Schatten im Hafen - Martin Bischoff - E-Book

Schatten im Hafen E-Book

Martin Bischoff

0,0

Beschreibung

Unendlich lange fünfundzwanzig Jahre hat Bruno Traber im Gefängnis Santa Fu gesessen. Jetzt ist er zurück in Hamburg St. Georg. Getrieben von der Frage, was in jener längst vergangenen Nacht, die nicht nur sein Leben zerstört hat, tatsächlich geschehen ist, beginnt er eine gefährliche Suche in der Vergangenheit. Eine mörderische Jagd nimmt ihren Lauf. Brutal, tödlich und erbarmungslos. Doch irgendwo in den nächtlichen Schatten im Hafen verbirgt sich eine schreckliche Wahrheit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 343

Veröffentlichungsjahr: 2017

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Martin Bischoff

Für meine Eltern

So many years

Since I’ve seen your face

But here in my heart

There´s an empty space

Where you used to be

So long, it was so long ago

But I’ve still got the blues for you

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Karte 1

Karte 2

Tag 1:

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Tag 2:

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Tag 3:

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Die Songs

Impressum

PROLOG

10. November 1989

Freedom’s just another word

For nothin’ left to lose

Nothin, don’t mean nothin’ hon’, if it ain’t free

Feelin’ good was easy, Lord, when Bobby sang the blues

So feelin’ good was good enough for me

Good enough for me and Bobby McGee

Me and Bobby McGee,

JANIS JOPLIN

Ich liebe Dich, Bruno. Wo bist du?

Eine einsame Möwe schoss aus dem dichten Nebel hervor, beäugte Kerstin kurz mehr oder weniger desinteressiert und verschwand in einem eleganten Bogen wieder in der wabernden Nebelbank, die über dem Hafenbecken der Freien und Hansestadt Hamburg wie hinzementiert lag.

Das leise Platschen der Elbe an den Landungsbrücken sang, wie schon seit achthundert Jahren, das alte Lied von Freiheit, der weiten Welt und Abenteuerlust. Majestätisch erhaben und vollkommen unbeeindruckt von dem dichten Dunstschleier.

Scheiß Novemberwetter. Kerstin fröstelte. Ihre Jacke aus teurem Alpakaleder bot nur wenig Schutz gegen den eiskalten Wind und noch weniger gegen den feinen Nieselregen, der vor einer halben Stunde eingesetzt hatte.

Die Nachricht vom Fall der Berliner Mauer hatte das ganze Land elektrisiert. »Wir sind das Volk! Die Mauer muss weg«, wurde den ganzen Tag über in allen Medien skandiert. Eine mitreißende Stimmung, die niemanden kalt ließ. Auch nicht in Hamburg.In St. Georg ist bestimmt noch die Hölle los, ging es Kerstin durch den Kopf, während sie sich zum wiederholten Mal angespannt in Richtung Kehrwiederspitze umwandte. Hier im Hafen war von der euphorischen Stimmung nichts zu merken. Zumindest jetzt nicht mehr; nicht zu dieser frühen Stunde. Nur noch vereinzelt geisterten Seeleute, die zu ihren Schiffen eilten, um mit der nächsten Flut auszulaufen, durch den Nebel.

Ein hastiger Blick auf ihre Armbanduhr verriet Kerstin, dass es 03:26 Uhr war. Exakt zwei Minuten später, als bei ihrem letzten Blick auf die Uhr.

Etwas war schiefgelaufen. Dieser Gedanke fraß sich mit jeder Sekunde tiefer in ihr Bewusstsein. Ein gedankliches Krebsgeschwür. Aber keines, das seine Finger schleichend in ihr Hirn schob. Nein, energisch riss es ihr Augenblick für Augenblick ganze Brocken Mut und Hoffnung aus dem Leib. Schneller und schneller.

Ein paar Kieselsteine knirschten unter den Sohlen ihrer Turnschuhe. Aus dem Nebel drang das dunkle Tuten eines großen Schiffes zu ihr herüber. Irgendwo machte sich ein Kahn zum Auslaufen bereit, um gegen 04:00 Uhr mit einsetzender Flut den Anker zu lichten. Genau wie der Frachter, auf dem sie jetzt sein sollte; zusammen mit Bruno.

Um kurz vor drei bin ich allerspätestens im Hafen, hatte er gesagt.Tränen sammelten sich in ihren Augen. Da stand sie nun: Ein achtzehnjähriges Mädchen aus gutem Hause, mitten in der Nacht allein im Hamburger Hafen. Plötzlich wurde ihr die Absurdität ihrer Situation bewusst. Und dann kamen die Erinnerungen …

Sie kannte Bruno jetzt seit einem Jahr und es war das schönste Jahr ihres Lebens gewesen. Bruno stammte aus St. Georg. Genau wie sie. Nur lag sein Elternhaus nicht in der gediegenen Ecke entlang der Langen Reihe, sondern in der schäbigen, die St. Georg zu Hamburgs schwierigstem Stadtteil machte. Mit seiner Mutter lebte er in der Nähe des Hansaplatzes in einem Kellerloch, welches den Namen Wohnung nicht verdiente.

Kennengelernt hatten sie sich dank des jugendlichen Übermuts – oder eher kindlichen Leichtsinns – ihrer Freundin Bettina. Betty, wie sie sie üblicherweise nannte, war eigentlich überhaupt nicht abenteuerlustig, aber in jener Nacht schien sie der Hafer gestochen zu haben. Oder vielleicht hatte sie auch nur einen Longdrink zu viel getrunken. Sie waren auf dem Heimweg von einer Party gewesen und wie immer war es später geworden, als es eigentlich sollte.

»Komm, wir nehmen die Abkürzung über den Hansaplatz und dann ab durch die Danziger«, hatte Betty vorgeschlagen, als sie mit der S3 am Hamburger Hauptbahnhof angekommen waren.

»Jetzt? Um 02:00 Uhr nachts über den Hansaplatz? Tickst du?«

»Hey, wir sind zu zweit und lassen uns auf gar keinen Fall anlabern, okay?«

So war es zwischen den beiden einige Minuten hin und her gegangen. Schlussendlich hatte Kerstin nachgegeben und die beiden hatten Hamburgs dunklen Teil betreten. Und so viel Überzeugungskraft musste Betty gar nicht an den Tag legen, denn Kerstin war von Natur aus neugierig auf alles, was außerhalb des spießigen, engen Rahmens ihres Elternhauses vor sich ging. Zudem schien Betty mit ihrer Unbekümmertheit recht zu behalten: Ohne Probleme waren sie an den Prostituierten am Steindamm vorbeigeeilt, hatten das anzügliche Gegröle einiger Betrunkenen in der Stralsunder Straße ignoriert und waren schließlich in die Danziger Straße eingebogen. Sie hatten es beinahe geschafft, sahen schon fast die Lichter der Langen Reihe strahlen, als es passierte.

Aus einem verdreckten, nach Fäkalien und Urin stinkenden Hauseingang wuchtete sich eine massige Gestalt direkt in ihren Weg. Das anzügliche Grinsen des Kerls und das kunstvoll zelebrierte Knacken seiner Fingerknöchel ließen keinen Zweifel daran, dass sie in Schwierigkeiten steckten. In echten Schwierigkeiten.

»Na, ihr Täubchen, welche von euch beiden will mich denn für die Benutzung meiner Straße bezahlen? Oder sollte ich sagen verwöhnen?«, kam die raue Stimme mit einem bösen Unterton ohne Umschweife zur Sache.

Wir stecken verdammt tief in der Scheiße, dachte Kerstin, als wie aus dem Nichts Bruno Traber in ihr Leben trat.

Das durchdringende dunkle Dröhnen eines Nebelhorns riss sie aus ihren Erinnerungen. 03:29 Uhr. Und weit und breit kein Bruno. Der Wind hatte noch einmal aufgefrischt und peitschte ihr den feinen Sprühregen mit jeder Bö aufs Neue ins Gesicht. Sie hatte die Augen zusammengekniffen und ließ ihren Blick die Landungsbrücken entlangwandern. Sie wischte sich eine nasse Strähne ihres langen brünetten Haars aus der Stirn und sog die Luft durch die Zähne.

Ihr Herz machte einen Sprung, als sie meinte, an der Überseebrücke eine Gestalt ausmachen zu können. Die Ernüchterung folgte auf den Fuß, als sich ein zweiter Schemen zum ersten gesellte. Bruno würde alleine kommen. Das da drüben waren vermutlich nur zwei Seemänner auf dem Weg zu ihrem Schiff. Oder ein Liebespaar, das den Fall der Mauer gefeiert hatte? Auf diese Entfernung konnte sie beim besten Willen nichts Genaueres erkennen. Sie wandte sich wieder dem Hafenbecken zu. Was war nur passiert? Mit jeder Sekunde wuchsen ihre Sorgen um Bruno und ihre Wut auf sich selbst. Sie hatte sich wieder mal viel zu schnell geschlagen gegeben. Sie hätte ihm den ganzen Plan ausreden müssen.Du bist so eine blöde Kuh, Kerstin, ärgerte sie sich. Neue Tränen bahnten sich den Weg. Sie schloss die Augen und sofort waren die Bilder der Vergangenheit wieder da. Strahlend. Übermächtig.

»Na, mal langsam Kumpel«, war eine leise, aber dennoch resolute Stimme hinter Betty und ihr erklungen. Eine verdammt junge Stimme.

Erschrocken wirbelten Kerstin und Betty herum.

Und da stand er. Einfach so. Bruno Traber. Aber natürlich kannte Kerstin seinen Namen damals noch nicht. Lässig lehnte er an einem Laternenpfahl. Der Junge war kaum älter als sie; vielleicht zwanzig, wenn es hochkam. Er war schlank, ein sehniger, durchtrainierter Typ. Keine Muskelberge, aber auch kein Gramm Fett. All das registrierte Kerstin beiläufig. Genau wie die schwarzen Locken, die sich dicht und wuschelig an seinen Kopf schmiegten. Sie waren zwar ganz nett anzusehen, aber nicht entscheidend. Es waren seine unglaublichen blauen Augen, die sie trotz des schwachen Lichts erkennen konnte. In ihrer Erinnerung leuchteten sie in jener Nacht wie Polarlichter.

Gemächlich, scheinbar vollkommen entspannt schlenderte der Junge an ihnen vorbei und stellte sich dem Mann, der ihn bestimmt um einen Kopf überragte und locker vierzig Kilo mehr auf die Waage brachte, in den Weg.

»Verpiss dich, du Zwerg«, zischte der Riese, aber der junge Mann lächelte nur und schüttelte den Kopf.

Was dann geschah, würde Kerstin in ihrem ganzen Leben nicht mehr vergessen. Niemals. Mit wilden Schlägen stürzte sich der Hüne auf den Jungen. Jeder Schlag hätte vermutlich einen Ochsen umgehauen, wenn denn einer getroffen hätte. In der Tat hatte Kerstin nie zuvor jemanden gesehen, der sich so schnell und geschmeidig bewegte wie der Junge. Ihr Vater hatte einmal von einem Boxer erzählt, der seine Gegner umtanzte wie ein Schmetterling und zustach wie eine Biene. Jetzt wusste sie, was er damit gemeint hatte. Kein einziger Schlag des Riesen fand sein Ziel. Problemlos wich der junge Mann jedem Schlag aus, um dann seinerseits blitzschnell vorzuschießen, um seine Schläge abzufeuern. Das ungleiche Gefecht dauerte gerade mal ein paar Minuten, dann wälzte sich der Koloss auf dem Asphalt.

Und der junge Mann? Der lächelte immer noch. »So, jetzt seht aber zu, dass ihr in euren Teil der Stadt kommt.«

Seine Stimme riss Kerstin und Betty aus ihrer Starre. Mehr als ein leises Danke brachte Kerstin nicht hervor, bevor Betty sie am Ärmel packte und vorwärts zog. Als sie sich einige Meter weiter wieder halbwegs gefangen hatte und sich aus Bettys Griff losriss, um sich zu ihrem Retter umzudrehen, war er bereits verschwunden.

Erst viel, viel später erfuhr sie, dass er sie in jener Nacht versteckt von Hauseingang zu Hauseingang eilend bis zur Langen Reihe begleitet hatte. Dort hatte er ihnen noch nachgeblickt, bis sie in ihr wohlbehütetes Wohnviertel im edlen Teil von St. Georg eingebogen waren.

Eine scharfe Windbö zwang Kerstin, den Kopf zur Seite zu drehen. Sie fror ganz erbärmlich und versuchte, den Kopf so tief wie möglich zwischen die Schultern zu ziehen. Ein Zittern durchlief ihren Körper. Mittlerweile war auch der letzte Funken Hoffnung in ihr verglüht. Einfach ausgepustet in einem eisigen Sturm aus Verzweiflung und Panik.

Ihre Eltern würden durchdrehen, wenn Sie erfuhren, dass sie schwanger war. Mit achtzehn. Ein halbes Jahr vor ihrem Abitur. Und dann auch noch von Bruno, einem Straßenkind, Gangmitglied und so weiter und so weiter. Sie konnte die vorwurfsvolle Litanei ihrer Eltern schon jetzt hören – doch wenn sie nur vorwurfsvoll wären, könnte sie durchaus damit leben. Aber sie würden abgrundtief verletzend sein, entwürdigend. Ihr gegenüber und vor allem Bruno gegenüber.

Aus der Ferne hörte sie ein heiseres Husten. Die beiden Männer hatten inzwischen die Brücke erreicht, die zur Kehrwiederspitze führte. Ja, es waren Seeleute auf dem Weg zur Anlegestelle am Sandtorkai.

Um nicht aus purer Sorge um Bruno den Verstand zu verlieren, gestattete sie ihren Gedanken, erneut in die Vergangenheit abzugleiten.

Erst vor ihrem Elternhaus hatten Betty und sie sich getrennt. Das letzte, was Betty an diesem Abend zu ihr sagte war: »Hast du seine Augen gesehen?«

»Mhm«, murmelte Kerstin nur, bevor sie leise ins Haus schlich. Sie wagte es nicht, sich noch einmal zu ihrer Freundin umzudrehen. Betty sollte nicht sehen, dass ihr beim bloßen Gedanken an Brunos Augen die Röte in die Wangen gestiegen war. In dieser Nacht lag Kerstin noch lange wach und starrte gegen die Zimmerdecke, doch sie sah schwarze Locken und blaue Augen.

In den nächsten Nächten büxte sie jeweils gegen 01:00 Uhr aus. Ihr Ziel war die Danziger Straße. Jeden Abend kämpfte sie aufs Neue mit einer Heidenangst, aber der Wunsch, den geheimnisvollen Jungen wiederzusehen, war größer. Außerdem entsprach das nächtliche Erkunden des verrufenen Bereichs rund um den Hansaplatz ihrem Sinn nach Abenteuer. Sie liebte alles, was sie aus der einengenden Routine ihres Alltagstrotts riss. Und sie konnte stur sein. Was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, davon ließ sie nicht so schnell ab.

In der fünften Nacht in Folge war es dann endlich soweit. Sie entdeckte ihn inmitten einer Gruppe Gleichaltriger vor einer Kaschemme auf dem Hansaplatz. Und als er sie im Morgengrauen nach Hause brachte, waren sie ein Paar.

Es folgte ein glückliches Jahr im Liebestaumel und zugleich ein aufregendes, denn Kerstin lernte eine ganz neue Welt kennen.

Bruno war ein Kind der Straße. Geboren im Dreck. Aufgewachsen im Dreck. Doch er hatte auch eine ganz andere Seite, als sein Umfeld: Bruno war intelligent, wissensdurstig und neugierig. Er las alles, was er in die Finger bekam. Kerstin hatte ihm viele Bücher aus dem Bücherschrank ihrer Eltern zugesteckt, und zwar nicht nur Unterhaltungsliteratur, Krimis und so. Nein, echte Literatur. Mann, Böll, Dürrenmatt, Tolstoi. Er verschlang die Bücher förmlich und wenn er sie ihr wenige Tage später zurückgab, bombardierte er Kerstin mit Fragen, die sie verblüfften und weit über den schmalen Rahmen einer Deutschstunde in der Schule hinausgingen. Sie erinnerte sich daran, dass er sie einmal stundenlang gelöchert hatte, nachdem erDas Kapitalvon Karl Marx gelesen hatte. Danach beschloss sie abends im Bett, ihm nie mehr politische oder philosophische Texte zu besorgen.

Irgendwie war es immer das gleiche Spiel: Sie erzählte Bruno von irgendeinem Autor oder Philosophen, während er sie fasziniert mit seinen strahlend blauen Augen anhimmelte. Dann besorgte sie ihm die entsprechenden Bücher und eine Woche später war er der Experte und sie die blutige Anfängerin.

Sie liebte diese Gespräche und Diskussionen mit ihm dennoch. Sie waren ein echter Austausch von Ideen und Meinungen, nicht das stupide abspulen von Ansichten Dritter. Nein, es war tatsächlich ihre Meinung, die Bruno interessierte. Eine völlig neue Erfahrung für Kerstin.

Die glückliche Erinnerung hatte für einen kurzen Moment die Angst und die Tränen vertrieben. Der nächste Windstoß peitschte ihr jedoch wieder eiskalte Regentropfen ins Gesicht und beförderte sie mit einem Schlag ins Hier und Jetzt zurück.Wenn man doch einfach von seinen Träumen und Erinnerungen leben könnte, formte sich ein so unrealistischer wie bitterer Gedanke in ihrem Kopf.Träume, Träume, Träume. Alles nur Träume.

Ein weiteres Nebelhorn schickte seinen Ruf nach Freiheit und Abenteuer durch die Nacht. Kerstin blies sich warme Luft in die Hände. Ein beiläufiger Blick über die Schulter zeigte ihr, dass die beiden Männer sich getrennt hatten. Der kleinere, schlanke stand im Schatten. Wäre der Qualm seiner Zigarette nicht ins Licht einer Laterne geweht worden, sie hätte gedacht, er wäre gegangen. Der große, etwas mollige hatte die Brücke zur Kehrwiederspitze fast überquert. Ähnlich wie Kerstin hatte er den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen.

Ihre Uhr zeigte 03:35 Uhr. Sie würde Bruno noch fünf Minuten geben. Nein, eigentlich sich selbst. Sie wusste, dass er nicht mehr kommen würde. Aber irgendetwas in ihr wehrte sich mit aller Kraft dagegen. Sie weigerte sich, diesen Traum sterben zu lassen, auch wenn er so zerbrechlich war wie ein trockenes Blatt im Herbst. Sie versuchte, sich zu beherrschen, aber aus ihrer Sorge um Bruno, war panische Angst geworden, die sich nicht mehr abschütteln ließ.

Was ist ihm nur zugestoßen? Was soll ich ohne ihn nur machen?

Sie vergrub ihr Gesicht zum x-ten Mal in ihren Händen und fand in ihrem Hirn die kleine Tür, die sie wieder in ihre Erinnerungen flüchten ließ; zu ihrer ganz besonderen Geschichte mit Bruno und ihrem Traum von Freiheit.

Er war nicht minder an ihrer Welt und ihrem Leben interessiert als sie an seinem. Ein ständiges Geben und Nehmen. Manchmal mit Kopfschütteln, aber am Ende des Tages immer mit tiefer Zuneigung und Verständnis. Ja, Bruno war nicht nur an Bildung interessiert, sondern mehr noch an Kerstin selbst.

Sie hatte vor Bruno schon Freunde gehabt, klar. Alle pubertär und geil auf Sex, aber sonst? Nichts. Keine echten Gefühle. Keine echten Träume. Die Typen stammten natürlich alle aus ihrer geordneten, vorbestimmten Welt – oder sollte sie lieberGefangenschaftsagen? Immer war alles gleich, ein sich ewig wiederholendes Lied. Alles die gleichen vorgegebenen Karrieren.Mein Vater ist Arzt und ich will auch Medizin studieren. Meiner ist Jurist und ich schlage den gleichen Weg ein.Furchtbar! Sie hatte mit keinem von ihnen geschlafen. Petting ja, Ficken nein. Dafür fehlte ihnen einfach zu viel.

Und dann ihre Eltern … Natürlich liebte sie ihre Eltern auf eine krude Art und Weise und war froh, dass sie da waren. Gleichzeitig war sie entsetzt, wie wenig ihre Eltern zulassen wollten, dass sie ihr eigenes Leben lebte. Auch ihre Zukunft war von außen durchgeplant. Komplett. Wie oft hatte sie ihre Eltern anschreien wollen:Ihr habt ein Kind in die Welt gesetzt, ein selbstständiges Wesen, neugierig und offen für alles. Und dann habt ihr vom Tag der Geburt an versucht, es in eine Form zu pressen. Und wenn die Form nicht passt? Dann ist das Kind schuld!Wie erbärmlich.

Bruno liebte sie wirklich, wie sie war. Er erkannte ihre Einmaligkeit und dafür liebte sie ihn. Brunos Aufmerksamkeit, sein Interesse an ihr berauschte sie wie eine Droge. Sie war verrückt danach, sich nach einem ihrer Gespräche über Gott und die Welt in seinen blauen Augen zu verlieren und sie liebte sein Lachen. Sie hatten den gleichen Humor. In ihrem Elternhaus wurde nur wenig gelacht und wenn, dann meistens aus Höflichkeit, wenn ihr Vater eine seiner vorgeblich witzigen Anekdoten zum Besten gab. Bei Bruno war ihr Lachen herzlich und echt.

Dennoch war er ein Straßenkind und ein Teil von ihm würde es auch immer bleiben, den Geruch von Dreck und Gosse nie ganz loswerden.

Green Mambas war der Name seiner Straßengang.Greenwie »Greenhorn« oder »noch grün hinter den Ohren«. Keiner von ihnen war älter als zweiundzwanzig. UndMamba, weil sie als Gang den Respekt verdienten, den man einer tödlichen Giftschlange entgegenbrachte.

Nach und nach lernte Kerstin die gesamte Gang kennen. Piet, Ricky, Bert, Dirk und natürlich Ole, den Ältesten. Er war der eigentliche Chef der Bande und Brunos bester Freund. Oh ja, Ole … Bei ihm hatte sie nie ein gutes Gefühl gehabt. Es war nichts Greifbares, nur ein Bauchgefühl. Aber kein kleines, sondern ein ausgewachsenes Magengrummeln. Lag es an seinen stechenden dunklen Augen? An seinen immer etwas linkischen Bewegungen? Sie wusste es nicht, aber das Unbehagen war da. Vom ersten Moment an. Und es war auch nicht gewichen oder weniger geworden. Auch jetzt lief ihr beim Gedanken an Ole ein Schauer über den Rücken.

Auch Ole war äußerst intelligent. Damit stachen er und Bruno aus ihrer Gang hervor. Doch wo Brunos Intelligenz offen und neugierig war, schien Oles immer irgendwie verschlagen. Wie bei einer Schlange. Bei Ole passte der Name Green Mamba wie die Faust aufs Auge. Nur belegen konnte Kerstin ihr Misstrauen Ole gegenüber nie. Sie hatte deswegen sogar einige Male Streit mit Bruno bekommen.Okay, wenn Ole so übel ist, dann nenn mir ein Beispiel. Nur ein einziges Beispiel, hatte er sie aufgefordert. Sie konnte es nicht und so hatten sie das Thema Ole ausgeklammert, so gut es eben ging.

Ganz genau hatte sie nie gewusst, was die Mambas trieben. Sie hatte es auch nicht wirklich wissen wollen und sich mit der Vorstellung beruhigt, dass es schon nicht über kleinkriminelle Delikte hinausgehen würde. Wie naiv. Wie unglaublich unbedarft sie doch gewesen war!

Sie musste über sich selbst den Kopf schütteln. Die unbewusste Bewegung bot dem Regen neue Angriffsflächen. Schnell senkte sie den Kopf wieder und starrte auf die Wellen, die gegen die Kaimauer schwappten. Ähnlich waren die Ereignisse der letzten vierzehn Tage über sie hinweggeschwappt.

Es war genau zwei Wochen her, dass sie den Frauenarzt aufgesucht hatte. Der Schwangerschaftstest hatte zwar schon vorher ein positives Ergebnis angezeigt, aber sie brauchte Gewissheit und eine Stunde später sollte sie die auch haben: Sie war in der zehnten Woche schwanger. Vollgepumpt mit widersprüchlichen Gefühlen war sie wie in Trance aus der Praxis getorkelt. Sie hatte Angst vor der Verantwortung, gleichzeitig freute sie sich. Außerdem war sie sich unsicher, was Bruno sagen würde. Wie ihre Eltern reagieren würden, wusste sie bereits und es machte sie wütend.Das Kind muss weg. Es zerstört doch dein ganzes Leben.Punkt. Aus. Feierabend.Denkst du denn gar nicht an uns? Was sollen nur die Leute sagen?Verständnis konnte sie da nicht erwarten. Und dann die entsetzten Gesichter ihrer Eltern, wenn sie ihnen mitteilen würde, dass es ausnahmsweise mal nicht um sie ging. Nein, nach Hause konnte sie jetzt auf gar keinen Fall gehen.

Da Bruno noch mit seiner Gang unterwegs war, hatte sie sich als Erstes Betty anvertraut. Genau wie Bruno war Betty immer für sie da. Manchmal hatte Kerstin ihrer Freundin gegenüber ein schlechtes Gewissen: Betty war lieb und nett, aber auch extrem anhänglich, da Kerstin ihre einzige Freundin war. Und dafür, dass Kerstin plötzlich weniger Zeit mit ihr verbringen konnte, seit sie mit Bruno zusammen war, brachte sie herzlich wenig Verständnis auf. Es kam sogar vor, dass sich Kerstin von Betty ähnlich eingeengt fühlte wie von ihren Eltern. Doch auch wenn Betty ihrem vorgezeichneten Lebensweg und dem Establishment außer einer wilden Punkfrisur nichts entgegenzusetzen hatte und Kerstins unbändigen Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung nicht teilte, war und blieb sie doch ihre beste Freundin.

Manchmal hatte sie sogar den Eindruck gehabt, dass Betty neidisch auf sie war, fast schon eifersüchtig wegen Bruno. Doch den Gedanken hatte sie schnell wieder verworfen und sich sogar dafür geschämt. Betty und eifersüchtig? Nein, das passte nicht. Nein, es war wohl eher die Angst, das fünfte Rad am Wagen zu sein.

Manchmal quälten sie Gewissensbisse, dann ärgerte sie sich wieder darüber. Was sollte sie denn machen? Sie konnte sich doch nicht zerreißen. Es ging ja nicht um eine Entscheidung zwischen Bruno und Betty. Sie konnte aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen. Sie liebte Bruno und es war ganz natürlich, dass sie so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen wollte. Und Betty liebte sie auch, aber eben auf eine andere Art. War das denn so schwer zu verstehen?

Betty würde doch immer ihre beste Freundin bleiben! Warum wollte sie das nicht begreifen? Kerstin hatte traurig vor sich hin gelächelt, als sie beim Haus von Bettys Eltern angekommen war. Und es hatte ihr unendlich gut getan, sich bei Betty alles von der Seele zu reden. Allerdings fiel Betty zu Kerstins Schwangerschaft auch nicht viel mehr ein als eine Litanei unterschwelliger Vorwürfe und die üblichen Durchhalteparolen wie »das wird schon« oder »du schaffst das schon«. Irgendwann war sie dann endlich mit hämmerndem Herzen zu Bruno aufgebrochen.

Ihr Bruno! Kein Vorwurf à la »hättest du nicht aufpassen können« kam über seine Lippen. Nichts dergleichen. Er hatte sie einfach in den Arm genommen, sanft ihren Rücken gestreichelt und irgendwann gemurmelt: »Verdammt cool, mit zwanzig Papa zu werden! Wenn unser Kind dieses Tempo beibehält, Supergirl, sind wir vor unserem Vierzigsten Opa und Oma.«

Mit einem Mal waren alle ihre Ängste verflogen, mit ein paar Worten von Bruno einfach weggewischt. Sie erkannte, wie sehr sie sich auf dieses Kind freute. Aus ganzem Herzen, mit jeder Faser ihres Körpers. Das Abenteuer ihres Lebens lag vor ihnen und sie war bereit, mit beiden Händen danach zu greifen. Zusammen würden sie es schaffen, das wusste sie jetzt.

In jener Nacht klärte Bruno sie dann endlich auch über die Green Mambas auf: Von wegen kleinkrimineller Mist … Obwohl noch so jung an Jahren, waren die Mambas in St. Georg eine ernst zu nehmende Größe. Das bedeutete Prostitution, Drogenhandel, Diebstahl, Raub. Und sie wollten noch mehr: Sie wollten die Macht der alteingesessenen Kiezkönige, wollten die Nummer eins in St. Georg werden. Das alles hatte er ihr in einem fast beiläufigen Plauderton gebeichtet, als sie gerade miteinander geschlafen hatten und sich Kerstin an Brunos Brust einkuschelte. Er hatte erst gestockt, als sie sich zunehmend in seinem Arm verkrampfte und ihre Tränen seine Brust benetzten.

»Hey, Kerstin, Liebes, Supergirl, das alles ist jetzt Vergangenheit! Ein großer Coup noch und dann hauen wir mit einem Sack voll Geld ab. Direkt in unser neues Leben, weit weg von dem ganzen Mist hier. Weit weg von deinen Scheißeltern und dem ganzen Dreck im verdammten St. Georg. Nur du und ich. Wie Bonnie und Clyde. Und unser Kind natürlich«, versuchte er sie zu beruhigen.

Sie hatten schon früher darüber gesprochen, einfach abzuhauen. Voller romantischer Allüren, voller Kitsch. Süße Sehnsucht nach Freiheit. Doch diesmal war es ernst. Sie wogen alle Möglichkeiten ab. Von allen Seiten. Wieder und wieder. Bis in den frühen Morgen.

Auf den ersten Blick schien ihr alles klar: Sie konnten beide nur gewinnen. Durch ihre Flucht nach Costa Rica – das war schon immer ihr Traumziel gewesen – würde Bruno mit einem Schlag aus seiner kriminellen Welt gerissen werden. Sie dagegen würde die verlässliche, beschauliche Welt ihres Elternhauses einbüßen, gegen die sie sich schon ein halbes Leben lang wehrte. Von einem Verlust konnte man da wohl kaum sprechen. Ihre Eltern verstanden sie nicht; schlimmer noch, sie bemühten sich noch nicht einmal, sie zu verstehen. Sie hatte zu funktionieren. Mehr nicht. Und ihre Freunde? Nun, da war Betty … Betty würde sie vermissen, sehr sogar. Und Betty würde sie genauso schlimm vermissen. Aber Betty würde sie mit Sicherheit auch verstehen. Vielleicht sogar beneiden. Irgendwie würden sie schon in Kontakt bleiben. Telefon, Briefe, beruhigte sie sich.

Und sonst? Ihr wollte niemand mehr einfallen, der ihr großartig hinterherweinen würde. Nur oberflächliche Freundschaften, nichts mit Substanz.

Bruno würde seine Mutter zurücklassen und anders als sie hatte er echte Freunde. Seine Gang.

Und dann das Baby … Natürlich wollte sie nicht ganz mit ihren Eltern brechen. Allein schon ihrer Mutter wegen. Sie würde sie nach der Geburt informieren, vielleicht sogar nach Costa Rica einladen. Was sollten sie schon machen? Schließlich war sie volljährig. Vielleicht würden ihre Eltern durch die Trennung erkennen, was sie an ihr hatten. Womöglich würden sie ihre Beziehung zu ihr überdenken. Der Wunsch nach Freiheit und einem Leben mit Bruno wurde immer größer. Übermächtig groß.

Blieb noch die Sache mit dem letzten großen Coup. Stunde um Stunde hatte sie versucht, es Bruno auszureden: »Denk doch an unser Kind. Was ist, wenn du erwischt wirst? Wenn du im Knast landest?«

»Kerstin, die Nummer ist idiotensicher. Wir werden nicht geschnappt. Ole hat alles genau geplant.«

»Ja, der tolle Ole. Und wenn dir was passiert?«

»Hey! Noch mal, Supergirl, IDIOTENSICHER!«

»Ach ja? Was heißt denn idiotensicher?«

»Ein einfacher Bruch. Kein Wachpersonal. Rein, raus, reich.«

»Bruno, lass es! Mir zuliebe.«

»Dir zuliebe? Es lassen? Für dich und unser Kind mache ich es doch! Klar, Costa Rica bietet tolle Chancen, aber ohne Geld? Wir sind bei drei wieder draußen und noch mal, niemandem wird irgendwas passieren. Der Bruch bringt uns drei Millionen Mark.Drei Millionen. Ich werde mit Ole reden, dass ich mit 300.000 in bar zufrieden bin.«

»Klar, markierte Scheine …«

»Herrgott, wir klauen Schmuck, kein Geld. Ole wird alles zusammenkratzen müssen, was die Mambas in der Kasse haben. Dafür fällt mein Anteil auch kleiner aus als gedacht.«

»Kleiner?«

»Klar. Mir würden 450.000 zustehen.«

»Bruno, verstehst du nicht, dass es falsch ist. Ich meine, das ist nicht dein Schmuck. Die armen Leute ...«

»… sind versichert. Und alternativ könntest du ja deine Eltern um 300.000 Mark bitten für unsere Zukunft.«

»Idiot.«

»Nein, Realist.«

Gegen 06:00 Uhr morgens gingen ihr die Argumente aus. Gegen 07:00 Uhr hatte sie zugestimmt. Als sie zwanzig Minuten später durch den Keller in ihr Elternhaus schlich, fragte sie sich, ob man zu Gott beten darf, dass ein Coup gelingen würde.

Schon am nächsten Tag teilte ihr Bruno mit, dass er sich mit Ole auf 250.000 DM bar und in kleinen Scheinen geeinigt hätte. Und nun war der Tag der Tage gekommen. Über Kontakte, von denen sie nun wirklich nichts wissen wollte, hatte Bruno eine Kabine auf einem Frachter für sie gebucht. Das Schiff fuhr planmäßig nach Rio de Janeiro; mit einem kurzen Stopp in Costa Rica. Der Kapitän wusste Bescheid, interessierte sich aber – dank einer Stange Geld – nicht für Papiere, Kontrollen etc.

Ein kurzes dreimaliges Tuten ließ ihren Kopf hochschnellen. Aus dem ständig dichter werdenden Nebel schälte sich ein Frachtschiff. Vielleicht war es ja ihr Schiff, dieCross of the South, die ihr nur mitteilen wollte, dass sie nicht mehr länger warten konnte und Bruno und ihr nur das Beste wünschte. Ha, das Beste …

Ihre Uhr zeigte 03:42 Uhr an.

Plötzlich fühlte sie sich wie eine alte Frau. Ein junges Mädchen, dessen Leben schon vorüber war, ehe es überhaupt beginnen konnte. Sie drückte sich von dem Geländer am äußersten Ende der Kehrwiederspitze hoch und warf einen letzten Blick über den Hamburger Hafen. Wieder flatterte eine Möwe in ihr Gesichtsfeld, landete stumm knapp zwei Meter neben ihr auf einem Anlegerpfahl. Die schwarzen Knopfaugen betrachten sie kalt und desinteressiert. Wie auch sonst?

Kerstin schniefte und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus ihren dunkelbraunen Augen.Wo bist du Bruno? Was ist nur passiert?Fragen über Fragen schlugen in ihrem Kopf Purzelbäume. Sie drehte sich um, bereit, ihren persönlichen Gang nach Canossa zu ihren Eltern anzutreten. Vorher würde sie noch bei Betty vorbeihuschen, um den Brief zurückzunehmen, den sie Betty für ihre Eltern mitgegeben hatte und in dem sie ihnen alles erklärte und auch versprach, ihr Abitur in Costa Rica nachzuholen.

Ihr ordnungsfanatischer Vater, für den jeder Wunsch nach Freiheit einem Aufruf zur Anarchie gleichkam, hätte sie eh nicht verstanden, aber ihre Mutter vielleicht schon. Kerstin hatte Momente mit ihrer Mutter erlebt, in denen sie einen verblassten Hauch von Freiheitssehnsucht unter dem Korsett einer normierten Welt, in die sie ihr Vater in vielen Ehejahren gepresst hatte, zu erkennen glaubte. Seltene Momente, aber immerhin. Egal. Das war nun alles hinfällig. Genau wie der Brief mit ihren verzweifelten Erklärungen.

Ein Geräusch in nächster Nähe ließ Kerstin den Kopf heben. Erschrocken sog sie die Luft ein. Direkt vor ihr stand der bullige Seemann, der vorhin noch auf der Brücke gewesen war.

Der Schlagstock traf sie vollkommen unvorbereitet und mit voller Wucht an der linken Schläfe. Sofort erloschen alle Lichter, Gedanken und Träume. Einfach so.

1

If you miss the train I’m on,

You will know that I am gone

You can hear the whistle blow a hundred miles.

A hundred miles, a hundred miles,

A hundred miles, a hundred miles,

You can hear the whistle blow a hundred miles.

500 Miles,

PETER, PAUL & MARY

Als sein Schließer wie jeden Tag um 05:30 Uhr seine Zellentür öffnete, lag er schon seit Stunden wach. Eigentlich hatte er gar nicht geschlafen, sondern die ganze Nacht über mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf seiner Matratze gelegen und die Decke angestarrt. Wie hätte er in dieser Nacht auch schlafen sollen? Seine letzte Nacht im Knast. Die letzte. Nach fünfundzwanzig Jahren.

Mehr als die Hälfte seines Lebens hatte er im Bau verbracht. Jahr um Jahr. Vor fünfundzwanzig Jahren war er in die Hölle gestoßen worden und heute spuckte sie ihn einfach wieder aus. Oder war es ganz anders? Erwartete ihn die wahre Hölle draußen? Außerhalb der Mauern von Santa Fu, wie die Justizvollzugsanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel im Milieu genannt wurde? Er hatte Angst. Würde die Stadt ihm noch vertraut sein oder vollkommen fremd? Eine neue Welt am Ende? Und dann die Menschen … Würde es noch vertraute Gesichter geben oder nur Fremde? Oder waren vielleicht sogar die ehemals vertrauten Menschen zu Fremden geworden?

Fünfundzwanzig Jahre. Vor seinem geistigen Auge hatte er fünfundzwanzig Jahre lang die Gesichter seiner Freunde gesehen: Piet, Ricky und die anderen. Und Ole. Und natürlich Kerstin. Fast jede Nacht. Wieder und wieder. In seinem Kopf waren sie zeitlos, nie gealtert, sahen immer noch wie zwanzig aus oder jünger. Ob sie überhaupt noch alle lebten? Vielleicht waren sie ja in andere Städte umgezogen und wussten gar nicht, dass er heute rauskam? All diese Fragen bereiteten ihm eine Heidenangst.

»Los, Bruno, hoch mit dir. Heute ist doch dein großer Tag«, riss ihn die Stimme des Justizvollzugsbeamten Norbert Kuntze aus seinem ängstlichen Trübsal.

»Hast ja recht«, nuschelte er in Kuntzes Richtung, setzte sich auf und schwang die Beine von seiner Koje. Kuntze hatte einen Monat nach seiner Verurteilung in Santa Fu angefangen. Schon komisch, damit kannte er ihn streng genommen länger als seine Freunde. Bruno war zwanzig gewesen, als er seine Haftstrafe angetreten hatte. Jetzt war er fünfundvierzig. Eine ganze Generation später.

Er rieb sich mit den Händen über das Gesicht, ein alltägliches Ritual, um die Müdigkeit zu vertreiben. Und heute war es tatsächlich nicht mehr als ein Ritual: Von Müdigkeit keine Spur. Seine Nerven waren vor fiebriger Aufregung zum Zerreisen gespannt.

Eine Viertelstunde später schaufelte er lustlos sein Frühstück in sich rein. Hoffentlich wirklich sein letztes in Santa Fu. Seine Gedanken schweiften ab. War in jener Nacht tatsächlich alles so abgelaufen, wie es der Staatsanwalt im Prozess vorgetragen hatte? Er wusste es beim besten Willen nicht. War er wirklich ein kaltblütiger Mörder? Er würde es herausfinden.

Auf der anderen Seite der Stadt, in Hamburg St. Georg, lebte Gerd Kramer. Kommissar Kramer war jetzt schon seit ein paar Jahren pensioniert und man konnte nicht behaupten, dass er die Polizeiarbeit in St. Georg vermisste. Nein, zum Verrecken nicht. Was er aber gerade in seinem Badezimmerspiegel sah, während er sich schwer auf sein Waschbecken stützte, gefiel ihm auch nicht: Ein müdes Altmännergesicht. Ein lichter werdender grauer Haarkranz umgab seinen Kopf. Ansonsten war in Sachen Haare Fehlanzeige. Polierte Platte nannten Münzsammler das wohl. Das einzige, was sich auf seiner Kopfhaut noch tat, war die ständige Zunahme von Altersflecken. Sein Gesicht wirkte aufgedunsen, die Haut kränklich grau. Sein Lieblings-Hassobjekt stellten jedoch seine Tränensäcke dar. So groß und tief, wie sie herunterhingen, schien es, als hätte er dort jeweils ein ganzes Schnapsglas in einem Geheimdepot versteckt.

Jetzt blickte er seinem Spiegelbild in die Augen. Wässrig, von Adern durchzogen und bereits etwas trübe. Das Feuer, welches in ihnen gelodert hatte, war weitestgehend erloschen. Weitestgehend, aber noch nicht ganz. Und wofür er die verblichene Glut nutzen wollte, wusste er ganz genau. Es war noch keine Minute her, dass ihn ein Anruf aus seinem alten Revier aus dem unruhigen Schlaf gerissen hatte. Auch so eine Alterserscheinung. Der Schlaf stellte sich seltener und vor allen Dingen immer später ein.Wann habe ich das letzte Mal eigentlich richtig erholsam geschlafen?, fragte er sich. Er wusste es nicht.

Die Nacht hatte er sich mit Krimiklassikern auf einem Privatsender um die Ohren geschlagen.Die Straßen von San Francisco, Der Kommissar, Starsky & Hutch. Anders als im wirklichen Leben konnte man Gut und Böse in den Serien noch unterscheiden, wusste was Recht und Unrecht war. Gegen 04:00 Uhr morgens hatte der Schlaf dann endlich ein Einsehen mit ihm gehabt.

»Moin Chef«, war ihm die gut gelaunte Stimme von Hauptwachmeister Petzold aus dem Hörer entgegengeschallt. »Ich wollte Sie nur daran erinnern, dass heute ...«

»Dass Traber heute entlassen wird. Ich weiß, ich hab´s nicht vergessen«, schnitt er seinem ehemaligen Kollegen das Wort ab. »Und Petzold, ich bin nicht mehr Ihr Chef. Nur einer von Millionen Rentnern, die von einem Tag zum anderen nicht mehr gebraucht werden.«

»Aber Chef, ich meine ...«

»Schon gut, Petzold, und danke«. Damit beendete er das Gespräch und ließ sich aufs Bett zurückfallen.

Die Bilder waren sofort wieder da: Bruno Traber,Speedy, blaue Augen, ein fünfundzwanzig Jahre jüngerer Kommissar Kramer, fortysomething und noch nicht aller Illusionen beraubt … Der Fall Traber hatte ihn nie losgelassen. Bis heute nicht.

Schließlich setzte er sich wieder auf und holte den Smith & Wesson-Revolver aus der Schublade seines Nachtischchens. Kurz hatte er überlegt, vielleicht lieber die Walther PPK aus dem Nachttisch zu klauben, sich dann aber aus einem Impuls heraus für den Revolver entschieden. Er warf einen prüfenden Blick auf die Waffe. Geladen. Gut so. Kramer beugte sich vor und hustete, bis sich ein Schleimpfropfen in seinen Bronchien löste. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann schlurfte er ins Bad.

Es war kurz nach 09:00 Uhr, als sich die schwere Tür der ersten Sicherheitsschleuse hinter Bruno und Kuntze schloss. Fünf Meter vor ihnen befand sich die Außentür der JVA-Fuhlsbüttel. In dem großen Metalltor wirkte die Tür klein wie ein Mauseloch. »Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wo es langgeht«, lotste Kuntze Bruno in das kleine Büro an der rechten Seite. »Ach Kuntze, vielleicht weiß ich wirklich nicht, wo es langgeht.«

»Die Panik haben alle, die nach so langer Zeit rauskommen. Das legt sich aber nach ein paar Tagen.«

»Tja, wenn du es sagst.«

»Mhm«, nickte Kuntze bekräftigend und kratzte sich am Bauch, den er sich in den letzten drei, vier Jahren zugelegt hatte.

Kuntze wird alt, dachte Bruno, während er dem Beamten in dem kleinen Büro zunickte. Ihn selbst hatten fünfundzwanzig Jahre Knast natürlich auch nicht jünger gemacht. Jedes Gott verfluchte Jahr hatte Falten in sein Gesicht gegraben und seine einst schwarze Lockenpracht war – wohlwollend betrachtet – eine fifty-fifty Mischung aus schwarz und grau. Na ja, wenigstens keine Glatze.

Nur mit seiner Figur war er zufrieden. Klar hatte er über die Jahre einige Kilos zugelegt, aber er hatte nach wie vor keinen Bauchansatz, war immer noch schlank und drahtig. Kein Wunder, er hatte ja auch fünfundzwanzig Jahre lang mehr als genug Zeit gehabt, um sich sportlich fit zu halten. Bei diesem Gedanken musste er ein bitteres Lachen unterdrücken.

»Traber, Bruno, geboren am 5. Oktober 1969?« Der untersetzte Justizbeamte hinter dem Schreibtisch warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Ja«, murmelte Bruno.

»Ihre Sachen und ein Teil Ihres Überbrückungsgeldes. Quittieren Sie den Empfang bitte.« Der Beamte schob ihm mit der Rechten ein Plastikkörbchen rüber, mit der Linken einen Wisch zum Unterschreiben. In dem Körbchen lagen seine alte Schlägermütze, seine Entlassungspapiere, eine Durchhaltebroschüre für entlassene Knackis voller Tipps für einen erfolgreichen Neustart, ein Terminzettel, wann er sich in seiner Bewährungsstelle melden musste, die auch den Großteil seines Überbrückungsgeldes verwaltete, ein Briefumschlag mit 250 Euro und eine weiße Hasenpfote – sein Glücksbringer und eine der wenigen glücklichen Erinnerungen an seine Mutter, die ihm zwei weiße Hasenpfoten mit den besten Wünschen für seinen weiteren Lebensweg zu seinem zehnten Geburtstag geschenkt hatte. In einem anderen Leben hatte er die zweite Pfote Kerstin geschenkt.Kerstin. Unmerklich schüttelte er den Kopf und stopfte die Entlassungspapiere in die Innentasche seiner abgewetzten Fliegerjacke mit einem großen Weißkopfseeadler mit ausgebreiteten Schwingen auf dem Rücken; vor fünfundzwanzig Jahren waren solche Jacken schwer in. Dann nahm er den Merkzettel und das Geld. Mit der im Knast verdienten Kohle verfügt er über die stolze Summe von 396,40 Euro. Die »wunderbare Zukunft«-Broschüre für Knackis ließ er im Körbchen liegen. Den Justizbeamten hinter dem Schreibtisch interessierte das alles nicht. Er war nur scharf auf Brunos Unterschrift auf der Quittung.

Zwei Minuten später stand er dann auch schon mit Kuntze an der Ausgangstür. War sie ihm vorhin noch klein wie ein Mauseloch erschienen, wirkte sie jetzt, wo er davorstand, beängstigend groß, obwohl sie doch nichts anderes war, als eine beschissene graulackierte Stahltür: zwei Meter hoch, einen Meter breit, mit Roststellen, wo die Farbe abgeblättert war.

Kuntze schloss auf. »Hör mal, Bruno«, er fasste ihn am Arm, »ich kann ja schlecht auf Wiedersehen sagen, also sag ich lieber man et jut. Und lass dir drei Tipps geben – das mach ich nur, weil ich dich irgendwie mag. Nach all den Jahren.«

»Du willst mich jetzt aber nicht küssen, oder?«

»Idiot. Hör zu: Versauf oder verhure dein Geld nicht in den nächsten Tagen, melde dich pünktlich bei deiner Bewährungsstelle und«, Kuntze machte eine kurze, aber bedeutungsschwangere Pause, »und um Gottes willen mach einen riesengroßen Bogen um St. Georg, okay?«

Bruno wusste, dass Kuntze es nur gut mit ihm meinte und irgendein Teil von ihm mochte den Justizvollzugsbeamten wirklich gern. Kuntze und vor allen Dingen der Gefängnisdirektor hatten es immer gut mit ihm gemeint. Zwar konnten sie gegen das Veto der Staatsanwaltschaft auch keine Freigänge für ihn erwirken, aber wenigstens Schikanen der Staatsgewalt wie Einzelhaft etc. in Grenzen halten. Mangelnde Kooperationsbereitschaft und mangelnde Schuldeinsicht waren die ständig wiederkehrenden Argumente, die die Staatsanwaltschaft erfolgreich gegen Hafterleichterungen für Bruno ins Feld geführt hatte.

Er schüttelte die Gedanken ab und zwang sich zu einem Lächeln. »Man et jut«, versuchte er den rheinländischen Akzent seines Gegenübers zu imitieren und reichte ihm die Hand. Ein kräftiger Händedruck, ein langer Blick, dann stieß Kuntze die Außentür von Santa Fu auf. Ein letztes Lächeln und Bruno schritt über die Schwelle. Mit einem hellen Knirschen schloss sich die Tür seines Zuhauses hinter ihm. Seines Zuhauses während der letzten fünfundzwanzig Jahre.

Nach dem Frühstück hatte sich Kramer seinen beigen Trenchcoat übergeworfen und sich gemächlich in Richtung seines alten Reviers am unteren Steindamm aufgemacht. So früh am Morgen waren die Straßen von St. Georg noch leer. Keine Junkies, Dealer, Zuhälter und auch keine abgehalfterten Huren, die ihre Dienste für ein paar Euro feilboten, um sich ihren nächsten Schuss zu finanzieren. Die ordentlichen Huren, wie Kramer die nicht süchtigen Prostituierten für sich nannte, würden die Gegend rund um den Hansaplatz erst am späteren Nachmittag bevölkern. Jetzt herrschte noch Ruhe in seinem Kiez.

In der Stralsunder Straße verteilte ein Mittelsmann die obligatorischen Krücken an die Mitglieder der bulgarischen Bettelmafia. Türkische, libanesische und vietnamesische Händler drapierten ihr Obst und Gemüse vor ihren Läden. Kramer sah zwei Geschäftsmänner, die eilig und unglaublich wichtig die Bürohäuser auf Höhe der Stiftstraße ansteuerten, und einen Betrunkenen, der versonnen sein Erbrochenes auf dem Gehsteig betrachtete. Der Kerl wirkte dabei so hoch konzentriert wie ein Hellseher, der versucht, die Zukunft im Kaffeesatz zu lesen. Nur dass der Typ in der stinkenden Pfütze maximal lesen konnte, was er letzte Nacht gesoffen hatte. Hinter dem Säufer erblickte Gerd Kramer an einer verwitterten Altbaufassade ein herzförmiges Graffiti: »Theresa + Robert, 20.07.2008« stand drin. Hatten sie im Revier nicht mal einen Polizeischüler mit so einer Sauklaue gehabt? Vielleicht ja, vielleicht nein. Er wusste es nicht mehr und es war auch egal. Er machte einen großen Bogen um den Kotzmeister und ließ seinen Blick von links nach rechts durch St. Georg wandern.