Dürers Mätresse - Die Rückkehr - Jan Beinßen - E-Book

Dürers Mätresse - Die Rückkehr E-Book

Jan Beinßen

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Beschreibung

20 Jahre, 20 Fälle – Jan Beinßens fränkisches Krimijubiläum Zwei Brandstiftungen während der Adventszeit im Nürnberger Burgviertel – und zwei tote junge Männer, die an Rauchvergiftung starben. Eines der Opfer hatte sich erst kürzlich in Paul Flemmings Fotostudio porträtieren lassen, weshalb das Interesse des Hobbydetektivs natürlich gleich geweckt ist. Während die Polizei zunächst von Zufallsopfern ausgeht, wittert Paul Mord – und erfährt von einer Gemeinsamkeit der beiden Toten: Sie trugen Tätowierungen mit Motiven von Albrecht Dürer. Sofort werden bei Paul Erinnerungen an seinen allerersten Fall wach. -Zum 20-jährigen Jubiläum: Hobbydetektiv Paul Flemming wird von seinem allerersten Fall eingeholt -Eine der erfolgreichsten fränkischen Krimireihen kehrt spektakulär zurück

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Seitenzahl: 218

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Jan Beinßen. Jahrgang 1965, lebt in Franken und hat zahlreiche Kriminalromane veröf fentlicht. Bei ars vivendi erschienen neben seinen Paul-Flemming-Krimis u. a. auch der historische Kriminalroman Görings Plan (2014) sowie die Kurzkrimibände Die toten Augen von Nürnberg (2014) und Tod auf Fränkisch (2017).

Liebe Leserin, lieber Leser, sicher ist Ihnen auf dem Einband das Aktions-Logo des Vereins Junge Helden (www.junge-helden.org) aufgefallen. Man kann sich dieses Signet auch als Tattoo stechen lassen und damit signalisieren, dass man als Organspender zur Verfügung steht. Warum setzt der ars vivendi verlag mit seinen Büchern buchstäblich dieses Zeichen? Hätte ich selbst im Jahr 2006 nicht in allerletzter Sekunde das große Glück gehabt, eine Spenderleber zu erhalten, würden Sie dieses und viele andere Bücher von ars vivendi nicht in den Händen halten. Es ist mir ein Herzensanliegen, mich dafür einzusetzen, dass sich mehr Menschen bereit erklären, Organe zu spenden und damit Leben zu retten. Ihr Norbert Treuheit, Verleger und Geschäftsführer

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Oktober 2025)

© 2025 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG Bauhof 1, 90556 [email protected]

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

www.arsvivendi.com

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung des Kupferstichs Vier nackte Frauen von Albrecht Dürer

eISBN 978-3-7472-0709-3

 

 

 

 

Dürers Mätresse

Die Rückkehr

Mancher meint, er kenne jedermann, der sich doch selbst nicht kennen kann.

Albrecht Dürer

1

In der klaren Winterluft lag der Duft von Zimt und gerösteten Mandeln wie ein unsichtbarer Schleier über der Stadt. Die Dämmerung hatte Nürnberg längst erreicht, doch der Hauptmarkt leuchtete golden, warm und verheißungsvoll. Die Buden, geschmückt mit Lichterketten und Tannenzweigen, standen dicht an dicht, jede ein kleines Wunderland für sich.

Schneeflocken tanzten durch die Luft, Kinderlachen vermischte sich mit dem Klang von festlicher Musik. Verliebte schlenderten Hand in Hand, Familien bestaunten handgeschnitzte Krippenfiguren. Der Glühwein dampfte aus Keramikbechern, Lebkuchen dufteten wie süße Versprechen, und über allem schwebte der Eindruck, dass die Zeit hier ein wenig langsamer verging.

Es war nicht nur ein Markt – es war ein Ort voller Licht in der dunklen Jahreszeit, voller Erinnerungen und voller Erwartung. Der Christkindlesmarkt war ein Gefühl, das man nicht kaufen, sondern nur erleben konnte.

Plötzlich, von einer Minute auf die andere, wurde es ganz leise. Über dem Platz lag jetzt erhabenes Schweigen. Paul Flemming fühlte die Präsenz von Tausenden, doch die vielen Menschen um ihn herum verharrten in beinahe andächtiger Stille. Kein Geräusch störte diese Ruhe. Es schien, als würde die ganze Welt die Luft anhalten.

Paul massierte seine Finger gegen das taube Gefühl der Kälte, den Blick richtete er konzentriert durch den Sucher seiner Kamera. Alles, was seine geschulten Augen wahrnahmen, war hundertfach vergrößert …

War das gerade ein Déjà-vu? Paul kam sich vor, als hätte er genau diese Situation vor zwanzig Jahren schon einmal erlebt. Auch damals hatte er im Auftrag der Tourismuszentrale Fotos von der feierlichen Eröffnung des Nürnberger Christkindlesmarktes gemacht. Paul erinnerte sich, wie er alle paar Minuten den Film seiner analogen Kamera hatte wechseln müssen. Das blieb ihm heute erspart, aber ansonsten hatte sich kaum etwas verändert. Selbst das Wetter machte mit: Wie damals rieselte der Schnee vom Himmel und bildete weiße Hauben auf den vielen Buden und Ständen um ihn herum.

In diesem Moment gingen auf dem Hauptmarkt die Lampen aus, und ein Raunen stieg auf. Scheinwerfer richteten sich auf den Balkon der Frauenkirche. Eine junge Frau im schimmernden Gewand und mit Lockenhaar trat ins Licht – das Christkind, neben ihm die beiden Rauschgoldengel. Paul betätigte mehrmals den Auslöser, als der Star der Stunde die goldenen Flügel entfaltete und das Wort erhob, um den Prolog vorzutragen.

»Ihr Herrn und Fraun, die ihr einst Kinder wart, ihr Kleinen am Beginn der Lebensfahrt, ein jeder, der sich heute freut und morgen wieder plagt: hört alle zu, was euch das Christkind sagt! In jedem Jahr, vier Wochen vor der Zeit, da man den Christbaum schmückt und sich aufs Feiern freut, ersteht auf diesem Platz, der Ahn hat’s schon gekannt, was ihr hier seht, Christkindlesmarkt genannt.«

Die Stimme hallte um viele Hundert Watt verstärkt über den Markt, und Paul war sich sicher, dass in diesem Moment etliche Zuhörer gerührt nach ihren Taschentüchern griffen. Als er kurz von seiner Kamera aufblickte, sah er in wonnevoll rosige Gesichter und glänzende Augen.

Genauso war es vor zwanzig Jahren gewesen, als er noch nicht hatte ahnen können, welch dramatischen Ausgang der Abend nehmen würde. Damals hatte man kurz nach Ende des Prologs einen toten Mann aus der Pegnitz gezogen, den Fremdenverkehrschef, Vorgänger seines heutigen Auftraggebers. Mit Unbehagen dachte Paul an die erschütternden Ereignisse zurück, die am Anfang seiner Karriere als Privatdetektiv gestanden und in der Presse für Schlagzeilen als Fall »Dürers Mätresse« gesorgt hatten.

Zwischen die angerührten Gesichter der Weihnachtsmarktbesucher schob sich der Kopf eines Mannes Ende fünfzig mit strähnigem grauen Haar, das unter einer schwarzen Wollmütze hervorlugte.

»Blohfeld?«, wunderte sich Paul über das unerwartete Auftreten des Polizeireporters der Nürnberger Boulevardzeitung. »Was haben Sie denn hier verloren?«

»Habe ich etwa kein Recht auf Punsch, gebrannte Mandeln und Posaunenchormusik?«, entgegnete Victor Blohfeld gespielt beleidigt.

»Als ob!« Paul vermutete, dass der gerissene Reporter, der keinerlei Sinn für die Romantik des Weihnachtsrummels hatte, sich vielmehr in der Hoffnung auf eine Story in die Menge stürzte – eine Prügelei vorm Glühweinstand etwa oder ein Polizeieinsatz auf der Jagd nach einem Zwetschgenmännla-Dieb. »Den Prolog des Christkinds übernehmen doch normalerweise die Kolleginnen und Kollegen aus der Lokalredaktion, oder?«

»Ja, ja, die Lokalen sind vor Ort«, bestätigte Blohfeld, dessen Pupillen lauernd hin und her flitzten. »Aber die haben ja nur Augen für das, was auf der Empore abgeht, und kriegen sonst nichts mit. Wenn man sich von der Konkurrenz absetzen will, muss man schon ein wenig mehr bieten heutzutage. Etwas, das auch online gut läuft. Jeder Klick zählt.«

»Also sind Sie doch nicht wegen Punsch, gebrannten Mandeln und Posaunenchormusik gekommen oder um dem Christkind zu lauschen, in sich zu gehen und sich auf Weihnachten einzustimmen«, folgerte Paul. Als hätte er es mit seinen Worten heraufbeschworen, ertönte in diesem Moment ein Martinshorn. Kurz darauf kamen weitere dazu. Auch Blohfeld entging die plötzliche Unruhe natürlich nicht, und er reckte neugierig den Hals.

Was mochte da los sein? Unwillkürlich musste Paul an einen Anschlag denken, das Horrorszenario schlechthin. Ihm wurde ganz anders. Schnell aber war klar, dass die Einsatzfahrzeuge nicht in Richtung Hauptmarkt unterwegs waren, sondern schon weiter oben abbogen, irgendwo im Burgviertel.

»Muss was Größeres sein«, mutmaßte Blohfeld und wirkte jetzt wie elektrisiert. »Klingt nach der Feuerwehr mit einem ganzen Löschzug.«

Ja, das dachte auch Paul.

»Das sollten wir uns nicht entgehen lassen«, meinte der Reporter. »Der Prolog ist vorbei. Worauf warten Sie noch, Flemming?«

Paul sollte also offenbar wie so oft als Blaulichtfotograf für Blohfeld tätig werden. Das passte ihm eigentlich gar nicht in die vorweihnachtliche Stimmung, andererseits war er neugierig, und sein eigentlicher Job hier war tatsächlich erledigt. Warum also nicht mitkommen und nachsehen, was passiert war?

Sie schoben sich durch die Menge, wobei Paul eine Senfspur aus einem Bratwurstweckla und einige Tropfen Feuerzangenbowle auf dem Ärmel mitnahm. Erst als sie das Alte Rathaus passierten, lösten sich die Menschenmassen langsam auf, und sie kamen schneller voran. Dabei folgten sie den unablässig dröhnenden Martinshörnern bis mitten in die schmalen Gassen des Burgviertels.

Gerade hatten sie den Weinmarkt erreicht, als Paul beiseitespringen musste – ein Radfahrer, den Kopf tief über den Lenker gebeugt, schoss an ihnen vorbei. Viel zu schnell bei dieser Glätte und all den Leuten drumherum!

»Idiot!«, rief Blohfeld dem Radler hinterher.

Als sie weitergingen, stellte Paul erleichtert fest, dass seine Atelierwohnung, die ja direkt am Weinmarkt lag, nicht in Flammen stand – immerhin. Doch nicht viel weiter, in der Irrerstraße, war die Hölle los!

Löschwasser umspülte ihre Schuhe und schwemmte die dünne Schneeschicht mit sich fort. In der Nässe, durch die sich Dutzende armdicke Schläuche wanden, spiegelten sich die blinkenden Signallichter verschiedener Einsatzfahrzeuge. Dazu immer noch das dröhnende Tatütata. Wo Paul auch hinsah, überall hektisches Treiben. Feuerwehrleute in ihren Schutzanzügen, teils mit Atemluftflaschen auf den Rücken, Polizistinnen und Polizisten, Rettungssanitäter, alle rannten durcheinander.

Paul blieb stehen und hob den Kopf. Sein Blick folgte der ausgefahrenen Leiter eines Feuerwehrwagens bis hinauf zum Dachgeschoss eines der Wohnhäuser, die allesamt über vier oder fünf Etagen verfügten. Aus dem Dach schlugen die Flammen meterhoch. Knisternde Funken schwebten glühend in den Nachthimmel, bevor sie zischend auf dem feuchten Boden landeten. Das laute Prasseln des Feuers übertönte die Weihnachtslieder vom nahen Hauptmarkt ebenso wie das Getuschel der umstehenden Menschen.

Zum Glück handelte es sich nicht um eines der jahrhundertealten Fachwerkhäuser, die den Bombenkrieg 1945 überstanden hatten und von denen etliche aufwendig saniert worden waren, dachte Paul. Auch dieser Bau war zwar alt, jedoch schon vor dem Brand in keinem besonders guten Zustand mehr gewesen.

Glück – hoffentlich hatten das auch die Bewohner, von denen Paul einige auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu erkennen glaubte: zusammengekauerte Gestalten, über den Schultern glänzende Thermodecken, die von den Rettungskräften verteilt wurden. Ein Kind weinte, eine alte Frau hielt einen Vogelkäfig in der Hand. Die Leute taten ihm leid, aber immerhin waren sie mit heiler Haut davongekommen.

Plötzlich tat es einen Schlag. Paul zuckte zusammen, als noch höhere Flammen auf dem Dach züngelten und sich Glutregen auf den Boden ergoss. Eine Verpuffung, dachte er und ging schnell einige Schritte zurück.

»Los! Glotzen Sie nicht nur, sondern schießen Sie Ihre Fotos!«, blaffte Blohfeld ihn an.

»Ja, ja, schon gut.« Paul warf ihm einen bösen Blick zu, dann machte er die Kamera bereit. Routiniert fing er die bedrohliche Szenerie ein, Feuerwehrleute in Aktion und Polizeibeamte, die Gaffer zurückzudrängen versuchten. Paul lichtete die besorgten Hausbewohner ab, die sich bestürzt die Hände vor den Mund hielten, und Sanitäter, die sich um einen Leichtverletzten kümmerten. Dann machte Blohfeld ihn auf den Hauseingang aufmerksam, aus dem zwei Männer mit Atemschutz traten. Die Feuerwehrler schleppten eine Trage mit einem weiteren Verletzten. Paul hielt auch das auf einem Foto fest, nur um im nächsten Moment festzustellen, dass der Patient mit einem Laken bedeckt war – und zwar komplett, inklusive Kopf.

Also kein Verletzter, sondern eine Tote oder ein Toter. Paul ließ die Kamera sinken, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass er sich nicht täuschte.

»Machen Sie Fotos!« Blohfeld stieß ihn grob am Arm.

Nach einem weiteren finsteren Blick gehorchte Paul, schob die Kamera wieder vor sein Gesicht und dokumentierte den Transport des Verstorbenen zu einem gerade vorfahrenden Leichenwagen. Auch in dem Moment, als sich das Tuch seitlich löste und ein nackter Arm zum Vorschein kam, betätigte er den Auslöser. Ohne dass es die beiden Träger bemerkten, baumelte der Arm herunter. Ein makabrer Anblick.

Paul war Profi genug, um trotzdem weiterzumachen und auch das abzulichten. Dabei zoomte er mit seinem Teleobjektiv ganz nahe an den Toten heran – und stutzte. Wieder drückte er den Auslöser, bevor er die Kamera endgültig absetzte und Blohfeld betroffen ansah.

»Dürers Mätresse«, sagte Paul ergriffen. »Er trägt ein Tattoo von Dürers Mätresse auf dem Arm.«

2

Paul war viel zu aufgewühlt, um in dieser Nacht ruhig schlafen zu können. Seine Frau Katinka beschwerte sich beinahe minütlich über seine Unruhe und drohte gegen Morgen damit, ihn aufs Sofa ins Wohnzimmer zu verbannen.

Nach einem spartanischen Frühstück führte ihn sein erster Weg ins Polizeipräsidium, wo er hoffte, Jasmin Stahl auch heute, an einem Samstag, anzutreffen. Die Hauptkommissarin war über die Ereignisse vom Vorabend sicher schon im Bilde und wusste vielleicht mehr. Außerdem musste er dringend loswerden, was ihn so sehr bewegte, auch wenn es sich nur um ein Detail, ein faustgroßes Tattoo, handelte.

Dürers Mätresse – unterwegs rief sich Paul in Erinnerung, was er von dem zwanzig Jahre alten Fall noch wusste. Bei einer umfangreichen Sanierung des Albrecht-Dürer-Hauses, einst Wohnhaus des Nürnberger Jahrtausendkünstlers, war zwischen den Bodendielen ein bislang unbekanntes Werk gefunden worden, eine Zeichnung, die das vielreisende Genie offenbar vor seiner Frau Agnes hatte verbergen wollen, zeigte sie doch das liebreizende Porträt einer namenlosen Schönheit. Eine heimliche Geliebte? Im Streit um das Bild kamen mehrere Personen ums Leben, darunter der frühere Tourismuschef der Stadt. Paul hatte seinerzeit maßgeblich zu den polizeilichen Ermittlungen beigetragen. An Dürers Mätresse hatte er seitdem kaum mehr gedacht – bis gestern Abend. Dass das Brandopfer ausgerechnet dieses Dürer-Motiv auf dem Arm trug, ließ ihn nicht los.

Der Pförtner nickte ihm zu und drückte den Türsummer, denn im Präsidium war Paul längst kein Unbekannter mehr. Kurz danach klopfte er an Jasmins Tür und betrat das von etlichen Zimmerpflanzen dekorierte Büro.

»Was gibt es Neues?«, fragte Paul anstelle einer Begrüßung. »Du weißt schon, wegen des Feuers in der Irrerstraße.«

Jasmin Stahl sah kurz von ihrer Computertastatur auf, strich sich über ihr kastanienbraunes Haar und sagte: »Nichts, Paul. Rein gar nichts.«

»Nichts gibt es nicht«, reagierte Paul dünnhäutig. »Es sind mehr als zwölf Stunden vergangen, seit der Tote aus dem Wohnhaus geholt wurde.«

Jasmin stöhnte. »Mein lieber Paul, ich habe keinen Schimmer, warum du dich dafür interessierst, aber wie du sicher mitbekommen hast, war das in der letzten Zeit nicht das erste Feuer in der Altstadt. Wir suchen nach einem Brandstifter, einem Serientäter. Bisher hatte er nur an Mülltonnen und in einer offenen Garage gezündelt. Ach ja, und einen Glühweinstand hat er abgefackelt. Aber alles ohne Personenschäden. Bis gestern.«

»Ein Feuerteufel …« Paul nagte an seiner Unterlippe. »Und ihr seid sicher, dass es immer derselbe ist?«

»Wir können es jedenfalls nicht ausschließen. Die räumliche Nähe der Tatorte spricht dafür. Auch die Vorgehensweise war bei dem Feuer in der Irrerstraße ähnlich wie bei den anderen«, ließ sie durchblicken. »Wir haben wieder Brandbeschleuniger gefunden – Benzin. Auch der Kanister lag noch in den Trümmern. Er war der Hitze ausgesetzt, sodass Fingerabdrücke – sofern vorhanden – verdampft sind. Ansonsten gibt es keinerlei brauchbare Spuren. Nichts, was auf die Identität des Täters hinweist.« Etwas spitz fügte sie hinzu: »Aber behalte das für dich und verrate es nicht gleich deinem Freund Blohfeld.«

»Blohfeld ist nicht mein Freund.« Paul stellte sich direkt hinter Jasmin und starrte auf ihren Bildschirm. Schnell klickte sie das begonnene Protokoll des Vorfalls weg. »Gibt es Zeugen?«, fragte er.

»Nichts Verwertbares. Wir haben Hausbewohner und Nachbarn befragt. Überall Fehlanzeige. Und sollte ein Passant zufällig etwas beobachtet haben, sind wir darauf angewiesen, dass er sich bei uns meldet.«

»Wie sieht es mit der Verwandtschaft aus? Hat das Opfer Familie?«

Jasmin nickte. »Die Eltern leben getrennt, der Vater in Fürth und die Mutter in Rosenheim. Beide sind von uns verständigt worden, konnten aber keinerlei Hinweise geben.«

»Mmm«, grübelte Paul. »Also haben wir rein gar nichts.« »Wir? Seit wann gehörst du zur SoKo?«

Paul berichtete von dem Tattoo, das er am Arm des Toten gesehen, und vom Aufruhr, in den ihn der Anblick versetzt hatte – darin liege auch seine persönliche Motivation, bei diesem Fall mitzumischen.

»Moment«, sagte Jasmin mit krausgezogener Stirn. »Wie war das damals noch gleich mit Dürers Mätresse? Das Ganze ist schließlich verdammt lang her.«

Paul atmete tief ein. »Wo soll ich anfangen? Das war eine ziemlich komplexe Geschichte. Auslöser war ein bei der Sanierung des Dürer-Hauses im Fußboden gefundenes Bild. Die später verurteilte Täterin, die die Baustelle geleitet hatte, ließ die mit Dürers Initialen versehene Zeichnung mitgehen, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verhökern. Aber woher sollte sie als Laiin wissen, was das Ding überhaupt wert war? An einen Experten konnte sie sich ja nicht wenden, also machte sie sich an einen drogenabhängigen Kunststudenten ran, der die Zeichnung für echt hielt – und als Mitwisser ebenso sterben musste wie der Entdecker. Nach ihrer Verhaftung kamen dann aber Zweifel auf, als andere Fachleute Hinweise auf eine für Dürer untypische Linienführung fanden.«

»Also eine Fälschung?«, fragte Jasmin.

»Die Fachwelt tendierte zunächst zu diesem Urteil, allerdings ergab eine Computeranalyse, dass Papier und Tusche tatsächlich aus der Dürer-Zeit stammten. Und dann blieb ja noch die Frage, wer das Bild unter die Dielenbretter im Dürer-Haus gelegt hatte.«

»Und?«

»Wahrscheinlich Dürer selbst«, antwortete Paul. »Denn die Mätresse war trotz gewisser Schönheitsfehler ein Meisterwerk, und Dürer hat es sicherlich maßlos geärgert, dass jemand anderes – vielleicht einer seiner Schüler – seinen Stil dermaßen gut imitieren konnte. Also verstieß er den dreisten Lehrling und ließ das Bild unter dem Bretterboden verschwinden. Oder aber die Mätresse ist eben doch ein Original – aber eines, das aus Gründen vor Agnes’ Augen verborgen bleiben sollte. Bis heute gibt es darüber keine abschließende Expertenmeinung. Fälschung oder nicht, das Bild ist ein Zeugnis der Zeit.«

»Na schön«, gab sich Jasmin einen Ruck. »Wenn du mit so viel Herzblut bei der Sache bist, will ich mal nicht so sein. Einen Ansatz haben wir möglicherweise nämlich doch: Fußabdrücke im Parterre. Sie wurden von der KTU gesichert. Vielleicht sind welche vom Täter darunter.«

»Das ist gut. Und wenn sich doch noch Zeugen melden, fragt sie am besten, ob ihnen jemand mit einem Rucksack oder einer Sporttasche aufgefallen ist. Irgendwie muss der Täter den Benzinkanister ja transportiert haben.«

Jasmin verdrehte die Augen. »Hältst du uns eigentlich für blöd? Diese Frage haben wir längst gestellt, aber niemand hat etwas dergleichen gesehen.«

»Okay. Danke, dass du mir zugehört hast.« Paul trat den Rückzug an, er wollte den Bogen nicht schon jetzt überspannen. »Nur eines noch.«

»Was?«

»Der Name – wie hieß der Tote?« Weil Jasmin nicht gleich antwortete, ergänzte Paul: »Immerhin ist das alles in der Nachbarschaft meines Ateliers passiert. Man kennt sich im Burgviertel. Ich möchte sichergehen, dass es nicht einen guten Freund erwischt hat.«

»Wenn es ein guter Freund gewesen wäre, hättest du ihn doch an diesem Tattoo erkannt, oder?«, entgegnete Jasmin.

»Schon, ja. Egal: Verrätst du mir den Namen? Es wird ja ohnehin bald in der Zeitung stehen oder als Stadtgespräch die Runde machen.«

Jasmin ächzte und öffnete erneut das Protokoll auf ihrem Rechner. »Andreas Schlegel. Achtundzwanzig Jahre jung, Versicherungskaufmann. Alleinstehend, zumindest ist keine weitere Person für seine Wohnung gemeldet. Sagt dir sein Name irgendetwas?«

»Schlegel?« Paul stutzte. »Allerdings, ja, der Name sagt mir wirklich etwas. Der Mann war erst vor Kurzem bei mir im Studio, er brauchte Passbilder.« Paul rief sich die flüchtige Begegnung mit ihm in Erinnerung. Viel geredet hatten sie nicht, die Passfotografie war eine Sache von wenigen Minuten. Und trotzdem: Wenn man ein Todesopfer zu Lebzeiten gekannt hatte, sei es auch nur oberflächlich, dann machte das was mit einem.

»Verdammt«, sagte er, »so ein junger Kerl verliert sein Leben. Schrecklich.«

»Ein gewaltsamer Tod ist immer schrecklich, unabhängig vom Alter«, sagte Jasmin, stand auf und nahm ihren Mantel vom Garderobenständer.

»Wo willst du hin?«, fragte Paul.

»Zur Brandstelle. Das Gebäude dürfte mittlerweile einigermaßen ausgekühlt sein. Ich will sehen, wie weit die Kollegen vor Ort inzwischen mit den Ermittlungen gekommen sind.«

»Darf ich mit?«

»Nein«, antwortete Jasmin – doch Paul konnte ihr ansehen, dass sie dieses Nein nicht durchsetzen würde.

3

Die Irrerstraße war zur Hälfte mit Flatterbändern der Polizei abgesperrt. Über dem Haus oder vielmehr über dem, was davon übrig geblieben war, schwebten graue Schleier: Das Löschwasser dampfte über den ausgebrannten Balken und aus aufgeplatzten Steinen. Jetzt, bei Tag, wurde das ganze Ausmaß der Zerstörung deutlich. Der Dachstuhl war zusammengebrochen und hatte fast die gesamte obere Etage unter sich begraben. Nur ein kleiner Teil im vorderen Bereich war nicht mit Trümmern übersät.

»Sieht wirklich schlimm aus«, meinte Paul, nachdem er Jasmin Stahl zu einer Gruppe Polizisten und Feuerwehrleute begleitet hatte.

»Ja, das tut es immer, wenn diese Häuser Feuer fangen. Solche fünfhundert Jahre alten Gebäude sind nur in den unteren Etagen gemauert, darauf stehen Pfosten und Balken als Rahmenwerk. Die Zwischenräume wurden mit einem Gemisch aus Stroh und Lehm gefüllt. Das trocknet dann über die Jahre komplett aus – und ist damit ein gefundenes Fressen für ein Feuer.«

Immerhin waren wenigstens die Nachbarhäuser nahezu unversehrt davongekommen, stellte Paul fest. Das Feuer hatte lediglich Rußstreifen auf den Fassaden hinterlassen. Paul ließ den Blick weiter schweifen. Aus einer Handvoll Neugieriger, darunter ihm bekannte Gesichter aus dem Viertel, setzte sich eine Gestalt in Bewegung, ließ die Polizeiabsperrung hinter sich und kam auf sie zu: Victor Blohfeld.

Jasmin hob die Arme und rief: »Ihnen scheint wohl nicht bewusst zu sein, dass auch für Journalisten Regeln gelten.«

Blohfeld, der wie üblich seinen knöchellangen, speckigen Trenchcoat trug, sah sie wenig beeindruckt an. »Noch leben wir in einem freien Land. Die Presse hat ein Recht auf Informationen.«

»Aber nicht darauf, unberechtigt einen Tatort zu betreten.«

Das juckte Blohfeld wenig. »Trifft es zu, dass es sich bei dem Opfer um Andreas Schlegel handelt?«, fragte er und zückte seinen Notizblock.

Jasmin wiegelte ab: »Sobald wir die Identität des Toten einwandfrei festgestellt haben, wird es eine Presseinformation dazu geben.«

»Es ist allgemein bekannt, dass Schlegel in dem Haus gewohnt hat. Im obersten Stockwerk.«

Alle Achtung, dachte Paul, die Presse war wieder mal bestens informiert.

»Geben Sie es auf, Blohfeld«, sagte Jasmin mit aufgesetztem Lächeln. »Ich werde mich an keinerlei Spekulationen beteiligen.«

»Sie wissen ebenso wie ich, dass Schlegel das Opfer ist. Und wenn seine Kumpels von dem Feuer erfahren und Bilder vom ausgebrannten Dachstuhl sehen, denken sie mit Sicherheit das Gleiche.«

»Kumpels?«, fragte Jasmin. Auch Paul stutzte.

»Ja, es gibt zwei enge Freunde, mit denen Schlegel sich regelmäßig in einer Bar getroffen hat.«

»Woher …«, setzte Jasmin an.

»Woher ich das weiß?« Blohfeld lächelte überlegen. »Fragen Sie lieber, wie die beiden heißen. Vielleicht verrate ich Ihnen ja sogar die Namen?«

Jasmin ärgerte sich sichtlich, dass der Reporter offenbar mehr wusste als sie, und brummte: »Treiben Sie es nicht zu weit, Blohfeld. Wenn Sie etwas wissen, sagen Sie es mir jetzt hier und sofort.«

Der Journalist zeigte sich angesichts von Jasmins wachsender Ungeduld entgegenkommend. »Sie wollen die Namen? Gern, die beiden heißen David Hahn und Frank Drescher.« Damit meinte er wohl, genug geholfen zu haben, doch Jasmin hielt ihn fordernd am Arm fest, woraufhin Blohfeld ergänzte: »Hahn jobbt als Kellner, und Drescher ist Elektriker.«

»Haben Sie die beiden interviewt?«

»Nein, bisher noch nicht. Aber das habe ich vor. Sie können dann in der Zeitung lesen, was die zwei gesagt haben«, gab er trotzig von sich.

»Lassen Sie es bleiben«, bestimmte Jasmin. »Ich werde zuerst mit ihnen reden.«

»Aber Sie können nicht einfach …«

»Doch, ich kann.« Jasmin ließ den Reporter los. »Danke für Ihre Unterstützung.«

Sie wartete, bis Blohfeld schimpfend hinter den anderen Neugierigen verschwunden war, dann wandte sie sich wieder ihren Kollegen zu. Paul blieb währenddessen still und leise stehen und war froh, dass Jasmin nicht auch ihm einen Platzverweis erteilte.

So wurde er Zeuge ihres Gesprächs mit einem Mann im hellblauen Ganzkörperanzug der Spurensicherer, einem etwas behäbig wirkenden Endfünfziger.

»Noch etwas Brauchbares gefunden?«, fragte Jasmin. »Fingerabdrücke, Fasern?«

Der Mann im Overall schüttelte den Kopf. »Alles in Rauch aufgegangen. Nach einem solchen Feuerinferno haben wir ganz schlechte Karten.«

Jasmin schnaufte enttäuscht.

Nach kurzem Grübeln ergänzte er: »Es gibt den Benzinkanister, den die Männer von der Feuerwehr gefunden haben.«

»Ja, das wissen wir. Aber der war genauso der Hitze ausgesetzt. Dass man darauf DNA-Spuren entdecken könnte, ist höchst unwahrscheinlich. In diesem Fall bleibt es bei den Fußspuren als einzigem Indiz.«

Der Kollege nickte bedauernd. Dann hellte sich seine Miene auf: »Vielleicht ist das ja eine Spur!« Er zog ein Zellophantütchen hervor, in dem ein dunkelblauer Stofffetzen steckte. »Den haben wir von einem hervorstehenden Nagel im Treppenhaus abgenommen. Diese Textilprobe kann alt sein und von einem Bewohner oder Besucher stammen, dann hilft sie uns nicht weiter. Möglicherweise ist es aber ein Stück vom Ärmel des Brandstifters, das sich am Nagel verfangen hat.« Er hielt den Beutel auf Augenhöhe. »Vielleicht finden wir Hautschuppen und Haare des Täters, die daran haften.«

»Bleiben Sie dran!«, wies ihn Jasmin an.

Der Mann nickte und ging.

Nun geriet wieder Paul in Jasmins Blickfeld – und fand noch einmal ihre Gnade: »Die Feuerwehr hat das Gebäude ja freigegeben, und unsere Spurensicherung ist jetzt auch fertig. Also, wie sieht es aus? Wollen wir uns mal oben umsehen?«

»Wir?« Paul hob die Brauen. »Du meinst, ich darf mit in die Wohnung?«

»Wie gesagt, die Technik ist durch, du kannst also keine Spuren mehr zertrampeln. Außerdem sehen vier Augen mehr als zwei. Als Fotograf hast du ja einen ganz besonderen Blick für die Dinge.«

»Oh … – danke.« Paul konnte sein Glück kaum fassen.

Gemeinsam wagten sie sich die ordentlich in Mitleidenschaft gezogene Treppe hinauf. Über verkohlte Dielen gelangten sie zum schwer zugänglichen Fundort der Leiche. Von den Einrichtungsgegenständen oder sonstigen persönlichen Dingen war so gut wie nichts mehr zu erkennen. Es roch nach kaltem Rauch und Asche.

»Gibt es eigentlich inzwischen schon mehr Infos über die Todesursache?«, erkundigte sich Paul.

»Du meinst, ob wirklich der Brand ihn getötet hat? Ja, zumindest hat die Gerichtsmedizin vorerst nichts entdecken können, was auf eine andere Ursache hindeutet. Ein verbindlicher Befund ist natürlich erst durch die Obduktion möglich.«

»Also ist er an seinen schweren Verbrennungen gestorben«, schlussfolgerte Paul.

»Nein, er ist erstickt. Die meisten Opfer von Bränden kommen durch Rauchvergiftung um, nicht durch die Flammen selbst. Ein Rauchmelder hätte ihm womöglich das Leben retten können. Ich werde noch feststellen lassen, ob einer vorhanden und funktionstüchtig war.«

»Bei dem ganzen geschmolzenen Zeug, das hier herumliegt, werden deine Leute eine Menge zu tun haben, wenn sie etwas finden wollen«, meinte Paul.

Als sie die Treppe wieder hinuntergingen, kam ihnen eine junge Polizistin entgegen, die es offensichtlich eilig hatte, Jasmin zu sprechen.

»Frau Hauptkommissarin«, sagte sie ziemlich aufgeregt, »ich habe mich noch mal in der Nachbarschaft umgehört. Zwar hielten sich viele Anwohner auf dem Hauptmarkt auf, als das Feuer ausbrach, oder sie saßen vor dem Fernseher und bekamen nichts mit, und so etwas wie Überwachungskameras gibt es hier ja nicht, zumindest keine offiziellen.«

»Auf was sind Sie denn gestoßen?«, fragte Jasmin.