Durch die Nacht - Martin Bischoff - E-Book

Durch die Nacht E-Book

Martin Bischoff

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Beschreibung

Es ist der 29. Dezember 2010. Ganz Deutschland versinkt im Schnee- und Winterchaos. Der erfolgreiche Geschäftsmann Joshua Frankel befindet sich auf der Rückreise von einem Geschäftstermin in der Schweiz. Mit mehreren Stunden Verspätung erreicht er mit dem letzten noch fahrenden Zug um 1:00 Uhr den Hamburger Hauptbahnhof. Da die Elbmetropole zusätzlich durch einen Streik der Taxifahrer lahmgelegt ist, beschließt Joshua die Wartezeit, bis in drei Stunden die S-Bahnen ihren Betrieb wieder aufnehmen, bei einem Bier in einer Sportbar im nahegelegenen St. Georg zu überbrücken. Eine folgenschwere Entscheidung. Die nächsten 5 Stunden werden nicht nur Joshuas Leben für immer verändern. Am Morgen wird nichts mehr so sein, wie es einmal war. Schnallen Sie sich an und jagen Sie mit Joshua in einer albtraumhaften Achterbahnfahrt voller Banden, Leichen und Drogen durch die Nacht.

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Seitenzahl: 277

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Ähnliche


Martin Bischoff

Durch die Nacht

Für die Streetworkerinnen von St. Georg und ihren ­

Inhaltsverzeichnis

01. Kapitel

02. Kapitel

03. Kapitel

04. Kapitel

05. Kapitel

06. Kapitel

07. Kapitel

08. Kapitel

09. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Karte von St. Georg, Hamburg

EINS

I‘ am the passenger and I ride and I ride

I ride through the city’s backsides

IGGY POP

Was für ein Tag,dachte Joshua, als der Regionalexpress aus Richtung Bremen endlich in den verwaisten Hamburger Hauptbahnhof einrollte.

Dabei konnte er froh sein, überhaupt noch nach Hamburg gekommen zu sein. Seit vierzehn Tagen befand sich Deutschland fest im Griff des Polartiefs Dominique. Eisige Temperaturen und ununterbrochener Schneefall hatten Deutschland ins Verkehrschaos gestürzt.

Auf den Straßen kamen die Räumfahrzeuge nicht mehr durch und die meisten Flughäfen Mittel- und Nordeuropas hatten den Flugverkehr so gut wie eingestellt. Zwar hatte die Bahn auch massive Schwierigkeiten mit vereisten Oberlei­tungen­ und eingefrorenen Weichen, aber es ging Stück für Stück voran, wenn auch langsam. Daher hatte sich ­Joshua nach ­einem Geschäftstermin in Basel für die Bahn ent­schieden. Vor nunmehr vierzehn Stunden war er im Baseler Schneetreiben in einen Intercity Richtung Hamburg eingestiegen und inzwischen war er bereits des Öfteren in andere Züge umquartiert worden. Erneut unterbrochen wurde die Fahrt im Bremer Schneetreiben, wo die verbleibenden Reisenden in einen Regionalexpress gesteckt wurden. Und endlich ging es weiter ins Hamburger Schneetreiben.

Die Laune des sechsunddreißigjährigen Geschäfts­führers eines Galvanisierungswerks wäre nach dieser Horrortour ­sicherlich im Keller gewesen, wenn die Geschäfte in der Schweiz nicht so erfolgreich gewesen wären.

Eigentlich ist das Leben doch schön,grinste Joshua vor sich hin. Er hatte einen Job, mit dem er weit mehr Geld verdiente, als er ausgeben konnte. Seine Figur war bei einer Größe von knapp einsneunzig immer noch sehr sportlich und sein braunes, kurzes Haar wies noch keine altersbedingten ­Lücken auf. Zwar hatte er im Moment keine feste Freundin, aber die ­Erfahrung lehrte, dass das keineswegs ein Grund für Tor­schluss­panik war.

Mit einem letzten quietschen kam der Zug um 01:03 Uhr am Bahnsteig zum Stillstand.

Auch auf Karls wulstigen Lippen zeichnete sich ein glückliches Grinsen ab: »Joshua, wir haben es geschafft.« Karl war seit Freiburg Joshuas – unfreiwillige – Reisebegleitung. Joshua schüttelte unmerklich den Kopf und lächelte in sich hinein, als er daran dachte, wie sie sich kennengelernt hatten. Joshua hatte es sich in einem Abteil bequem gemacht. Der Zug war nur dünn besetzt, was an einem 29. Dezember und bei dieser Witterung nicht wirklich überraschen konnte. In Freiburg wurde seine Abteiltür rumpelnd aufgerissen und vor ihm stand ein circa einssechzig kleiner Mann, der vermutlich deutlich über hundertzehn Kilo wog. Sein schweißnasser Kopf war von einem dünnen blonden Haarkranz umgeben, der unschön an seinen Schläfen klebte. Sein brauner Cordanzug war mehr als eine Nummer zu klein und bot einen eigenartigen Kontrast zu Joshuas Maßanzug. Der seltsame kleine Mann zerrte ein uraltes, überdimensionales Koffermonstrum hinter sich her.

»Karl Müller, Vertreter für Tapetenmuster«, rief er schnaubend und eine Spur zu laut in das Abteil. »Ist hier noch was frei?«

Joshua nickte, deutete mit der Hand auf die fünf freien Plätze und stellte sich seinerseits vor, auch wenn ihm die ganze Szene einigermaßen surreal vorkam. »Frankel, Joshua Frankel.« Karl streckte ihm ein schweißnasses Patschehändchen hin, welches Joshua nur widerwillig schüttelte.

»Fahren Sie auch mit diesem Zug?«

Diese scharfsinnige Frage überraschte Joshua, als er ­seine Hand gerade unauffällig an seiner Anzughose ab­wischen wollte.

»Äh, ja«, war Joshuas perplexe Antwort.

»Na, dann sind wir ja eine Fahrgemeinschaft«, lachte Karl und zerrte das Koffermonster in das Abteil.

Joshua bot sich an, das Ding auf die Ablage zu hieven, weil offensichtlich war, dass Karl da nicht dran kam.

»Danke Herr Frank, das war sehr nett.«

»Gerne, aber ich heiße Frankel.«

»Frankel Frank? Ich dachte Joshua?«

Joshua schüttelte resigniert den Kopf.

»Wissen Sie was, nennen Sie mich einfach Joshua.

« Karl riss die Augen auf: »Ich darf Sie duzen?«

»Klar doch, wenn wir schon eine Fahrgemeinschaft sind.«

»Karl«, er streckte ihm erneut die schweißnasse Hand entgegen.Wie kann man bei minus zehn Grad nur schwitzen,dachte Joshua, als er Karls Hand erneut schüttelte. Eigentlich ­hatte­ Joshua vorgehabt, auf der Fahrt den neuesten Förster zu ­lesen, so aber erfuhr er die Lebensgeschichte von Karl: Sein Vater war gestorben, als er zehn Jahre alt war und nun, mit zweiunddreißig, lebte er immer noch bei seiner Mutter, die nur eine kleine Rente bekam, sein Gehalt war auch mickrig, da Tapetenmuster out waren ...

Und so weiter und so weiter. In Karlsruhe kannte Joshua alle nicht erlebten Abenteuer aus der Schulzeit... in Mannheim die nicht erlebten Abenteuer aus der Zeit danach. In Frankfurt wurde den Reisenden dann mitgeteilt, dass der Zug ausgesetzt würde. Joshua stieg mit dem überaus nervösen Karl im Schlapptau in einen Intercity um, der über Köln in Richtung Hamburg fuhr.

In Dortmund stieg ein sehr distinguiert wirkender Mittfünfziger zu und nahm schräg gegenüber von Karl Platz. Der Mann war äußerst hager und trug sein graues Haar akkurat geschnitten. Sein schwarzer Anzug war penibel gebügelt und sah sehr teuer aus. Sein Gepäck, ein länglicher Samsonite-­Koffer und eine kleine Reisetasche, verstaute er auf der anderen Kofferablage. Karls überschwängliche Begrüßung quittierte er ledig­lich mit einem knappen Nicken.

Joshua nickte ebenfalls kurz in Richtung des Neuankömmlings.Wenn der schon so maulfaul ist, muss ich ihn auch nicht volltexten,dachte Joshua. Man merkte schnell, dass Karls Mitteilungsbedürfnis dem Mann zunehmend auf die Nerven ging. Als Joshua Karl auf einen Kaffee ins Bordbistro einlud, warf ihm der Mann einen dankbaren Blick zu.

Karl konnte den Neuen nicht leiden.Der wär was für meinen Koffer,dachte Karl.Das würde ihm Benehmen beibringen ... ­Abwarten, mal sehen.

Der Lehrer, so wurde der zugestiegene Reisende in seiner Branche genannt, nutzte die Abwesenheit der beiden, um seinen Samsonite-Koffer zu öffnen. Jedoch nicht, bevor er die Vorhänge sorgfältig geschlossen hatte.

Direkt neben seiner halbautomatischen Glock mit Schalldämpfer lag eine DIN A4-Mappe mit allen Informationen zu seinem Auftrag.

Der Lehrer nahm die Mappe, verschloss den Koffer wieder und legte ihn zurück auf die Gepäckablage. Er wollte die Abwesenheit von Schweinchen Dick nutzen, um nochmals alle Details durchzugehen.

Die Ausgangssituation war für den Lehrer nicht neu. In Hamburg/St.Georg war ein Bandenkrieg ausgebrochen. Es ging um die Vorherrschaft im Drogenhandel und darum, wer auf dem Straßenstrich das Sagen hatte und abkassierte. Der Lehrer schaute kurz aus dem Fenster als der Intercity über eine Weiche rumpelte.

Wenn alles gut geht, bin ich in drei Stunden in Hamburg,ging es ihm durch den Kopf. Dann stieß er ein vornehmes Hüsteln aus und vertiefte sich wieder in seine Unterlagen.

Auf der einen Seite stand Don Georg, der alteingesessene Kiez-Pate. Über Jahrzehnte hatte er unangefochten das Geschäft beherrscht. Auch als in den letzten Jahren vermehrt Osteuropäer nach St. Georg kamen, hatte sein Einfluss nicht darunter gelitten, da sie jeweils einzeln und auf eigene Rechnung agierten.

Geändert hatte sich das erst, als ein Mann auftauchte, dem es gelang, die Osteuropäer zu organisieren und so ein größeres Stück vom Kuchen abzubekommen. Dieser Mann hieß auf dem Kiez nurder Albanerund er hatte in den letzten Jahren ständig an Einfluss gewonnen, was den Machtbereich von Don Georg deutlich verkleinerte. Mehrere Treffen der Bandenchefs mit dem Ziel, den Kiez einvernehmlich aufzuteilen, verliefen am Ende ergebnislos im Sand.

Als vor zwei Wochen auch die Bremer Reihe – eine der verruchtesten Adressen im ganzen Bezirk – an den Albaner fiel, hatte Don Georg beschlossen, das Spiel nach seinen Regeln zu beenden: Der Albaner musste weg und der Lehrer sollte ihn Don Georg vom Hals schaffen – der Auftrag war da unmissverständlich. Diese Gefälligkeit ließ sich der Lehrer mit vierzigtausend Euro entlohnen. Zwanzigtausend Euro hatte er bereits kassiert. Die weiteren zwanzigtausend würden folgen, sobald der Auftrag ausgeführt war.

Don Georg hatte ihm natürlich Fotos des Albaners zukommen lassen. Sie zeigten einen breitschultrigen Mann von circa einsfünfundachtzig, sehr muskulös. Sein braunes, langes Haar hatte er zu einem Zopf gebunden. Seine braunen Augen versprühten einen harten Glanz. Unterstrichen wurde der finstere Eindruck noch durch eine vielleicht vier Zentimeter lange ­Narbe auf der rechten Wange. Der Lehrer schätzte en Mann auf ungefähr fünfzig.Die reinste Schlägervisage.Der Lehrer schüttelte in Gedanken versunken den Kopf.

Um zu wissen, mit wem er es zu tun hatte, hatte er sich ­Fotos von Don Georg aus dem Internet besorgt. »Leute gibt‘s«, murmelte der Lehrer vor sich hin. Der Mann auf dem Foto war ein gealterter Pseudo-Elvis; silbergraue Haartolle, silbergraue Koteletten und – das Schrägste überhaupt – einer dieser unsäglichen, überdimensionalen Glitzeranzüge, wie sie der King bei seinen späten Auftritten getragen hatte. Der Lehrer hatte die Mappe gerade wieder verstaut, als Karls Geschnatter im Gang die Rückkehr seiner Mitreisenden ankündigte.

Den Rest der Fahrt schaute der Lehrer auf das Schneetreiben vor dem Fenster oder döste vor sich hin. Zumindest so weit das möglich war. Der kleine Fettsack schwätzte die ­ganze Zeit über auf den anderen Mitreisenden, scheinbar einen Geschäftsmann, ein. Eigentlich hätte der Mann ihm Leid tun müssen, aber mit so etwas Profanen wollte er seinen Geist nicht belasten. Er war voll und ganz auf seinen Auftrag fokussiert. Dann kündigte der knarrende Lautsprecher endlich an, dass der Hamburger Hauptbahnhof in wenigen Minuten erreicht würde.Gott sei Dank.

Als sich die Hydrauliktür mit dem typischen, dumpfen Zischlaut öffnete, wartete Karl bereits mit Joshuas Reisetasche im Gang.

Joshua wuchtete gerade schwungvoll den Monsterkoffer von der Ablage, als sich auch der Lehrer erhob. Die rechte untere Kofferecke traf ihn genau an der linken Schläfe, ohne dass es Joshua aufgefallen wäre. Der Lehrer verharrte einen Augenblick in seiner Position und sackte dann in seinen Sitz zurück.

Joshua hatte das Abteil bereits verlassen. Eisig schlug ihm die Hamburger Nachtluft entgegen, als er gefolgt von Karl auf den Bahnsteig trat.

»Vielen Dank für den Kaffee und das tolle Gespräch«, versuchte Karl den anfahrenden Zug zu übertönen, der sich auf den Weg zur Endstation Hamburg–Altona machte.

»Gerne, so ist die Zeit doch für uns beide schneller rumgegangen«, log Joshua.

Sie schüttelten sich noch einmal die Hand und verabschiedeten sich voneinander. Karl wollte noch schnell zu McDonalds und dann in sein Hotel. Joshua hatte vor, sich vom Bahnhofsvorplatz aus im Taxi auf den Heimweg zu machen.

Am Geländer des Rundgangs, eine Etage oberhalb der ­Gleise, standen zwei arabisch aussehende Männer, die in ihren ­Kreisen als Mehmet 1 und Mehmet 2 bekannt waren.

Mehmet 1 versuchte, möglichst unauffällig in sein Handy zu zischen: »Ey Halbaner, du kannst deinem Vater ausrichten, jetzt wird’s voll ernst. Der Lehrer is gerade angekommen.«

Dann legte er auf und blickte wieder in Richtung Joshua.

»Das is also der Lehrer«, begann er. »Vierzigtausend Morde zu dreißig Euro.«

»Andersrum.«

»Wie jetzt, der Lehrer is andersrum?«

»Die Zahlen andersrum, Idiot. Dreißig Morde je vierzigtausend Euro.«

»Selber Idiot. Warst du nich Schule, oder was? Vierzig mal dreißig oder dreißig mal vierzig is das Gleiche.«

»Stimmt.«

»Krass.«

»Ja, voll krass, Digger.«

Karl musste schmunzeln, als er daran dachte, dass Joshua noch nicht einmal gemerkt hatte, dass er den Sack in der Bahn ausgeknockt hatte. Noch komischer war, dass das dem Kerl vermutlich das Leben gerettet hatte, denn Karl hatte ­Hunger­, großen Hunger, und den würde er natürlich nicht bei McDonalds stillen. Er verstaute den Monsterkoffer in einem Gepäckschrank, nachdem er einige Utensilien und einen kleinen Rucksack entnommen hatte.Naja,dachte er,wenn schon nicht den mürrischen Anzugträger, dann vielleicht einen der Araber, die uns beobachtet haben? Oder gar beide?Ihm lief ein woh­liger Schauer über den Rücken.Ja,überlegte er,die wären nach ­meinem Geschmack. Er machte sich auf den Weg.

Als der Lehrer kurz hinter dem Hauptbahnhof wieder zu sich kam, bebte er vor Wut. So etwas war ihm noch nie passiert!Schade, dass ich den Kerl wohl nie wiedersehen werde,ärgerte er sich. Seine Laune erreichte den endgültigen Tiefpunkt, als er in Hamburg-Altona aufgrund des Wetters und eines Streiks der Hamburger Taxifahrer keinen Wagen fand, der ihn zurück nach St. Georg hätte bringen könne. Da die nächsten S- und U-Bahnen auch erst frühestens in drei Stunden den Betrieb aufnehmen würden, entschied er sich, den Weg zu Fuß in Angriff zu nehmen. Genau wie Karl suchte er sich ein Schließfach und verließ zehn Minuten später mit zwei Glock-Halbautomatik-Waffen, sechzig Schuss Munition, der zusammengerollten Infomappe und viel, sehr viel Wut im Bauch den Bahnhof ­Altona in Richtung Innenstadt.

Als Joshua im leichten Schneetreiben auf den Bahnhof­vorplatz trat, erwartete ihn ein trostloser Anblick. Kein Taxi weit und breit. Er erinnerte sich noch vage an eine Streikandrohung der Hamburger Taxifahrer.Hm,überlegte er,die erste S-Bahn ­Richtung Pinneberg ginge in zwei­einhalb Stunden. ­Ach, was ­soll’s,grinste Joshua vor sich hin,ich war schon lange nicht mehr zu so einer Uhrzeit in St. Georg unterwegs.Hier gab es genug Kneipen, Bars, ja Spelunken, die rund um die Uhr geöffnet waren. Joshua überquerte die Kirchenallee an der sich die altehrwürdigen Hamburger Hotels mit gelassener Erhabenheit aufreihten und bog schließlich in den Steindamm ein.

Mal schauen, in welcher ruhigen Kneipe ich mir die Wartezeit mit dem einen oder anderen gemütlichen Bier versüße,pfiff Joshua im Angesicht der Lichter von St. Georg vor sich hin.

Wobei ihm klar war, dassruhigund St. Georg nicht so recht zusammenpassten. In diesem schillerndsten und ambivalen­testen aller Hamburger Stadtteile war es niemals ruhig. ­Yuppie-Partys, die Schwulen- und Lesbenszene, Drogenhandel und Prostitution, bildeten in St. Georg ein spannendes, aber auch gefährliches Konzentrat. Joshua erinnerte sich nur zu gut an das erstaunte Gesicht eines Geschäftspartners, als er ihm in St. Georg eins der berühmten Waffenverbotsschilder gezeigt hatte. Vor einem gelben Hintergrund wurde darauf hingewiesen, dass das Mitführen von Schusswaffen, Schlagstöcken, Messern und Reizgas in St. Georg polizeilich untersagt war. So etwas gab es nur hier und in St. Pauli und zwar aus ­gutem Grund.Na, was soll’s,dachte Joshua, als er sich von einer schreiend grünen Leuchtreklame in eine Sportbar auf dem Steindamm locken lies.Ich suche ja keinen Streit, sondern nur einen warmen Platz und ein kühles Bier.

ZWEI

And the waitress is practicing politics

As the businessman slowly gets stoned

Yes, they’re sharing a drink, they call loneliness

But it’s better than drinkin‘ alone

BILLY JOEL

Als Mehmet 1 und Mehmet 2 den Hauptbahnhof durch den Ausgang Süd verließen, folgte ihnen Karl mit nur zehn Metern Abstand. Sie gingen links herum, dann am Hotel Atlantic mit seinem Globus auf dem Dach vorbei. Bei Udo brannte noch Licht, deutete Mehmet 2 nach oben. Dann überquerten sie die Straße und begaben sich ans Alsterufer. Die zugefrorene Binnenalster bot einen einmaligen Anblick.

»Au«, schrie Mehmet 2 auf, als ihn die Wespe in den Nacken stach.Jetzt leben die Viecher sogar noch im Winter,dachte er, bevor er zusammenbrach. Mehmet 1 betrachtete gerade die weihnachtlichen Lichter, die vom Jungfernstieg herüber­leuchteten und sich in bunten Kaskaden auf dem Eis der Alster brachen, als sich der Körper von Mehmet 2 knirschend in den Schnee grub. Mehmet 1 riss überrascht die Augen auf, aber nur einen Moment lang, dann hatte auch ihn die Wespe ­gestochen.

Durch den Raum voll Rauch und Stimmen sah ich zu dir hin. Und dein Blick hielt meinen fest und fühlte wer ich bin;erinnerte­ sich Joshua an die frühere Diebels-Alt-Werbung, als er in die ­rauchgeschwängerte Sportbar am oberen Ende des ­Steindamms trat.

Eine Gruppe englischer Touristen nahm den kompletten Tresen in Beschlag. Joshua vermutete eine Fußballmannschaft, da es sich ausnahmslos um Männer zwischen zwanzig und dreißig handelte. Engländer, so wusste Joshua, besuchten häufig Hamburg, um die Verlockungen der Reeperbahn und deutsches Bier zu genießen.Vermutlich will diese Combo Silvester in Hamburg feiern und dann am zweiten Januar zurück nach England fliegen, wenn alle ihren Rausch ausgeschlafen haben,dachte er gerade, als er am Ende des Tresens doch noch ein freies Plätzchen entdeckte. Joshua zwängte sich an den Engländern vorbei und schwang sich am Ende des langen Tresens auf einen der letzten beiden freien Barhocker. Die Sportbar bestand eigentlich nur aus einem zehn Meter langen Tresen, über dem sechs Flachbildschirme Sport aus aller Welt zeigten, und einer Reihe Tische, die entlang einer ähnlich langen Sitzbank positioniert waren. Joshua winkte der Wirtin freundlich zu und bestellt ein großes Duckstein.

»Gute Wahl«, lachte die Wirtin und begab sich zum Zapfhahn. Die Mittvierzigerin war ihm mit ihrer herzlichen Art sofort sympathisch. Zu ihrer schlichten weißen Bluse trug sie eine klassische Wirtschürze und flache Turnschuhe. Ihr dunkles Haar war etwa schulterlang. Die schummrige Beleuchtung machte es unmöglich zu erkennen, ob es schwarz oder dunkel­braun war. Sie war ein wenig stämmig, aber das passte ­irgendwie gut zu ihr. Alles in allem eine gestandene Frau, eine gestandene Wirtin.

Joshua ließ seinen Blick an den Tischen entlangwandern und stellte mit einem kleinen Lächeln fest, dass die anderen Gäste in ihrer Gesamtheit dieses ganz eigene St. Georg-Gemisch darstellten.Das ist schon fast idealtypisch im Sinne von Max Weber,dachte Joshua bei sich. Die ersten beiden Tische hatte eine Gruppe schwarzafrikanischer Asylanten in Beschlag genommen. Sie diskutierten in einem Joshua unbekannten Dialekt vermutlich darüber, wie kompliziert doch das Leben in Deutschland ist. Die beiden Männer am nächsten Tisch gehörten eindeutig der Regenbogenfraktion an, die ihr Zentrum in St. Georg hat und waren wahrscheinlich unterwegs zu einem der Schwulen-Clubs des Viertels hier hängengeblieben. Viel Leder, viel Schmuck, viele Küsse;eindeutig,dachte Joshua. Die nächsten beiden Tische beheimateten das alte Jugoslawien: Serben, Kroaten und Kosovo-Albaner hatten verschworen die Köpfe zusammengesteckt. Hier gab es keine ethnischen Konflikte, denn die gemeinsamen kriminellen Aktivitäten einten die Völker Südost-Europas in St. Georg. Die beiden obligatorischen alten Männer folgten am nächsten Tisch. Und wie in jeder anderen Bar und zu jeder anderen Tageszeit lamentierten sie darüber, dass früher alles besser war: Früher, als ab der unteren Brennerstraße noch nicht jede zweite Bar oder Kneipe mit einer bunten Regenbogenfahne geschmückt war. ­Früher, als die Mieten auf der Langen Reihe noch erschwinglich waren und die Straße noch nicht zur Szene-Ecke für Yuppies mutiert war, und natürlich waren auch früher die Huren am Steindamm, am Hansaplatz und den verbindenden Quer- und Parallelstraßen hübscher gewesen.

Als Joshuas Augen weiterwanderten, sah er, dass am letzten Tisch, kurz vor der Treppe, die zu den Toiletten in den Keller führte, zwei dieser besonderenStreetworkerinnensaßen, um sich aufzuwärmen. Die ältere der beiden mochte um die vierzig sein und hatte sich eigentlich ganz gut gehalten. Nur der stumpfe Glanz ihrer Augen und ein harter Zug um ihren Mund verrieten, dass sie in ihrem Leben nicht nur eine enttäuschte Hoffnung hatte wegstecken müssen. Die andere, vielleicht halb so alte, hatte ein wirklich hübsches Gesicht, wobei ihr Körper kindlich, ja, fast unterentwickelt aussah. Joshua wusste, dass dies ein Zeichen für den jahrelangen Konsum harter Drogen war und er wusste auch, dass der jetzt noch so offenkundige Altersunterschied zwischen den beiden Frauen in einigen Jahren verwischt sein würde.

Eine Bewegung direkt an seiner Seite riss Joshua aus seinen schwermütigen Gedanken. Neben ihm stand die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte.

Ihre schwarze Haut schimmerte sogar im fahlen Licht der Bar und ihre perfekten Kurven zeichneten sich unter einem knielangen, dunkelroten Samtkleid ab, das sich weich um ihre vollen Brüste schmiegte. Für ihre umwerfende Figur hatte Joshua jedoch im erst Moment kein Auge, weil ihn das Gesicht der Schönen ganz in seinen Bann geschlagen hatte. Sie hatte ihr langes schwarzes Haar zu einem strengen Pferdeschwanz nach hinten gebunden, sodass nichts von ihren zarten, fast europäischen Zügen ablenkte.Wie eine Äthiopierin,durchzuckte es Joshua und er meinte, sich zu erinnern, im Geschichtsunterricht gelernt zu haben, dass im Römischen Reich die Äthiopier als schönstes aller Völker gegolten hatten.Komisch,dachte er noch,an was man sich aus dem Unterricht so erinnert,als sich ihr schöner Mund zu einem strahlenden Lächeln öffnete und sie ihn mit einer etwas rauchigen, wohltönenden Stimme fragte, ob der Hocker neben ihm noch frei sei.

Es dauerte einen Moment, bis sich Joshua im Hier und Jetzt gesammelt hatte. Mit einer kleinen Verzögerung und einem etwas dümmlichen Gesichtsausdruck deutete er auf den Hocker: »Bitte«.

»Danke«, lächelte sie, als sie Platz nahm, ihre schlanken Beine übereinanderschlug und eine Schachtel Philips Morris aus ihrer Handtasche hervorkramte. Bevor Joshua ihr Feuer anbieten konnte, hatte sie sich schon eine Zigarette angezündet und blies den Rauch nachdenklich in Richtung Decke. Joshua überlegte fieberhaft, wie er mit der Schönheit ins Gespräch kommen konnte, als diese sich ihm immer noch lächelnd zuwandte, ihn einen Augenblick mit ihren braunen Mandelaugen studierte und schließlich sagte: »So, Sie sind also der Lehrer. Ich hätte Sie mir älter vorgestellt, so lange wie Sie schon im Geschäft sind.«

Der Halbaner, der gerade mal einsachtundfünfzig kleine, schmächtige Sohn des Albaners, stürmte in das Büro seines Vaters. »Es geht los, Vater«, sprudelte es aus ihm heraus. »Mehmet 1 und Mehmet 2 ... sie sind beide tot.«

Der Albaner blickte von seinem Schreibtisch auf und betrachtete seinen Sohn einen Moment: »Setz dich und dann noch mal der Reihe nach, Sohn.«

Der junge Mann nahm Platz, versuchte sich zu beruhigen und sagte: »Vater, der Lehrer ist da und ... und ... er ist wahnsinnig, voll krass irre.«

»Der Reihe nach, der Reihe nach, Sohn.« Der Halbaner atmete tief durch und setzte erneut an: »Als sich Mehmet 1 und Mehmet 2 nicht mehr gemeldet haben, bin ich mit Mehmet 3 und 4 ihre Runde abgegangen. Wir haben sie an der Alster gefunden. Und das war echt megakrass. Sie lagen auf dem Rücken, ausgebreitet wie Schneeengel. Alles war voller Blut und«, hier stockte der Halbaner kurz und schloss die Augen, »und im Mund von Mehmet 2 steckte der abgeschnittene Schwanz von Mehmet 1 und umgekehrt. Und ... und das krasseste überhaupt ... der Lehrer hat ihre Eier mitgenommen.«

Einen Moment herrschte Schweigen, dann räusperte sich der Albaner: »Sohn, woher kennst du den Schwanz von Mehmet 1?«

Erneutes Schweigen, dann ein kleinlautes: »Sag ich nicht.« Der Albaner schüttelte den Kopf langsam, während er sein Gesicht in den Händen vergrub. »Geh jetzt, Sohn, ich muss nachdenken.«

Als der Albaner allein war, erhob er sich und ging langsam auf ein Fenster zu. Von hier oben, aus dem obersten Stockwerk des Hotels Graf Zeppelin hatte er einen fantastischen Blick auf die Straßen St. Georgs, auf sein Reich.Nun denn,dachte er,dann hat mein Spitzel in den Reihen Don Georgs also recht behalten: Don Georg hat einen Auftragskiller auf mich angesetzt.

Zwar passte die Beschreibung des Lehrers als extrem auf seine Zielperson fokussiert, jedes überflüssige Blutbad vermeidend und fast ausschließlich mit Schusswaffen agierend nicht zu dem Gemetzel, aber was machte das schon?

Der Albaner streckte sich und ging zu seinem Schreibtisch zurück, schnappte sich das Telefon und rief seine Jungs zusammen. Als er auflegte, stand sein Entschluss fest.Dieser Kiez verträgt nur einen König. Lass es uns heute Nacht klären, ein für alle Mal, Don Georg,dachte der Albaner grimmig.

»Der wer?« fragte Joshua irritiert nach.

»Der Lehrer«, wiederholte sie ruhig.

»Nun, um Ihnen einen Gefallen zu tun, wäre ich sehr gerne der Lehrer, aber, um ehrlich zu sein, bin ich Geschäftsführer eines Unternehmens in der Chemiebranche. Mein Name ist Joshua Frankel und ich bin hier gestrandet, weil die S-Bahnen noch nicht fahren und kein Taxi zu kriegen ist, sorry.«

»Natürlich, wer denn auch sonst?«, schmunzelte sie.

Joshua runzelte die Stirn. »Ich weiß zwar nicht, warum sie mir nicht glauben, aber noch mal: ich bin kein Lehrer, war kein Lehrer und werde wohl auch nie Lehrer sein.«

»Ist ja gut. Ich hege keine Sympathien für den Albaner. Machen Sie mit ihm, was sie wollen. Mich interessiert nur Don ­Georg.« Joshua verdrehte unbemerkt die Augen.So schön und so gaga,ging es ihm durch den Kopf, als er antwortete: »Ich weiß nicht, ob es Sie überrascht, aber ich kenne keinen Albaner und vor allen Dingen auch keinen Don Georg.«

Sie nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette und schaute­ ihn weiter schmunzelnd an.

Plötzlich hatte Joshua eine Idee. Er kramte kurz in seiner Reisetasche und knallte dann eine Unternehmensbroschüre vor ihr auf den Tresen. »Bitteschön, Sie finden mich gleich auf Seite 2.«

Lachner Galvanisierungswerke GmbH, las sie auf dem Cover und tatsächlich fand sie auf Seite 2 sein Foto mit einer kurzen Vita.Ziemlich viel Aufwand für eine Tarnung,ging es ihr durch den Kopf, als sie die Internetadresse der Firma entdeckte.Und vor allen Dingen, warum verriet er ihr seine Tarnung? Merkwürdig. Mehr als merkwürdig sogar.

»Entschuldigen Sie mich einen Moment«, lächelte sie Joshua an, »bin sofort wieder da.«

Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und verschwand die Kellertreppe zu den Toiletten hinunter. Auf der Damentoilette aktivierte sie die Internet-App ihres Smartphones und ging auf die Homepage der Lachner Werke. Schnell fand sie im Archiv einen Ordner mit Fotos von Firmenveranstaltungen der letzten Jahre. Ihr Tresennachbar war bei allen Veranstaltungen dabei gewesen.

Scheiße, er ist nicht der Lehrer,wurde ihr schlagartig klar. Joshua hatte sich gerade eine Camel angezündet, als die unbekannte Schöne wieder am Treppenabsatz auftauchte. Sie schüttelte lächelnd den Kopf, als sie zu ihm trat: »Es ist mir schrecklich peinlich, aber ich habe sie tatsächlich verwechselt.«

»Kein Problem«, lächelte Joshua zurück.

»Antoinette Laveau«, streckte sie ihm ihre zierliche Hand entgegen. »Immer noch Joshua Frankel«, erwiderte er lakonisch und schüttelte ihre angenehm kühle Hand.

Die nächste dreiviertel Stunde verging wie im Fluge. Antoinette bestellte sich einen Tequila Sunrise und noch ein Duckstein für Joshua. Sie bestand – wegen der blöden Verwechslung – darauf, ihn einzuladen und Joshua gab sich schließlich geschlagen.

Er erfuhr, dass sie aus Jamaika stammte, wo ihre Eltern zu den wenigen wohlhabenden Grundbesitzern gehörten. Diesem Umstand verdankten sie es auch, dass sie ihre Tochter auf ein Internat in der Schweiz hatten schicken können, was wiederum erklärte, warum Antoinette so gut deutsch sprach.

»Ich denke die ganze Zeit schon über ihren Familiennamen nach«, hakte Joshua nach. »Ich war vor Jahren mal in New Orleans und habe auf dem St. Louis Cemetery No. 1 das Grab der berühmten Voodoo-Queen Marie Laveau gesehen.« Antoinettes Lachen unterbrach ihn. »Zwei Dinge Herr Frankel. Zum einen nennen sie mich bitte Jamaika wie alle meine Freunde in Deutschland.«

»Wenn sie mich Joshua nennen, gerne. «

Sie nickte ihm kurz lächelnd zu, bevor sie fortfuhr. »Und ja, ich bin tatsächlich entfernt verwandt mit Marie Laveau.«

»Dann habe ich also quasi schon einmal am Grab deiner Ururgroßmutter gestanden«, lachte Joshua.

»Ja, wenn man so will«, lächelte sie zurück.Was für ein Lächeln. Hammer.

Sie hatte gerade erzählt, dass sie als Auslandskorrespondentin für eine amerikanische Fernsehgesellschaft arbeitete und dabei sei, für eine Serie über das Nachtleben in Deutschland zu recherchieren als Joshua merkte, dass er ein menschliches Bedürfnis nicht länger ignorieren konnte.

»Entschuldigst du mich mal eben?«

»Aber natürlich.«Wieder dieses Lächeln. Und der dazu passende ­­Augenaufschlag.

Mit schnellen Schritten eilte er die Treppe hinunter. Jetzt, wo er wusste, dass sie doch nicht gaga war, wollte er dieses Traumwesen auf keinen Fall lange warten lassen. Zum Glück war das Herrenklo leicht zu finden und sogar halbwegs sauber, obwohl sich Joshua ein wenig über die Spiegelreihe über den Pissbecken wunderte. Er fummelte an seiner Anzughose herum. Endlich hatte er seinen Freund befreit und begann, sein Geschäft zu verrichten, als sein Blick wieder nach oben zu den Spiegeln wanderte.

Entsetzt schrie Joshua auf. Die Reflexion im Spiegel ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken und er bemerkte erst gar nicht, dass er sich einen satten Strahl lang auf den linken Schuh schiffte.

Im Eingang der Herrentoilette lehnte eine dicke, alte Frau mit zerzaustem grauem Haar.Mein Gott, aus welchem Albtraum stammt denn die,dacht Joshua. Ihr aufgedunsenes Gesicht war ungesund talgig weiß oder stellenweise mit roten Pusteln überwuchert. Die Lumpen – Kleidung konnte man das nicht nennen – die sie trug, schienen nur gerade so von Schmutz und Dreck zusammengehalten zu werden.Oh Gott, jetzt kommt sie auch noch rein, nahm Joshua entsetzt aus dem Augenwinkel war.

»Für’n sehner süttel ich ihn dir aus«, nuschelte sie beim Näher­kommen.

Als sie den Mund dabei zu einem Lächeln öffnete, wusste Joshua auch warum sie so nuschelte.

Ein Zahn, sie hat tatsächlich nur einen einzigen Zahn im Mund, den linken unteren Eckzahn, ansonsten gähnende Leere. Das sieht aus, als würde man einer Kuh ins Arschloch gucken,durchzuckte es ihn.Schneller pinkeln, ich muss schneller pinkeln, sie ist gleich da! Und wenn ich ihn einfach einpacke? Klar Kumpel, um dann mit vollgepisstem Schritt neben Jamaika zu sitzen, ist das dein Plan?

Wilde Gedankensplitter schossen ihm durchs Hirn, als ihn die Alte erreichte.Endlich,Joshua ließ die Boxershorts gerade über seinen Penis gleiten, als sie ihm von Hinten in den Schritt griff.

»Für’n fünsiger blas ich dir auch einen, Süser.«

Joshua hatte sich automatisch auf die Zehnspitzen hochgedrückt, aber das half ihm herzlich wenig.

»Na, komm son, keine lutst dir deinen Korken so wie ich.«

Mit Sicherheit nicht undlutschentrifft es ja wohl voll und ganz,schüttelte es Joshua. Er drückte ihre Hand mit den vor Dreck starrenden Fingernägeln aus seinem Schritt, wirbelte herum und stürzte an ihr vorbei aus der Toilette. Unterschwellig nahm er dabei ihren Gestank nach Pisse, Schweiß und abgestandenem Fusel wahr.

»He, must ne alte Lady doch nicht subsen. Hättest doch gleich sagen können, dass du swul bist!«, hörte er sie hinter sich keifen, als er drei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinaufjagte.

»Du siehst aus, als ob dir der Leibhaftige begegnet wäre«, begrüße ihn Jamaika, als er seinen Hocker erreichte.

»Der war‘s nicht, aber ich glaube, der wäre bei dieser Begegnung auch ganz schön blass um die Nase geworden«, antwortete er mit noch ganz wackeligen Knien. Die Wirtin grinste zu ihm rüber. »Na, hat dich die Zahnfee erschreckt?« Sie machte eine bedeutungsschwangere Pause und zwinkerte ihm zu. »Die ist harmlos, hat bei uns einen Kellerraum angemietet, wo sie wohnt und ihre Kundschaft bedient.«

Kundschaft?,staunte Joshua,so viele Perverse kann es doch in St. Georg, in Hamburg, ach Quatsch, auf der Welt nicht geben, als dass die von ihren Einnahmen leben könnte.Joshua zündete sich mit immer noch etwas zittrigen Fingern eine Camel an und bestellte sich zur Beruhigung einen Ouzo.

Nachdem er etwas lockerer geworden war, bemerkte er, dass Jamaika sanft lächelnd nach unten deutete. Ihrem Blick folgend, erkannte Joshua, dass sein Hosenstall sperrangelweit offen stand.Licht aus, Joshua leuchtet,erinnerte er sich an einen blöden Spruch aus Kindertagen, als er spürte, wie seine Ohren heiß wurden. Betreten murmelte er eine Entschuldigung und zog den Reißverschluss hoch.

Unbemerkt von Jamaika hatte ein weiterer Kosovo-Albaner in Joshuas Abwesenheit die Sportbar betreten. Zielstrebig war er an den Tisch der Osteuropäer getreten und hatte kurz, aber heftig auf sie eingeredet. Dann war er wieder in der Nacht verschwunden.

Joshua überlegte gerade, wie er nach dieser peinlichen Pause den Faden für das Gespräch mit Jamaika wieder aufnehmen konnte, als er bemerkte, dass sich die Osteuropäer, die vorhin noch am Tisch gesessen hatten, um ihn scharrten. Ein grobschlächtiger Kerl mit einer angegrauten braunen Igelfrisur und einer Nase, der man ansah, dass sie schon mehrmals gebrochen war, sprach ihn schließlich an: »Na, wie war’s denn heute in der Schule, Herr Lehrer.«

Joshua schaute ihn vollkommen entgeistert an. Er fragte sich gerade, ob die Irrenanstalt in Hamburg-Ochsenzoll heute wohl Tag der offenen Tür hatte, als sein Gegenüber fortfuhr:

»Komm mit, der Albaner will dich sehen.«

Jetzt reichte es Joshua. Jamaikas warnenden Tritt ignorierend, antwortete er und wurde dabei langsam immer lauter:

»Prima, dass ihr mich daran erinnert habt, dass ich der Lehrer bin, ich hatte das nämlich schon vollkommen vergessen.«

Die beiden alten Männer unterbrachen ihr Gespräch und schauten zu der Gruppe hinüber.

»Und dann erst der Albaner, na? Ha, ich werd verrückt«, ­legte Joshua nach.

»Ey, keine krummen Touren, Mann!«, zischte sein Gegenüber und schlug die Jacke ein wenig zurück, sodass Joshua den Kolben einer Schusswaffe im Schulterhalfter erkennen konnte.

»Ah, hat der Albaner dir die Waffe als Geschenk für mich mitgegeben oder war das etwa der andere Schwerenöter, Don Georg, das alte Haus?«, steigerte sich Joshua weiter in die ganze Angelegenheit hinein und ignorierte den nun deutlich festeren Tritt von Jamaika.

Mittlerweile hatte er die Aufmerksamkeit der ganzen Bar auf sich gezogen. Selbst das schwule Pärchen, die beiden Huren und die Asylanten starrten gebannt zum Tresen. Die Osteuropäer waren ständig nervöser geworden und warfen unsichere Blicke in die Runde.

Die Wirtin klärte die Situation schließlich, als sie von hinter der Bar an den Tresen trat und die Osteuropäer anfuhr: »Hey, kein Stress in meiner Kneipe! Klärt das meinetwegen draußen, aber nicht hier, verstanden?«

Mehmet 5, so hieß der grobschlächtige Kerl mit der lädierten Nase, bebte vor Wut, kam aber zu der Einsicht, dass ein Mord vor so vielen Zeugen eine schlechte Idee wäre. Er knallte der Wirtin fünfzig Euro auf den Tresen, murmelte: »Stimmt so«, und marschierte mit dem Rest seiner Truppe im Schlepptau zur Tür. Irgendwann musste der Kerl ja rauskommen! Wut kochte in seinem Bauch, als er in die bitterkalte Nacht trat.

Als Joshua seinen Blick wieder Jamaika zuwandte, schaute sie ihn traurig den Kopf schüttelnd an. »Dir ist gar nicht bewusst, dass du dich gerade um Kopf und Kragen geredet hast, oder?«

»Wieso das denn. Die Masche ist aus einem alten Cary Grant- Film,North by Northwest.Wenn du bedroht wirst, musst du Aufmerksamkeit erregen«, grinste Joshua sie an.

Sie blickte ihn vollkommen perplex an.Entweder der Kerl ist unglaublich abgezockt oder aber er begreift noch nicht einmal im Ansatz, in welcher Gefahr er schwebt,schoss es Jamaika durch den Kopf.