Düstere Abgründe in Saint Rémy - Anna-Maria Aurel - E-Book

Düstere Abgründe in Saint Rémy E-Book

Anna-Maria Aurel

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Beschreibung

Urlaubsspannung um das dunkle Erbe von Saint Rémy Mörderischer Herbst in der Provence. Für alle Leser:innen von Sophie Bonnet und Cay Rademacher Beim Spielen in einem stillgelegten Steinbruch bei les-Baux-de-Provence finden Kinder einen Pfahl  mit einem aufgespießten Kopf. Die Ermittlung wird Capitaine Mathieu Dubois von der PJ Marseille und seinem Team anvertraut. Die Ermittler finden bald heraus, dass es sich um den Kopf eines Polizisten handelt, der wegen Gewalttätigkeit aus dem Polizeidienst entlassen wurde. Feinde hatte der Mann zu Lebzeiten genug, darunter zwei Ex-Lebensgefährtinnen, die Anzeige wegen häuslicher Gewalt erstattet hatten. Bald führt die Ermittlung Dubois und sein Team ins psychiatrische Krankenhaus Saint-Paul-de-Mausole, wo sie auf ziemlich verstörende Dinge stoßen ... 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Franz Leipold

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Der Steinbruch

Das Dream-Team

Die Polizei

Beginn der Ermittlung

Madame Van Gogh

Montagmorgen

Der verschwundene Vater

Die Umgebung des Tatorts

Schockierende Neuigkeiten

Durchbruch

Die Therapeutin

Das Opfer

Die Befragung

Die Geschäftspartner

Saint-Paul-de-Mausole

Das seltsame Gefühl

Vincent van Gogh

Der Lieutenant

Lagebesprechung

Der makabre Fund

Der Kanal des Alpines

Sohn des Opfers

Begegnung

Samstagabend

Romantischer Sonntag

Gekidnappt

Vermisstenmeldung

Neuigkeiten

Gefangen

Vor Ort

Die Schwester

Les Alpilles

Teamkonferenz

Montfavet

Die Suche

Die Kollegin

Die Suche nach der Täterin

Der Hilferuf

Die schreckliche Nachricht

Unterstützung

Verliebt

Die Chefin

Wieder in Saint-Rémy

Ohne Hoffnung

Der Hahn

Emma

Martines neues Leben

Lagebericht

Der Rohbau

Der Kommissar

Erwachen

Die Ausstellung

Der unerwartete Besuch

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Der Steinbruch

Sie stiegen den Felsen von Les Baux-de-Provence hinunter ins Val d’Enfer, das Höllental. Endlich war die Besichtigung des alten Dorfes und der mittelalterlichen Burgruine auf dem Felsen beendet, und das wirkliche Abenteuer begann. Der Vater hatte ihnen versprochen, dass sie später in den stillgelegten Steinbrüchen spielen durften, während die Erwachsenen ihr Picknick genossen. Sie gingen die kleine Straße entlang, die an den Carrières des Lumières vorbeiführte. Es handelte sich um eine Sound- und Lichtshow, die in einem ehemaligen Steinbruch stattfand. Links bog eine noch kleinere Straße ins Vallon de la Fontaine ab, das Brunnental am Fuß des Felsens von Les Baux, wo schöne Villen, Hotels, Gästehäuser und alte Steinhäuser standen. Sie blieben auf der Straße, die nun nach oben führte, direkt in die Felslandschaft hinein mit ihren bizarren, von der Erosion geformten Steinriesen.

»Wir müssen da hinauf!«, rief Victor. »Dort hinten sind die Steinbrüche.«

Sein Vater bejahte. »Ganz genau! Dort oben sind zwei Steinbrüche, in die man ohne Probleme hineingehen kann.«

»Ist das wirklich ungefährlich?«, erkundigte sich Martins Mutter besorgt.

Victors Vater nickte. »Ganz sicher. Alle Steinbrüche, die einsturzgefährdet sind, werden gesperrt. Hier wurde bis in die Sechzigerjahre Kalkstein abgebaut. Schon die Römer holten hier die Steine für die Bauwerke, die sie in Arles und Glanum errichteten. Doch heute ist nur mehr ein einziger Steinbruch in Betrieb, unten bei Fontvieille.«

Martin stellte sich vor, dass er in einem ehemaligen Steinbruch ein richtiges Abenteuer erleben würde.

Seinem Vater gefiel es nicht, wenn er und seine kleine Schwester Caroline draußen spielten und er sie nicht im Blick hatte. Doch Victors Eltern schienen diesbezüglich weniger besorgt zu sein.

Martin war groß, schon zwölf, und es war an der Zeit, eigene Erfahrungen zu machen und anderes zu tun, als hinter den Eltern her zu trippeln, wenn diese auf ihren Spaziergängen Städte oder Dörfer besichtigten.

Nach einem zehnminütigen Anstieg auf der ruhigen schmalen Straße gelangten sie an einen großen Parkplatz, der anscheinend privat war, weil überall Parkverbotsschilder standen. An seinem Ende befand sich bereits ein erster Steinbruch, dessen Eingang den Jungen als schwarzes Loch im Felsen einladend erschien.

»Das ist er nicht«, erklärte Victors Vater jedoch. »Soweit ich weiß, ist dieser Steinbruch hier immer noch Privatbesitz. Er war früher ein Weinkeller. La Cave de Sarragan. Und ihr seht, man darf hier nicht mehr parken! Deshalb soll man auch sicher nicht in den Steinbruch hineinspazieren. Wir steigen ein wenig höher hinauf.«

Bald kamen sie dort an, wo ein Pfad von der Straße wegführte. Man hatte eine ideale Aussicht auf den gegenüberliegenden Felsen, auf dem das Dorf Les Baux-de-Provence stand, das von der Ruine seiner ehemaligen Festung überragt wurde.

»Wunderbar!«, rief Martins Mutter. »Dort oben waren wir vor zwanzig Minuten noch! Lasst uns ein Foto machen!«

Alle stellten sich für das Foto wie Touristen auf, und nacheinander schossen Martins Mutter und Victors Vater ihre Bilder. Victor und Martin rannten bald voraus.

»Da hinten … da hinten ist eine Höhle!«, rief Victor aufgeregt.

»Stopp, Jungs!« schrie sein Vater. »Zuerst essen wir, dann erkläre ich euch ein paar Dinge, auf die ihr achten müsst, und dann könnt ihr spielen gehen.«

»Wir auch?«, fragte Victors kleine Schwester Manon.

»Natürlich«, antwortete ihre Mutter.

»Wehe, ihr folgt uns!«, zischte Martin seiner Schwester Caroline zu.

Diese hob beleidigt den Kopf. »Meinst du, wir brauchen euch? Wir erleben unsere eigenen Abenteuer!« Sie streckte ihm die Zunge heraus.

Die Eltern breiteten die Picknickdecken auf dem Boden neben dem kleinen Pfad aus. Mit Wohlgefallen sah Martin, dass sie Wein dabei hatten. Das war ein gutes Zeichen, denn wenn sie Alkohol tranken, waren sie viel weniger streng und ängstlich. Er würde also wirklich Zeit haben, mit Viktor die Gegend und die Steinbrüche zu erkunden.

Doch vorläufig vergaß er sein Vorhaben, als er sah, was es alles zu essen gab. Die Eltern hatten mehrere Sorten Baguette und Fougasses gekauft, das typisch provenzalische Brot, dazu verschiedene Käsesorten. Victors Eltern hatten kleine Würste mit, die sehr lecker aussahen, verschiedene Sorten Oliven, außerdem gab es rote und gelbe Cocktailtomaten.

Die Kinder bekamen Apfelsaft oder Orangensaft. Victor und Martin setzten sich Seite an Seite auf einen flachen Stein einige Meter von ihren Familien entfernt und aßen, was sie sich auf ihre Teller gehäuft hatten. Martin war sehr glücklich, diesen Sonntag mit Victor und seiner Familie zu verbringen. Ohne sie wäre es langweilig. Seine Schwester Caroline nervte ihn, die Eltern ödeten ihn an; er brauchte jemanden wie Victor, der immer irgendwelche ausgefallenen Ideen hatte. Außerdem waren Victors Eltern viel cooler als seine eigenen. Vor allem Victors Vater hatte immer etwas Interessantes zu erzählen.

»Nun, Jungs«, begann er, »wenn ihr in die Steinbrüche hineingeht, dann nehmt immer euer Handy mit, damit ihr eine Taschenlampe habt. Leuchtet überallhin und seht, wo ihr hintretet. Der Boden in diesen Steinbrüchen ist oft uneben und meistens schlüpfrig, weil Wasser von oben in die Höhlen sickert. Zwängt euch nie in irgendwelche engen Spalten, wo man nur schwer hineinkommt. Bleibt in den großen Räumen. Und verliert nie die Orientierung, wenn ihr weiter nach hinten geht. Denn einige dieser ehemaligen Steinbrüche haben mehrere Räume, und das Ganze ist oft recht verzweigt. Und noch etwas – wenn ihr eine Ziege seht, dann folgt ihr auf keinen Fall.«

Die Eltern lachten, nur Martin sah ihn erstaunt an. »Warum eine Ziege?«, fragte er.

»Wegen der Legende von der goldenen Ziege. La Cabro d’Or auf provenzalisch.«

»Oh, ja, Papa, erzähl!« rief Manon.

Und Victors Vater begann zu erzählen: »In früherer Zeit versuchten die Sarazenen, den Felsen von Les Baux zu erobern. Ein Sarazene hatte es geschafft, oben im Dorf viel Gold und Silber zu stehlen; er musste jedoch fliehen und wollte seinen Schatz hier verstecken. Er stieß auf einen großen Raum, der als Versteck ideal war. Dort befand sich aber eine Hexe, die ein fürchterliches Monster auf ihn hetzte, das ihn tötete. Sein Schatz ist noch immer irgendwo in den Felsen, und eine goldene Ziege bewacht ihn heute. Wer ihr folgt, kommt zum Schatz, aber wehe! Sobald er ihn findet, schließt sich der Fels, und er ist für immer im Inneren gefangen!«

»Huh, ich gehe nicht in die Felshöhle hinein!«, sagte die achtjährige Manon.

»Angsthase, sie fürchtet sich vor einer Legende!«, lästerte ihr Bruder.

Sie schnitt ihm eine Grimasse.

»Nun«, meinte sein Vater, »diese Gegend hier ist voller Gespenster und Legenden. Deshalb heißt sie ja auch das Höllental. Le Val d’Enfer. Und man muss wachsam sein …«

Er sah seinen Sohn bedeutungsschwer an, und Martin lief ein Schauer über den Rücken. Er liebte Geistergeschichten und Legenden, Geschichten von bösen Räubern und Mördern. Vielleicht trafen sie ja in einem dunklen Steinbruch wirklich auf irgendeine seltsame Erscheinung!

Bald brachen die beiden Jungen auf, um die Höhlen zu erkunden. Victors Vater hatte Martins Eltern noch einmal versichert, dass die Kinder dort in diesen aufgelassenen Steinbrüchen nichts riskierten.

Die beiden Jungen nahmen ihre Handys in die Hand, um die Höhle ausleuchten zu können, weil es innen stockdunkel war. Der erste Steinbruch war mehr eine riesige Halle als eine Höhle: Die Wände waren glatt geschliffen und sehr hoch. Martin schien, als würde er sich in einer riesigen Kirche befinden.

»Schau mal, da geht es weiter!« Victor deutete nach rechts vorne. »Komm!«

Plötzlich hörte Martin hinter sich ein leises Kichern.

Voller Wut drehte er sich um. »Haut ab! Lasst uns in Ruhe!« Er ahnte, dass seine Schwester und ihre Freundin hinter ihnen her waren. Wie immer ließen sie ihn und Victor nicht in Ruhe spielen.

Victor zog Martin weiter. »Komm! Da hinten trauen sie sich nicht rein! Sie haben ja nicht einmal eine Lampe dabei.«

Hinter der großen Halle befand sich ein anderer, nicht so hoher, vollkommen dunkler Raum. Martin war froh, dass er das Licht seines Handys hatte. Langsam tasteten sich die beiden Jungen vorwärts. Victor leuchtete mit seiner Lampe die Steinwände ab. Plötzlich schrie er auf und packte Martins Arm. »Da ist wer!«

Martin zuckte zusammen. Die beiden Jungen standen komplett still. Es war nichts zu hören. Ihre Schwestern waren ihnen nicht gefolgt. Zaghaft leuchtete Victor vor sich hin an die Wand der Höhle.

Und da sah es Martin auch. Es war keine Person, nur ein ziemlich seltsames Objekt. Eine Stange, auf der etwas steckte. Es sah aus wie einer dieser Halloween-Kürbisse. Ein ausgehöhlter Kürbis auf einer Stange. Langsam gingen die Jungen näher zu dem seltsamen Ding hin. Im Halbdunkel konnten sie einen Kopf wahrnehmen. Nur einen Kopf auf einem Pfahl, keinen Körper. Martin spürte, wie die Angst in ihm hochstieg. Er hatte noch nie in seinem Leben etwas so Gruseliges gesehen. Hastig packte er Victors Jackenärmel.

»Komm, gehen wir hinaus!«, sagte er und spürte, dass er gleich zu weinen beginnen würde. Ihm schien, als hätten er und Victor etwas gefunden, was sie nicht verstehen konnten. Victor sagte gar nichts; still folgte er Martin, als dieser auf den anderen Raum und von dort auf den Ausgang der Höhle zuging. Vor der Höhle standen die beiden Mädchen und sahen ihre Brüder vorwurfsvoll an. Zum ersten Mal in seinem Leben war Martin froh, seine lästige kleine Schwester zu sehen.

»Kommt schnell!«, sagte er zu den Mädchen. »Da ist was wirklich Komisches drinnen. Laufen wir zu den Eltern!« Victor und Martin begannen zu rennen, ihre Schwestern folgten ihnen. Atemlos kamen sie bei den vier Erwachsenen an, die gut gelaunt Wein tranken und erstaunt aufsahen.

»Ihr … ihr müsst kommen«, stotterte Victor. »Da ist … was total Seltsames in der Höhle. Was Gruseliges. Es sieht aus wie ein Kopf, der auf einem Pfahl steckt.«

»Oh«, meinte Victors Vater. »Gewiss ein Halloween-Scherz. Hat euch wirklich erschreckt. Ihr seid komplett weiß im Gesicht. Fast grün. Wollt ihr einen Nachtisch? Und anschließend gehen wir alle miteinander nachschauen!« Die Erwachsenen lachten.

Victor schüttelte den Kopf.

Martin murmelte: »Ich will nichts essen.«

Er sah in seinen Gedanken noch immer dieses schreckliche Ding vor sich. Vielleicht war es wirklich nur ein Kürbis gewesen, aber es hatte ihm große Angst gemacht.

Seine Eltern sahen Martin prüfend an. »Wenn ihr wollt, gehen wir gleich. Wir haben dann noch genügend Zeit für den Nachtisch«, meinte sein Vater.

»Okay.« Victors Vater erhob sich schwankend. »War ein bisschen zu lecker, dieser Rotwein«, murmelte er.

Die beiden Frauen blieben sitzen, sie bewachten die Rucksäcke und das, was vom Picknick noch übrig war. Martin hatte Lust, seine Schwester und ihre Freundin zu warnen, nur ja nicht mitzukommen, damit sie dieses seltsame Ding nicht sehen würden. Doch Caroline war sehr stur und hätte sich ihm sicher widersetzt. Die Väter redeten und lachten; sie waren bester Laune, vielleicht auch wegen des Weins.

Victors Vater erklärte, dass man in diesem Steinbruch riesige Kalkblöcke aus dem Felsen geschnitten hatte und dass die Wände deshalb so gerade und hoch waren.

Martins Vater drehte sich um die eigene Achse und sagte »Ah!« und »Oh! Beeindruckend!« Die Mädchen kicherten, Martin und Victor folgten schweigend.

Martin wusste, dass Victor ebenso wie ihm selbst sehr mulmig zumute war. Dass auch Victor noch nie etwas Beängstigenderes gesehen hatte als diesen Kopf. Mit jedem Schritt schien Martins Herz lauter zu klopfen. Ich brauche keine Angst zu haben, Papa ist da, redete er sich ein; Victors Vater ist da, mir kann nichts passieren. Es ist wahrscheinlich nur ein Kürbis, denn was sollte es sonst sein? Sie kamen dort an, wo der zweite Raum begann.

»Wo ist es?«, fragte Victors Vater.

»Ganz hinten«, sagte Victor mit leiser Stimme.

Sein Vater lachte. »Seht ihr, wie gruselig diese alten Steinbrüche sein können! Aber jetzt sind wir zu sechst. Jetzt werden wir darüber lachen. Vor ein paar Tagen war Halloween. Und sicher sind Jugendliche hierhergekommen, um zu feiern!«

Er leuchtete mit seinem Telefon nach hinten, und Martins Magen zog sich zusammen. Das Ding war noch da.

»Ach ja, da ist es!«, sagte der Vater. »Sieht gruselig aus. Ihr habt recht.«

Victors Vater blieb ganz plötzlich stehen. Er wandte sich den Kindern zu.

»Im Moment bleibt ihr bitte hier«, sagte er. »Robert und ich gehen ein bisschen näher heran. Aber ihr nicht.«

Martin hörte, dass seine Stimme ein wenig zitterte. Demnach jagte ihm das seltsame Ding auch Angst ein.

»Das ist kein Kürbis«, hörte Martin Victors Vater leise zu seinem Vater sagen. »Das ist der Kopf eines Mannes.«

Martins Vater leuchtete mit seinem Telefon den Kopf an, erstarrte, wandte sich plötzlich ab und stürzte auf die Kinder zu.

»Schnell raus hier!«, rief er mit einer Stimme, die Martin nicht kannte. Der Vater klang panisch und hysterisch, fast so wie Martin, wenn er einen Hund sah, vor dem er sich fürchtete. Sie verließen mit schnellen Schritten die Höhle, Martins Vater hatte Caroline am Arm gepackt, Victors Vater Manon, Victor und Martin stolperten hinterher. Bis sie den zweiten Raum durchquert hatten, schien Martin eine Ewigkeit vergangen. Er hatte Angst, dass im Dunkel plötzlich jemand nach ihnen greifen würde, und wollte so schnell wie möglich hinaus ins Tageslicht. Als sie draußen waren, nahm Victors Vater sein Handy, tippte wie in Panik darauf herum und klemmte es ans Ohr. Nach einigen Sekunden schien sich jemand zu melden.

»Wir sind in Les Baux-de-Provence oberhalb des Val d’Enfer, bei den ehemaligen Steinbrüchen. Wir haben in einem Steinbruch einen menschlichen Kopf auf einem Pfahl gefunden. Schicken Sie bitte gleich jemanden her!«

Martin hörte, dass seine Stimme zitterte. Die Person am anderen Ende schien eine Frage zu stellen.

»Ja, direkt oberhalb der ehemaligen Cave de Sarragan! Danke!«

Er legte auf und sagte mit zitternder Stimme: »Die Gendarmen kommen gleich.«

Das Dream-Team

Mathieu Dubois saß mit seiner Lebensgefährtin Mélanie Bouvier auf der Terrasse des Pubs in Les Goudes und trank einen Kaffee. Sie waren hinter dem Dorf am östlichsten Rand von Marseille ein wenig am Meer spazieren gegangen, hatten ein Picknick in einer Bucht gemacht und genossen nun die Nachmittagssonne und den Blick auf den kleinen, sehr malerischen Hafen. Es war für Anfang November unheimlich warm, doch Mathieu wollte sich nicht beschweren. Der Winter würde lang genug werden. Und ereignisreich. Es galt nun so viel Energie und Sonne wie möglich zu tanken. Mathieus Freundin Mélanie war schwanger, und ihr gemeinsames Kind sollte kurz vor Weihnachten zur Welt kommen. Das bedeutete, dass sich ihr bisheriges Leben von Grund auf ändern würde. Mélanie wollte zwar mindestens ein Jahr lang nicht arbeiten und zu Hause bleiben, würde aber trotzdem Mathieus Hilfe brauchen, um den Säugling zu versorgen.

In zwei Monaten würde Mathieu außerdem in Paris den ersten Teil seiner Aufnahmeprüfung zum Polizeikommissar absolvieren. Er war im Moment bei der PJ, der Kriminalpolizei Marseille, als Teamleiter tätig, stand im Rang eines Capitaines und hatte beschlossen, die interne Prüfung zum Kommissar zu versuchen. Er wollte Karriere machen, mehr Verantwortung tragen und mehr verdienen. Allerdings musste er, wenn er die Prüfung bestand, im kommenden Jahr nach Lyon, um dort eine zweijährige Ausbildung zu absolvieren. Das würde für die ganze Familie einen Umzug bedeuten. Und nach seiner Ausbildung in Lyon würde er wahrscheinlich nach Paris versetzt werden.

Allerdings rechnete Mathieu nicht wirklich damit, die Prüfung gleich beim ersten Mal zu schaffen. Er lernte nun seit dem Sommer dafür, aber er musste sehr viel Stoff bewältigen, die Bewerber waren zahlreich und die Posten begrenzt. Es ging um einen Concours, ein schwieriges und selektives Aufnahmeverfahren. Manchmal dachte Mathieu, er sollte es vielleicht besser bleiben lassen. Eigentlich mochte er sein Leben in Marseille, seine Arbeit als Verantwortlicher eines Ermittlungsteams, seine schöne helle Wohnung nicht weit vom Meer, die Stadt Marseille und seine Arbeitskollegen. Aber dann dachte er an seine Familie. An seine Arbeit, die gefährlich und zeitaufwendig war. Als Kommissar würde er eine Abteilung oder ein Kommissariat leiten; zwar musste er mehr Verantwortung tragen, aber selbst weniger Risiken eingehen. Und er würde wesentlich besser verdienen. Die Arbeitszeiten würden weiterhin unregelmäßig bleiben, was natürlich als junger Familienvater nicht so einfach war. Aber wahrscheinlich würden sie bald in Paris leben, wo Mélanie mit der Unterstützung ihrer Mutter und ihrer Schwester rechnen konnte.

Mathieu freute sich auf sein Baby. Mélanie wollte in einem Monat zu arbeiten aufhören, um sich vor der Geburt noch ein wenig ausruhen zu können.

Sie war in einem großen Luxushotel in Marseille an der Rezeption tätig und arbeitete gern dort. Trotzdem hatte sie beschlossen, einen Mutterschaftsurlaub anzutreten. Vor allem, weil ja wahrscheinlich im kommenden Jahr auch ein Umzug bevorstand. Manchmal fühlte sich Mathieu müde, wenn er an alles dachte, was auf ihn zukam. Doch meistens war er sehr aufgeregt. Alles, was ihn erwartete, klang positiv. Er war nun zweiunddreißig, lebte mit der Frau zusammen, die er liebte, wurde bald Vater und ab dem kommenden Jahr vielleicht sogar Kommissar. Beruflich und privat lief alles, wie es sollte. Er war glücklich, auch wenn er nicht behaupten konnte, dass er ein bequemes Leben führte. Die Arbeit bei der Kriminalpolizei war hart und gefährlich; oft sah er beängstigende und dramatische Dinge oder musste sich selbst in Gefahr begeben. Dafür hatte er ein sehr gutes Team und einen Vorgesetzten, mit dem er sich bestens verstand. Das erleichterte ihm seine Ermittlungen.

Mélanie hatte die Augen geschlossen und das Gesicht der Sonne zugewandt.

»So angenehm«, seufzte sie. »Wir haben dieses Jahr mit dem Wetter wirklich Glück.«

»Ja, das kann man sagen«, erwiderte Mathieu.

Er war froh, dass Mélanies Schwangerschaft gut verlief. Die anfängliche Übelkeit war verflogen, und seit dem dritten Schwangerschaftsmonat war sie in bester Form. Sie hatte nicht besonders viel Gewicht zugelegt, ihr Bauch war nicht sehr dick, und sie litt auch nicht an Müdigkeit oder an schweren Beinen. Sie schlief gut und beschwerte sich nie über gesundheitliche Probleme. Nun blieben ihr noch an die sieben Wochen, bevor die kleine Anna zur Welt kommen würde. Mathieu legte den Arm um Mélanie und zog sie an sich. Sie legte den Kopf auf seine Schulter und seufzte wohlig. Mathieu war immer dankbar, wenn er sein Wochenende mit seiner Lebensgefährtin verbringen durfte. Denn häufig musste er zu einem Tatort oder, wenn er mitten in einer stressigen Ermittlung war, ins Kommissariat.

Sie saßen noch eine halbe Stunde in der Sonne, ohne viel zu sprechen, dann beschlossen sie heimzufahren. Sie schlenderten zum Auto, das nicht weit vom Pub geparkt war, und fuhren das Meer entlang durch die südlichen Stadtviertel Marseilles. Hier hatte man in den Siebzigerjahren künstliche Strände angelegt und zwischen dem Meer und der Straße, die an der Küste entlangführte, großzügige Parkanlagen geschaffen.

Weiter südöstlich, wo Mélanie und Mathieu gepicknickt hatten, befand sich der Calanques-Nationalpark, ein Küstengebiet mit schroffen Felsbuchten, die wie kleine Fjorde ins Landesinnere hineinreichten, und weißen, teilweise mit Kiefern bewachsenen Felswänden, die steil in den Himmel ragten. Die Küstenlandschaften um Marseille waren absolut umwerfend.

Mathieus Telefon läutete. Er seufzte. Wenn er am Wochenende tagsüber einen Anruf erhielt, war es stets das Kommissariat. Diesmal zeigte das Display auf der Freisprechanlage Mathieus Freund Pierre an. Pierre Frigeri war der Substitut du Procureur, ein Staatsanwalt, mit dem Mathieu und Mélanie befreundet waren und den sie an Wochenenden häufig trafen.

»Hallo, Pierre«, begrüßte Mathieu seinen Freund.

»Salut, Monsieur le Capitaine. Ich rufe dich leider nicht an, um dich und Mélanie endlich wie versprochen zum Abendessen einzuladen, sondern weil ich zu einem Tatort außerhalb von Marseille gerufen werde. Kommissar Léautier ist in Italien und hat mir gesagt, ich soll mich an einen seiner Capitaines wenden, damit er mich begleitet. Und meine Wahl fällt natürlich auf dich, weil ich dich weitaus lieber mag als Luc, Philippe oder Michel. Außerdem wirst du die Ermittlung bekommen.«

»Okay …«

Mathieu wunderte sich immer, wie ein freier Tag so ein jähes Ende nehmen konnte. Ganz plötzlich wurde er von einem angenehmen Tag mit Mélanie in den Horror eines Tatortes gestürzt.

»Worum geht es denn?«

»In einem Steinbruch in der Nähe von Les Baux-de-Provence haben Kinder beim Spielen einen auf einen Pfahl gespießten männlichen Kopf entdeckt. Die Gendarmen und die Spurensicherung sind schon dort und haben beschlossen, die Ermittlung der Staatsanwaltschaft Marseille zu übergeben. Und der PJ. Und da unsere beiden Chefs heute nicht in Marseille sind, haben wir beide das Vergnügen, uns darum zu kümmern.«

Mélanie sah Mathieu entsetzt an. Ein Kopf auf einem Pfahl! Das war ja wirklich eine grausame und höchst makabre Sache.

»Freut mich wirklich, Pierre«, sagte Mathieu sarkastisch. »Und wann sollen wir fahren?«

»Eigentlich sollten wir sofort fahren«, erwiderte der Staatsanwalt. »Wir haben Winterzeit, und es wird früh dunkel.«

Mathieu dachte bei sich, dass es im Steinbruch ohnehin dunkel war, doch er sah ein, dass die Zeit drängte.

»Ich hole dich bei dir zu Hause ab«, bot Pierre an.

»Ich bin nicht daheim, ich fahre gerade die Prado-Strände entlang.«

»Na, dann kannst du ja direkt zu mir kommen, und wir brechen gleich auf. Noch besser!«

Pierre wohnte tatsächlich nur fünf Minuten von dem Strand entfernt, der sich mit seinem hellen Sand links vor ihnen erstreckte.

»Gut. Mélanie setzt mich bei dir ab und fährt allein nach Hause.«

Mélanie verzog das Gesicht. Wie Mathieu hasste sie es, wenn er unvorhergesehen aufbrechen musste. Zum Glück kam das nicht jedes Wochenende vor!

»Es tut mir leid, Mélanie«, sagte Pierre durch die Sprechanlage.

Mélanie lachte. »Das ist doch nicht deine Schuld.«

»Nein, in der Tat nicht. Ich habe niemanden geköpft«, erwiderte Pierre trocken.

»Bis dann!«, rief Mathieu und legte auf.

Er seufzte tief. »Du hast es gehört, chérie. Da haben wir wieder einmal so einen makabren Fall auf dem Land. Es gibt in Marseille zwar viel Kriminalität, aber die Verbrecher sind hier viel weniger kreativ als im Hinterland. Und komischerweise werden die Leichen außerhalb der Stadt immer an Sonntagen entdeckt. Mon Dieu! Ein Kopf auf einem Pfahl!«

Mélanie schüttelte sich. »Das ist wirklich schlimm. Sag Pierre, er soll irgendeinen Schnaps mitnehmen. Dir wird sicher schlecht.«

Mathieu brummte unwillig. Es war nun mal eine Tatsache, dass ihm beim Anblick von Leichen jedes Mal übel wurde und er sich häufig übergeben musste. Das besserte sich auch mit der Zeit nicht. Und er hatte trotz seiner langjährigen Erfahrung bei der PJ noch nie einen Kopf ohne zugehörigen Körper gesehen. Das konnte ja heiter werden!

Er stieg vor Pierres Wohnblock aus dem Auto, Mélanie setzte sich ans Lenkrad.

In diesem Moment kam Pierre aus seiner Tiefgarage gefahren. Mélanie ließ das Fenster herunter, um ihn zu begrüßen.

»Ah, das Dream-Team ist heute unterwegs!«, meinte sie lachend, als Mathieu auf dem Beifahrersitz Platz nahm. »Der Fall wird sicher bald gelöst sein.«

Pierre verzog leidend das Gesicht. »Es freut mich, dass du so sehr an unsere Kompetenz glaubst, Mélanie, aber ein Kopf auf einem Pfahl ohne zugehörigen Körper, das bedeutet, dass wir sicher eine Weile suchen müssen, schon allein um das Opfer zu identifizieren!«

Die Polizei

Nun war Martin klar, dass sie wirklich dabei waren, ein Abenteuer zu erleben. Die Gendarmerie war gekommen und hatte den Steinbruch abgesperrt. Die Gendarmen hatten Victors und Martins Vater gebeten, noch eine Weile zu bleiben, um eventuelle Fragen zu beantworten. Die Mütter waren mit den Mädchen heimgefahren, Martin und Victor waren bei ihren Vätern geblieben. Die Gendarmerie hatte den Staatsanwalt gerufen und die Kriminalpolizei. Diese Leute waren dafür zuständig, wirkliche Verbrechen aufzuklären. Komplizierte Verbrechen. Und da es sich um einen Kopf ohne Körper handelte, schien dieses Verbrechen tatsächlich sehr kompliziert zu sein.

Bald kamen in Weiß gekleidete Leute, die Masken und Handschuhe trugen. Victors Vater erklärte den Jungen, dass es sich um die Spurensicherung handelte. Diese Leute würden die gesamte Höhle durchsuchen und verschiedene chemische Mittel einsetzen, um zu sehen, ob sie Spuren von einem Verbrecher fanden. Martin verstand nicht ganz, wie man aufgrund irgendwelcher Spuren herausfinden konnte, wer genau den Kopf auf den Pfahl gesteckt hatte, wo es doch so viele Menschen gab. Victors Vater erzählte auch etwas über den Rechtsmediziner, einen speziellen Arzt, dessen Aufgabe es war, den Kopf zu untersuchen; er musste feststellen, wann sein Besitzer gestorben war und seit wann der Kopf auf dem Pfahl steckte.

»Wäh, was für eine eklige Arbeit!«, rief Victor. »Tote Leute untersuchen! Und Köpfe ohne Körper!«

»Ja, vielleicht, aber es ist eine wichtige Arbeit«, entgegnete sein Vater. »Die Rechtsmedizin hilft der Polizei, sehr komplizierte Verbrechen aufzuklären. Denn euch ist natürlich bewusst, dass dieser Mann, dessen Kopf dort drinnen in der Höhle auf einem Pfahl steckt, ermordet wurde. Und nun beginnt die Ermittlung. Ein ganzes Team, Leute mit verschiedenen Kompetenzen, arbeiten zusammen, um herauszufinden, wer diesen Mann enthauptet hat. Denn es handelt sich hier um ein sehr schweres Verbrechen. Wir wissen nicht, was einen Menschen dazu motivieren könnte, jemandem den Kopf abzuschneiden und ihn auf einen Pfahl zu stecken.«

Victors Vater erklärte den Jungen vieles. Martin war froh, dass er da war, denn sein eigener Vater war sehr blass und wortkarg. Er schien wirklich schockiert und wollte nicht einmal mehr etwas vom Kuchen essen. Martin bekam trotz allem später am Nachmittag wieder Hunger. Er aß zwei Stücke Kuchen und trank ein Glas Apfelsaft. Dabei bemühte er sich, nicht an den Anblick des Kopfes dort in der Höhle zu denken.

Die Leute in Weiß gingen in der Höhle ein und aus, die Gendarmen genauso.

Am Ende des Nachmittags, als Martins Vater langsam ungeduldig wurde und heimfahren wollte, kam ein Mann auf Martin, Victor und ihre Väter zu. Er war jünger als Martins Vater, hatte sehr kurze braune Haare und wirkte sportlich.

»Bonjour, ich bin Capitaine Mathieu Dubois von der PJ Marseille«, erklärte der Mann. »Ich bin derjenige, der die Ermittlung leiten wird. Ich hätte euch vieren gerne einige Fragen gestellt. Ihr habt ja den Kopf entdeckt.«

»Wir beide!«, sagte Victor stolz und zeigte auf sich selbst und Martin. »Papa und Robert sind erst dann gekommen, als wir sie geholt haben, und wollten uns anfangs nicht einmal glauben.«

Sein Vater sah Victor an. »Ja, am Anfang klang das unglaublich. Wir dachten natürlich an einen Halloween-Scherz oder eine Dekoration.«

Der Capitaine zwinkerte den Vätern zu. Dann wandte er sich an Victor und Martin. »Nun, ihr habt ja wirklich etwas Wichtiges gefunden! Könnt ihr mir noch einmal mit allen Details beschreiben, wie das war, als ihr in die Höhle hineingegangen seid?«

Martin und Victor begannen eifrig zu erzählen. Beide sprachen gleichzeitig, und der Capitaine sah sie ein wenig ratlos an.

»Stopp, stopp!«, rief Victors Vater. »Einer nach dem anderen. Ich würde sagen, einer sagt einen Satz und dann der andere den nächsten. Was meinen Sie?«

»Das scheint mir eine gute Idee«, stimmte der Capitaine zu.

Zusammen erzählten sie Mathieu die Geschichte mit allen Details. Sie vergaßen nichts. Dann schilderte Martins Vater ganz genau, wie die beiden erwachsenen Männer den Kopf entdeckt hatten.

Der Polizist stellte noch einige Fragen. Er wollte wissen, wie nahe sie an den Kopf herangegangen waren und ob sie in der Höhle sonst noch etwas berührt hatten. Er bat sie um ihre DNA, was immer das sein mochte. Er hatte sich einige Notizen gemacht und meinte dann: »Gut, vielen Dank für die Erklärungen und danke, dass ihr auf mich gewartet habt. Wenn ihr bei den Technikern wart, könnt ihr gehen; ich notiere mir nur die Telefonnummern eurer Väter, falls mir noch Fragen einfallen.«

Martin war etwas enttäuscht. Er wäre gerne noch eine Weile mit dem netten Capitaine bei den Steinbrüchen geblieben.

»Und was tun Sie jetzt?«, fragte er den Mann.

Dieser seufzte. »Nun müssen wir versuchen herauszufinden, wer dieser Mann ist, dessen Kopf sich dort drinnen befindet. Wir haben Spuren in der Höhle gefunden, aber wir wissen nicht, wem sie gehören. Wahrscheinlich stammen die Spuren vom Mörder. Um ihn zu fassen, müssen wir so viele Informationen wie möglich über das Leben des Opfers herausfinden.«

»Sie sind so einer wie die im Fernsehen«, warf Victor ein. »Sie suchen überall herum und manchmal springen Sie irgendwo herunter und laufen vor bösen Leuten davon.«

»Tja, das kommt vor, zum Glück nicht jeden Tag. Aber es stimmt, meine Arbeit kann gefährlich werden.« Der Mann sah Victor und Martin ernst an.

»Auf jeden Fall danke euch beiden für eure Erklärungen, ihr habt mir geholfen, meine Ermittlung gut zu beginnen. Ich muss jetzt wieder in den Steinbruch zu den Technikern.«

Er schüttelte allen vieren die Hand und ging dann wieder auf die Höhle zu.

»Wow, der ist ein Held! So eine Arbeit wie der möchte ich später auch einmal machen«, sagte Victor.

Martin war seiner Meinung, aber er wollte noch klüger sein als der Freund.

»Ich möchte Rechtsdoktor werden«, sagte er, »und Tote untersuchen.«

Victor sah ihn an und schnitt eine Grimasse.

Die beiden Väter lachten. »Rechtsmediziner heißt es«, meinte Martins Vater. »Aber jetzt, Monsieur le Capitaine und Monsieur le Docteur, fahren wir heim.«

»Wir müssen noch zu den Technikern, wegen der DNA-Proben«, erinnerte Victors Vater sie.

Sie gingen zu den Leuten in Weiß. Der Capitaine erklärte einer Frau etwas; diese kam auf sie zu, bat sie, den Mund zu öffnen, und fuhr jedem von ihnen mit einem Wattestäbchen ein paarmal über die Schleimhaut, ehe sie es mit flinken Bewegungen in einem Röhrchen verschwinden ließ.

Martin war sehr erstaunt.

»Das ist wegen der DNA«, erklärte Victors Vater. »Die DNA jedes Menschen ist einzigartig. Und aufgrund der DNA kann man feststellen, wer in der Höhle war. Allerdings waren wir auch drinnen, und unsere Spuren werden gleich von der Ermittlung ausgeschlossen. Deshalb haben sie sich unsere DNA geholt.«

»Ach so. Klingt kompliziert«, meinte Victor und runzelte die Stirn. Bald gingen sie die Straße entlang zum Auto hinunter, das bei den Carrières des Lumières stand, und fuhren die paar Kilometer bis nach Saint-Rémy, wo sie wohnten. Als sie vor ihrem Haus aus dem Auto von Victors Vater stiegen, sah dieser Martin und Victor an und sagte: »Jungs, das, was wir heute erlebt haben, war sehr erschreckend. Es kann traumatisierend sein. Wann immer ihr Angst habt, dann verschließt diese nicht in euch, sondern sprecht mit uns darüber. Versprochen?«

Martin nickte.

Victor sagte: »Ich will auf jeden Fall wissen, wie die Sache ausgeht, ob der Capitaine denjenigen findet, der das getan hat.«

»Ich denke, er hat keine Wahl«, seufzte Martins Vater, dann schloss er die Autotür, winkte zum Abschied und ging mit Martin auf ihr Haus zu, während das Auto abfuhr. Der geköpfte Mann schien den Vater vollkommen verunsichert zu haben. Er war überhaupt nicht wie sonst. Viel schweigsamer und bedrückter. Martin dachte daran, dass der Capitaine denjenigen, der diesen Mann geköpft hatte, vielleicht nicht finden würde. Schließlich war es zu Halloween geschehen. Und jeder wusste, dass es in der Nacht von Halloween an so gespenstischen Orten wie dieser Höhle Geister gab. Sehr, sehr bösartige und gewalttätige Geister. Was konnte der arme Capitaine gegen diese Geister ausrichten?

Beginn der Ermittlung

»Wir werden mit ziemlicher Sicherheit brauchbare DNA-Spuren finden«, sagte einer der Techniker zu Mathieu und Pierre. Mathieu brummte nur. Wenn es DNA-Spuren einer Person waren, die noch nie mit der Justiz Probleme gehabt hatte, dann nützte das nicht besonders viel. Und sie hatten keine Ahnung, mit wessen Kopf sie es zu tun hatten.

Es wurde vermutet, dass es sich um einen Mann zwischen vierzig und fünfzig handelte. Mathieu erschauerte wieder, wenn er an den Anblick des Kopfes auf diesem Pfahl dort in der dunklen Höhle dachte. Es war beinahe so, als hätte man diesen Kopf aufgespießt, um den Jungen, die dort drinnen gespielt hatten, Angst zu machen.

»Arme Kinder«, bemerkte nun auch Pierre seufzend. »Wir sind erwachsen und waren darauf vorbereitet, etwas Grausames zu sehen. Aber diese beiden Jungen … Schienen sie dir sehr traumatisiert?«

Mathieu überlegte einen Moment lang. »Nein, eigentlich nicht. Sie waren eher überdreht, vollkommen aufgeregt. Wahrscheinlich haben sie nicht ganz verstanden, was dieser Kopf auf dem Pfahl bedeutet. Das heißt verstanden haben sie es schon, aber nicht verinnerlicht. Mir schien eher einer der Väter sehr mitgenommen. Blass und wortkarg … Aber ich muss zugeben, dass mir auch schlecht ist. Du weißt ja, dass mir beim Anblick von Leichen meistens übel wird.«

»Ja.« Pierre grinste. »Du hast es mir im Sommer anvertraut, als wir zu dritt die Magnumflasche Rosé geleert haben. Wir beide und Florian.«

»Das war unprofessionell. Dem Staatsanwalt und einem meiner Mitarbeiter so etwas gestehen …« Mathieu schüttelte den Kopf. »Wie konnte ich nur?«

»Ich bin froh, dass du es getan hast, denn du bist mit mir in meinem Auto unterwegs. So bin ich auf der Hut. Gebe dir gleich ein Säckchen für alle Fälle!«

Mathieu seufzte. »Ich denke, so bald sind wir hier noch nicht weg.«

»Ich glaube im Gegenteil, dass wir bald fahren können. Du hast den Tatort und das Opfer gesehen, wir haben den Gendarmen und den Technikern klare Anweisungen gegeben, jetzt ist die Rechtsmedizin dran. Der Kopf wird zur Obduktion in die Leichenhalle ins Krankenhaus Arles gebracht. Mehr können wir beide im Moment wirklich nicht tun.«

»Stimmt auch wieder.«

»Also würde ich sagen, wir fahren. Bis wir daheim sind, ist es ohnehin dunkel.«

Mathieu und Pierre verabschiedeten sich von den Technikern; diese beteuerten, bald alles fertig durchsucht zu haben. Im Steinbruch, wo sie mit Flutlicht arbeiteten, hatten sie zwei ziemlich lange blonde Haare gefunden, die nicht von dem Mann stammten und wahrscheinlich auch nicht von den Kindern oder von einem der Väter.

Blutspuren hatten sie keine entdeckt. Das bedeutete mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass der Mann nicht im Steinbruch enthauptet worden war. Die Techniker und die Gendarmen hatten die ganze Umgebung des Steinbruches abgesucht, jedoch nichts gefunden, was auf die Enthauptung vor Ort hindeuten konnte. Sie hatten die Umgebung des Kopfes mit Luminol abgespritzt, jedoch keine Blutspuren gefunden. Nur auf dem Holzpfahl, auf dem der Kopf steckte, hatten die Techniker ein wenig Blut entdeckt. Es handelte sich um einen oben spitz zulaufenden, dicken Holzstamm, der in einem Haufen großer Kalksteine steckte. Mathieu hatte keine Lust, sich vorzustellen, wie der Täter es geschafft hatte, den Kopf dort aufzuspießen. Der junge Capitaine hatte in seiner siebenjährigen Karriere als Polizeiinspektor schon einiges erlebt, aber diese Inszenierung war die weitaus makaberste, die er je gesehen hatte.

Es sah fast nach einem Ritualmord aus. Denn welchen Sinn hätte es, einen Kopf in einer dunklen Höhle aufzuspießen? Das Ziel war wohl, ihn zu verstecken und ihn gleichzeitig auszustellen. Aber für wen? Und warum an diesem Ort? Nun, Mathieu würde am nächsten Tag den Bericht der Rechtsmedizin lesen und Genaueres erfahren. Doch dass sie keine Ahnung hatten, wo sich der Körper befand und wem dieser Kopf gehörte, verunsicherte den Capitaine ziemlich.

Auch Pierre schien ein wenig ratlos. »Ich brauche dir nicht zu sagen, dass es jetzt herauszufinden gilt, wer dieser Mann war; und wir müssen den dazugehörigen Körper finden. Du machst das natürlich mit deinem Vorgesetzten aus, aber ich denke, du solltest morgen mit deinem gesamten Team in diese Gegend kommen. Vielleicht sogar hier bleiben. Es gibt sicher genügend zu tun.«

Mathieu nickte schicksalsergeben. Er hatte ohnehin keine Wahl. Und er musste zugeben, dass ihm die Gegend gefiel.

Die beiden Männer fuhren über den Felsen von Les Baux-de-Provence in das Vallon d’Entreconque, das liebliche Tal südlich der Alpilles-Hügelkette, ein Mosaik aus Weinreben, Olivenhainen und Zypressenhecken, das von der mittelalterlichen Ruine des Schlosses von Les Baux-de-Provence überragt wurde. Mathieu fand, dass es sich bei diesem Vallon um eine der schönsten Landschaften des provenzalischen Hinterlandes handelte. Vor allem jetzt im späten Herbst, wenn die Blätter der Weinreben gelb leuchteten. Die Alpilles waren ein nicht besonders hohes, an die 25 Kilometer langes Kalksteinmassiv. Mehrere malerische und ziemlich schicke Dörfchen befanden sich beidseitig des Massivs. Nicht weit von Les Baux-de-Provence, auf der Nordseite der Hügel, lag Saint-Rémy-de-Provence, ein hübsches kleines Städtchen, das der Hauptort des Alpilles-Regionalparks war. Die Umgebung von Les Baux-de-Provence war international bekannt aufgrund dieser Kalksteinformationen, die von der Verwitterung der vergangenen Jahrtausende zu bizarren Formen geschliffen worden waren und aus der mediterranen Vegetation weiß hervorleuchteten. In der beginnenden Dämmerung wirkte die Landschaft besonders malerisch, und Mathieu konnte sich damit abfinden, hier vielleicht einige Tage oder sogar Wochen verbringen zu müssen. Vielleicht konnte Mélanie, wenn sie freihatte, zu ihm kommen und tagsüber wandern gehen oder die Dörfer erkunden?

»Eine wunderschöne Gegend«, meinte auch Pierre. »Ich war noch nie hier. Ich kenne Arles und die Camargue, aber nicht diese Alpilles.«

»Ich kenne sie ein wenig, weil ich hier schon wandern war«, erklärte Mathieu. Er war mit seiner Ex-Freundin Martha öfter in diese Gegend gekommen.

»Seltsam, wenn man solche Landschaften sieht und dann so makaber inszenierte Tatorte, findest du nicht?«, meinte Pierre. »In unseren Marseiller Vorstädten passt ja alles zusammen. Das Verbrechen, die Kulisse, die Umgebung, die Leute. Aber hier glaubt man, sich in einer heilen Welt zu befinden.«

»Verbrechen und zwischenmenschliche Probleme gibt es überall, zwar mehr in der Stadt als auf dem Land. Aber die ländlichen Verbrechen sind oft sehr schockierend …«

Mathieu dachte an den Camargue-Mörder, einen verstörten jungen Mann, der seine Opfer, junge Frauen, vergewaltigt und dann erwürgt hatte. Auch der Mord in Fontaine-de-Vaucluse, der ebenfalls in einer wundervollen Kulisse stattgefunden hatte, ging ihm an diesem Nachmittag nicht aus dem Kopf. Es war nun zwei Jahre her, Mathieu hatte sich von der Erinnerung an diese fürchterliche Ermittlung erholt, und trotzdem gab es Nächte, in denen er davon träumte und tränenüberströmt erwachte.

Diese Landschaft um Les Baux-de-Provence und die Atmosphäre des warmen Herbsttages erinnerten ihn wieder an Fontaine-de-Vaucluse.

Eine unvergleichbar schöne Landschaft, eine grausame Inszenierung, allerdings schien ihm diesmal, dass diese Inszenierung für jemand Bestimmten gedacht war. Aber für wen? Er beschrieb Pierre sein Gefühl.

»Ja, seltsam«, meinte dieser. »Was hat es für eine Bedeutung, jemanden zu köpfen? Die Islamisten köpfen zuweilen. Erinnere dich an die französische Geisel vor ein paar Jahren in Algerien … Aber in Les Baux mitten in der Natur in einem Steinbruch sind es wohl keine Terroristen. Vielleicht irgendeine Sekte. Und das Köpfen war natürlich lange Zeit die Todesstrafe hier in Frankreich. Erst 1981 abgeschafft. Vielleicht ein Rachemord! Eine Bestrafung …« überlegte Pierre laut, während er starr auf die Straße sah.

Mathieu nickte. »Ich muss natürlich Weiteres über den Steinbruch herausfinden. Und über die Häuser, die diesen Höhlen am nächsten liegen.«

»Ich denke, der Steinbruch gehört niemandem mehr. Er wurde aufgelassen. Heute sind die Alpilles ein Naturschutzgebiet, und die Gegend dort oben ist sicher Gemeindebesitz.«

»Ja, vielleicht«, meinte Mathieu. »Das muss ich morgen nachprüfen.«

Sie fuhren durch die kleinen Dörfer Maussane und Mouriès südöstlich von Les Baux-de-Provence, von Olivenhainen umgebene provenzalische Vorzeigedörfer, deren Spezialität ein teures Olivenöl höchster Qualität war.

Mathieu fühlte sich erschöpft. Der Vormittag in der warmen Sonne, die Wanderung mit Mélanie, die einstündige Fahrt nach Les Baux-de-Provence und der psychische Stress des Nachmittags hatten ihn ermüdet. Er sollte an diesem Abend besser nicht zu spät schlafen gehen, denn die kommende Woche versprach anstrengend zu werden.

Kommissar Léautier würde ihm mitteilen, was er sich genau von ihm erwartete, ob sich Mathieu wie damals bei der Camargue-Ermittlung vor Ort einquartieren oder jeden Tag hin- und herfahren sollte, und ob er sein gesamtes Ermittlungsteam zur Verfügung hatte oder bestimmte Leute auswählen musste. Die Gendarmen hatten die Ermittlung auf jeden Fall sofort an die PJ abgegeben. Der Kommandant, der mit Mathieu gesprochen hatte, hatte ihm auch den Grund dafür genannt. Es sei eine Weisung des Ministeriums, alle Mordermittlungen an die PJ abzugeben, denn man erwartete sich für den November Proteste aufgrund der jüngsten Reformen des Präsidenten Macron. Die Bewegung der Gilets Jaunes, der Gelbwesten, die erst wenige Wochen zuvor ins Leben gerufen worden war, plante anscheinend, im November das ganze Land zu blockieren.

Nun, Mathieu sollte diese Ermittlung recht sein. Die Kriminalabteilung der PJ war genau für solche Fälle zuständig. Er arbeitete wesentlich lieber auf dem Land, als mit den Kollegen der Drogenbrigade in Marseille Dealer zu jagen und Drogennetzwerke zu zerschlagen. In der vorhergehenden Woche hatte Mathieu mit seinem erfahrenen Kollegen, Capitaine Luc Garnier, eine riesige Ermittlung zu einem Islamisten-Netzwerk in Marseille durchgeführt. Nun musste Luc ohne Mathieu damit fortfahren.

Pierre kümmerte sich um beide Fälle und hatte mehr als genug um die Ohren. Die Freizeit des jungen Staatsanwalts war knapp bemessen, er arbeitete sehr viel, weitaus mehr als Mathieu und Kommissar Léautier. Pierre war erst zehn Monate zuvor nach Marseille gekommen. Er und Mathieu hatten sich im April angefreundet, obwohl sie sich am Anfang ihrer Zusammenarbeit alles andere als gut verstanden hatten. Es waren Pierres erste Wochen in Marseille gewesen, die ihn sehr gestresst hatten, und er hatte seine Nervosität und seinen Stress an den Polizeibeamten ausgelassen. Doch mittlerweile war er im Kommissariat von Marseille ein geschätzter Staatsanwalt und verbrachte oft seine Freizeit mit Mathieus Freundeskreis. Häufig kamen Pierre, Mathieu und andere Kollegen am Wochenende zusammen, um gemeinsam essen oder etwas trinken zu gehen. Pierre hatte außerdem begonnen, mit Mathieus Freundin und Kollegin Nadia zu klettern sowie mit seinem Kollegen Florian Tennis und Squash zu spielen; außerdem gingen Pierre und Mathieu oft gemeinsam joggen.

Mathieus Telefon läutete. Es war sein Vorgesetzter, Kommissar Christophe Léautier, der Informationen zu dem Fall wollte.

»Wir denken, dass es sich um Mord handelt und nicht um Selbstmord«, erklärte Mathieu.

»Ach!« Der Kommissar klang ratlos, er hatte wohl nicht verstanden, dass sein Capitaine scherzte. »Aber von Selbstmord war doch nie die Rede? Wie kann jemand sich selbst köpfen?«

»Eben«, meinte Mathieu. »Ich habe Spaß gemacht. Wir erwarten uns noch genauere Informationen von der Rechtsmedizin und von den Technikern. Anscheinend haben wir sogar DNA-Spuren. Aber das Wichtigste ist erst einmal herauszufinden, um wen es sich bei dem Kopf handelt und wo der Rest des Körpers ist.«

»Ja, klar. Ungemütlicher Fall. Nun, Mathieu, du übernimmst ihn mit einigen deiner Leute. Morgen früh treffen wir uns um neun im Kommissariat und sprechen uns ab. Wir sehen dann, ob ihr jeden Tag hinfahren oder dort in Les Baux-de-Provence untergebracht sein werdet. Ach, ja, und noch etwas. Wir haben bis Weihnachten einen Praktikanten, einen Lieutenant in Ausbildung. Ich hätte gerne, dass er mit dir und deinem Team arbeitet. Du kannst eine weitere Person brauchen, weil du sicher mindestens zwei Männer an Luc abgeben musst. Seine Ermittlung ist noch nicht abgeschlossen.«

»In Ordnung«, erwiderte Mathieu. Gegen einen zusätzlichen Mitarbeiter in seinem Team hatte er nichts einzuwenden.

»Also gut, bis morgen!«, sagte der Kommissar zum Abschied.

Pierre lachte. »Dein Kommissar hat sich wohl noch nicht an deinen Humor gewöhnt. Selbstmord!«

»Ja, ist mir so eingefallen. Normalerweise zieht er mich auf, nicht ich ihn. Wenn er mir einen Fall überträgt, schwafelt er immer ewig lange, bevor er zur Sache kommt. Macht es richtig spannend. Fast so, als wäre er ein Krimiautor.«

»Gut zu wissen«, meinte Pierre. »Dann werde ich es ab jetzt mit ihm auch immer so machen.«

»Das kannst du nicht, Pierre. Du bist viel zu zielstrebig und effizient.«

Mathieu war froh, diesen komplizierten Fall unter Pierres Führung zu bearbeiten. Pierre würde zwar nicht vor Ort mit ihm ermitteln, doch er würde ihm klare Anweisungen geben und dem Kommissar und ihm einige Entscheidungen abnehmen. Vor allem war auf Pierre Verlass, wenn man gerichtliche Verfügungen für Hausdurchsuchungen oder Handypeilungen brauchte. Mathieu schätzte den Staatsanwalt nicht nur als Freund, sondern auch als Mitarbeiter.

Madame Van Gogh

Martine spülte ihre Pinsel aus und überprüfte, ob alle ihre Farbtiegel geschlossen waren. Den ganzen warmen Nachmittag war sie vor dem Krankenhaus gesessen und hatte gemalt. Touristen waren gekommen und hatten ihre Arbeit bewundert.

»You are painting like van Gogh«, hatte ein alter Herr mit amerikanischem Akzent bemerkt. Martine hatte ihm nicht gesagt, dass sie von den anderen Patienten und dem Pflegepersonal des Krankenhauses Madame van Gogh genannt wurde. Sie hatte gelacht und mit den Touristen ein wenig Englisch gesprochen. Sie hatte zugegeben, von van Gogh inspiriert zu sein und seinem Stil nachzueifern.

Die vergangenen Wochen hatte sie damit verbracht, seine Bilder naturgetreu abzumalen, doch mittlerweile suchte sie ihre eigenen Motive, wobei sie seinem Stil treu blieb. Diesem Stil, den er während seines Aufenthaltes in Saint-Rémy-de-Provence entwickelt hatte. Diese vielen Striche, das Unruhige, Flimmernde. Das berühmteste Bild war natürlich die Sternennacht, in der man das Dorf Saint-Rémy, eine Zypresse und den Nachthimmel so genau erkennen konnte. Anscheinend war es die Milchstraße, die den Himmel über dem Dorf gelblich-weiß färbte. Doch van Gogh hatte auch andere Bilder in Saint-Rémy-de-Provence gemalt, die zwar weniger bekannt, aber deshalb nicht weniger spektakulär waren. Genau ein Jahr hatte er in dem psychiatrischen Krankenhaus von Saint-Paul-de-Mausole verbracht, nachdem er sich in Arles das Ohr abgeschnitten und sich sein psychischer Zustand immer mehr verschlechtert hatte. An diesem Ort hatte er Ruhe und Heilung finden wollen. Anscheinend hatte es zumindest teilweise geklappt, die wundervolle Natur rund um Saint-Paul-de-Mausole hatte dem Maler gutgetan. Aber er war in dem psychiatrischen Krankenhaus, das einige schwere Fälle beherbergt hatte, nicht glücklich gewesen und hatte sich vor allem sehr einsam gefühlt.

Zwei Monate nachdem er Saint-Rémy-de-Provence verlassen hatte, um in die Pariser Gegend zurückzukehren, hatte er sich erschossen. In Amerika behaupteten einige Journalisten, er sei beim Malen von spielenden Jugendlichen erschossen worden, doch für Martine war die Sache klar. Er war immer schon ein Selbstmordkandidat gewesen. Er hatte sich als Mensch nie wohlgefühlt, war in seinem eigenen Leben ein Fremder geblieben. Genau wie Martine. Er war mit siebenunddreißig gestorben. Vielleicht würde das auch ihr Schicksal sein? Sie war nun sechsunddreißig.

Doch sie schob alle Selbstmordgedanken energisch zur Seite und konzentrierte sich auf ihre beiden Begleiterinnen, die einige Meter von ihr entfernt auf Klappstühlen saßen. Ihre Freundinnen Johanna und Pauline hatten Martines Gespräch mit den Amerikanern kichernd zugehört. Auch sie verstanden Englisch, allerdings nicht so gut wie Martine.

»Nun bist du international als Madame van Gogh bekannt. Du malst wirklich wie er«, bemerkten sie. »Und du bist genauso fleißig wie er.«

Vincent van Gogh war in der Tat sehr fleißig gewesen. In den beiden letzten Jahren seines Lebens, die er in Arles und Saint-Rémy-de-Provence verbracht hatte, hatte er über 400 Bilder gemalt. Wie in Trance hatte er gearbeitet, und nur eine Person hatte an ihn geglaubt: sein Bruder Theo.

Martines und Vincent van Goghs Leben wiesen einige Gemeinsamkeiten auf. Martine hatte keinen Bruder, nur eine Schwester, die sie genauso unterstützte, wie Theo seinen Bruder Vincent unterstützt hatte. Wie Vincent van Gogh hatte Martine im Alter von 35 Jahren einen Nervenzusammenbruch erlitten. Wie er hatte sie Alkoholprobleme gehabt und war nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie von Montfavet bei Avignon drei Monate zuvor ins Krankenhaus Saint-Paul-de-Mausole eingewiesen worden.

Heute war diese psychiatrische Heilanstalt ein Ort, wo nur mehr Frauen aufgenommen wurden. In Saint-Paul hatte Martine zu malen begonnen. Die Kunsttherapie stellte in diesem psychiatrischen Krankenhaus einen wichtigen Therapiezweig dar. Ein Verein organisierte diese Therapie mit Künstlern und Therapeuten, und Martine hatte erst jetzt bemerkt, dass sie ein besonderes Talent fürs Malen besaß. Die Technik, die sie am liebsten mochte, war die Arbeit mit Acrylfarben, mit dicken Schichten von Farbe und vielen Farbtönen.

Die Künstler, die mit ihr arbeiteten, hatten ganz zu Beginn ihrer Therapie gefragt, ob Martine regelmäßig male, weil ihre Bilder so gut seien. Während andere Frauen am Anfang wie Kinder gemalt hatten und erst mit der Zeit geübter geworden waren, hatte Martine von Beginn an sehr schöne farbenprächtige Bilder geschaffen. Allerdings waren die Betreuer damals von den Themen ihrer Bilder schockiert gewesen, denn Martine hatte sich die schwärzesten Gedanken von der Seele gemalt. Auf diese Weise hatte sie sich abreagiert, um die Zeit mit ihrem gewalttätigen Ehemann Francis zu verarbeiten und um über den Verlust ihres ungeborenen Kindes hinwegzukommen.

Sie hatte mit den Psychotherapeutinnen über alles gesprochen, über ihre Zeit mit Francis, über das, was er ihr angetan hatte, ihre Fehlgeburt, die Depression, den Alkohol. Zuerst war da Emma gewesen, eine sehr hübsche blonde Frau, nur um weniges älter als Martine und überaus einfühlsam. Es war Martine so erschienen, als würde Emma tatsächlich mit ihr leiden. Wahrscheinlich zu sehr, denn bald hatte Emma, die Therapeutin, selbst an einer Depression gelitten, einen Selbstmordversuch unternommen und war ebenfalls in die Psychiatrie in Montfavet eingewiesen worden. Und dann war Denise gekommen, eine Frau, die bald in Pension gehen würde und die wie ein Fels in der Brandung wirkte. Wenn Martine mit Denise redete, dann fühlte sie sich beschützt und unverwundbar, selbst wenn Denise manchmal sehr unangenehme Fragen stellte und Bemerkungen von sich gab, die in ziemlichem Gegensatz zur Sichtweise der Patientinnen standen. Doch Denise sagte Dinge, die Martine und auch die anderen Frauen aufrüttelten und die sie zwangen, sich ihren Problemen zu stellen. Zugleich gab sie ihnen das Gefühl, dass alles zu bewältigen war. Mit Denise hatte Martine richtig konstruktive Gespräche geführt. Und irgendwann hatte Martine sich leer gefühlt. Die negativen Energien hatte sie nun alle in diese makabren Bilder gelegt, die sie gemalt und dann mit Denise besprochen hatte; irgendwann war alles gesagt gewesen, und nun konnte Martine sich etwas anderem zuwenden. Von einen Tag auf den anderen hatte sie ihre negativen Gefühle nicht mehr in ihren Bildern ausgedrückt, sondern sich darauf konzentriert, den Stil ihres Meisters konkret zu erlernen.

Sie hatte begonnen, van Goghs Bilder abzumalen, und das ganze Krankenhaus hatte staunend vor ihren Bildern gestanden.

»Mon Dieu, Martine«, hatte Babeth, eine herzensgute, aber etwas einfältige Betreuerin mit zitternder Stimme gesagt. »Seine Seele lebt in dir weiter. Er ist mehr als ein Jahrhundert später als Frau wiedergeboren worden.«

Die anderen hatten Babeth zwar verspottet, aber trotzdem hatten alle gefunden, dass an ihren Worten etwas Wahres dran war. Und Martine hatte den Namen Madame van Gogh erworben. Diese Zeit der Kopien von van Goghs Werken hatte einige Wochen angehalten, ehe Martine dann begonnen hatte, ihre eigenen Bilder und Motive in dem von van Gogh inspirierten Stil zu malen.

Sie malte nun Landschaften, Gebäude und Pflanzen, die sich ganz in der Nähe des Krankenhauses befanden. Einige von ihnen hatte der große Meister damals in seinen Bildern ebenfalls verewigt, wie die Olivenhaine, die Schwertlilien und die Kalkfelsen der Alpilles, andere jedoch hatte er ignoriert: die römischen Bauten nicht weit vom Krankenhaus, die Kirche des alten Klosters, die Stadt Saint-Rémy und ihre Straßen.

Die Patientinnen, deren Aufenthalt in Saint-Paul sich dem Ende zuneigte, durften am Nachmittag stundenweise hinausgehen. Das traf auch auf Martine zu, und sie wanderte oft in die Hügel, um dort zu malen. Manchmal begleiteten sie ihre getreuen Freundinnen, die schäkerten, lachten und in der Sonne lagen, während Martine sich auf die Landschaft und die Farben konzentrierte. Ab dem Moment, in dem Denise gekommen war, hatte sie begonnen, sich in Saint-Paul wirklich wohlzufühlen. Es war ihr Zuhause geworden. Saint-Paul war wie ein weicher Kokon. Martine besaß etwas, was Vincent van Gogh gefehlt hatte: zwei Freundinnen, mit denen sie über alles sprechen konnte. Beide hatten dasselbe Problem wie Martine, vielleicht waren sie sich auch deshalb so nahe. Alle drei hatten an Depressionen gelitten und waren Alkoholikerinnen.

In Saint-Paul fühlte Martine sich vor ihren beiden wichtigsten Feinden in Sicherheit: vor dem Alkohol und vor ihrem Ex-Mann. Sie hatte im Krankenhaus keinen Zugang zu Alkohol und ständig Leute um sich.

Doch sie wusste, wenn sie allein lebte, dann würde es wieder von vorne losgehen. Sie würde trinken, um zu vergessen, zuerst ein bisschen und dann immer mehr. Immer Wein. Weiß, Rosé und Rot. Und verschiedene Schaumweine.

Und dann war da noch der Feind, der zwar aus ihrem Leben verschwunden war, den sie jedoch nach wie vor über alles fürchtete. Der Auslöser für alles: Francis, ihr gewalttätiger Ex-Mann. Wahrscheinlich war Martine immer schon depressiv gewesen, aber mit einem verständnisvollen Mann hätte sie vielleicht ihre Depression bewältigen können – und vor allem wäre der Alkohol nicht hinzugekommen. Während ihr Ex-Mann sie richtig in die Depression getrieben hatte. Er war sadistisch, unbeherrscht und cholerisch gewesen, und sie hatte sich nicht wehren können. Sie hatte zu trinken begonnen, nachdem sie ihr ungeborenes Kind verloren und Francis verlassen hatte.