hauses absuchen zu lassen. Wobei mir das völlig irrsinnig erscheint, zuerst die eigene Mutter zu töten und dann nach draußen zu laufen, um die Jacke zu entsorgen.“
„Also wenn du mich fragst, dann war es die Tat eines Irrsinnigen“, entgegnete Sven.
„Auch wieder wahr.“
Sven arbeitete routiniert, jeder Handgriff saß. Nur wenig später schob er den leblosen Körper des Mannes zurück ins Kühlfach.
„Ich bin dann mal draußen“, sagte Greta, die es anscheinend kaum erwarten konnte, endlich das Weite zu suchen.
„Zwei Obduktionen an einem Tag sind doch etwas hart für deine Kollegin“, sagte Sven mit einem verständnisvollen Lächeln.
„Oh ja.“ Erik nickte zustimmend. „Und was noch heftiger ist, dass immer mehr Fragen auftauchen.“
„Ihr werdet die richtigen Antworten finden, da bin ich mir sicher.“
„Ich hoffe es. Anfangs sind wir noch von einem leichten Fall ausgegangen, aber innerhalb von Stunden hat sich das Blatt gewendet.“
Erik verabschiedete sich von Sven und folgte Greta nach draußen, die bereits im Wagen auf ihn wartete. Jetzt würden sie herausfinden müssen, was sich tatsächlich in diesem Haus abgespielt haben könnte – und das konnte dauern.
Linn saß mit Henning am Frühstückstisch und nippte an ihrem Tee.
„Alles in Ordnung?“, fragte Henning.
„Ich fühle mich nicht so wohl“, antwortete Linn. Himmel, sie musste endlich aussprechen, was nicht mit ihr stimmte. Aber bevor sie den Gedanken vollenden konnte, schmeckte sie die bittere Galle, sprang auf und rannte ins Badezimmer. Keuchend hing sie über der Keramik, während Henning ihr blondes Haar nach hinten strich.
„Sag mal, Liebes, bist du vielleicht schwanger?“
Linn hob ruckartig den Kopf und sie ahnte, dass ihr Blick dem eines gehetzten Rehs gleichen würde. Jetzt war sie gezwungen, Farbe zu bekennen, es gab kein Zurück mehr.
„Ja, das bin ich.“ Sie schluckte schwer.
„Wann wolltest du es mir sagen?“
„Henning, es ist kompliziert …“
Er machte einen Schritt auf sie zu, zog sie hoch und nahm sie in den Arm.
„Ich fürchte, wir haben Redebedarf“, raunte er ihr ins Ohr und sein warmer Atem streifte ihre Haut.
„Ja, das fürchte ich auch“, erwiderte sie leise.
„Allerdings bist du nicht die Einzige, die etwas zu beichten hat.“
Sie löste sich aus seiner Umarmung und wich zurück. „Woher weißt du, dass ich …?“
Er fiel ihr ins Wort. „Weil ich dir ebenfalls etwas Wichtiges verschwiegen habe.“
„Ja, aber …“
„Nichts aber. Wir sollten am Abend bei einem Glas Wein in Ruhe darüber reden. Stopp, Wein ist keine so gute Idee, ich werde lieber auf aromatischen Tee mit Honig umschwenken. Kommst du allein zurecht?“
Linn nickte und Henning wischte mit seinem Daumen zärtlich eine Träne fort, die sich aus ihrem Augenwinkel gelöst hatte.
„Alles wird gut, das verspreche ich dir“, sagte er leise. „Aber jetzt muss ich in die Firma.“
„Okay“, hauchte sie und hörte, wie er sich im Flur den Mantel überzog.
„Ich liebe dich“, rief er noch, dann fiel die Eingangstür ins Schloss.
Linn atmete tief durch und löste sich aus ihrer Starre. Jetzt war das Geheimnis endlich gelüftet – und sie lebte noch. Die Welt war nicht untergegangen, im Gegenteil.
Mit schleppenden Schritten kehrte sie in die Küche zurück und ließ sich auf den Stuhl fallen. Was zum Teufel war da gerade passiert? Und was verheimlichte Henning vor ihr? Hatte er sie ebenfalls betrogen? Und war die andere Frau vielleicht von ihm schwanger? Wie sollte sie nur durch den Tag kommen mit all den unbeantworteten Fragen?
Ihr Magen rumorte immer noch, als sie den Tisch abräumte. Vielleicht sollte sie ein paar Tage Urlaub nehmen, sobald sie die Recherche zum Todesfall der Jonssons abgeschlossen hätte. Aber ausgerechnet heute hatte sie einen Interviewtermin mit der Schwester von Hilda Jonsson vereinbart, dabei fühlte sie sich so elend und schwach. Am liebsten hätte sie abgesagt, aber sie wollte sich das Interview auch nicht entgehen lassen. Asa Jonsson hatte schließlich nur mit ihr sprechen wollen.
Linn kleidete sich im Schlafzimmer an und legte wie üblich ein wenig Make-up auf, um ihre Blässe zu überdecken. Dann schnappte sie sich ihre Tasche und die Autoschlüssel und lief zur Garage, in der ihr Volvo parkte. Leise surrend glitt das Tor nach oben. Nachdem Linn Ava Jonssons Adresse in das Navigationsgerät eingegeben hatte, startete sie den Motor.
Ava wohnte im Gegensatz zu ihrer Schwester direkt in der Östersunder Innenstadt und Linn musste einige Minuten nach einem freien Parkplatz suchen. Die Wohnung befand sich im zweiten Stockwerk eines gepflegten Mehrfamilienhauses und Linn drückte auf den Klingelknopf. Minutenlang rührte sich nichts.
Also kramte sie kurzerhand ihr Notizbuch aus der Tasche, um den Termin noch einmal zu kontrollieren. Uhrzeit und Datum stimmten überein. Auch auf ein erneutes Sturmklingeln erfolgte keine Reaktion und so klopfte Linn energisch an die Tür.
„Frau Jonsson, alles in Ordnung?“, rief sie laut.
Ihre Worte blieben nicht ungehört und die Tür zur gegenüberliegenden Wohnung öffnete sich.
„Müssen Sie so einen Lärm veranstalten?“, fragte eine verschlafene Frauenstimme. „Ich habe eine anstrengende Nachtschicht hinter mir.“ Der Vorwurf war nicht zu überhören.
„Entschuldigen Sie bitte, ich hatte einen Termin mit Frau Jonsson vereinbart. Könnte sie vielleicht unterwegs sein?“, fragte Linn.
Die Nachbarin verneinte. „Die alte Dame ist nicht mehr gut zu Fuß unterwegs und bei diesem Wetter würde sie niemals das Haus verlassen.“
„Und warum öffnet sie nicht?“
„Wahrscheinlich hat sie das Hörgerät nicht richtig eingestellt. Sie tut sich schwer mit der Technik.“
„Hm, und wie kann ich mich trotzdem bemerkbar machen?“
„Ich versuche mal mein Glück“, sagte die Nachbarin, zog den Bademantel enger um ihren Körper und hämmerte mit der Faust gegen Ava Jonssons Tür. „Seltsam, jetzt bin ich auch beunruhigt.“
„Gibt es einen Hausmeister, der uns die Tür öffnen könnte?“
„Für den Notfall habe ich einen Schlüssel von ihr. Aber ich bin mir unsicher, ob jetzt genau der richtige Zeitpunkt …“
Linn unterbrach die Frau. „Holen Sie den Schlüssel.“
„Hoffentlich setze ich mich mit dieser Aktion nicht in die Nesseln.“ Die Nachbarin verschwand in ihrer Wohnung und kehrte nur wenige Sekunden später ins Treppenhaus zurück. „Gut, auf Ihre Verantwortung.“
Der Schlüssel knirschte leise im Schloss, dann sprang die Tür auf. In der gesamten Wohnung war es totenstill.
„Frau Jonsson? Alles in Ordnung?“
Gemeinsam durchsuchten sie die Räume und im Schlafzimmer blieben sie wie angewurzelt stehen.
„Frau Jonsson?“
Wegen der zugezogenen Vorhänge herrschte ein diffuses Dämmerlicht, in dem nicht viel zu erkennen war. Linn drückte kurzerhand auf den Lichtschalter.
„Ist sie … tot?“, stammelte die Nachbarin und erblasste.
Linn näherte sich dem Doppelbett und sah auf Frau Jonsson hinab. Ihr Mund war wie zu einem stummen Schrei geöffnet, die Beine hatten sich in der Bettdecke verheddert. Linn griff nach dem Handgelenk der alten Dame, um den Puls zu fühlen. Negativ.
„Litt Frau Jonsson unter irgendwelchen lebensbedrohlichen Erkrankungen?“, fragte sie.
„Nein, sie hatte nur Probleme mit ihrer Hüfte. Vielleicht ein Herzinfarkt?“
„Ich werde sicherheitshalber die Polizei verständigen, die Beamten können alles Weitere in die Wege leiten.“ Linn tippte rasch die Notrufnummer ein und gab die Daten weiter. Hoffentlich war Ava Jonsson eines natürlichen Todes gestorben, sie wollte nicht schon wieder zwischen die Fronten geraten. „Das Beste wird sein, wenn wir vor der Tür warten, um keine Spuren zu verwischen.“
„Gut, wie Sie meinen. Aber ich möchte vorher unbedingt noch mein Outfit wechseln.“ Die Nachbarin deutete auf ihren Bademantel.
„Geht klar, ich warte vor der Tür.“
Linn stellte sich in den Hauseingang und sog die kühle Luft in ihre Lungen. Was hatte es mit dem plötzlichen Ableben von Ava Jonsson auf sich? Hatte sie den Tod ihrer Schwester nicht verkraftet?
Linn wollte auf gar keinen Fall Erik Viklund über den Weg laufen. Zumindest so lange nicht, bis Henning und sie alles geklärt hätten. Hoffentlich war Erik nicht der Vater ihres Kindes, das war ihr innigster Wunsch. Alles andere würde sich mit Sicherheit regeln lassen.
„So, da bin ich wieder“, sagte die Nachbarin in Jeans und Strickpullover und stellte sich neben sie.
Genau in diesem Moment bog ein Streifenwagen um die Ecke und hielt direkt vor dem Haus. Jetzt wurde es ernst. Nachdem sie ihre Aussage gemacht und die Personalien angegeben hatte, konnte sie zurück ins Büro fahren. Ein Zusammentreffen mit Erik war ihr zum Glück erspart geblieben. Den restlichen Tag verbrachte sie wie in Trance, dachte immer zu an Henning und was er ihr wohl zu sagen haben würde. Sie fühlte sich elend und aufgeregt zugleich, als sie nach Hause fuhr.
Hennig war noch nicht da und so setzte sie sich auf die Couch, wickelte die Decke um ihre Beine und schaute ständig zur Uhr. Nach einer halben Stunde hörte sie das vertraute Motorengeräusch und ihr Herz klopfte einige Takte schneller.
„Ich bin wieder da“, rief Hennig aus dem Flur und nachdem er Schuhe und Jacke abgelegt hatte, betrat er das Wohnzimmer.
Linn schaute zu ihm auf und nippte an dem mit Honig gesüßten Tee, den sie sich zubereitet hatte.
„Und, wie war dein Tag?“, fragte er und ließ sich in den Sessel sinken.
„Anstrengend. Das Interview ist aufgrund des überraschenden Todes der alten Dame geplatzt“, sagte sie. „Die Polizei will eine Obduktion auf Anraten des Arztes durchführen lassen.“
„Tatsächlich?“
„Ja, es gibt wohl ein paar Ungereimtheiten“, antwortete Linn.
„Inwiefern?“ Henning streckte seine Beine aus und lehnte sich zurück, um eine bequemere Haltung einzunehmen.
„Eine Tasse Tee stand auf dem Nachtschrank und Frau Jonsson soll laut Aussage des Arztes in einem regelrechten Todeskampf gestorben sein. Mehr habe ich leider nicht mitbekommen.“
„Zum Glück trinken wir nur Kamillentee“, scherzte Henning. „Fühlst du dich überhaupt dazu bereit, mit mir zu reden?“
„Wenn es nach mir ginge, würde ich dieses Gespräch gern hinauszögern. Aber irgendwann muss ich mich der Wahrheit stellen.“
„Wer zuerst?“
„Ich weiß es nicht.“ Ihr Blick hing an seinen Lippen. Was würde Henning ihr zu sagen haben?
„Dann sollte ich den Anfang machen. Den Grund dafür wirst du gleich erfahren.“ Er beugte sich leicht nach vorn und atmete tief durch. „In jungen Jahren bin ich ein ziemlicher Draufgänger gewesen, wenn du verstehst, was ich meine. Ein guter Freund hat mir damals eine Vasektomie empfohlen, die ich bis zum heutigen Tag bitter bereue.“ Er senkte seinen Blick.
Für Linn waren seine Worte ein Schlag ins Gesicht. Auf der einen Seite hatte sie gesündigt, aber auf der anderen fühlte sie sich verraten und verkauft. Aber sie konnte Henning unmöglich Vorwürfe machen, nicht, nachdem sie mit Erik im Bett gelandet war.
„Mir … mir fehlen die Worte …“, stammelte sie und schlang die Arme schützend um ihren Oberkörper.
„Ich weiß, ich hätte es dir schon längst sagen müssen. Aber die Angst, dich an einen anderen zu verlieren, war einfach zu groß.“
„Wie hätte ich dir Vorwürfe machen sollen, wo ich doch selbst …“, sie stockte.
„Obwohl ich nicht die geringste Ahnung habe, wer der Vater sein könnte, freue ich mich darüber. Endlich wird Leben in dieses Haus kommen, so, wie ich es mir immer gewünscht habe.“
„Das übersteigt meinen Horizont“, murmelte Linn. „Ich habe mit einem Rauswurf gerechnet, mit Hasstiraden und unberechenbarem Zorn. Aber das …“
„Es verletzt mich sehr, gar keine Frage“, sagte Henning. „Aber wir lieben doch einander, oder?“
„Selbstverständlich“, versicherte sie. „Es war nur ein Moment der Angst, des Alleinseins, als ich mich zu diesem Fehltritt habe hinreißen lassen. Dieser Ausrutscher wird mir eine Lehre sein und nie wieder vorkommen.“
„Ich bin froh, dass wir einen Weg gefunden haben. Jetzt müssen wir nur noch darüber sprechen, wie wir die Situation mit dem Vater des Kindes klären.“
„Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht“, erwiderte Linn. Sie war mit allem überfordert. Henning hatte ihr die Vasektomie verschwiegen, bekannte sich aber zu einem Kind, das nicht das seine war.
„Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt wissen möchte, wer der Vater ist. Ich habe die Befürchtung, später unbewusst Vergleiche anzustellen, und das möchte ich unbedingt vermeiden.“
„Wir sollten uns Zeit lassen, bevor wir eine vorschnelle Entscheidung treffen, die wir hinterher bereuen. Vielleicht bestehst du ja auf einer Trennung, wenn du dich erst einmal in Ruhe mit meinem Vertrauensbruch auseinandergesetzt hast“, sagte Linn.
„Ich glaube nicht, dass dem so sein wird. Jeder einzelne Tag, den ich mit dir verbringen kann, ist kostbar. Ich will endlich im Leben ankommen, und das ist nur mit dir möglich.“
Linn griff nach seiner Hand und drückte sie sacht. „Danke.“
Aber sie hatte große Zweifel, ob es ihnen gelingen würde, so weiterzumachen wie bisher. Sie wollte sich keiner Illusion hingeben, die sich am Ende in Luft auflösen würde. Henning und sie waren nicht ehrlich zueinander gewesen, und das einmal gesäte Misstrauen würde wie ein Damoklesschwert über ihnen schweben.
Astrid stellte die Pfanne mit den Hackbällchen und die Terrine mit der Preiselbeersoße auf den Tisch.
„Lasst es euch schmecken“, sagte sie und nickte Madita aufmunternd zu. Astrid stand gerne am Herd und es bereitete ihr Freude, Björn und ihre Pflegetochter zu bekochen.
„Madita, was habe ich dir gestern noch beigebracht?“ Björn lupfte fragend eine Augenbraue.
Ein leises, kaum hörbares „Danke“ schlüpfte über Maditas Lippen.
Er nickte ihr zu. „Na, das kriegen wir aber auch lauter hin, oder?“
„Danke.“
„Siehst du, war doch gar nicht so schwer.“ Er lachte und wandte sich an Astrid. „Wir haben gestern noch fleißig geübt. Die Wörter Bitte und Danke sollten jetzt sitzen“, berichtete er stolz.
Björn schien mit spielerischer Leichtigkeit zu gelingen, woran sie scheiterte. Astrid fand einfach keinen Zugang zu Madita, jedenfalls nicht so, wie sie es sich erhofft hatte. Aber das sollte sich ändern. Madita hatte anschließend noch einen Termin bei einer angesehenen Psychotherapeutin, die einen Intelligenztest mit Madita machen würde. Astrid war auf dieses Ergebnis schon sehr gespannt. Vorher wollte sie mit Madita noch in die kleine Boutique nebenan, damit sie sich einige Kleidungsstücke aussuchen konnte, die sie gerne trug. Astrid hatte es wirklich satt, dass Madita ständig in Nachtwäsche durchs Haus geisterte, und vielleicht konnte sie sich auf diese Weise ihrer Pflegetochter annähern.
Madita wiederholte nun gebetsmühlenartig die Worte Bitte, Danke und die Adresse, wo sie zurzeit wohnte.
„Toll machst du das“, lobte Björn, obwohl Madita die Wörter falsch betonte.
Nach dem gemeinsamen Frühstück räumte Astrid wie üblich den Tisch allein ab und stellte die Spülmaschine an. Anschließend zog sie sich um und wartete im Flur auf Björn, der sie fahren würde.
Madita kam aus ihrem Zimmer heraus und wirkte unzufrieden. Die Kleidungsstücke passten farblich überhaupt nicht zueinander, das Mädchen sah aus wie ein verlorengegangener Clown.
Astrid ergriff Maditas Hand. „Wir werden etwas früher losfahren. Neben der Praxis befindet sich ein kleiner Laden mit den angesagtesten Klamotten. Dort kannst du dir etwas aussuchen. Einverstanden?“
Madita schaute sie mit großen Augen an, sagte aber nichts. Genau in diesem Moment kam Björn in den Flur.
„Na dann, auf geht’s“, sagte er und sie liefen nach draußen zum Wagen.
Nachdem Björn sie in der Innenstadt abgesetzt hatte, war er wieder zurückgefahren. Madita hockte inzwischen in der Umkleidekabine und probierte geduldig die Kleidungsstücke an, die sie sich ausgesucht hatte. Nach zwanzig Minuten zog sie endlich den Vorhang zurück, um Astrid ihr neues Outfit zu zeigen.
„Wow …“ Astrid staunte nicht schlecht.
Hose und Shirt saßen perfekt und betonten Maditas grazile Figur. Wie eine Ballerina, dachte Astrid. Die zarten Pastellfarben harmonierten wunderbar mit dem feuerroten Haar und den grünen Augen. So viel Geschmack hatte sie ihrer Pflegetochter gar nicht zugetraut, wenn sie an die vorherige Farbexplosion dachte.
„Wenn dir die Sachen gefallen, dann nehmen wir sie mit“, sagte Astrid.
An der Kasse atmete sie einmal tief durch und beglich den Betrag mit ihrer Kreditkarte. Billig war die Boutique nicht gerade, aber Madita sollte sich wohlfühlen. Schließlich würde ihre Pflegetochter, sobald die Therapeutin grünes Licht gegeben hätte, die Schule besuchen. Und spätestens dann wäre ein weiterer Einkaufsbummel fällig.
Astrid und Madita stiegen die Stufen zur Praxis hinauf. Das Wartezimmer war hell und freundlich eingerichtet und abstrakte Kunstdrucke schmückten die Wand.
Nachdem die Psychotherapeutin Madita aufgerufen hatte, schnappte sich Astrid eine Zeitung und begann gelangweilt, darin zu blättern. Als sich nach fünfundvierzig Minuten die Tür endlich öffnete, tauschten Madita und Astrid die Plätze.