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Dyskalkulie zeigt sich in Problemen im Zahlenverständnis, im Einprägen arithmetischer Fakten sowie im genauen und flüssigen Rechnen. Zahlreiche Kinder und Jugendliche sind davon betroffen. Oft leiden sie unter Angst vor Misserfolg und Schulversagen. Die AutorInnen erklären neurokognitive Modelle des Zahlenverständnisses und des Rechnens und erläutern Methoden der Dyskalkuliediagnostik. Interventionsstrategien und (computerbasierte) Trainingsprogramme werden anschaulich dargestellt und bezüglich ihrer Wirksamkeit kritisch beleuchtet. Die 4. Auflage wurde zu aktuellen Entwicklungen in Forschung, Diagnostik und Intervention überarbeitet und erweitert.
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Seitenzahl: 424
Veröffentlichungsjahr: 2022
utb 3066
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Prof. Dr. Karin Landerl leitet die Arbeitseinheit Entwicklungspsychologie an der Universität Graz.
Assoz.-Prof. Mag. Stephan E. Vogel, PhD ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Begabungsforschung an der Universität Graz.
Priv.-Doz. Dr. Liane Kaufmann ist Senior Scientist am Institut für Psychologie der Universität Innsbruck.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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UTB-Band-Nr.: 3066
ISBN 978-3-8252-5734-7 (Print)
ISBN 978-3-8385-5734-2 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-8463-5734-7 (EPUB)
© 2022 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
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Inhalt
Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches
Vorwort zur 4. Auflage
1 Zahlenverarbeitung und Rechnen bei Erwachsenen
1.1Einleitung
1.2Erste Fallberichte von Personen mit erworbenen Rechenstörungen
1.3Akalkulie aus der Sicht der klinischen Neuropsychologie und der kognitiven (Neuro-)Psychologie
1.4Neurokognitive Modelle der numerischen Kognition bei Erwachsenen
1.5Zentrale Komponenten der arithmetischen Verarbeitung
1.5.1Basisnumerische Verarbeitung
1.5.2Rechenfertigkeiten
1.6Neuronale Grundlagen der Zahlenverarbeitung und des Rechnens
2Allgemeine Entwicklung der Zahlenverarbeitung und der Rechenleistungen
2.1Zahlenverständnis bei Tieren
2.2Präverbales Verständnis von Numerositäten bei Babys
2.3Die Entwicklung des Zählens
2.4Symbolische Repräsentation von Numerositäten: Zahlwörter und arabische Zahlen
2.5 Mehrstellige Zahlen
2.6Erwerb der arithmetischen Kompetenzen
2.7Fingerrechnen
2.8Der Übergang vom zählenden Rechnen zum Abruf von arithmetischen Fakten
2.9Auswahl der besten Rechenstrategie
2.10Intuitive und kulturelle Mathematik
2.11Geschlechtsunterschiede
2.12Leistungsmotivation, Selbstbild, Emotion und Rechenleistung
2.13Modelle der Entwicklung der Rechenleistung
2.13.1Ein Vier-Stufen-Entwicklungsmodell der Zahlenverarbeitung nach von Aster
2.13.2Entwicklungsmodell der Zahl-Größen-Verknüpfung nach Krajewski
2.13.3Modell der mathematischen Kompetenzentwicklung nach Fritz und Ricken
3Dyskalkulie
3.1Definition
3.2Epidemiologie
3.3Prognose
3.4Neurobiologische Befunde
3.5Typische Symptomatik
3.6Kognitive Defizite bei Dyskalkulie
3.6.1Kognitive Repräsentation von Numerositäten
3.6.2Langzeitgedächtnis
3.6.3Arbeitsgedächtnis
3.6.4Exekutive Funktionen
3.6.5Visuell-räumliche Verarbeitung
3.6.6Motorische Verarbeitung
3.7Komorbiditäten mit anderen Störungen
3.8Die Frage der Subtypen
3.9Dyskalkulie – ein Kausalmodell
4Diagnostik
4.1Schulleistungstests
4.2Tests, die auf neurokognitiven Theorien der Zahlenverarbeitung und des Rechnens basieren
4.3Verfahren zur Früherkennung
4.4Synopsis der vorgestellten Verfahren
5Instruktion, Förderung und Intervention
5.1Überlegungen zur Mathematikdidaktik
5.1.1Instruktionsmethoden
5.1.2Optimierung des Lernprozesses – Scaffolding
5.1.3Anschauungshilfen
5.1.4Pragmatische Aspekte der Mathematikdidaktik
5.2Frühförderprogramme
5.3Förderung und Intervention bei Dyskalkulie
5.3.1Allgemeine Überlegungen zur Interventionsplanung
5.3.2Differenzielle Interventionseffekte
5.3.3Dyskalkulie-Interventionsprogramme
5.3.4Besser rechnen durch neuronale Stimulation – derzeit noch Zukunftsmusik
5.4Synopsis Intervention
Glossar
Literatur
Sachregister
Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches
Zur schnelleren Orientierung werden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:
Literaturempfehlung
Begriffserklärung, Definition
Pro und Contra, Kritik
Beispiel
Forschungen, Studien
Fragen zur Wiederholung am Ende des Kapitels
Vorwort zur 4. Auflage
Im Vorwort der ersten Auflage dieses Buches, die im Jahr 2008 erschien, wurde Dyskalkulie als eine von Forschung und Praxis vernachlässigte Lernstörung präsentiert. Fast 15 Jahre später ist die Charakterisierung der Dyskalkulie als vernachlässigte Lernstörung nach wie vor nicht ganz unrichtig, aber der Rückstand in unserem Wissen um dieses Störungsbild, etwa im Vergleich zum Kenntnisstand zu Beeinträchtigungen des Schriftspracherwerbs (Legasthenie), ist sehr viel kleiner geworden. In dieser Neuauflage wurden Entwicklungen in Forschungsstand, Diagnostik und Intervention berücksichtigt.
Insbesondere in den Kapiteln 2 und 3 wurden die aktuellen Forschungsbefunde zu typischer und atypischer Entwicklung der Zahlenverarbeitung und der Rechenleistungen eingearbeitet. Dazu gehören Befunde, die die hohe Relevanz des Verständnisses für symbolische Zahlenrepräsentationen (also Zahlwörter und arabische Zahlen) als Grundlage der Entwicklung der Rechenleistungen verdeutlichen. Kinder mit Dyskalkulie zeigen persistierende Probleme, analoge Zahlenmengen effizient mit den korrespondierenden symbolischen Zahlencodes in Verbindung zu setzen. Auch neue Entwicklungen in unserem Verständnis der neuronalen Spezialisierung für Zahlenverarbeitung und Rechenleistungen werden dargestellt.
Kapitel 4 und 5 zu Diagnostik und Intervention wurden ebenfalls wesentlich erweitert. In den Kanon der Verfahren zur Diagnose von Rechenleistungen und Rechenstörungen konnte eine Reihe von interessanten, konzeptuell und methodisch fundierten Neuerscheinungen aufgenommen werden. Für Diagnose und Intervention ist evidenzbasiertes Vorgehen von wachsender Bedeutung. Darunter verstehen wir theoretisch fundierte Methoden, deren Wirksamkeit durch wissenschaftlich kontrollierte und unabhängige Studien empirisch belegt ist. Hier ist insbesondere auf die von der deutschen Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften geführten, konsensual entwickelten evidenzbasierten Richtlinien für Best Practice der Diagnose und Behandlung von Rechenstörungen hinzuweisen (s. Haberstroh / Schulte-Körne 2019 diskutiert in Kapitel 3.1), welche für die Praxis eine wichtige Orientierung darstellen können. Im Bereich Diagnostik und Intervention erweisen sich auch computerbasierte Instrumente zunehmend als eine wesentliche Unterstützung herkömmlicher psychologisch-pädagogischer Zugänge.
Weiterhin bleibt aber viel zu tun für Forschung und Praxis. Nach wie vor ist wenig bekannt über genetische Grundlagen der Dyskalkulie. Auch wenn unser Verständnis von der typischen und atypischen Gehirnentwicklung aufgrund beständiger methodischer Weiterentwicklungen und erster Metaanalysen rasche Fortschritte macht, ist unser Wissen über Gehirnfunktion und -struktur bei Kindern mit guten und schwachen Rechenleistungen derzeit noch beschränkt und die Relevanz dieser Befunde für Unterricht und Förderung nicht immer deutlich. Eine Herausforderung für die numerische Kognitionsforschung wird es sein, diesen Praxisbezug zu erarbeiten. Auch die Untersuchung der vorschulischen Entwicklung von Kindern, die später eine Dyskalkulie entwickeln, gestaltet sich methodisch schwierig, obwohl derartige Befunde zentrale Erkenntnisse für die Früherkennung dieser Lernstörung erbringen könnten. Bereits in der 1. Auflage hatten wir darauf hingewiesen, dass im deutschsprachigen Raum Dyskalkulie von den meisten Schulsystemen nicht offiziell als Lernstörung anerkannt wird und keine adäquaten Maßnahmen des Nachteilsausgleichs vorgesehen sind. Wir hoffen, mit dieser Neuauflage unseres Buches einen Beitrag leisten zu können, um derartige relevante Entwicklungen in der nahen Zukunft anzuregen.
Bei Anna Exel bedanken wir uns herzlich für das aufmerksame Korrekturlesen der aktuellen Auflage.
Juli 2022
Karin LanderlStephan E. Vogel
1 Zahlenverarbeitung und Rechnen bei Erwachsenen
1.1 Einleitung
Gute Rechenfertigkeiten sind in unserer Gesellschaft mindestens ebenso wichtig wie gute Lesefertigkeiten. Diese Aussage gilt nicht nur für die Schulzeit, sondern auch für das Berufsleben. Wer gravierende Schwierigkeiten beim Rechnen hat, ist sowohl im Alltag (beim Einkaufen, Einparken: Schätzen, ob die Parklücke groß genug für das Auto ist, etc.) als auch in der Berufswahl erheblich eingeschränkt. Personen, die Schwierigkeiten beim Kopfrechnen haben oder solche, denen beim Lesen und Schreiben arabischer Zahlen leicht Fehler passieren, werden den Anforderungen von Berufen, die den Umgang mit (Wechsel-)Geld erfordern, nicht entsprechen können (z. B. VerkäuferInnen, Bankangestellte). Auch die meisten naturwissenschaftlichen Professionen sind mathematiklastig (z. B. Physik, [Bio-]Chemie) und werden von Menschen mit Rechenschwierigkeiten meist vermieden.
Rechnen ist eine neurokognitiv hochkomplexe Leistung. Bereits intuitiv ist uns klar, dass wir die einfache Rechnung „2 + 6“ anders lösen als die komplexe Rechnung „23233 x 72“. Bei Textaufgaben besteht das Problem oft nicht in der eigentlichen Ausführung der geforderten Rechenleistung, sondern in der Entwicklung des korrekten Lösungsweges. Rechnen setzt voraus, dass wir mit Zahlen kompetent umgehen können. Eine wesentliche Erkenntnis der neurokognitiven Forschung ist, dass schon die einfache Verarbeitung von Zahlen in eine ganze Reihe von Teilkomponenten zerfällt, die im Einzelfall sehr spezifisch gestört sein können.
Der Begriff numerische Kognition umfasst all jene Denkprozesse, die mit dem Verstehen und Verarbeiten von Zahlen (gesprochene Zahlwörter, geschriebene arabische Zahlen) sowie mit dem Ausführen von Rechenoperationen (mental im Sinne von Kopfrechnungen oder beim schriftlichen Rechnen) zu tun haben. Die numerische Kognition unterscheidet sich von anderen Domänen der Kognition in vielerlei Hinsicht. Noël (2000) hebt hier vor allem drei Aspekte der Zahlenverarbeitung hervor:
(a) Zahlen stellen einen besonderen Aspekt der Realität dar (es geht um Größe bzw. Mächtigkeit);
(b) Zahlen sind Objekte spezifischer Denkprozesse, wie z. B. Rechnen, Größenvergleich, Paritätsbeurteilung; und
(c) Zahlen können in verschiedenen Formaten repräsentiert werden, nämlich als arabische Zahlen (Ziffernfolgen, wie z. B. 37), geschriebene Zahlwörter (Buchstabenfolgen, wie z. B. siebenunddreißig), gesprochene Zahlwörter (phonologische Sequenzen, wie z. B. „sieben und dreißig“), römische Zahlen (z. B. XXXVII) etc.
Teilkomponenten des Rechnens
Während sich die Forschung erst in jüngerer Zeit mit der typischen und atypischen Entwicklung der Zahlenverarbeitung und Rechenleistungen beschäftigt, gibt es eine lange und reiche Tradition der wissenschaftlichen Untersuchung der Teilkomponenten des Rechnens bei Erwachsenen. Ausgangspunkt dieser Forschungstradition war die detaillierte neuropsychologische Beschreibung von erworbenen Rechenstörungen, also Ausfällen der Rechenleistungen als Folge einer Hirnschädigung, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglichten insbesondere die detailreichen Methoden der Kognitionspsychologie zunehmend die Untersuchung der numerischen Kognition bei kompetenten Erwachsenen. Auf dieser Forschungsrichtung basieren die wesentlichen neurokognitiven Modelle der Zahlenverarbeitung und des Rechnens, mit denen wir heute arbeiten.
Einen weiteren wesentlichen Entwicklungsschub erfuhr die Untersuchung der Rechenleistungen durch die modernen Techniken der Neurowissenschaften, die durch diverse bildgebende Verfahren die Erforschung der Gehirnaktivität bei Kindern und Erwachsenen mit unauffälligen Rechenleistungen ermöglichen. Wesentliche Erkenntnisse dieser reichen Forschungstradition sind die Identifikation einer ganzen Reihe von Teilkomponenten der Zahlenverarbeitung und der arithmetischen Leistungen bei Erwachsenen, die zum Teil erstaunlich unabhängig voneinander funktionieren und auch sehr spezifisch gestört sein können. Diese Erkenntnisse stellen eine wichtige Grundlage für die Erstellung von Modellen der typischen und atypischen Entwicklung der Rechenleistungen dar, daher sollen sie in diesem Kapitel detailliert erläutert werden.
1.2 Erste Fallberichte von Personen mit erworbenen Rechenstörungen
entwicklungsbedingt vs. erworben
Probleme mit der Zahlenverarbeitung und / oder dem Rechnen treten nicht nur bei Kindern in Form von entwicklungsbedingten Rechenstörungen (bzw. Dyskalkulie) auf. Auch Erwachsene mit vormals guten arithmetischen Fertigkeiten können im Zuge einer neurologischen Erkrankung (also einer erworbenen Hirnschädigung infolge eines Hirntumors, Schlaganfalls oder Schädel-Hirn-Traumas) spezifische Defizite beim Rechnen „erwerben“ (für eine Übersicht siehe z. B. Cipolotti / van Harskamp 2001; Dehaene 1999). Im Gegensatz zu den entwicklungsbedingten Rechenstörungen spricht man in diesem Zusammenhang von sogenannten erworbenen Rechenstörungen.
Akalkulie
Die ersten detaillierten und systematischen Fallberichte von Personen mit erworbenen Rechenstörungen wurden 1919 von Henschen veröffentlicht, der auch den Begriff „Akalkulie“ einführte. Henschen konnte zeigen, dass Akalkulie sehr unterschiedliche Erscheinungsformen haben kann. Sie kann sowohl isoliert auftreten (also als einziges Symptom nach einer Hirnschädigung) als auch mit anderen Störungen wie Aphasie (erworbene Sprachstörung), Alexie (erworbene Lesestörung) oder Agraphie (erworbene Schreibstörung) einhergehen. Besonders hervorzuheben ist, dass die Arbeit von Henschen auch der erste Bericht einer spezifischen Beeinträchtigung des Erkennens und Lesens arabischer Zahlen ist, die unabhängig vom Ausführen von Rechenoperationen auftreten kann.
primär vs. sekundär
Bereits vor Henschens einflussreicher Publikation wurde in der neurologischen Fachliteratur darauf hingewiesen, dass strukturelle Hirnschädigungen Rechenstörungen bedingen können (z. B. Lewandowsky / Stadelmann 1908; Peritz 1918; Sittig 1917). Diese frühen Berichte waren jedoch meist auf die Beschreibung von Personen mit Sprachstörungen (Aphasie) beschränkt, die zusätzlich auch Probleme beim Lesen und / oder Schreiben arabischer Zahlen oder beim Rechnen zeigten. Diese Form der erworbenen Rechenstörung, die mit anderen funktionellen Störungen wie Aphasie assoziiert ist, wurde von Berger (1926) als „sekundäre“ Akalkulie bezeichnet und folgegemäß von der „primären“ Akalkulie differenziert, die sich isoliert – also unabhängig von anderen kognitiven Defiziten – manifestiert. Berger war es auch, der erstmals berichtete, dass die Rechenfehler von Personen mit erworbenen Hirnschädigungen nicht alle Rechenoperationen gleichermaßen betreffen müssen, sondern dass spezifische Rechenoperationen selektiv gestört sein können: So kann beispielsweise Multiplikationswissen besser erhalten sein als Subtraktionswissen. Vor allem Schädigungen der linken hinteren (posterioren) Hirnabschnitte, die häufig in Sprachstörungen resultieren, wurden auch als Ursache für Rechenstörungen erkannt.
Gerstmann-Syndrom
Gerstmann (1927; 1940) beschrieb erstmals einen Patienten, der nach einer Läsion in der Nähe des Gyrus angularis (lokalisiert im Scheitel- oder Parietallappen, der Teil hinterer Hirnabschnitte ist) eine Rechenstörung zeigte: Sie trat in Assoziation mit Fingeragnosie (defizitäres Erkennen der Finger), Agraphie (Schreibstörung) sowie Rechts-links-Desorientierung auf. Die Kombination dieser vier Symptome (Akalkulie, Fingeragnosie, Agraphie und Rechts-links-Störung) wurde nach deren Erstbeschreiber als Gerstmann-Syndrom benannt.
Eine moderne Einzelfallanalyse der Rechenleistungen eines Patienten mit Gerstmann-Syndrom findet sich z. B. bei Delazer und Benke (1997; s. Abschnitt 1.3).
konstruktiveAkalkulie
In der unmittelbaren Folgezeit auf Gerstmanns Publikationen wurde allgemein die Ansicht vertreten, dass Rechenstörungen lediglich ein sekundäres Symptom von grundlegenderen visuell-räumlichen Defiziten seien (z. B. Krapf 1937; Singer / Low 1933). So prägte Krapf (1937) den Begriff der „konstruktiven Akalkulie“ für eine Art der Rechenstörung, bei der Schwierigkeiten beim Schreiben von Zahlenkolonnen bzw. deren räumlicher Anordnung bestehen.
Häufig wird angezweifelt, ob es sich beim Gerstmann-Syndrom um ein einheitliches Störungsbild handelt, weil viele Personen nur eines, zwei oder drei der vier charakteristischen Symptome zeigen (Benton 1977). Nichtsdestotrotz ist das Interesse der aktuellen Forschung zur numerischen Kognition am Gerstmann-Syndrom wieder neu erwacht, vor allem im Hinblick auf einen potenziellen Zusammenhang zwischen räumlicher und numerischer Kognition (Schlagwort „Zahlenraum“). Erst kürzlich wurde ein Sonderheft einer renommierten neurowissenschaftlichen Fachzeitschrift diesem Thema gewidmet (Sonderheft von Cortex [2008]: „Number, Space, and Action“, herausgegeben von Martin Fischer und Guilherme Wood).
modalitätsspezifische Beeinträchtigungen
1.3 Akalkulie aus der Sicht der klinischen Neuropsychologie und der kognitiven (Neuro-)Psychologie
Der Hauptverdienst der ersten neurologischen Fallberichte ist sicher darin zu sehen, dass Rechenstörungen erstmals als Folgeerscheinung von Hirnläsionen beschrieben wurden (z. B. Lewandowsky / Stadelmann 1908). Der Großteil der damaligen neuro(psycho)logischen Fachwelt war allerdings lange Zeit der Meinung, dass Akalkulie als ein Begleitsymptom von anderen Störungen anzusehen sei. So publizierten Hecaen et al. mehrere Arbeiten, in denen sie einen Klassifikationsversuch von Akalkulie in folgende drei Subtypen vornahmen: (a) Akalkulie infolge von Lese- und / oder Schreibstörungen (von Zahlen); (b) Akalkulie infolge von räumlichen Defiziten beim schriftlichen Rechnen; und (c) die sogenannte Anarithmetie, welche Defizite beim Ausführen arithmetischer Operationen reflektiert (Hecaen / Angelerques 1961; Luria 1973).
Dissoziation
Bereits in den frühen Falldarstellungen zeigt sich, dass Rechenstörungen von anderen kognitiven Störungen dissoziieren können, d. h. sie treten manchmal trotz intakter kognitiver Leistungen auf. Auch zwischen Teilkomponenten der numerischen und arithmetischen Fertigkeiten zeigen sich bei einzelnen Personen Dissoziationen, die uns wesentliche Aufschlüsse über unser kognitives System geben.
Dissoziation und doppelte Dissoziation
Wenn eine Leistung A intakt ist, aber eine Leistung B defizitär, dann spricht man von einer Dissoziation. Eine doppelte Dissoziation liegt dann vor, wenn bei einer Person eine Leistung A erhalten, eine Leistung B jedoch defizitär ist und bei einer anderen Person das umgekehrte Leistungsprofil vorliegt (Leistung B ist intakt, aber Leistung A ist defizitär). Das Vorhandensein von doppelten Dissoziationen wird in der kognitiven Psychologie als Evidenz für die modulare Architektur kognitiver Systeme betrachtet (Shallice 1988). Man nimmt also an, dass die Leistungen A und B voneinander unabhängig sind, sowohl hinsichtlich ihrer funktionellen Aufgaben als auch hinsichtlich ihrer strukturellen (neuronalen) Korrelate.
Dissoziation zwischen Rechenfertigkeiten und intellektuellem Leistungsniveau: Eine Schlüsselarbeit für die aktuelle numerische Kognitionsliteratur war die von Grafman et al. (1982) publizierte Gruppenstudie neurologisch auffälliger Personen. Untersucht wurden – erstmals mit einem standardisierten Rechentest – 76 Personen mit Hirnläsionen (41 mit links- und 35 mit rechtsseitigen Strukturschäden) sowie 26 Kontrollpersonen. Zwei Aspekte sind an dieser Analyse relevant:
(a) Das Vorliegen bzw. der Schweregrad der Rechenstörung war unabhängig vom allgemeinen intellektuellen Leistungsniveau (s. Lewandowsky / Stadelmann 1908; Warrington 1982); und
(b) Personen mit linksseitiger Hirnstrukturschädigung hatten relativ zu jenen mit rechtshemisphärischen Läsionen und Kontrollpersonen die gravierendsten Rechenprobleme (s. Jackson / Warrington 1986).
Savant-Syndrom
Im Hinblick auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit liegt eine doppelte Dissoziation vor: Wenn schwache Rechenleistungen bei unauffälligen intellektuellen Leistungen auftreten, sprechen wir von „Dyskalkulie“. Wenn umgekehrt überdurchschnittliche Rechenleistungen trotz niedrigem Intelligenzniveau vorliegen, dann sprechen wir vom „Savant-Syndrom“ (z. B. Kelly et al. 1997).
Dissoziation zwischen Rechenfertigkeiten und Sprachleistung: Großen Einfluss auf die moderne Zahlen- und Rechenforschung hatten auch die Arbeiten von Elizabeth Warrington. Warrington konnte bereits 1982 anhand detaillierter Einzelfallanalysen zeigen, dass verschiedene Komponenten des Rechnens modular organisiert sind.
Im Jahre 1995 beschrieben Warrington et al. einen Patienten, die trotz globaler Aphasie gute Leistungen hinsichtlich der Zahlenverarbeitung und des Rechnens zeigte (Rossor et al. 1995). Dieses Fallbeispiel demonstriert eindrücklich, dass gute Rechenleistungen nicht unbedingt intakte sprachliche Fähigkeiten voraussetzen (Hodges et al. 1992; Lewandowsky / Stadelmann 1908).
Dissoziation zwischen numerischem und nichtnumerischem Gedächtnis:Cappelletti et al. (2001) publizierten einen detaillierten Fallbericht eines Patienten (IH) mit semantischer Demenz: Das ist eine progrediente hirnorganische Erkrankung, die im Anfangsstadium meist durch beeinträchtigte Gedächtnisleistungen und Sprachstörungen charakterisiert ist. IH zeigte erstaunlich gut erhaltene numerisch-rechnerische Fertigkeiten, jedoch gravierende Defizite bei nichtnumerischen Gedächtnisinhalten. IH verfügte über sehr gutes Additions- und Subtraktionswissen beim Rechnen mit ein- und zweistelligen Zahlen (seine Bearbeitungsgenauigkeit von Multiplikations- und Divisionsrechnungen war etwas niedriger, jedoch weit über dem Rateniveau) und zeigte exzellente Leistungen beim Platzieren von Zahlen auf einem Zahlenstrahl. Offenbar führen Gedächtnisdefizite nicht zwangsläufig zu Beeinträchtigungen der Rechenleistungen.
Dissoziation zwischen Zahlenverständnis und Zahlenproduktion sowie zwischen dem Lesen von arabischen Zahlen und Zahlwörtern:Benson und Denckla (1969) stellten zwei Personen mit Gerstmann-Syndrom vor, die auch eine Aphasie hatten. Beide konnten einstellige Additionsaufgaben wie „4 + 5“ nicht korrekt verbal beantworten. Dennoch konnte eine Person die richtige Lösung niederschreiben und die andere die richtige Antwort unter mehreren möglichen auswählen. Diese Arbeit war ein Eckpfeiler für die moderne Kognitionspsychologie, weil sie erstmals anhand von Dissoziationen aufzeigte, dass Zahlenverständnis- und Zahlenproduktionssysteme funktionell voneinander unabhängig sein können.
Cipolotti et al. (1995; Cipolotti 1995) zeigten, dass Schwierigkeiten beim Lesen arabischer Zahlen sehr spezifisch sein können. Die von Cipolotti beschriebenen Personen hatten Schwierigkeiten beim Lesen arabischer Zahlen, nicht jedoch beim Lesen von Zahlwörtern. Die umgekehrte Dissoziation wurde ebenfalls beschrieben, so dass von einer doppelten Dissoziation zwischen den Lesemechanismen für arabische Zahlen und jenen für Zahlwörter gesprochen werden kann (s. Abschnitt 1.5.1 „Struktur des Zahlensystems“).
Dissoziation zwischen verschiedenenRechenoperationen:Benson und Weir (1972) beschrieben – erstmals nach Berger (1926) – eine Person, deren Rechenschwierigkeiten auf bestimmte Operationsarten beschränkt waren: Während Additionen und Subtraktionen intakt waren, bereiteten Multiplikationen und Divisionen auffällige Schwierigkeiten. Es gibt zahlreiche Fallberichte von Personen mit operationsspezifischen Defiziten beim Lösen einfacher Rechnungen. Selektive Probleme beim Lösen einfacher Additionen zeigte beispielsweise FS (Van Harskamp / Cipolotti 2001), während SS eine selektive Beeinträchtigung beim Lösen simpler Subtraktionsaufgaben zeigte.
Da auch ein Fallbericht von BB mit erhaltenem Subtraktionswissen bei defizitärem Additions- und Multiplikationswissen existiert (Pesenti et al. 1994), liegt in Bezug auf das Subtrahieren eine doppelte Dissoziation vor: Es kann sowohl selektiv erhalten als auch selektiv gestört sein. Letzteres gilt auch für das Multiplikationswissen (selektiv erhalten: JG [Delazer / Benke 1997], selektiv beeinträchtigt: VP [Van Harskamp / Cipolotti 2001]). Diese doppelten Dissoziationen stützen die Annahme, dass das arithmetische Wissen je nach Operationsart modular organisiert ist. In anderen Worten: Die Verarbeitungsprozesse und -mechanismen für jede Operationsart scheinen unabhängig voneinander zu funktionieren.
Dissoziation zwischenarithmetischemFaktenwissen undprozeduralem Wissen: Eine grobe Differenzierung von Rechenfertigkeiten ist jene in das arithmetischeFaktenwissen und das Wissen um arithmetischeProzeduren (s. Abschnitt 1.5.2).
Als Faktenwissen bezeichnet man einfache Rechnungen, deren Ergebnis man direkt aus dem Gedächtnis abrufen kann, ohne es „ausrechnen“ zu müssen (z. B. Einmaleins). Prozedurales Wissen umfasst alle Rechenprozeduren, die wir benutzen, um zu einem Ergebnis zu kommen. So muss man z. B. beim Lösen mehrstelliger schriftlicher Additionen wissen, wie man die Zahlen untereinander schreibt, ob man bei den Einern oder Zehnern / Hundertern mit dem Additionsprozess beginnt, wie man Überträge behandelt, wie man mit Nullen umzugehen hat etc. Die Unterscheidung zwischen Faktenwissen und prozeduralem Wissen wurde anhand von Einzelfallstudien wiederholt empirisch validiert (z. B. Delazer / Benke 1997; Hittmair-Delazer et al. 1994; 1995; McCloskey et al. 1985; Warrington 1982).
Eine der frühesten detaillierten Beschreibungen einer Dissoziation zwischen arithmetischem Fakten- und Prozedurenwissen war eine Einzelfallstudie von einer hirngeschädigten Person (DRC), die Probleme beim direkten Faktenabruf hatte, dieselben einstelligen Rechnungen jedoch mit Hilfe sogenannter Backup-Strategien (in diesem Falle zeitaufwändige Zählprozeduren) lösen konnte (Warrington 1982).
Einzelfallstudien zur Unterscheidung zwischen Faktenwissen und prozeduralem Wissen
Mehr als ein Jahrzehnt später wurde Warringtons Bericht einer Dissoziation zwischen arithmetischem Faktenwissen und prozeduralem Wissen von Margarete Delazer et al. repliziert und sogar um die umgekehrte Dissoziation erweitert (Hittmair-Delazer et al. 1994; Delazer / Benke 1997). BE war ein 45-jähriger Buchhalter, der nach einem Hirninfarkt linker subkortikaler Hirnstrukturen (Basalganglien) zusätzlich zu einer rechtsseitigen Lähmung und einer Sprachstörung auch spezifische Probleme beim Abruf von Multiplikationsfakten zeigte (einfache Additionen und Subtraktionen bereiteten ihm vergleichsweise weniger Schwierigkeiten; Hittmair-Delazer et al. 1994). Erstaunlich war, dass dieser – von Berufs wegen in Arithmetik sehr geübte – Mann seine Faktenabrufdefizite durch teils sehr komplexe prozedurale Lösungsstrategien spontan kompensierte. So konnte er zwar die Lösung von „5 x 8“ nicht direkt aus dem Langzeitgedächtnis abrufen, konnte das korrekte Resultat (40) jedoch über Umwege lösen (z. B. [8 x 10] : 2 bzw. [5 x 10] – [2 x 5]).
Ein konträres Leistungsprofil zeigte JG, eine 56-jährige Patientin, die nach einem hirnchirurgischen Eingriff zur Entfernung eines Tumors in linken parietalen Hirnarealen ein Gerstmann-Syndrom entwickelte (Delazer / Benke 1997). JG zeigte relativ gut erhaltenes Multiplikationsfaktenwissen, aber defizitäres Additions- und Subtraktionswissen. Im Gegensatz zu BE konnte JG ihr Abrufdefizit nicht durch prozedurales arithmetisches Wissen kompensieren.
Zusammenfassung
Empirische Evidenz an Erwachsenen stützt die Annahme einer modularen Architektur von Rechenleistungen.Dissoziationen zwischen Rechenleistungen und nichtnumerischenFähigkeiten einerseits sowieDissoziationen zwischen verschiedenenKomponenten derZahlenverarbeitung und des Rechnens andererseits zeigen, dass (a)Zahlenverarbeitung und Rechnen unabhängig von der allgemeinen intellektuellen Leistungsfähigkeit und von nichtnumerischenFähigkeiten wie Sprache und Gedächtnis sind; und (b) dass verschiedene Teilbereiche des Rechnens nach erworbenenHirnschädigungen selektiv beeinträchtigt sein können (z. B. operationsspezifische Defizite).
1.4 Neurokognitive Modelle der numerischen Kognition bei Erwachsenen
Einer Vielzahl von systematischen und sehr differenzierten Einzelfall- und Gruppenstudien von gesunden und neurologisch auffälligen Personen mit Hirnverletzungen ist es zu verdanken, dass unser aktuelles Verständnis der kognitiven Prozesse und Mechanismen, die einer intakten Zahlenverarbeitung und guten Rechenfertigkeiten zugrunde liegen, bereits recht umfassend ist. Dass es trotz des akkumulierten Wissens immer noch beträchtliche Wissenslücken und Kontroversen gibt, spiegelt sich in den im Folgenden dargestellten Rechenmodellen wider.
Modell von McCloskey et al.: Das erste auf neuropsychologischen Theorien und erworbenen Rechenstörungen basierende Rechenmodell, das der Differenzierung unterschiedlicher Teilkomponenten der Zahlenverarbeitung und der arithmetischen Leistungen Rechnung trägt, stammt von McCloskey et al. (1985; s. Abb. 1.1).
Input- und Outputsystem
Das Modell unterscheidet zwischen einem Inputsystem (Zahlenverständnis) und einem Outputsystem (Zahlenproduktion). Innerhalb beider Systeme findet sich jeweils eine Komponente für Verständnis / Produktion von Zahlwörtern und eine weitere Komponente für Verständnis / Produktion arabischer Zahlen. Jede dieser Repräsentationsformen von Zahlen steht mit der zentralen abstrakten semantischen Repräsentationskomponente in Verbindung. McCloskey et al. (1985; McCloskey 1992) nehmen an, dass jede Zahl – in welcher Form auch immer sie präsentiert wird – eine internale abstrakte Größenrepräsentation generiert, welche ihrerseits wiederum das Outputsystem (also die Produktion) von Zahlen und Zahlwörtern aktiviert. Folglich evoziert jede Zahlenverarbeitung (Lesen / Schreiben gesprochener / geschriebener Zahlen) automatisch auch das Wissen um die numerische Größe dieser Zahl.
Abb. 1.1: Das Rechenmodell von McCloskey et al. (1985)
Rechensystem
Zusätzlich zu diesen Komponenten der Zahlenverarbeitung enthält das Modell von McCloskey ein Rechensystem, das sich wiederum in eine Reihe von Teilkomponenten zerlegen lässt. Zum einen müssen für kompetentes Rechnen die speziellen Symbole (also etwa die Rechenoperationszeichen +, –, x und :) bekannt sein. Eine weitere wichtige Unterscheidung innerhalb der Rechenfertigkeiten ist die zwischen arithmetischen Prozeduren und arithmetischem Faktenwissen. Unter prozeduralem Wissen versteht man das Wissen um Lösungsalgorithmen. Unter arithmetischem Faktenwissen versteht man einfache Rechnungen mit einstelligen Operanden, die von Personen mit guten Rechenleistungen meist direkt aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden können.
3Zahlenmodule / -codes
Triple-Code-Modell: Das Triple-Code-Modell von Dehaene (1992; Dehaene / Cohen 1995) enthält – ebenso wie das Modell von McCloskey et al. – unterschiedliche Komponenten für unterschiedliche Repräsentationsformen von Zahlen und Mengen, die hier als unterschiedliche „Codes“ bezeichnet werden (s. Abb. 1.2). Die visuell-arabische Zahlenform ist für die Verarbeitung von arabischen Zahlen zuständig, die verbal(-phonologisch)e Zahlenform verarbeitet dagegen gesprochene und geschriebene Zahlwörter. Die dritte Komponente der analogen Größenrepräsentation ist bei all jenen Zahlenverarbeitungs- und Rechenprozessen involviert, die auf die Numerosität von Mengen oder Zahlen zugreifen. Anders ausgedrückt repräsentiert diese Komponente die eigentliche Zahlensemantik, also das Wissen um die numerische Größe bzw. Mächtigkeit einer Menge oder Zahl. Bei kompetenten Erwachsenen interagieren diese drei Codes, wann immer Zahlenverarbeitung stattfindet. Jede dieser Komponenten kann aber laut Dehaene auch spezifisch beeinträchtigt sein, so dass bei Beeinträchtigung der analogen Größenrepräsentation Zahlenlesen (Übersetzung einer arabischen Zahl in ein Zahlwort) oder Zahlenschreiben (Übersetzung eines Zahlworts in eine arabische Zahl) noch möglich sein sollte, ohne dass die Bedeutung der Zahlen bzw. deren Numerosität erfasst werden könnte.
Abb. 1.2: Das Triple-Code-Modell von Dehaene (1992)
Unterschiede zumMcCloskey-Modell
Mit der Annahme der funktionellen Unabhängigkeit der drei Zahlenformate unterscheidet sich Dehaenes Triple-Code-Modell vom Rechenmodell von McCloskey et al., das besagt, dass jede Zahlenverarbeitung zu einer automatischen Aktivierung der internalen semantischen Größenrepräsentation führt. Ein weiterer Unterschied zwischen den zwei Modellen ist deren Implikation für die Organisation bzw. die Verarbeitung von Rechenoperationen. So gibt es im Gegensatz zum McCloskey-Modell beim Triple-Code-Modell keine separate Komponente für Rechenleistungen. Vielmehr werden Leistungen der Zahlenverarbeitung und des Rechnens der Komponente zugeordnet, auf deren Repräsentationsform sie basieren. So erfordert schriftliches Rechnen mit mehrstelligen Zahlen den kompetenten Umgang mit arabischen Zahlen und ist somit der visuell-arabischen Zahlenform zugeordnet. Zählen sowie arithmetisches Faktenwissen (Addition und Multiplikation) sieht Dehaene als vorwiegend verbale Leistungen und ordnet sie daher der verbal-phonologischen Zahlenform zu. Die analoge Größenrepräsentation ist die Grundlage von approximativen Rechenprozessen wie Schätzen, Größenvergleich oder dem Subitizing (ein spezieller Zählmechanismus im kleinen Zahlenraum, s. Abschnitt 3.6.1).
Im nächsten Abschnitt werden die wichtigsten Erkenntnisse zur numerischen Kognition dargestellt, auf denen diese beiden Modelle basieren.
1.5 Zentrale Komponenten der arithmetischen Verarbeitung
Im Gegensatz zu den frühen neurologischen und klinisch-neuropsychologischen Arbeiten, die meist unsystematische und eher anekdotische Fallbeispiele berichten, beruhen die Erkenntnisse der modernen Kognitionspsychologie auf sehr detaillierten und systematischen Untersuchungen von Denkprozessen und kognitiven Fähigkeiten (Shallice 1988).
An einem einfachen Beispiel sei dies illustriert: Wenn man ein 6-jähriges Kind und einen Erwachsenen bittet, die Aufgabe „4 + 2“ zu lösen, so werden beide Personen diese Rechenaufgabe richtig lösen. Erst die exakte Erhebung der Bearbeitungszeit zeigt, dass das 6-jährige Kind viel länger braucht, um das Ergebnis zu produzieren, als der Erwachsene. Daraus lässt sich schließen, dass das Kind beim Lösen dieser einfachen Rechenaufgabe komplexe, mehrstufige Lösungsprozesse in Anspruch nehmen muss (z. B. Rechnen mit Hilfe der Finger). Die meisten Erwachsenen müssen für das Lösen derselben Rechenaufgabe nicht auf rechnerische Denkprozesse zurückgreifen, sondern können die Aufgabenlösung (6) spontan nennen.
multikomponentielle Verarbeitung
Eine zentrale Erkenntnis dieser Forschungsrichtung ist, dass die arithmetische Verarbeitung multikomponentiell ist, sich also aus zahlreichen Teilkomponenten zusammensetzt. Zu unterscheiden sind die Komponenten der Zahlenverarbeitung im engeren Sinn (Lesen / Schreiben arabischer Zahlen, Vergleichen arabischer Zahlen etc.) einerseits und der Rechenfertigkeiten (Kopfrechnen, schriftliches Rechnen etc.) andererseits. Diese beiden Komponenten lassen sich in jeweils weitere Subkomponenten zerlegen, die im Folgenden im Detail dargestellt werden.
1.5.1 Basisnumerische Verarbeitung
Der Begriff basisnumerische Verarbeitung bezeichnet basale und für den Erwerb arithmetischer Kompetenzen grundlegende numerische Fertigkeiten.
Auf den ersten Blick scheint Zahlenverarbeitung sehr simpel zu sein. Schließlich führen kompetente Erwachsene entsprechende Prozesse x-mal am Tag automatisiert aus, ohne sich darüber weitere Gedanken zu machen. Die im Folgenden dargestellten detaillierten kognitionspsychologischen Analysen machen allerdings deutlich, dass es sich um einen komplexen Prozess handelt, der das effiziente Zusammenspiel einer Mehrzahl von Teilkomponenten erfordert.
Struktur des Zahlensystems
dekadischesPositionssystem
Eine Besonderheit des Zahlensystems ist, dass es auf einem Basis-10-System beruht. Der Aufbau dieses sogenannten dekadischen Positionssystems ist durch eine eindrückliche Regelhaftigkeit charakterisiert. Hervorzuheben ist jedoch, dass das verbale (gesprochene) und das arabische (geschriebene) Zahlensystem in ihrer Grundstruktur nicht identisch sind. Im arabischen Zahlencode ist die Komposition mehrstelliger Zahlen ab der Zahl 11 regelmäßig. In anderen Worten: Bei jeder Folgezahl erhöht sich die Einerstelle um eins (n + 1) und sobald wieder ein voller Zehner erreicht ist, beginnt dieser Prozess (n + 1) von neuem (z. B. 11, 12, 13 etc.; 21, 22, 23 etc. bis 91, 92, 93 etc.). Demgegenüber stellen beim Zahlwortsystem die Zahlwörter von 11 bis 19 eine besondere Wortklasse dar, weil sie nicht dieser regelhaften Komposition entsprechen (z. B. heißt es im Deutschen „elf“ und nicht „eins-zehn“ bzw. „ein-und-zehn“).
Zehner-Einer-Inversion
Eine weitere Besonderheit des deutschen Zahlwortsystems ist, dass die Zahlen von 21 bis 99 durch eine Inkongruenz zwischen Stellenwertsystem (ersichtlich aus der geschriebenen arabischen Zahl) und der verbalen Ziffernabfolge (beim Zahlwort) charakterisiert sind. Diese Unregelmäßigkeit erfordert, dass während des Lesens / Schreibens arabischer Zahlen ein Inversionsprozess stattfindet (die arabische Zahl „23“ entspricht dem gesprochenen Zahlwort „dreiundzwanzig“). Das heißt, deutschsprachige Kinder müssen zusätzlich zum komplexen Stellenwertsystem auch die dem deutschen Zahlwortsystem innewohnende Inversionsregel erlernen, was – zumindest in den ersten beiden Grundschuljahren – manchen Kindern schwerfällt (s. Abschnitt 2.5).
Stellenwertsystem
Die Verarbeitung mehrstelliger arabischer Zahlen erfordert ein Verständnis des Stellenwertsystems (für einen Überblick s. Nuerk / Willmes 2005). Beim Lesen / Schreiben mehrstelliger Zahlen beziehen die (die Gesamtzahl konstituierenden) einzelnen Ziffern ihren numerischen Wert aus ihrer Stellung in der Zahlenfolge. Am Beispiel der Ziffer 929 – und von links gelesen – heißt das, dass die Ziffer 9 einmal einen numerischen Wert von 900 und das andere Mal einen Wert von 9 darstellt.
syntaktischeStruktur
Ein weiteres Charakteristikum des arabischen Zahlensystems ist seine syntaktische Struktur. Mehrstellige arabische Zahlen erhalten ihren numerischen Wert durch die Verknüpfung zweier oder mehrerer Ziffern, wobei dem Stellenwert der Ziffer innerhalb der Zahlenfolge eine wesentliche Bedeutung zukommt (29 vs. 92). Die syntaktische Struktur mehrstelliger arabischer Zahlen ist entweder additiv oder multiplikativ. Der Zahl 405 wohnen beispielsweise beide Kompositionsregeln inne, nämlich eine additive im Hinblick auf die Einerstelle (400 + 5) und eine multiplikative im Hinblick auf die Hunderterstelle (4 x 100). Während der Erwerbsphase wird gewöhnlich die multiplikative vor der additiven Kompositionsregel gemeistert (Power / dal Martello 1997; Seron / Fayol 1994).
Transkodieren
Eine wesentliche Komponente innerhalb der basisnumerischen Verarbeitung ist das Lesen und Schreiben von Zahlen, welches das Umwandeln von einem Zahlen- bzw. Notationsformat in ein anderes erfordert. Dieser Umwandlungsprozess wird als Transkodieren bezeichnet. Die Übersetzung einer arabischen Zahl in ein Zahlwort beim Lesen einer Zahl wird als visuell-verbales Transkodieren bezeichnet, die umgekehrte Übersetzung eines Zahlwortes in eine arabische Zahl beim Zahlenschreiben heißt demgemäß verbal-visuelles Transkodieren. Die Zahlen von 1 bis 9 (sowie die Zahl 0) sind die konstituierenden Elemente des Zahlensystems und begründen zugleich die Zahlwortabfolge.
Transkodierfehler
Typische Fehler beim Transkodieren betreffen entweder die syntaktische Struktur (z. B. 405 wird geschrieben als 4005) oder lexikalische Elemente (z. B. 405 wird geschrieben als 407; Deloche / Seron 1982a, b). Transkodierfehler bei erworbenen Rechenstörungen sind häufig von beiden Fehlerarten charakterisiert, wobei lexikalische Fehler vor allem dann zu beobachten sind, wenn die Rechenstörung mit einer Lese- oder Sprachstörung assoziiert ist (Cipolotti / Butterworth 1995).
Granà et al. (2003) weisen darauf hin, dass die Differenzierung in lexikalisch und syntaktisch auch für die Bearbeitung der „0“ gilt. Der in dieser Studie beschriebene Patient LD tendierte dazu, sogenannte „syntaktische“ Nullen auszulassen (z. B. wurde die Zahl 408 als 48 transkodiert). Dagegen unterliefen ihm bei der Produktion von „lexikalischen“ Nullen (also Nullen in einer vollen Zehnerzahl, wie z. B. bei der Zahl 40, aber auch bei der Zahl 40236) keine Fehler. Granà et al. interpretieren dieses spezifische Leistungsprofil als Hinweis, dass lexikalische Nullen leichter zu verarbeiten sind als syntaktische. Grund dafür sei, dass lexikalische Nullen unmittelbar mit einem numerischen Konzept (nämlich einer semantischen Größe, die auf dem Basis-10-System beruht) assoziiert werden können, was für syntaktische Nullen nicht der Fall sei.
semantisch vs. asemantisch
Eine derzeit noch sehr kontrovers diskutierte Frage ist, ob das Transkodieren von einem Zahlenformat in ein anderes immer auch erfordert, dass die entsprechende Zahl in ihrer Mächtigkeit erfasst wird. Man spricht hier auch von semantischem Transkodieren, also Transkodieren unter Zugriff auf die Bedeutung der Zahl. Asemantische Modelle gehen demgegenüber davon aus, dass Zahlenformen auch ohne jedes Verständnis für die numerische Bedeutung der Zahl transkodiert werden können (Barrouillet et al. 2004; Deloche / Seron 1987; Dotan /Friedman 2018; Power / dal Martello 1997). Bei gesunden Erwachsenen wird die Zahlensemantik üblicherweise automatisch aktiviert, in welchem Format auch immer Zahlen präsentiert werden. Studien an Personen mit erworbener Rechenstörung weisen allerdings darauf hin, dass dies nicht zwingend der Fall ist.
Ein-Routen- vs. multiple Transkodiermodelle
Das Modell von McCloskey et al. (1985) postuliert, dass jeder Transkodierprozess über eine abstrakte internale (semantische) Repräsentation vonstatten geht. Es ist im Hinblick auf das Postulat von ausschließlichen – und obligatorischen – semantischen Transkodierrouten ein sogenanntes Ein-Routen-Modell. Demgegenüber postulieren sogenannte Multi-Routen-Modelle des Transkodierens sowohl semantische als auch asemantische Verarbeitungswege (Cipolotti 1995; Cipolotti / Butterworth 1995; Cohen et al. 1994; Dehaene / Cohen 1995).
So beschrieben Cohen et al. (1994) eine Person mit erworbener Lesestörung (Alexie), die eine Dissoziation zwischen intaktem Lesen von Zahlen mit hohem Bekanntheitsgrad (z. B. geschichtlich bedeutsame Jahreszahlen wie 09 11 für den Terroranschlag in den USA; oder Zahlen, welche mit Markenlabels in Verbindung gebracht werden, wie z. B. 4711 für Kölnischwasser) und defizitärem Lesen von Zahlen ohne semantischer Konnotation aufwies. Cohen et al. (1994) interpretierten diese Dissoziation dahingehend, dass Zahlen mit hohem Bekanntheitsgrad über lexikalische Transkodierrouten verarbeitet werden, während bedeutungslose Zahlen über nichtlexikalische Routen verarbeitet werden.
Der von Cipolotti (1995) beschriebene Patient SF (mit beginnender Demenz vom Alzheimer-Typ) konnte mehrstellige Zahlen nur dann lesen, wenn sie in Form eines Zahlwortes (also über die orthografische Route), nicht jedoch, wenn sie in Form einer arabischen Zahl präsentiert waren. Demgegenüber hatte ein anderer von Cipolotti beschriebener Patient Schwierigkeiten bei Transkodieraufgaben, die einen verbalen und schriftlichen Output erforderten. Er konnte jedoch ein- und mehrstellige Zahlen beim schriftlichen Rechnen sowie zweistellige Zahlen beim Kopfrechnen richtig zuordnen (Patient SAM: Cipolotti / Butterworth 1995). Beide von Cipolotti beschriebenen Patienten demonstrierten teilweise intaktes Zahlenverständnis: Das heißt, dass die Transkodierleistungen unabhängig vom Zahlenverständnis beeinträchtigt sein können (SF: Lesen arabischer Zahlen; SAM: Schreiben von Zahlwörtern und arabischen Zahlen).
Multi-Routen-Modell
Basierend auf diesen Einzelfallstudien entwickelten Butterworth und Cipolotti das in Abbildung 1.3 dargestellte multiple Transkodiermodell. Das Modell postuliert die Existenz von vier voneinander differenzierbaren asemantischen Transkodierrouten, die zusätzlich zu einem semantischen Transkodierweg in Aktion treten können. Zwei asemantische Transkodierrouten ermöglichen das Lesen und Schreiben arabischer Zahlen (gestrichelte Linien in Abb. 1.3). Die restlichen zwei asemantischen Transkodierrouten treten gemäß Cipolotti und Butterworth (1995) beim Wiederholen von gehörten Zahlwörtern und beim Lesen geschriebener Zahlwörter in Aktion (durchgezogene Linien in Abb. 1.3) und sind höchstwahrscheinlich nicht für Zahlen spezifisch, sondern allgemeinen Sprachverarbeitungsmechanismen zuzuschreiben.
Abb. 1.3: Das Multi-Routen-Modell des Transkodierens von Cipolotti und Butterworth (1995)
Das Multi-Routen-Modell des Transkodierens (Cipolotti / Butterworth 1995) unterscheidet sich also vom McCloskey-Modell (McCloskey et al. 1985; McCloskey 1992) in folgenden zwei Punkten: (a) Weder das Nachsprechen noch das Abschreiben von Zahlwörtern erfordern den Zugriff auf abstrakte semantische Repräsentationen (in diesem Falle also die dem entsprechenden Zahlwort inhärente Numerosität); und (b) sowohl für das Lesen als auch für das Schreiben arabischer Zahlen gibt es zusätzlich zu der semantischen Route direkte asemantische Transkodierrouten.
Zusammenfassung
DasZahlensystem ist regelhaft aufgebaut und durch eine Basis-10-Struktur charakterisiert (dekadischesPositionssystem). Beimehrstelligen Zahlen werden dieZiffern (0–9) durch additive und multiplikative Kompositionsregeln in Form einesStellenwertsystems miteinander verknüpft. In der deutschen Sprache ist das verbaleZahlwortsystem im Bereich der zweistelligen Zahlen (21–99) durch dasInversionsprinzip gekennzeichnet.
Transkodieren – also die Umwandlung von einemZahlencode in einen anderen – ist ein komplexer kognitiver Prozess. Aktuelle Berichte der Transkodierleistungen von Personen mit erworbener Rechenstörung sind am besten durch multiple Routenmodelle erklärbar, die die Koexistenz von semantischen und asemantischen Transkodierrouten postulieren. SemantischesTranskodieren beinhaltet den Zugriff auf die analoge Größenrepräsentation bzw. den numerischen Wert der zu verarbeitenden Zahlen, während asemantische Routen direkt von einem zum anderenZahlenformat (also ohne Aktivierung der Semantik) verlaufen.
Semantische (Zahlen-)Größenrepräsentation und die Metapher des mentalen Zahlenstrahls
mentaler Zahlenstrahl
Das Konstrukt des mentalen Zahlenstrahls ist eine sehr populäre Metapher in der numerischen Kognitionsliteratur und besagt, dass in der mentalen Vorstellung die Zahlen analog (nämlich linear) und räumlich von links nach rechts angeordnet sind (Dehaene 1992; Dehaene 1999). Die analoge Repräsentation ermöglicht den Zahlenvergleich, wobei numerisch weiter entfernte Zahlen (z. B. 2 vs. 6) leichter zu unterscheiden sind als numerisch benachbarte Zahlen (z. B. 2 vs. 3). Die Vorstellung der räumlichen Anordnung von Zahlen auf einer Linie basiert auf zwei wiederholt replizierten Befunden zur Verarbeitung von Zahlen, nämlich dem Distanzeffekt einerseits und dem SNARC-Effekt („spatial numerical association of response codes“ bzw. räumlich-numerische Assoziation des Antwortcodes) andererseits.
Distanzeffekt
Der Distanzeffekt kann berechnet werden, wenn eine Person möglichst schnell entscheiden soll, welche von zwei gleichzeitig präsentierten Zahlen die größere ist. Dabei zeigt sich, dass die Reaktionszeit systematisch sinkt, je größer die numerische Distanz zwischen den beiden Zahlen ist. Es besteht also ein negativer Zusammenhang zwischen Reaktionszeit und numerischer Distanz der zu vergleichenden Zahlen (s. Abb. 1.4a). Anders formuliert: Wir klassifizieren numerisch benachbarte Zahlen (2 vs. 3) langsamer als numerisch weiter voneinander entfernte (2 vs. 8; Moyer / Landauer 1967). Wie aus Abbildung 1.4b ersichtlich, gilt dies auch für zweistellige Zahlen. Ein von Henik und Tzelgov (1982) postulierter und in der Folgezeit weithin etablierter plausibler Erklärungsansatz für den Distanzeffekt ist, dass relativ zu weiter entfernten Zahlen die internen semantischen Größenrepräsentationen von benachbarten Zahlen auf dem Zahlenstrahl eher überlappen und somit beim Abruf miteinander in Konkurrenz treten (interferieren).
Abb. 1.4a: Distanzeffekt bei einstelligen Zahlen (aufgrund der gewöhnlich hohen Bearbeitungsgenauigkeit wird der Distanzeffekt beim einstelligen Zahlenvergleich primär in der Bearbeitungsgeschwindigkeit ersichtlich) b: Distanzeffekt bei zweistelligen Zahlen (modifiziert nach Dehaene et al. 1990)
logarithmische Charakteristik
Dehaene et al. gehen davon aus, dass die Zahlen am Zahlenstrahl logarithmisch komprimiert sind. Logarithmisch bedeutet, dass trotz gleichbleibenden numerischen Abstands mit zunehmender Zahlengröße der subjektive Abstand zwischen zwei Zahlen abnimmt (Dehaene et al. 1990). So erscheint beispielsweise der Abstand zwischen den Zahlen 3 und 8 subjektiv größer als jener zwischen 53 und 58, obwohl die tatsächliche numerische Differenz bei beiden Zahlenpaaren gleich ist (s. Abb. 1.5a).
Abb. 1.5 a, b: Schematische Darstellung des mentalen Zahlenstrahls. Der obere Teil der Abbildung (Abb. 1.5 a) entspricht der holistischen Modellvorstellung der Zahlenverarbeitung (Dehaene et al. 1990). Eine alternative Modellvorstellung besagt, dass die Einer und Zehner bei zweistelligen Zahlen separat verarbeitet werden (Abb. 1.5 b, Nuerk et al. 2001; wir danken Hans-Christoph Nuerk für diese Abbildung)
Dies entspricht dem sogenannten Weber’schen Gesetz für unsere Wahrnehmung, welches besagt, dass sich die subjektive Stärke von Sinneseindrücken logarithmisch zur objektiven Intensität des physikalischen Reizes verhält. Interessanterweise verarbeiten wir numerische Größen also ebenso wie physikalische Größen (z. B. Helligkeit, Lautstärke; s. Abb. 1.6). Durch die logarithmische Charakteristik des Zahlenstrahls ist es auch erklärbar, dass kleine relativ zu großen Numerositäten / Zahlen mit größerer Exaktheit bearbeitet werden können.
Abb. 1.6: Distanzeffekt bei numerischen und nichtnumerischen Größen (Cohen Kadosh et al. 2005)
Der Zahlenstrahl bei Personen mit visuellem Neglekt
Die Hypothese der räumlichen Orientierung der Zahlen am Zahlenstrahl wird auch durch aktuelle Untersuchungen von Personen mit visuellem Neglekt unterstützt. Neglekt ist eine neurologische, meist temporäre, Störung, die nach (rechtshirnigen) parietalen Schädigungen auftritt und mit einer Vernachlässigung der linken Raum- und / oder Körperhälfte einhergeht (bei intakter Sehleistung). Das äußert sich beispielsweise beim Lesen und Schreiben sowie bei Alltagsaktivitäten wie dem Essen und der Körperpflege.
Ein klassisches in der Neglektdiagnostik verwendetes Verfahren sind Linienbisektionsaufgaben: Es soll die Mitte von horizontal präsentierten Linien markiert werden. Ein systematischer Fehler von Personen mit Neglekt ist die Verschiebung dieser Mitte nach rechts, da sie die linke Raumhälfte – also auch die linke Seite der zu halbierenden Linie – nicht wahrnehmen. In einer viel beachteten Arbeit berichten Zorzi et al. (2002), dass Personen mit Neglekt auch bei einer verbalen Zahlenbisektionsaufgabe („Welche Zahl liegt genau zwischen 2 und 6?“) systematische Fehler unterlaufen, die analog zu den Fehlern bei der Linienbisektionsaufgabe sind: Personen mit Neglekt ignorieren die linke Seite des mentalen Zahlenstrahls und behaupten beispielsweise, dass 5 die numerische Mitte von 2 und 6 sei. Diese Arbeiten unterstützen eindrücklich die Hypothese, dass der mentale Zahlenstrahl räumlich (von links nach rechts) orientiert ist.
SNARC-Effekt
Ein Reaktionszeiteffekt, der die Hypothese der räumlichen Orientierung des Zahlenstrahls stützt, ist der SNARC (spatial numerical association of response codes)-Effekt. Die dem SNARC-Effekt zugrunde liegende klassische experimentelle Aufgabe ist eine Paritäts-Entscheidung: Man sieht jeweils eine (meist einstellige) arabische Zahl und soll entscheiden, ob diese gerade oder ungerade ist. Die numerische Größe ist bei dieser Aufgabe also irrelevant. Wichtig ist, dass in der ersten Hälfte des Experiments die rechte Hand der Reaktionstaste „gerade“ zugeordnet ist und die linke Hand der Reaktionstaste „ungerade“, dass in der zweiten Hälfte des Experiments die Zuordnung aber vertauscht wird. Ein typisches und in der Zwischenzeit vielfach repliziertes Antwortmuster ist, dass numerisch kleine Zahlen schneller mit der linken Hand und numerisch große Zahlen schneller mit der rechten Hand beantwortet werden (Dehaene et al. 1993; Gevers et al. 2005; Nuerk et al. 2005). Die Erklärung für diesen Befund ist, dass kleine Zahlen auf unserem mentalen Zahlenstrahl eher links angeordnet sind, so dass die räumlich nähere Hand hier schneller reagieren kann als bei großen Zahlen, die sich räumlich auf dem Zahlenstrahl näher an der rechten Hand befinden.
Reaktionszeitdifferenz
Grafisch wird dieser Effekt durch eine Subtraktionsmethode dargestellt, wobei die Reaktionszeiten der linken Hand von jenen der rechten Hand subtrahiert werden. Wie aus Abbildung 1.7 ersichtlich, ist diese Reaktionszeitdifferenz für kleine Zahlen, hier geschriebene Zahlwörter, positiv und für numerisch große Zahlen negativ, und zwar unabhängig vom Zahlenformat. Der SNARC-Effekt ist also evozierbar bei der Präsentation von arabischen Zahlen, gehörten und geschriebenen Zahlwörtern und sogar bei Punktmustern (Nuerk et al. 2005).
In einer Metaanalyse von 46 Studien zum SNARC-Effekt (die insgesamt 106 Experimente und 2.206 Personen zwischen 9 und 66 Jahren inkludierte) konnten Wood et al. (2008) zeigen, dass die Stärke des SNARC-Effekts mit dem Alter linear zunimmt. Effekte von Geschlecht und Händigkeit waren weniger stark ausgeprägt, aber tendenziell vorhanden: Männer und rechtshändige Personen zeigten stärkere SNARC-Effekte relativ zu Frauen und linkshändigen Personen. Wood et al. betonen jedoch, dass die Ergebnisse zwischen den Studien recht variabel waren und dass nicht alle Personen einen SNARC-Effekt zeigten. Der SNARC-Effekt ist also kein besonders robuster Effekt. Trotzdem haben seine Entdeckung und die Vielzahl der Studien, die sich in der Folgezeit mit dem SNARC-Effekt beschäftigten, einen wesentlichen Beitrag zu einem besseren Verständnis der mentalen Zahlenrepräsentationen und deren Interaktion mit der räumlichen Kognition geleistet.
Abb. 1.7: Der SNARC-Effekt bei geschriebenen Zahlwörtern (modifiziert nach Nuerk et al. 2005)
Kompatibilitätseffekt
Dehaene et al. (1990) postulieren, dass mehrstellige Zahlen als numerische Einheit, also holistisch verarbeitet werden. Gegen diese Annahme sprechen allerdings aktuelle empirische Befunde, die belegen, dass die einzelnen Ziffern in einer mehrstelligen Zahl separat verarbeitet werden. Nuerk et al. (2001) konnten zeigen, dass gesunde Personen beim Größenvergleich zweistelliger Zahlen schneller waren, wenn sowohl die Einer- als auch Zehnerstellen zum gleichen Entscheidungsprozess führten. Beim Zahlenpaar 58 versus 32 ist dies der Fall: Sowohl die Einer (8 vs. 2) als auch die Zehner (5 vs. 3) sind bei einer Zahl (58) numerisch größer. Die Größenvergleiche der Zehner und der Einer gehen somit in die gleiche Richtung, sind also miteinander kompatibel. Hatten die Personen jedoch zu entscheiden, welche Zahl beim Zahlenpaar 85 versus 37 größer ist, so waren die Bearbeitungszeiten wesentlich langsamer und die Fehlerraten höher, weil bei diesem Zahlenpaar die Größenentscheidung der Einer und Zehner in unterschiedliche Richtungen gehen (Zehner: 8 > 3; Einer: 5 < 7), sie sind also inkompatibel. Nuerk et al. (2001) prägen für diesen Reaktionszeiteffekt den Begriff „Kompatibilitätseffekt“ und interpretieren die Ergebnisse als Beleg für die separate Verarbeitung mehrstelliger arabischer Zahlen (s. Abb. 1.5b). Wenn zweistellige Zahlen tatsächlich holistisch verarbeitet werden (wie von Dehaene et al. 1990 postuliert), dann sollten die Reaktionszeiten unabhängig von der Kongruenz der Einer- und Zehnerstellen sein. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Der Kompatibilitätseffekt konnte sowohl für deutsch- als auch für englischsprachige Stichproben gezeigt werden, d. h. er ist unabhängig von der Irregularität der zweistelligen Zahlwörter im Deutschen. Zudem tritt er sowohl bei arabischen Zahlen als auch bei Zahlwörtern auf und ist also unabhängig vom Zahlenformat (Nuerk / Willmes 2005).
Basisnumerische Verarbeitung ist automatisch und oft nicht intentional
Zahlen-Größen-Interferenz
numerischer Stroop
Generell fällt es Personen mit guten Rechenleistungen schwer, den mit der entsprechenden arabischen Zahl assoziierten numerischen Wert zu unterdrücken. Zahlreiche experimentelle Untersuchungen zeigen, dass der numerische Wert einer Zahl auch dann automatisch aktiviert wird, wenn er für die Lösung einer Aufgabe irrelevant oder sogar hinderlich ist. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Schriftgröße zweier (einstelliger) Zahlen beurteilt werden soll und die Aufgabe darin besteht, die physisch größere Zahl mittels Tastendruck auszuwählen. Die Entscheidung ist schwieriger (reflektiert in längeren Reaktionszeiten und höherer Fehleranzahl), wenn die zwei präsentierten Ziffern hinsichtlich ihrer numerischen und physischen Größe inkongruent sind (6 3). Die Entscheidungsfindung ist demgegenüber leichter (ersichtlich aus schnelleren Bearbeitungszeiten und geringeren Fehlerraten), wenn die zu vergleichenden Zahlenpaare hinsichtlich ihrer numerischen und physischen Größe kongruent sind (6 3) oder wenn die beiden Zahlen hinsichtlich ihres numerischen Wertes neutral sind (3 3). Diese Aufgabe ist auch als Zahlen-Größen-Interferenzaufgabe bzw. numerische Stroop-Aufgabe bekannt.
Größenkongruenzeffekt
Der entsprechende Reaktionszeiteffekt (schnellere Bearbeitungszeit bei kongruenten oder neutralen relativ zu inkongruenten Zahlenpaaren) wird dementsprechend Größenkongruenzeffekt genannt.
Zusammenfassung
Die Metapher des mentalen Zahlenstrahls besagt, dass diementalen Repräsentationen von Zahlen undMengen analog und räumlich (von links nach rechts) orientiert sind. Befunde zuDistanzeffekt undSNARC-Effekt unterstützen die Annahme der räumlichen Orientierung der Zahlen ammentalenZahlenstrahl. DerKompatibilitätseffekt zeigt, dass der Zugriff auf diesemantische Größenrepräsentation bzw.Numerosität bei zweistelligen Zahlen nicht holistisch erfolgt, sondern separat für die Einer undZehner. Die Aktivierung derNumerosität kann auch automatisch erfolgen: Beim physischenZahlenvergleich kann die aufgabenirrelevantenumerische Größe zuInterferenzeffekten führen.
1.5.2 Rechenfertigkeiten
ArithmetischesFaktenwissen
assoziative Netzwerke
Wie bereits erwähnt, versteht man unter arithmetischen Fakten einfache Rechnungen mit einstelligen Operanden (z. B. 4 + 2; 4 – 2; 4 x 2). Arithmetisches Faktenwissen wird direkt aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen. Es herrscht weitgehend Übereinstimmung, dass die arithmetischen Fakten in Form von assoziativen Netzwerken organisiert sind (Ashcraft 1995). Dabei wird ein arithmetisches Problem (3 x 5) durch wiederholte Präsentation bzw. wiederholtes Üben mit der entsprechenden Antwort (15) assoziativ verknüpft. Über die Erwerbsprozesse und Schwierigkeiten beim Enkodieren oder Abruf arithmetischer Fakten wird in den Kapiteln 2 und 3 ausführlicher berichtet. An dieser Stelle soll die Organisation des Faktenwissens bei Erwachsenen erläutert werden. Besonders hervorzuheben ist, dass auch Erwachsene ohne Rechenstörung eine Vielzahl von Strategien beim Lösen einfacher arithmetischer Multiplikations- und Additionsfakten anwenden und bei weitem nicht alle als arithmetische Fakten gespeichert haben (z. B. LeFevre et al. 1996).
Multiplikationsfakten
Die klassische Form des numerischen Faktenwissens ist das kleine Einmaleins. McCloskey (1992) postuliert hier drei verschiedene Arten von Multiplikationsfakten.
(2) Sogenannte „ties“, das sind alle Multiplikationen, bei denen die beiden Operanden identisch sind (z. B. 3 x 3; 9 x 9). Empirische Befunde zeigen, dass diese Fakten besonders gut abgespeichert und besonders schnell abrufbar sind (s. McCloskey 1992; LeFevre et al. 1996).
(3) Bei allen übrigen Multiplikationsfakten muss jede einzelne Rechnung assoziativ erlernt und abgerufen werden.
Tafelsuchmodell
Das sogenannte Tafelsuchmodell ist eine grafische Darstellung dieser assoziativen Netzwerkmodelle, anhand derer die mentale Organisation der arithmetischen Fakten sowie bestimmte Reaktionszeitphänomene und Fehlertypen beim Faktenabruf veranschaulicht werden können (Ashcraft 1995; s. Abb. 1.8).
Abb. 1.8: Tafelsuchmodell. Schematische Darstellung eines Operandenfehlers (gestrichelte Linie) im assoziativen Netzwerk der Multiplikationsfakten. Die korrekte Lösung ist durch durchgehende Linien gekennzeichnet
Personen mit guten Rechenleistungen fällt es schwer, aufgabenirrelevantes Faktenwissen zu unterdrücken. In einer Studie von Thibodeau et al. (1996) sollte entschieden werden, ob zwei hintereinander präsentierte Zahlenpaare identisch sind. Es zeigte sich, dass die Personen langsamer waren und ungenauer reagierten, wenn auf das erste Zahlenpaar (z. B. 3 4) ein zweites Zahlenpaar (z. B. 1 2) folgte, das ein Produkt der beiden vorher gezeigten Zahlen war (3 x 4; 12). Auch wenn die falsche Antwort das Produkt einer benachbarten Multiplikation war (sogenannte Operandenfehler, s. folgender Absatz), waren Interferenzeffekte – längere Reaktionszeiten und höhere Fehlerraten – beobachtbar (3 x 4; 15; Galfano et al. 2003). Dagegen wurde schneller und genauer geantwortet bei Ablenkern, die nicht aus der Multiplikationsreihe der beiden Stimuluszahlen kamen (3 x 5; 17). Dieser Reaktionszeiteffekt, der die automatische Aktivierung von gespeichertem Multiplikationswissen reflektiert, konnte auch bei Kindern (Kaufmann et al. 2004) sowie bei älteren Personen und Personen mit minimaler kognitiver Dysfunktion beobachtet werden (Zamarian et al. 2007).
Operandenfehler
Produktions- undVerifikationsaufgaben
Problemgrößeneffekt
Die Auftretenswahrscheinlichkeit von Operandenfehlern wird durch den Problemgrößeneffekt (Zbrodoff / Logan 2005) moduliert. Dieser besagt, dass Aufgaben mit größeren Operanden (z. B. 7 x 8) fehleranfälliger sind und auch langsamer bearbeitet werden als Aufgaben mit kleinen Operanden (z. B. 3 x 4). Eine Sonderstellung in Bezug auf die Problemgröße nimmt die 5er-Reihe der Multiplikationen ein (z. B. 6 x 5) sowie sogenannte „ties“, das sind Multiplikationsfakten mit zwei identischen Operanden (z. B. 6 x 6). Diese Fakten sind offenbar besonders gut gespeichert und können daher besser und schneller abgerufen werden als andere (LeFevre et al. 1996). Wie bereits weiter oben erwähnt, kann das arithmetische Faktenwissen je nach Operationsart unterschiedlich beeinträchtigt sein. Dies gilt sowohl für entwicklungsbedingte Dyskalkulie (z. B. Kaufmann 2002) als auch für erworbene Rechenstörungen.
Prozedurales arithmetisches Wissen
Unter prozeduralem Wissen versteht man das Wissen um das Ausführen von Lösungsalgorithmen bzw. das Wissen um die richtige Abfolge von Lösungsschritten bei mehrstufigen und komplexen Rechnungen.