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Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! E-Book 1141: Zum Glück gehören zwei E-Book 1142: Ausnahmezustand E-Book 1143: Angst vor Gefühlen E-Book 1144: Das Drama um Sabine E-Book 1145: Liebe kann zur Falle werden E-Book 1146: Wenn das Herz nicht mitspielt … E-Book 1147: Keine Angst vor Dr. Lammers E-Book 1148: Ehrlich währt am längsten E-Book 1149: Sein weicher Kern E-Book 1150: Jede Liebe fordert Opfer E-Book 1: Zum Glück gehören zwei E-Book 2: Ausnahmezustand E-Book 3: Angst vor Gefühlen E-Book 4: Das Drama um Sabine E-Book 5: Liebe kann zur Falle werden E-Book 6: Wenn das Herz nicht mitspielt … E-Book 7: Keine Angst vor Dr. Lammers E-Book 8: Ehrlich währt am längsten E-Book 9: Sein weicher Kern E-Book 10: Jede Liebe fordert Opfer
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Seitenzahl: 999
Veröffentlichungsjahr: 2020
Zum Glück gehören zwei
Ausnahmezustand
Angst vor Gefühlen
Das Drama um Sabine
Liebe kann zur Falle werden
Wenn das Herz nicht mitspielt …
Keine Angst vor Dr. Lammers
Ehrlich währt am längsten
Sein weicher Kern
Jede Liebe fordert Opfer
»Der Krakowitz denkt ja auch, ihm gehört die Welt«, bemerkte Dr. Christine Lekutat in die Runde der Kollegen.
Zwei, drei Ärzte lachten. Nur der Klinikchef Dr. Daniel Norden blickte düster drein.
»Regel Nummer eins: Kommentare über Patienten stehen uns nicht zu.« Er durchbohrte die Kollegin mit Blicken. »Haben wir uns verstanden?«
»Aber wenn es doch wahr ist …«
»Kollegin Lekutat!«
»Schon gut«, gab sie endlich klein bei.
Dr. Norden konzentrierte sich wieder auf die Liste in seinen Händen. Hatte er auch alles besprochen, was für die kommende Spätschicht wichtig war? Ach ja, die Aufgabenverteilung.
»Dr. Gruber, Sie unterstützen den Kollegen Weigand in der Notaufnahme«, wies er den Assistenzarzt an. »Und Sie, Dr. Lekutat, übernehmen den Fall Krakowitz von Dr. Aydin.« Er nickte dem Kollegen zu, der sich einen Spaß daraus machte, Rollstuhlakrobatik zu betreiben. Manchmal fühlte sich Daniel wie im Kindergarten. Am Ende eines langen Tages hatte er weder Lust noch Kraft, sich mit solchen Kleinigkeiten auseinanderzusetzen. Zumal sich die Kollegen angesichts der harten Arbeit durchaus ein bisschen Spaß verdient hatten. »Mit dem nötigen Respekt, wenn ich bitten darf.«
»Ich bin ja nicht schwer von Begriff«, murrte die Chirurgin.
»Das gilt nicht nur für Sie.« Daniels Blick ruhte auf Milan Aydin.
Mit einem Knall landete der Rollstuhl auf den beiden kleinen Vorderrädern.
»Keine Angst, vor den Patienten begnüge ich mich mit einem Handstand Überschlag«, witzelte Milan. »Was denn? Seit wann ist es verboten, für ein bisschen Ablenkung zu sorgen?«
Wie erwartet hatte er die Lacher auf seiner Seite.
Dr. Norden schüttelte den Kopf.
»Ich kann nur hoffen, dass die Patienten ähnlich humorvoll sind wie Sie.« Ein letzter Blick auf die Aufzeichnungen. »Dann wünsche ich frohes Schaffen und Ihnen, Kollege Aydin, einen schönen Feierabend.«
Ein Raunen und Murmeln ging durch das Zimmer. Die Wünsche wurden erwidert, ehe die Kollegen das Besprechungszimmer allein oder in Grüppchen verließen und in unterschiedliche Richtungen davon strebten.
Nur Dr. Aydin schien es nicht eilig zu haben.
»Wie sieht es aus, Chef?« Er fuhr auf seinen Chef zu. »Lust auf einen Absacker heute Abend? Nicht weit von hier gibt es eine neue Bar. Die wollte ich schon die ganze Zeit ausprobieren. Aber allein macht das keinen Spaß.«
Daniel war an seinen Schreibtisch zurückgekehrt und packte ein paar Unterlagen in seine Tasche. Auch seine Frau Felicitas hatte heute Spätdienst. Daniel wollte die Zeit nutzen, um sich auf eine Gastvorlesung in der Uni zum Thema ›Medizin im Wandel der Zeit‹ vorzubereiten. Andererseits war die Aussicht auf ein leeres Haus nicht gerade verlockend. Die auf ein Feierabendbier umso mehr. Zudem lag ihm viel an einem guten Verhältnis zu seinen Mitarbeitern.
»Also gut. Ich bin dabei«, erklärte er sich einverstanden.
»Ich wusste, dass Sie nicht so spießig sind, wie Sie manchmal tun«, entfuhr es Milan. »Nur ein Spaß!«, versicherte er im nächsten Atemzug. »Dann sehen wir uns in einer halben Stunde im ›Babaloo‹?«
»Wenn Sie so viel Selbstbewusstsein haben, sich mit einem Spießer in der Öffentlichkeit zu zeigen.«
Milan lachte.
»Eins zu null für Sie.« Er hob die Hand zum Gruß, wendete in zwei Zügen und rollte zur Tür. »Ich freue mich.«
*
Auf dem Weg in die Notaufnahme zog Dr. Weigand zum gefühlt hundertsten Mal das Handy aus der Tasche und warf einen Blick darauf. Wieder nichts!
»Erwarten Sie einen Anruf?«, fragte der Assistenzarzt Benjamin Gruber, der mit wehendem Kittel versuchte, mit dem Kollegen Schritt zu halten.
Matthias steckte das Mobiltelefon weg und schickte ihm einen Seitenblick.
»Sport ist offenbar nicht Ihre Lieblingsbeschäftigung.« Innerlich klopfte er sich auf die Schulter. Was für ein gelungener Schachzug, um die lästige Frage abzuwehren!
Grubers Kopf leuchtete wie eine rote Ampel. Ein schrilles Piepen zerriss die Luft. Selten kam ihm ein Alarm so gelegen wie in diesem Moment. Selbst wenn das bedeutete, dass er noch einen Zahn zulegen musste.
Die beiden Ärzte wurden schon erwartet.
»Das hier ist Anette Pastor, 39 Jahre alt. Sie leidet unter krampfartigen Unterbauchschmerzen. Fieber 39,9, Übelkeit, Erbrechen und Diarrhoe«, teilte der Rettungsarzt Erwin Huber den Kollegen ein paar Minuten später mit.
Hartmut Pastor begleitete seine Frau.
»Sie hatte schon immer einen empfindlichen Magen«, teilte er den Ärzten unaufgefordert mit.
»Das Forellenfilet war nur ein paar Tage abgelaufen«, ächzte Anette. »Aber es hat wirklich noch gut gerochen.«
»Danke. Wir übernehmen.« Matthias nickte dem Notarzt zu und unterschrieb das Protokoll. »Angenehme Nachtruhe wünsche ich«, gab er Erwin mit auf den Weg.
»Ich liebe Ihre Witze, Kollege Weigand. Trotzdem hoffe ich, dass wir uns heute Nacht nicht mehr begegnen.«
»Also auch Nachtschicht?«
»Dann werde ich wenigstens nicht die ganze Zeit daran erinnert, dass ich allein in einem viel zu großen Bett liege.«
Wie viele andere Ärzte litt auch Erwin Huber unter seinem Singledasein. Früh-, Spät- und Nachtschichten, Dienst am Wochenende und unvermutete Notfälle waren nicht gerade das, wovon Frauen träumten. Spätestens nach dem dritten abgebrochenen Kino- oder Restaurantbesuch endeten selbst die Beziehungen, die hoffnungsvoll begonnen hatten.
Davon konnte auch Matthias Weigand ein Lied singen. Jahrelang war er auf der Suche nach seiner Traumfrau gewesen. Und jetzt, da er sie endlich gefunden hatte, standen sich Sophie und er selbst im Weg. Der letzte Streit schien final gewesen zu sein. Seitdem hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. Ob er es noch einmal versuchen, über seinen Schatten springen und sie um Verzeihung bitten sollte?
»Alles in Ordnung, Kollege Weigand?«
Matthias fühlte, wie ihn jemand an der Schulter rüttelte. Er zuckte zusammen. Kehrte ins Hier und Jetzt zurück.
»Natürlich. Alles klar. Ich musste nur gerade an etwas denken. Bis dann!«
Erwin Huber reckte den Daumen der rechten Hand in die Luft, ehe er sich wieder auf den Weg machte.
In der Zwischenzeit hatte Dr. Gruber die Patientin untersucht.
»Ich tippe auf eine Fischvergiftung«, teilte er dem Chef der Notaufnahme mit. »Vielleicht aber auch ein akuter Blinddarm.«
»Dann lassen Sie mal sehen.« Dr. Weigand nahm den Platz des Assistenzarztes ein. Legte die Hände auf den Bauch der Patientin. Besonders charakteristisch war der Loslassschmerz, der entstand, wenn die Hand des Untersuchers langsam den rechten Unterbauch eindrückte und rasch losließ. »Spüren Sie das, Frau Krakowitz?«
Anette sah hoch. Zuerst zu ihrem Mann, dann zu Matthias.
»Aber mein Name ist Pastor.«
»Verzeihung«, entschuldigte sich der Notarzt schnell und verscheuchte Sophie aus seinem Kopf. »Haben Sie das gespürt?«
»Ehrlich gesagt tut es überall gleich weh.«
Dr. Weigand zog ihr Shirt wieder herunter und wandte sich an seinen Kollegen.
»Ich denke, mit der Fischvergiftung liegen wir richtig. Gut gemacht, Gruber.«
Rote Flecken leuchteten auf Benjamins Wangen.
»Danke. Aber sollen wir nicht vorsichtshalber einen Ultraschall machen?«
»Ultraschall ist ohnehin wenig hilfreich bei einem Appendizitis-Verdacht. Dazu bräuchte es schon ein CT. Aber warum mit Kanonen auf Spatzen schießen, wenn die Diagnose feststeht?« Dr. Weigand ging hinüber zum Schrank und holte Stauschlauch und Kanülen heraus.
»So, Frau Pastor, Sie bekommen jetzt von mir eine Infusion gegen den Flüssigkeitsverlust.« Er setzte sich auf einen Hocker und rollte zur Liege. »Gleich piekst es ein bisschen.«
*
»Sie würden sich wirklich wieder so einen Gleitschirm umschnallen? Obwohl Sie damit abgestürzt sind?«, fragte Daniel Norden.
Er musste die Stimme nicht heben, um die Musik zu übertönen. Der Barjazz aus unsichtbaren Lautsprechern war nicht zu laut. Die Beleuchtung nicht zu hell. Das Ambiente weder zu sachlich noch zu modern. Kurzum: Die Bar war perfekt für ein gepflegtes Feierabendbier in angenehmer Atmosphäre.
Ohne Milan Aydin aus den Augen zu lassen, hob Daniel sein Bierglas an die Lippen. Der Schaum prickelte auf seiner Oberlippe. Den dezenten Malzaromen und Honignoten gelang es nicht, ihn vom Gespräch ablenken. Anders Milan. Er schien nicht ganz bei der Sache zu sein. Während er erzählte, wanderte sein Blick immer wieder hinüber zu der Blondine am anderen Ende des Raums.
»Natürlich«, antwortete er auf die Frage seines Chefs. »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«
Daniel wusste nicht, ob diese Phrase auf das Paragliden oder die junge Dame gemünzt war, sie sich den Schaum von der Lippe leckte. Licht aus unsichtbaren Quellen zauberte goldene Reflexe ins Rapunzelhaar. Und Milan Aydin bediente das Klischee und fiel mit Pauken und Trompeten darauf herein. Zumindest ließ sein Gesichtsausdruck darauf schließen. Daniel sah demonstrativ auf die Uhr.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass es Ihnen nichts ausmacht, wenn ich jetzt nach Hause gehe? Ich muss noch an meinem Vortrag feilen.«
Endlich gehörte ihm Milans ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Ich dachte, das wäre nur ein Spaß gewesen.«
»Mit so was mache ich keine Witze«, scherzte Daniel Norden und leerte sein Pils. »Aber ich bin mir sicher, dass Ihnen auch ohne mich nicht langweilig wird.« Er nickte hinüber zu der Blondine.
Das Lachen war ihr vergangen. Sie betrachtete ihr leeres Glas wie ein Kind ein zerbrochenes Lieblingsspielzeug. Diese riesigen Augen! Der Schmollmund! Kein Wunder, dass Milan schwach wurde. In einem anderen Leben, einer anderen Zeit wäre es Daniel Norden vielleicht ähnlich ergangen. Doch die Frau, die seiner Fee gefährlich werden konnte, musste erst noch geboren werden. Daniel war froh darüber.
»Nur kein Neid, Herr Kollege.« Milan deutete seinen Gesichtsausdruck falsch.
Lachend stand Daniel Norden auf.
»Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, Aydin. Aber ich bin froh, dass diese Zeiten ein für alle Mal vorbei sind.«
»Mir zu nahe treten?« Milan Aydin lachte mit seinem Chef. »Keine Sorge. Für mich gibt es keine schlimmere Vorstellung, als mein ganzes Leben mit einer einzigen Frau zu verbringen. Was mir da alles entgehen würde!«
»Ein Glück, dass wir alle verschieden sind.« Daniel bückte sich nach seinem Aktenkoffer und hob die Hand zum Gruß. »Ich wünsche noch einen angenehmen Abend.«
»Danke. Ich denke, dem steht nichts im Wege.« Aydin wartete eine Anstandsminute ab, ehe er dem Kellner winkte. »Ich möchte die Dame an der Bar kennenlernen«, machte er kein Geheimnis aus seinen Absichten. »Welchen Drink können Sie mir empfehlen?«
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
»Ein Cocktail zum Flirten sollte immer leicht sein«, erwiderte der Ober ohne den Anflug eines Lächelns. »Nicht zu schwer, um einzuschläfern. Aber auch nicht zu leicht, um locker genug zu werden um sein Gegenüber kennenzulernen und in Flirt-Laune zu kommen. Deshalb empfehle ich einen Rose & Berry.«
»Alle Achtung. Sie scheinen Ihr Geschäft zu verstehen.« Milan zwinkerte dem Kellner zu. »Wenn es nicht klappt, mache ich Sie persönlich verantwortlich.«
*
»Und du bist sicher, dass du nach Flensburg gehen willst?« Mit angezogenen Beinen saß Nina auf der Couch in der Wohnung, die Sophie Petzold nach der Trennung von Matthias Weigand allein mit ihrer kleinen Tochter Lea bewohnte. Mit dem Trinkhalm aus Metall rührte Nina in ihrem Glas Tee. Die Eiswürfel klirrten leise. Die Balkontür stand weit offen. Ein leises Brummen wehte herein. Beweis dafür, dass die Stadt hinter den Wohnblocks noch lange nicht schlief.
»Warum nicht?« Sophie zuckte mit den Schultern. »Solange Lea so klein ist, ist es ihr egal, wo sie wohnt. Und die Flensburger Klinik nimmt mich mit Kusshand.«
»Du weißt genau, was ich meine«, sagte Nina ihrer Freundin aus Jugendtagen auf den Kopf zu.
Sie lebte noch immer in dem kleinen Dorf. Hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen, wie Sophie gern über ihre Heimat lästerte. Schon lange hatte sie der Enge den Rücken gekehrt. Die Freundschaft zu Nina hatte trotzdem Bestand. Die beiden sahen sich nicht häufig. Doch selbst wenn Monate oder sogar ein Jahr zwischen den Treffen lag, fühlte es sich jedes Mal an, als wären nur ein paar Stunden vergangen. Niemand verstand Sophie besser als Nina. Noch nicht einmal sie selbst hatte einen so klaren Blick auf sich wie die Frau, die ihre Freundin war, seit sie sich beim Streit um einen Bagger die Sandschaufeln um die Ohren gehauen hatten.
Deshalb widersprach Sophie auch nicht, wie sie es bei jedem anderen getan hätte.
»Zwischen Matthias und mir ist es vorbei«, erklärte sie im Brustton der Überzeugung. »Ein für alle Mal.«
»Das habe ich schon mindestens vier Mal gehört. Und trotzdem seid ihr danach immer wieder zusammen gekommen. Oder habt euch gar nicht erst getrennt.« Der Trinkhalm gurgelte, als Nina den letzten Rest Eistee aufsaugte.
»Diesmal ist es wirklich vorbei.« Sophie klang nicht halb so überzeugend, wie sie es sich wünschte.
Nina schnitt eine Grimasse.
»An deiner Stelle würde ich mir das gut überlegen. Kein Mann hat es so lange mit Frau Neunmalklug ausgehalten wie Matthias. Und das will was heißen.«
Jeden anderen hätte Sophie nach so einer Bemerkung zum Teufel geschickt. Bei Nina ärgerte sie sich noch nicht einmal. Fromm wie ein Lamm saß sie im Sessel und drehte das Glas zwischen den Händen.
»Schon möglich. Aber so kann das nicht weitergehen. Wann immer wir aufeinanderprallen, gibt es Streit. Das will ich weder Lea noch uns antun.«
»Aber wenn ihr euch doch liebt … schon mal über eine Paartherapie nachgedacht?«
Sophie verdrehte die Augen und winkte lachend ab.
»Von solchen Psychospielchen halte ich nichts. Entweder man verträgt sich. Oder man passt einfach nicht zusammen.«
»Wie du meinst.« Eine von Ninas herausragenden Eigenschaften war ihr mangelnder missionarischer Eifer. »Sag mal, habe ich vorhin nicht eine Tafel Schokolade im Schrank gesehen? Wenn ich nicht sofort was zu essen bekomme, falle ich um.«
Sophie runzelte die Stirn.
»Du hast vor einer halben Stunde eine Pizza Quattro Formaggi verdrückt«, erinnerte sie ihre Freundin. »Du KANNST nicht hungrig sein.«
»Tut mir leid. Mein Magen ist anderer Meinung.« Nina beugte sich vor, machte sich ganz lang und stellte das Glas auf den Tisch. Sie entknotete ihre Beine und stand auf. »Hui, ein bisschen wackelig.« Halt suchend streckte sie die Hand aus. Hielt sich an der Wand fest.
»Das kommt davon, wenn man immer im Schneidersitz dasitzt. Das hemmt die Durchblutung der Extremitäten.«
»Jawohl, Frau Assistenzärztin«, spottete Nina gutmütig und wankte Richtung Küchenzeile.
Auf halbem Weg passierte es. Die Welt um sie herum begann sich zu drehen. Dabei hatte sie doch gar keinen Alkohol getrunken. Im Fallen griff sie reflexartig um sich. Erwischte das schmale Regal in der Ecke. Den Aufprall auf dem Boden bemerkte sie schon nicht mehr. Ein Glück, denn das Regal begrub sie unter sich.
*
Das Klingeln des Telefons weckte Dr. Weigand aus seinen Gedanken. Einen Moment lang starrte er auf das Diktiergerät in seiner Hand. Richtig! Er hatte Befunde diktieren wollen, als ihm Sophie in die Quere gekommen war. Wieder einmal! Er legte das Gerät weg und nahm das Telefonat an. Ein paar Minuten später war er auf dem Weg zu Anette Pastor. Er wurde schon sehnsüchtig im Behandlungszimmer erwartet.
»Puls 100, viel zu schnell«, informierte ihn der Kollege Gruber.
»Was sagt der Blutdruck?«
»100 zu 70. Viel zu niedrig bei dem Gewicht der Patientin.«
»Ich sage Anette schon die ganze Zeit, dass sie abnehmen soll. Aber nein, sie will ja nicht hören«, bemerkte Hartmut aus seiner Ecke.
Matthias musterte ihn einen Moment lang aus schmalen Augen.
»Apropos abnehmen. Was haben Sie heute gegessen? Außer verdorbenem Fisch, versteht sich.«
»Heute Nachmittag gab es Käse-Sahne-Torte. Das ist mir wichtig. Am Sonntagnachmittag gehört ein festlicher Kuchen auf den Tisch.«
»Ihre Frau ist bestimmt eine tolle Bäckerin«, entfuhr es Benjamin Gruber.
Hartmut Pastor wollte eben zustimmen, als sich Anette auf der Liege krümmte.
»Netti, was ist denn los mit dir?« Hartmut beugte sich über seine Frau.
Dr. Weigand schob ihn kurzerhand weg.
»Gruber, begleiten Sie Herrn Pastor hinaus!«
»Natürlich.« Benjamin legte den Arm um die Schultern des widerstrebenden Mannes.
Matthias kümmerte sich um seine Patientin. Leuchtete ihr mit der Taschenlampe in die Augen und redete beruhigend auf sie ein. Endlich beruhigte sich Anette ein wenig. Benjamin Gruber kehrte zurück.
»Wir haben inzwischen Aufnahmen vom gesamten Oberkörper gemacht.« Auf dem Schreibtisch lag ein Tablet. Er schaltete es ein und suchte nach den Bildern, die die Kollegen der Radiologie eingespielt hatten. »Hier sind sie ja.« Gruber reichte das Gerät weiter.
Matthias Weigand vertiefte sich in die Betrachtung.
»Wir haben es mit einer Bronchopneumonie zu tun. Die Lunge ist entzündet.«
Dr. Grubers Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
»Wie konnte das passieren? Hat sie Erbrochenes eingeatmet?«
»Schon möglich.« Matthias Weigand kehrte zu seiner Patientin zurück, nahm ihren Hals in Augenschein. Mit einem ziehenden Geräusch rang sie nach Luft. »Die Atemwegsmuskulatur ist gelähmt.«
»Das kann unmöglich eine normale Lebensmittelvergiftung sein.«
»Stimmt auffallend«, gab Weigand dem jungen Kollegen recht. Er beugte sich über Anette Pastor. Hob eines ihrer Augenlider und leuchtete mit der Taschenlampe hinein. »Frau Pastor, hören Sie mich? Können Sie mit mir sprechen?«
Anette schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Verzweifelt versuchte sie, ein paar Worte herauszubringen. Vergeblich. Mehr als ein Krächzen gelang ihr nicht.
»Trockener Mund, Sprachstörungen.« Dr. Weigand drehte sich zu seinem Assistenzarzt um. »Welche Diagnose stellen Sie?«
Benjamin dachte fieberhaft nach. Im Geiste ging er die endlosen Listen mit Symptomen durch, die er im Studium auswendig gelernt hatte. Seine Lippen bewegten sich lautlos.
»Ich tippe auf Botulismus. Das Bakterium Clostridium botulinum führt nach anfänglichem Erbrechen und Durchfall zu neurologischen Ausfällen wie Schluck-, Sprach- und Sehstörungen. In schweren Fällen kann die Vergiftung zu Atemlähmung und zum Tod führen.«
Dr. Weigand war in allen Punkten einverstanden.
»Sagte Frau Pastor nicht, sie hätte geräucherte Forelle gegessen?« Er erinnerte sich an einen Artikel im Ärzteblatt in der vergangenen Woche. »In letzter Zeit kommt es in Europa immer wieder zu Vergiftungen mit Räucherfisch, der mit Keimen von Clostridium botulinum belastet ist.« Er schaltete die Taschenlampe aus. »Wir brauchen eine Probe für die Serologie.«
»Ich rede mit Herrn Pastor. Vielleicht hat er die Packung noch zu Hause.«
»Beeilen Sie sich! Wenn Sie richtig liegen, haben wir keine Zeit zu verlieren.«
Wie zum Beweis japste Anette Pastor. Sie rang nach Luft, krümmte sich auf der Liege. Mit zwei, drei Schritten war Dr. Weigand wieder neben ihr. Ein Blick genügte.
»Schwester! Wir müssen intubieren.« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als der Monitor einen durchgehenden Alarmton ausstieß.
Matthias fuhr herum. Starrte auf die vier Linien des Überwachungsgeräts.
»Kammerflimmern! Den Defi! Schnell!«
Klappernd fiel der Tubus hinunter, hüpfte über den Boden und blieb an einem Schrankbein liegen. Schwester Irina lief in die Zimmerecke, wo der Defibrillator stand. In Windeseile schaffte sie das Gerät herbei. Verteilte ein durchsichtiges Gel auf den Elektroden und reichte sie dem Arzt.
»Und Schock!« Matthias setzte die Elektroden auf. Der Strom schoss durch Anettes Körper. Weigands Blick hing am Monitor. Nichts! Auch der Alarm schrillte unverändert. »Noch einmal!«, verlangte er. Gleich darauf atmete er auf. »Rhythmus ist wieder da.« Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Sein Blick ruhte auf der Patientin. »Hoffentlich beeilt sich Gruber mit der Serologie. Sonst kann ich für nichts garantieren.«
*
»Das war der Hammer.« Muriel rollte sich von Milan und musterte ihn aus stahlgrauen Augen. »Ich habe mich immer gefragt, wie das bei Rollstuhlfahrern funktioniert.«
»Wieso?« Milan drehte sich zu ihr. Er streckte die Hand aus und strich ihr eine Strähne aus der Stirn. Seine Augen lachten mit seinem Mund um die Wette. »An mir ist doch alles dran.«
»Das schon.« Muriel kicherte. »Außerdem hast du geschickte Finger. Zwischendurch dachte ich, du bist überall.«
»Ich war überall.«
Muriels Zeigefinger wanderte über seine behaarte Brust.
»Wenn dein Frühstück auch so gut ist, machst du dich unsterblich.«
»Das hoffe ich doch.« Milans Augen glitzerten, als er sich über sie beugte.
»Normalerweise bin ich ein braves Mädchen«, murmelte sie an seinen Lippen.
»Ein Glück, dass du heute eine Ausnahme gemacht hast.« Mund, Wangen, Nasenspitze. Er bedeckte gefühlt jeden Quadratzentimeter ihres Gesichts mit kleinen Küssen. Muriel schnurrte wie eine Katze.
»Ein Glück, dass ich dich gefunden habe.« Ihr Tonfall ließ eine Alarmglocke in Milans Kopf klingeln. Die Erinnerung an eine schrille Stimme. An unschöne Auseinandersetzungen, Eifersucht, Tränen. So etwas wollte er nicht erleben. Nicht schon wieder.
»Verlieb dich nicht in mich.« Er sagte es mit einem Lächeln.
Sie musterte ihn aus Augen, tief wie zwei Bergseen und genauso unergründlich. Plötzlich hustete sie.
Milan riss die Augen auf. Richtete sich auf.
»Bist du krank?«
»Was ist?« Der Zug um ihren Mund war spöttisch. »Hast du Angst, dass du Männergrippe bekommst? Unmöglich. Ich bin eine Frau.«
Wohl oder übel musste Milan lachen.
»Das habe ich gemerkt.«
Sie beugte sich über die Bettkante und angelte sich ihre Tasche. Kramte darin herum, bis sie eine kleine Dose fand. Die Tabletten darin klapperten, als sie sie öffnete und eine davon in die Hand fallen ließ.
»Hast du auch Durst?« Muriel schlug die Bettdecke zurück.
»Ein Glas Wasser wäre toll.«
»Kommt sofort.« So, wie Gott sie erschaffen hatte, schlenderte Muriel durch das Zimmer, sich der Blicke in ihrem Rücken wohl bewusst.
Milan konnte nicht anders. Er musste ihr einfach nachsehen. Konnte die Augen nicht von ihrem Anblick lösen, bis sie aus dem Zimmer verschwunden war. Wieder dieses Husten. Gleich darauf hantierte sie in der Küche. Er sah sie vor sich, wie sie auf der Suche nach Gläsern jeden Schrank öffnete. Er sah ihren Künstlerhänden dabei zu, wie sie den Wasserhahn öffneten und wieder schlossen. Gleich würde sie wieder in der Tür erscheinen und ihn mit ihrem Anblick verzaubern.
Ein Poltern, gefolgt von einem Schrei und dem Klirren von Glas zerriss das schöne Bild. Milan fuhr hoch.
»Muriel!«
Keine Antwort.
»Muriel!«
Wieder nichts. Mit angehaltenem Atem wartete er ab. Doch es war wie verhext. Kein Laut drang mehr an sein Ohr. Alles war still. Viel zu still. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die Beine aus dem Bett zu schwingen. Er zog den Rollstuhl zu sich, hievte den leblosen Unterbau hinein. Mit wenigen, kräftigen Handgriffen erreichte er die Tür. Er sah Muriel schon von Weitem. Sie lag bäuchlings auf dem Boden, das lange Haar umfloss ihren Kopf. Sie bewegte sich nicht.
*
Bis die Ergebnisse der Serologie vorlagen, gesellte sich Matthias Weigand zu seiner Kollegin Maria Maurer. Sie saß im Aufenthaltsraum an einem der Tische und blätterte in einer Frauenzeitschrift. Er ließ sich auf die mintgrüne Couch fallen. In der Mitte des Couchtisches thronte die 500-Gramm-Gebäckmischung eines unbekannten Herstellers. Einem Gerücht zufolge bestellte Dieter Fuchs – Verwaltungsdirektor der Behnisch-Klinik – diese Kekse für alle Abteilungen. Er bezahlte sie aus dem Budget für Verbrauchsmaterial, genau wie Seife, Papiertücher und Verbandmaterial. So schmeckten sie auch. »Fuchs könnte uns genausogut ein paar Kartons hinstellen. Das würde auch nicht weiter auffallen«, schimpfte er mit einem Mund voll Brösel.
Maria sah kurz hoch.
»Du könntest es mit Marmelade probieren. Ich habe welche mitgebracht.« Sie deutete auf das Glas, das vor ihr auf dem Tisch stand. »Aprikose. Selbstgekocht von meiner Oma.«
»Großartig. Ich liebe selbstgekochte Marmelade.« Matthias stemmte sich von der Couch hoch und wollte zur Tat schreiten, als der Pieper seinen Plan zunichtemachte. »Bleib sitzen. Ich gehe schon!« Er gab Maria ein Zeichen und machte sich auf den Weg.
Noch bevor er um die Ecke bog, hörte er es. Das war Sophies Stimme, die über den Flur hallte. Unverkennbar! Lea!, war sein erster Gedanke. Sein Herz setzte einen Schlag aus, um mit doppelter Geschwindigkeit wieder einzusetzen. Er fing an zu laufen.
»Um Gottes willen, Sophie. Was ist passiert?«
Sophie fuhr herum. Seit dem finalen Streit hatte sie Matthias nicht wiedergesehen. Doch sein Zauber wirkte immer noch. Ein Blick in sein Gesicht genügte, um ihre Knie in Pudding zu verwandeln.
»Nina.« Mit zitterndem Finger deutete sie auf ihre Freundin, die ein Rettungsfahrer hereinschob. Diesmal war es nicht Erwin Huber. »Sie ist einfach umgefallen. In meiner Wohnung. Und das Regal oben drauf.«
Matthias Weigand atmete tief durch. Er straffte die Schultern und konzentrierte sich auf die Patientin. Nahm das Klemmbrett mit den nötigen Informationen vom Kollegen in Empfang.
»Hallo, Nina! Ich wusste ja gar nicht, dass du im Lande bist.« Nebenbei überflog er die Angaben.
»Das ist schon mein dritter Abend und ich dachte, wir sollten uns mal wiedersehen.« Nina versuchte ein Lächeln.»Aber keine Angst. Es war nur ein schmales Regal.«
Matthias sah sie an.
»Du meinst das in der Küche? Das hat mich auch die ganze Zeit gestört.« Ein Blick hinüber zu Sophie.
»Was denn?«, begehrte die sofort auf. »Bin ich jetzt etwa wieder Schuld?« Als sie seinen Blick bemerkte, bereute sie ihre Worte sofort. Was war nur los mit ihr? Warum verstand sie ihn immer falsch?
Innerlich schüttelte Matthias den Kopf. Nein, die Trennung war kein Fehler gewesen. Es hatte sich nichts geändert. Aber was war das? Darüber dachte er auf dem Weg ins Behandlungszimmer nach.
»Tut mir leid. Das ist alles ein bisschen viel zur Zeit.« Sophies Stimme übertönte das Klappern der Transportliege. Matthias traute seinen Ohren kaum. Sie hatte sich tatsächlich entschuldigt!
»Schon gut.« Er lächelte. »Wo ist eigentlich Lea?«
Seine Sorge rührte Sophie.
»In ihrem Bett. Die Nachbarin hat das Babyfon übernommen.«
»Gut.« Sie hatten den Behandlungsraum erreicht. Matthias sah sich nach den Kollegen um. »Auf drei. Eins, zwei, drei.« Mit vereinten Kräften hoben sie Nina auf die Liege. Sie verzog das Gesicht. Ein leises Stöhnen entwich ihren Lippen.
»Keine Sorge. Bei Matthias bist du in den besten Händen«, entfuhr es Sophie. Als sie gewahr wurde, was sie da gerade gesagt hatte, biss sie sich auf die Unterlippe und senkte die Augen.
Nina lächelte ihre Schmerzen weg.
»Nichts anderes habe ich erwartet.«
»Darf ich Hand anlegen?«, fragte Matthias und schritt zur Tat, ohne eine Antwort abzuwarten. Er betastete Ninas Schulter. Sie verzog das Gesicht. Stöhnte erneut leise. Matthias nickte. »Die Schulter ist ausgekugelt. Das ist schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Um das wieder in Ordnung zu bringen, bekommst du eine kleine Narkose.« Er machte eine Notiz auf dem Formular, das auf dem Klemmbrett befestigt war. »Natürlich nur, wenn du einverstanden bist.«
»Ich würde dich verfluchen, wenn du das ohne Betäubung tun wolltest.«
Matthias Weigand sah schnell hinüber zu Sophie und wieder zurück.
»Verfluchen tust du mich wahrscheinlich auch so schon«, murmelte er und räusperte sich. »Um sicherzugehen, dass die Schulter nicht auch noch gebrochen ist, wird dich Schwester Irina vorher noch zum Röntgen bringen.«
»Aye, aye, Captain.« Nina zwinkerte ihm zu zum Zeichen, dass sie ihm wohlgesonnen war. Egal, was er dachte.
Doch da war Matthias schon auf dem Sprung zum nächsten Patienten. Dr. Grubers Konterfei leuchtete auf dem Display seines Handys auf.
*
»Botulinum Toxin Typ A«, teilte Benjamin dem Notarzt mit. Sein Atem keuchte im Apparat.
»Sehr gute Arbeit, Gruber. Ich erwarte Sie in drei Minuten bei der Patientin. Mit dem Anti-Serum, versteht sich.« Dr. Weigand legte auf und ließ das Mobiltelefon wieder in der Kitteltasche verschwinden.
Die Sohlen seiner Schuhe knirschten leise auf dem Boden. Langsam beruhigte sich sein törichtes Herz. Dafür begann sich das Gedankenkarussell aufs Neue zu drehen. Warum sah Sophie so mitgenommen aus? Litt sie etwa auch unter der Trennung? Tat es ihr ebenso leid wie ihm? Rang auch sie mit sich, ob sie einen Schritt auf ihn zugehen sollte? Fragen über Fragen, auf die er keine Antwort fand. Über die er immer noch nachdachte, als er vor Anette Pastor stand.
Das Beatmungsgerät pumpte Luft in ihre Lungen. Die Elektroden auf ihrer Brust zeichneten die Herztätigkeit auf. Alles deutete darauf hin, dass sich ihr Zustand stabilisiert hatte.
»Das Anti-Serum!«
Das Keuchen hinter ihm riss Matthias aus seinen Gedanken. Er zuckte zusammen. Fuhr herum und starrte den Kollegen Gruber verständnislos an.
»Wie bitte?«
»Das Anti-Serum!« Benjamin hielt das Fläschchen hoch.
»Ach so, natürlich.«
Unter den verwunderten Blicken seines Kollegen griff Dr. Weigand nach dem Medikament.
Durch den Venenzugang an ihrer Hand drückte er das Gegenmittel langsam in die Blutbahn seiner Patientin. Klappernd landete die leere Plastikkanüle im Abfall. Danach überprüfte und notierte er die Werte des Überwachungsmonitors und korrigierte die Tropfgeschwindigkeit der Infusion. Schließlich begann die schwierigste Phase vieler Behandlungen: Den Ärzten blieb nichts weiter übrig, als abzuwarten, ob die Therapie anschlug. Fast alle empfanden diese Stunden, manchmal Tage der Tatenlosigkeit als nervenaufreibend. In dieser Hinsicht unterschied sich der Notarzt nicht von seinen Kollegen. Im Normalfall. Doch was war in diesen Tagen schon normal? Nachdem Matthias seine Notizen in der elektronischen Akte vermerkt hatte, blieb er einfach auf dem Hocker sitzen und starrte vor sich hin.
Benjamin Gruber beobachtete ihn.
»Alles in Ordnung, Dr. Weigand?«
Es dauerte, bis seine Frage zu dem Kollegen durchdrang. Matthias nickte langsam.
»Ja, ja, alles gut. Gehen Sie nur. Ich bleibe hier und passe auf unsere Anette auf.«
Benjamin blieb nichts anderes übrig, als der Anweisung nachzukommen. Gut fühlte er sich nicht dabei. Irgendetwas stimmte nicht mit Dr. Weigand. Wenn er nur gewusst hätte, was es war.
*
»Oh, Dan, es tut mir wahnsinnig leid. Aber mir ist gerade aufgefallen, dass ich mein Handy auf dem Esstisch liegengelassen habe.«
Daniel Norden atmete auf. »Und ich dachte schon, dass etwas Schlimmes passiert ist.« Seit dem Herzinfarkt seiner Frau saß ihm ständig die Angst im Nacken. Jeder ihrer Anrufe aus der Klinik trieben seinen Blutdruck in die Höhe.
»Aber das ist schlimm«, versicherte Fee. »Darauf sind die Passwörter gespeichert, ohne die ich nicht in die verschiedenen Systeme komme.«
Mit dem Hörer am Ohr stand Daniel vom Schreibtisch auf. Er verließ das Arbeitszimmer und ging hinüber ins Esszimmer.
»Manchmal frage ich mich, wie wir früher ohne all die elektronischen Hilfsmittel überlebt haben.«
Felicitas lachte leise.
»Die Frage enthält bereits die Antwort. Früher hatten wir keinen Computer und benötigten ergo auch keine Passwörter.«
Daniel lächelte.
»Ich liebe dich. Aber ich muss dich enttäuschen. Auf dem Esstisch liegt dein Lebenselixier nicht.«
»Dann vielleicht in der Küche auf der Theke. Oder im Wohnzimmer«, zählte Fee jeden Ort auf, an sie an diesem Tag kurz vor dem Aufbruch in die Klinik gewesen war. »Irgendwo dort muss es sein.«
Daniel hörte Stimmen im Hintergrund. Er verstand nicht jedes Wort. Nur so viel, dass Fee gebraucht wurde.
»Bist du so lieb und bringst es mir in die Klinik, wenn du es gefunden hast? Du bist ein Schatz. Kuss.« Dann war die Leitung unterbrochen.
Lächelnd machte sich Daniel Norden auf die Suche und fand das Telefon schließlich auf der Kommode im Flur. Wenig später war er unterwegs in die Klinik. Auf den letzten Metern verfolgte er einen Krankenwagen, der in die Notaufnahme abbog. Er parkte den Wagen und wählte den Weg über die Ambulanz, um etwas über den Notfall zu erfahren. Ein Rollstuhlfahrer kreuzte seinen Weg.
»Aydin? Was machen Sie denn hier? Ich dachte …« Daniels Blick fiel auf die leicht bekleidete Frau, die auf der Liege hereingerollt wurde. Das grelle Licht der Kliniklampen war alles andere als vorteilhaft. Trotzdem war die Frau aus der Bar schön wie Dornröschen. Ihr Schlaf schien ebenso tief zu sein.
Milan konnte die Gedanken von den Augen seines Chefs ablesen. Er schüttelte den Kopf.
»Sagen Sie nichts!«
»Hätten Sie nicht etwas pfleglicher mit ihr umgehen können?«
»Ich sagte: Sagen Sie nichts!«
Dr. Norden zog einen Mundwinkel hoch, ehe er sich an die Rettungsärztin wandte.
»Was meinen Sie? Ist der Kollege Aydin schuld an ihrem Zustand?«
Annabel Kunstmann sah kurz hoch, korrigierte die Blickrichtung etwas nach unten und musterte den Mann im Rollstuhl.
»Zwischendurch war sie kurz wach und hat über Übelkeit und Bauchschmerzen geklagt. Außerdem habe ich einen Hautausschlag festgestellt. Ihr Blutdruck ist beängstigend niedrig und reagiert nicht auf IV-Flüssigkeit«, zählte sie die Symptome auf, ehe sie sich wieder an den Klinikchef wandte. »Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Nein. Ich glaube nicht, dass ein Mann für diese Probleme verantwortlich ist.«
Milan Aydin schnitt eine Grimasse.
»Ist das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung?«
»Das können Sie sich aussuchen.« Annabel lächelte wie die Eiskönigin höchstpersönlich und hielt Dr. Norden das Protokoll zur Unterschrift hin. Ein paar Augenblicke später rumpelte der Krankenwagen vom Hof.
Unterdessen hatte sich Dr. Norden auf den Weg in die Kinderabteilung gemacht. Er lieferte das Mobiltelefon bei seiner Frau ab, tauschte ein paar Sätze mit ihr, gab ihr einen Kuss, ehe er in die Notaufnahme zurückkehrte.
Muriel lag ihm Behandlungszimmer. Sie war wieder bei Bewusstsein. Dr. Lekutat hatte die Behandlung übernommen. Inzwischen lagen die ersten Untersuchungsergebnisse vor.
»Das große Blutbild ist unauffällig, das Abdomen-CT ohne Befund«, teilte sie ihrem Chef im Nebenzimmer mit.
Daniel griff nach dem Tablet. Seine Augen glitten an den Zahlenkolonnen hinab.
»Was könnte ihr fehlen?«
»Fragt der König unter den Diagnostikern.« Dr. Lekutat schmunzelte.
Doch weder Daniel noch Milan Aydin war zum Lachen zumute.
»Vielleicht eine Arthritis. Eine begleitende Vaskulitis verursacht Nervenschäden«, machte Dr. Aydin einen Vorschlag.
Daniel Norden schüttelte den Kopf.
»Das würde keine Blutdruckprobleme auslösen.« Er legte den Zeigefinger an die Wange. Ließ sich alles durch den Kopf gehen, was er zu diesem Fall gehört hatte. »Frau …« Erst jetzt fiel ihm ein, dass er ihren Namen gar nicht kannte.
»Muriel«, erklärte Milan.
»Und wie weiter?«
Die beiden Männer sahen sich ratlos an.
Es war Christine Lekutat, die ihnen aus der Patsche half.
»Muriel Buri. Ein Name wie ein Fischgericht.«
Diesmal konnte sich Daniel ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Frau Buri hat über Bauchschmerzen geklagt. Vielleicht ist ein Karzinom dafür verantwortlich.«
»Dazu passt der Ausschlag nicht.« Milan ärgerte sich darüber, dass ihm die Punkte an Muriels Hüfte nicht aufgefallen waren. Aber hätte das etwas geändert?
»Stimmt«, musste Dr. Norden wohl oder übel einräumen. Seine Gedanken wanderten weiter. Noch einmal ging er im Geiste sämtliche Möglichkeiten durch. Vergeblich. »Problem ist Muriels Blutdruck. Wenn wir den nicht so schnell wie möglich in den Griff bekommen, war ihre Bekanntschaft mit Ihnen, Aydin, das letzte Abenteuer ihres irdischen Daseins. Ich schlage deshalb ein Breitbandantibiotikum vor. Außerdem brauche ich einen Hormontest und ein EKG.«
Dr. Aydin musterte den Klinikchef erstaunt.
»Heißt das, Sie übernehmen den Fall?«
»Wollen Sie?«
Schnell schüttelte Milan den Kopf.
»Nein. Ich bin froh, wenn Sie das tun.«
*
»Und? Wie sieht es aus?« Eine halbe Stunde später stand Dr. Weigand wieder am Bett seiner Patientin Anette Pastor.
Statt einer Antwort reichte Benjamin Gruber ihm das Tablet.
»Vor ein paar Minuten hat das Labor die aktuellen Werte geschickt.«
»Oh.« Matthias griff nach dem Gerät und scrollte sich durch die Zahlenkolonnen. »Das Antiserum schlägt gut an.«
Dr. Gruber wagte ein schüchternes Lächeln.
»Ich weiß.«
Auch Matthias lächelte.
»Dann wissen Sie sicher auch, dass Frau Gruber die Krise überstanden hat.« Er nickte anerkennend. »Gute Arbeit, Gruber. Und jetzt gehen Sie bitte und informieren Sie Herrn Pastor.«
»Gern.« Benjamin machte sich sofort auf den Weg. Er fand Hartmut Pastor im Aufenthaltsraum für die Angehörigen. Als der Arzt auftauchte, sprang Hartmut vom Stuhl auf. Tee schwappte über den Rand der Tasse.
»Kruzifix!«, schimpfte er. »Ist denn heute nicht schon genug passiert!« Dankend griff er nach der Serviette, die Benjamin ihm reichte.
»Halb so wild. Das trocknet wieder. Und Ihre Frau befindet sich auch auf dem Weg der Besserung.«
Pastor hielt in der Bewegung inne. Er sah den Assistenzarzt mit großen Augen an.
»Und das erzählen Sie mir so nebenbei?« Seine Mundwinkel zogen sich hoch. Er stellte die Tasse weg und fasste Benjamin an den Schultern. »Sie wissen gar nicht, wie froh ich bin. So eine Aufregung wegen ein bisschen Forelle! Davon stirbt man doch nicht gleich, oder?«
»Nein … ich meine … doch.« Benjamin schluckte. Er war nicht so der direkte Typ. Eher schüchtern und zurückhaltend. Noch immer fiel es ihm schwer, den Menschen die Wahrheit mitten ins Gesicht zu sagen. Aber auch das gehörte zu einem guten Arzt. Das musste er sich jeden Tag wieder ins Gedächtnis rufen. Er trat einen Schritt zurück. Hartmuts Hände fielen ins Leere.
»Ja, an dem bisschen Forelle hätte Ihre Frau sterben können.«
Pastor verging das Lachen.
»Das kann sie doch nicht einfach so machen.« Seine Augen suchten Dr. Grubers Blick. »Sie wissen ja sicher, wie das in einer langen Ehe so ist.«
Benjamin knetete die Hände.
»Ich … Ich bin nicht verheiratet.« Er hatte noch nicht einmal eine Freundin. Aber das musste Herr Pastor nicht unbedingt wissen.
»Ach ja, natürlich. Sie sind ja noch so jung.« Hartmut fuhr sich über die Stirn. »Ich fürchte, ich bin manchmal ganz schön ungeduldig mit Anette. Dabei will ich doch nur, dass alles wieder so wird, wie es früher zwischen uns war.«
Benjamin trat von einem Bein auf das andere. Er wusste, dass er der völlig falsche Ansprechpartner für Beziehungsfragen war.
»Dann ist ja jetzt vielleicht eine gute Gelegenheit, um in aller Ruhe darüber zu reden. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen. Ich muss wieder an die Arbeit.« Er nickte dem reuigen Ehemann zu und trat die Flucht an, bevor Hartmut auch nur Luft holen konnte.
*
An diesem Abend ging es hoch her in der Behnisch-Klinik. Dr. Weigand wollte eben in sein Büro abbiegen, als das Tablet unter seinem Arm klingelte. Die Kollegen aus der Radiologie hatten Nina Schöns Aufnahmen eingespielt. Sie standen zum Abruf bereit. Kurzentschlossen änderte er seine Pläne und machte sich auf den Weg zu ihr. Und zu Sophie! Dieser Gedanke ließ sein Herz höher schlagen. Doch Nina war allein im Behandlungszimmer. Sie lag auf der Liege und döste vor sich hin. Als sie die Schritte im Zimmer hörte, blinzelte sie ins Licht der Deckenleuchte. Sie erwiderte Matthias’ Lächeln.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er.
»Als hätte mich ein Regal angefallen.« Sie las in seiner Miene. »Sophie ist übrigens heimgegangen. Sie will die Nachbarin nicht so lange einspannen. Ich soll dich schön grüßen.«
Matthias spürte die Hitze im Gesicht. Schnell konzentrierte er sich auf den eigentlichen Grund seines Besuchs. Er griff nach dem Tablet. Auch die Kollegen, die sich anfänglich gegen die Einführung dieses elektronischen Hilfsmittels gesperrt hatten, waren zunehmend begeistert angesichts der vielen Vorteile, die es bot. Dass die lästige Aktensuche weitgehend der Vergangenheit angehörte, war nur einer der Vorzüge. Viele Informationen konnten die Ärzte direkt am Krankenbett erfassen und mit der eingebauten Kamera Fotos für die Wunddokumentation aufnehmen. Änderungen der Medikation eines Patienten flossen unmittelbar in die digitale Patientenakte und waren dort für alle Beteiligten abrufbar. Genau wie die Bilder aus anderen Abteilungen.
»Wie ich vermutet habe. Du hast dir eine vordere Schulterluxation angelacht, aber keine Fraktur. Man könnte sagen, du hattest Glück im Unglück.« Er wischte noch ein paar Mal über den Bildschirm, als traute er seiner eigenen Diagnose nicht.
Nina sah ihm dabei zu.
»Bist du sicher? So weh, wie es tut?«
»Das ist ganz normal bei dieser Art von Verletzung.« Matthias drückte auf die Klingel am Kopfende der Behandlungsliege. »Du wirst sehen: Wenn alles wieder an seinem Platz ist, geht es dir besser.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.« Sie sah ihm zu, wie er eine durchsichtige Flüssigkeit aus einer Plastikkanüle in den Zugang in ihrem Arm drückte. Sein Blick ruhte auf dem Überwachungsmonitor. In schönster Regelmäßigkeit eilten die Linien über den Bildschirm.
Vom Flur wehten Schritte herüber und kamen schnell näher. Schwester Astrid und ihre Kollegin Josepha betraten das Zimmer. Ausgerechnet die Lästerschwestern! So konnte er sicher sein, dass alles, was im Zusammenhang mit diesem Fall passierte, blitzschnell die Runde in der Klinik machte. Innerlich rollte Dr. Weigand mit den Augen. Äußerlich blieb er völlig ruhig. Nickte den beiden zu und erklärte den Fall. Im nächsten Augenblick konzentrierte er sich schon wieder auf Nina.
»Jetzt zählst du bitte langsam von zehn rückwärts.«
»Zehn? Glaubst du, das reicht? Also schön. Zehn. Neun. Acht …« Ihre Stimme verstummte.
Matthias lächelte. Er kannte dieses Phänomen aus eigener Erfahrung. Fast jeder Patient dachte, vor Aufregung nicht einschlafen zu können. Um sich schneller als gedacht den mächtigen Medikamenten geschlagen zu geben.
Nachdem er sich versichert hatte, dass Nina tief und fest schlief, trat er auf die andere Seite der Liege.
»Ich werde jetzt die Schulter reponieren. Ziehen Sie bitte das Tuch straff und halten Sie es ganz fest.« Er drückte Astrid die beiden Enden eines grünen Tuchs in die Hand, das er zuvor unter Ninas Mitte geschoben hatte. »Sie übernehmen bitte den Sauerstoff«, wies er Josepha an. Anschließend klemmte er ein Handtuch unter Ninas Achsel. Er griff nach ihrem Arm. »Abduktion. Außenrotation. Elevation.« Ein Ruck, und die Kugel rutschte zurück ins Gelenk. Im selben Moment klopfte es. In seinem Rücken öffnete sich die Tür. Eine Kollegin kam herein und drückte Josepha ein Klemmbrett in die freie Hand. Sie warf einen Blick auf das Formular.
»Glukose bei 2,8«, stieß sie hervor.
Als Krankenschwester wusste sie um die Bedeutung dieses Wertes.
Genau wie Matthias Weigand. Er legte den Arm der Patientin zurück auf die Liege und nahm das Klemmbrett, das Josepha ihm hinhielt.
»Unterzuckerung?« Er kratzte sich am Kinn. »Ich wusste nicht, dass Nina Diabetikerin ist.«
»Sie kennen die Patientin?«, fragte Astrid scheinheilig.
»Sie ist eine Freundin von Sophie … Ich meine, von Dr. Petzold«, murmelte Matthias, ohne von dem Blatt aufzusehen. »Narkose ausleiten! Glukose 40%! Schnell!«, befahl er.
In Windeseile kümmerte sich Josepha um die Anweisung, drückte die Lösung in den Zugang.
Matthias sah ihr dabei zu. Er dachte nach.
»Vielleicht ist sie Diabetikerin und weiß es noch nicht«, mutmaßte Astrid.
»Möglich«, erwiderte Dr. Weigand. Doch mehr als eine Vermutung war das nicht.
*
Graue Schatten flackerten über den Monitor des Ultraschallgeräts. Bevor Milan Aydin studiert hatte, war es ihm wie allen anderen normalen Sterblichen auch ergangen. Es war ihm ein Rätsel gewesen, wie man in diesem Wirrwarr Gefäßverschlüsse, Wasseransammlungen und solche Dinge mehr entdecken konnte. Erst viele Jahre später und nach unzähligen Stunden intensiver Schulung hatte sich der Nebel endlich gelichtet. Jetzt sah er klar und verfolgte Dr. Nordens Bemühungen wie einen spannenden Krimi.
Muriel schien das alles herzlich wenig zu interessieren. Mit vom Fieber feuchter Stirn lag sie im Bett. Diverse Schläuche führten von ihrem Körper hinüber zum Überwachungsmonitor. In den Venenzugang ihrer Hand tropfte eine farblose Flüssigkeit. Ein Hustenanfall schüttelte ihren Körper. Daniel half ihr, sich aufzusetzen.
»Geht es wieder?«
»Ja.«
Sie klang wenig überzeugend.
Unter dem kritischen Blick seines Kollegen setzte Dr. Norden die Untersuchung fort. Schwester Elena saß neben dem Bett und nahm Blut ab.
»Der Test wird uns sagen, ob Ihre Hypophyse und Ihre Nebennieren richtig funktionieren.«
Aufklärung war noch immer das beste Mittel, um Vertrauen zwischen Patient und Arzt herzustellen. Studien hatten zudem bewiesen, dass informierte Kranke mit weniger Ängsten zu kämpfen hatten und schneller wieder gesund wurden.
Muriel schien derselben Ansicht zu sein.
»Und was heißt das genau?«, hakte sie nach.
Mit einem Blick gab Elena diese Frage an ihren Freund und Chef weiter.
»Wir haben ein paar Theorien, denen wir nachgehen.«
Muriels Bergseeaugen weiteten sich.
»Das heißt, Sie haben keine Ahnung, was mir fehlt?«
»Ganz ruhig!«, mischte sich Milan in das Gespräch ein. »Du willst doch sicher nicht gegen Schweinegrippe behandelt werden, wenn du eigentlich an der Beulenpest leidest.« Ein typischer Aydin!
Muriel verdrehte die Augen.
»Haha! Bist du immer so ein Witzbold?«
»Nein. Nur manchmal.«
Daniel Norden zupfte ein Papiertuch aus dem Spender und reinigte den Schallkopf vom Gel.
»Wenigstens habe ich eine gute Nachricht. Ihr Herz ist in Ordnung.«
Als Antwort hustete Muriel.
»Bist du so lieb und gibst mir meine Pillen?« Sie deutete hinüber zur Tasche auf dem Stuhl vor dem Fenster.
Milan rollte hinüber und brachte ihr die Tasche.
»Was nimmst du da?« Mit dieser Frage kam er seinem Chef zuvor.
»Keine Ahnung.« Ehe einer der Ärzte sie daran hindern konnte, steckte sie die kleine, runde Tablette in den Mund und schluckte sie hinunter. »Die hat mir meine Mitbewohnerin gegeben. Irgendwas gegen Husten.« Sie wollte die Dose wieder in der Tasche verschwinden lassen.
Doch Milan war schneller.
»Hey, was soll das?«
»Ich kümmere mich nur um dich, Liebling. Sonst nichts.« Hinter Muriels Rücken drückte er Daniel die Dose in die Hand.
»Nenn mich nicht Liebling!« Ihre Augen feuerten wütende Blitze auf Milan ab. »Wer hat vor ein paar Stunden noch zu mir gesagt, dass ich mich nicht verlieben soll?«
Daniel und Elena wandten sich ab und sahen sich an. Beide pressten die Lippen aufeinander, um nicht laut herauszulachen.
»Ich bringe das Blut ins Labor«, sagte Elena schnell.
»Ich komme mit. Habe was zu erledigen«, erwiderte Daniel und schloss die Hand fest um die Plastikbüchse in seiner Hand.
*
Der Überwachungsmonitor piepte leise vor sich hin. Alles im grünen Bereich, wie Dr. Weigand nach einem Blick auf die Zahlen feststellte, die hin und her sprangen wie die Aktienkurse an der Börse. Er beugte sich über Anette Pastor. Zog nacheinander ihre Augenlider hoch und prüfte mit der Taschenlampe den Pupillenreflex. Er gab Auskunft über die Hirnaktivität und das Bewusstsein und ließ einen Schluss auf den Zustand seiner Patientin zu.
»Es wird noch etwas dauern, bis sich die Lähmungserscheinungen zurückgebildet haben und Sie wieder richtig sprechen können«, sagte er zu seiner Patientin.
Dr. Gruber war bei ihm und tippte die gewonnenen Erkenntnisse in das Tablet ein.
»Wir nehmen gleich noch einmal Blut ab«, fuhr Matthias fort.
Die Tür öffnete und schloss sich wieder. Schritte näherten sich. Während Dr. Weigand den Stauschlauch um den Oberarm schlang, warf er einen Blick über die Schulter.
»Ach, Herr Pastor«, begrüßte er Anettes Ehemann.
Doch Hartmut hatte nur Augen für die Ampullen, in die der rote Lebenssaft sprudelte.
»Warum müssen Sie noch einmal Blut abnehmen? Ich dachte, meine Netti ist auf dem Weg der Besserung.«
»Eine reine Routinemaßnahme.« Matthias legte die Ampullen in eine Nierenschale. Er zog die Nadel aus Anettes Arm und bat sie, den Tupfer fest auf die Einstichstelle zu drücken. »Wenn Ihre Frau sich weiter so gut erholt, kann sie in ein paar Tagen nach Hause gehen.«
Hartmut riss die Augen auf.
»In ein paar Tagen erst? Ich dachte, ich kann sie morgen früh wieder mitnehmen.«
»So schnell geht es dann doch nicht.« Das Handy vibrierte in Matthias’ Tasche. Vielleicht Sophie! Zu dumm, dass er das Gespräch nicht annehmen konnte. »Wir wollen doch kein Risiko eingehen.«
Er nickte Hartmut Pastor zu und wollte das Zimmer verlassen. Das Telefon vibrierte immer noch. Er spürte es deutlich am Bein. Fast so, als ob Sophie darüber streicheln würde.
»Dr. Weigand?«
Verdammt! Was wollte dieser Gruber denn noch?
»Was gibt es denn noch?«, fragte er schärfer als beabsichtigt zurück. Er bemerkte es an den irritierten Mienen.
Benjamin Gruber räusperte sich.
»Sollten wir nicht sichergehen, dass Folgeschäden ausgeschlossen sind?«
»Ja. Ja, natürlich.« Matthias hatte Mühe, seinen Unwillen über diese Bloßstellung zu verbergen. »Melden Sie Frau Pastor beim Neurologen an.«
Dr. Gruber lächelte und machte einen entsprechenden Vermerk in der elektronischen Patientenakte.
»Ich kümmere mich sofort darum«, versprach er und verließ das Zimmer.
Das Vibrieren hatte inzwischen aufgehört. Doch Matthias wollte wenigstens nachsehen, ob seine Vermutung richtig war.
»Ich lasse Sie jetzt mit Ihrer Frau allein«, sagte er zu Hartmut. »Falls Sie etwas brauchen, rufen Sie bitte die Schwester.« Ein letztes Nicken, dann war auch er zur Tür hinaus.
Anette verfolgte ihn mit den Augen. Hartmut trat ans Bett seiner Frau.
»Ein paar Tage gleich«, seufzte er. »Weißt du eigentlich, was das für mich bedeutet? Alles muss ich allein machen. Und niemand da, der für mich kocht. Wie soll ich das überstehen?«
Ein Glück, dass Anette nicht antworten konnte. Es genügte, dass sie einfach die Augen schloss.
*
»Bin ich froh, dass wir die wilden Jugendzeiten längst hinter uns haben.« Mit einer Tasse Kaffee in der Hand saß Daniel Norden im Büro seiner Frau. Eigentlich hatte er vorgehabt, bald heimzugehen. Doch ehe er keine Gewissheit über Muriel Buris Krankheit hatte, würde er ohnehin keinen Schlaf finden. Da konnte er auch genausogut hierbleiben.
Im Gegensatz zum Rest der Klinik herrschte auf der Kinderstation wohltuende Ruhe. Eine gute Gelegenheit, um Neuigkeiten auszutauschen und über das Leben zu philosophieren.
Felicitas musterte ihren Mann mit schief gelegtem Kopf. Solche Sätze aus seinem Mund hatten meist einen aktuellen Anlass.
»Lass mich raten: Ein betrunkener Teenager hat in der Notaufnahme randaliert? Oder nein, halt!« Sie hob die Hände. »Ich weiß es. Eine 16-jährige hat Angst, schwanger zu sein und wollte die Pille danach haben.«
»Falsch und falsch.« Daniel trank einen Schluck. Er betrachtete die Milchränder in der Tasse. »Unser lieber Kollege Aydin konnte es mal wieder nicht lassen. Er hat eine hübsche Blondine abgeschleppt.«
»Ah, daher weht der Wind.« Fee angelte sich einen Keks aus der Schale auf dem Couchtisch. Keinen von denen, die Dieter Fuchs gekauft hatte. Ihre stammten aus der Bäckerei ihrer Schwiegertochter und schmeckten nach Sonntagnachmittag im Café ›Schöne Aussichten‹. »Du bist doch nicht etwa neidisch?« Sie knabberte an der Baiserkruste.
»Ganz im Gegenteil.« Daniel beugte sich vor. Er streckte die Hand aus. Über den Couchtisch hinweg streichelte er über Fees Wange. »Die Frau, die dir das Wasser reichen kann, muss erst noch geboren werden.«
»Stimmt nicht.« Felicitas wackelte mit dem Zeigefinger vor seiner Nase herum. »Deine Töchter sind schon auf der Welt. Aber die laufen außer Konkurrenz.«
»Wenn Aydin es wagte, einer der beiden den Hof zu machen, würde ich ihn feuern«, knurrte Daniel überraschend grimmig.
Fees Augen wurden schmal.
»So schlimm? Was hat er denn angestellt?«
»Seine Flamme ist mit undefinierbaren Symptomen in der Klinik gelandet.« In diesem Moment war er zu müde für ausführliche Erklärungen. »Ich warte auf Laborergebnisse.« Wieder ein Schluck Kaffee.
»Und ich dachte, du bist hier, weil du mich sehen wolltest.« Fee lachte leise.
Daniel überlegte noch, wie er ihren Scherz parieren konnte, als sein Telefon klingelte.
»Ja, Norden«, meldete er sich.
Schwester Elena ließ ihn kaum ausreden.
»Frau Buri geht es schlechter. Und die Ergebnisse aus dem Labor sind da.«
»Ich komme sofort.«
*
Sophie hatte nicht angerufen. Irgendeine unbekannte Nummer leuchtete auf dem Display seines Handys auf. Mit verkniffener Miene steckte Matthias Weigand das Telefon wieder ein. Im Gegensatz zu seinem Chef konnte er noch nicht einmal an eine Ruhepause denken. Das Lächeln auf seinem Gesicht war nicht echt, als er das Zimmer von Sophies Freundin betrat. Nina dagegen freute sich ehrlich über seinen Besuch.
Obwohl es schon nach Mitternacht war, war an Schlaf nicht zu denken.
»Nanu, du bist ja immer noch wach.«
»Das macht die Aufregung. Ich bin überhaupt nicht müde.«
»Das wird sich übel rächen«, prophezeite Matthias Weigand. »Spätestens, wenn dich die Schwestern morgen früh um sechs Uhr aus dem Bett werfen.«
Nina lachte.
»Gut, dass ich im Hier und Jetzt lebe.«
»Womit gleich meine nächste Frage beantwortet wäre. Du fühlst dich offenbar gut.« Matthias trat ans Bett und beugte sich über sie. »Achtung, jetzt wird es kalt.« Um sie nicht zu sehr zu erschrecken, rieb er die Hände, um sie wenigstens ein bisschen auf Temperatur zu bringen.
»Es tut fast gar nicht mehr weh«, erwiderte Nina. Mit stoischer Ruhe ließ sie die Untersuchung des Arztes über sich ergehen.
»Schwester Astrid hat dir einen Gilchrist-Verband angelegt. Sehr gut.« Er prüfte den Sitz der Gurte. »Du musst dich auf jeden Fall noch schonen.«
»Dein Wunsch ist mir Befehl.«
Statt auf den scherzhaften Ton einzugehen, kräuselten sich Falten auf Matthias’ Stirn.
»Das trifft sich gut. Dann wirst du mir sicher auch verraten, ob du Diabetikerin bist.«
Nina legte den Kopf schief.
»Wie kommst du denn auf so eine Idee?«
»Während der Narkose bist du in eine Unterzuckerung gefallen.«
»Das ist ja komisch … obwohl …« Nina dachte nach. »Wenn ich so darüber nachdenke, hatte ich in letzter Zeit öfter mal Probleme mit dem Blutzucker.«
Manchmal, wenn er besonders aufmerksam war, kribbelte die Haut in Matthias’ Nacken. Ganz so, als wollten sich die feinen Härchen aufstellen. Genau wie in diesem Moment.
»Inwiefern?«, fragte er gespannt.
»Ich hatte immer mal wieder Heißhungerattacken. Wenn ich dann nicht schnell genug etwas Süßes zwischen die Zähne bekommen habe, ist mir schwindlig geworden.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ohnmächtig bin ich nie geworden. Heute zum ersten Mal.«
»Na gut.« Matthias Weigand hatte eine Entscheidung getroffen. »Das Einfachste ist, wenn wir einen Diabetes-Test machen. Dann haben wir wenigstens Gewissheit, mit welchem Feind wir es zu tun haben.«
»Gern. Ich bin ein Freund von klaren Verhältnissen.« Nina sah Matthias so durchdringend an, dass er sich fragte, was genau sie ihm damit sagen wollte. Doch er sprach diesen Gedanken nicht laut aus. Es war auch so schon alles kompliziert genug.
*
Im Laufschritt eilte Schwester Elena neben ihrem Freund her, der gleichzeitig Chef der Behnisch-Klinik war.
»Muriel hatte Kammerflimmern. Ein Glück, dass Dr. Aydin bei ihr war. Sonst hätten wir uns all die schönen Analysen sparen können.«
Daniel schickte ihr einen Seitenblick.
»Du weißt mehr als ich?«
»Das will ich meinen.« Elena lächelte grimmig. »Ich habe mir erlaubt, einen Drogentest anzuordnen.«
Daniel Norden blieb so abrupt stehen, dass er um ein Haar über seine eigenen Beine gestolpert wäre. Drogen? Natürlich! Warum war er nicht selbst auf diese Idee gekommen? Er ballte die Hand zur Faust.
»Ich hätte es wissen müssen.«
»Schon gut!«, winkte Elena ab. »Ich verstehe das schon. Bei einer schönen Frau wie Muriel denkt ein Mann an vieles, aber nicht unbedingt an Rauschmittel.«
»Schönheit verführt uns oft bei der Wahrheitssuche«, bemerkte Daniel und nahm das Blatt Papier, das Elena aus der Tasche gezogen hatte und ihm hinhielt.
»Und die Banalität des Lebens lacht uns dafür aus.«
Dr. Norden runzelte die Stirn.
»Bist du unter die Philosophen gegangen?«
Elena lachte, wenn auch nur kurz.
»Manchmal bleibt einem hier nichts anderes übrig, wenn man nicht verzweifeln will.«
Über diese Antwort musste Daniel erst nachdenken. Um Zeit zu gewinnen, faltete er das Blatt auseinander. Überflog das Ergebnis.
»Nachgewiesener Wirkstoff Methylendioxy-N-Methylamphetamin, kurz MDMA«, murmelte er. »Er ist bekannt dafür, zu einer erhöhten Kontaktfreude, großer Offenheit und Harmoniegefühlen zu führen.«
Daniel verzog den Mund. Für einen Moment fühlte er sich zurückversetzt in die Bar. Sah Muriel vor sich, ihren Augenaufschlag in Milans Richtung, die feuchten Lippen. »Das erklärt einiges.« Er fuhr sich über die Stirn, als wollte er die Erinnerung wegwischen.
»Aber das ist noch nicht alles.« Elena reichte ihm ein weiteres Papier, diesmal in einem Umschlag. »Lisa aus dem Labor hat mich vorab informiert. Frau Buris vermeintliche Hustentabletten werden eigentlich bei schweren Gichtanfällen angewendet.«
Daniel riss den Umschlag auf. Er zog das Blatt heraus.
»Colchizin. Ein Wirkstoff, der in der Natur in einer Pflanze mit dem schönen Namen ›Herbstzeitlose‹ vorkommt.« Er wiegte den Kopf. »Ich habe davon gehört, dass manche Mediziner dieses Mittel auch bei Asthma bronchiale einsetzen. Das würde erklären, warum Muriel diese Tabletten geschluckt hat.« Je näher sie Muriels Zimmer kamen, umso langsamer wurden Daniels Schritte.
Elena nickte. Doch sie wusste noch mehr.
»Rein zufällig war ich vor ein paar Tagen auf einem Elternabend meines Sohnes. Thema war, o Wunder, Drogenmissbrauch bei Teenagern. Dabei kam auch das Thema Ecstasy zur Sprache.« Sie musterte ihren Freund mit gewichtiger Miene. »Weißt du, mit welcher Substanz MDMA gern gestreckt wird?«
»Mit Colchizin?« Daniels Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Muriel konsumierte Ecstasy und damit den Wirkstoff der Herbstzeitlosen, den auch die Hustentabletten enthielten. Eigentlich war es ganz einfach. »Sie hat eine Überdosis geschluckt. All die Symptome, mit denen wir zu kämpfen haben, sind eine Folge des Colchizins.« Nicht nur eine, sondern gleich ein ganzes Meer an Falten türmte sich auf Dr. Nordens Stirn auf. »Da wird unser Milan aber Augen machen«, knurrte er und stürmte an Elena vorbei ins Zimmer.
*
Schwester Irina klopfte an die halb offen stehende Tür des Büros. Von hier aus hatte sie einen Blick auf Matthias Weigand. Er saß am Schreibtisch und starrte auf sein Mobiltelefon. »Dr. Weigand, kommen Sie bitte zur Patientin Pastor!«
Keine Reaktion.
»Dr. Weigand! Frau Pastor braucht Sie«, wiederholte Irina lauter.
Wie ertappt zuckte Matthias zusammen. Er drückte Sophies Bild weg und ließ das Telefon in der Kitteltasche verschwinden. Wie lange er so dagesessen war, wusste er nicht. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es lange gewesen sein musste.
»Ich komme sofort.«
Matthias hielt Wort. Nur ein paar Minuten später betrat er Anette Pastors Zimmer.
»Und?«, fragte er Dr. Gruber, der ihm entgegenkam.
Benjamin drückte ihm das Tablet in die Hand.
»Temperatur konstant auf 39 Grad. Ich geh mal schnell für Königstiger.«
Matthias Weigand unterdrückte ein Seufzen, als er ans Bett seiner Patientin trat. Warum musste das Leben nur so kompliziert sein?
»Frau Pastor, wo haben Sie denn die Schmerzen?«
Anette zog eine Hand unter der Bettdecke hervor und deutete auf die rechte Bauchseite.
»Ungefähr hier.« Noch immer fiel ihr das Sprechen schwer. Doch zumindest war die Lähmung weiter zurückgegangen.
Dr. Weigand schaltete das Tablet ein.
»Sie waren doch schon auf dem Weg der Besserung«, murmelte er, während er den Namen der Patientin eintippte und die aktuellen Laborergebnisse aufrief. Beim Anblick der Resultate erschrak er.
»Die Leukozyten sind immer noch erhöht. Genauso wie der CRP-Wert.« Er blätterte vor und zurück. Doch wie er es auch drehte und wendete, das Ergebnis blieb dasselbe. Mit einem Schlag war jeder andere Gedanke aus seinem Kopf verschwunden. »Bitte zeigen Sie mir noch einmal genau, wo es weh tut.«
»Aber das habe ich doch schon«, reklamierte Anette Pastor. Ihre Augen schwammen in Tränen.
»Gut. Dann untersuche ich Sie jetzt noch einmal.« Matthias legte das Tablet weg und die Hände auf Anettes linke untere Bauchseite. Er drückte zu und ließ wieder locker. »Tut das weh?«
»Alles tut weh. Überall«, jammerte seine Patientin. Eine Träne rann über ihre Wange.
Matthias’ Herz schlug schneller. Ein schrecklicher Verdacht kam ihm in den Sinn. Er erinnerte sich an das Aufnahmegespräch. An Dr. Grubers Vorschlag, ein CT machen zu lassen, den er rigoros abgelehnt hatte. Mit welchen Folgen?
»Ich probiere jetzt etwas anderes aus.« Wieder drückte er zu. Diesmal auf den rechten Oberbauch unterhalb des Rippenbogens. »Und jetzt atmen Sie bitte tief ein.«
Anette versuchte es. Unwillkürlich spannte sie die Bauchdecke an. Ein Stöhnen entwich ihren Lippen. Dr. Weigand wurde es heiß und kalt. Wie hatte das passieren können? Ausgerechnet ihm? Dem Anleiter der Assistenzärzte. Er sah, wie seine Hände zitterten. Schnell zog er sie zurück.
»Ich … ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
Im nächsten Augenblick stürzte er aus dem Zimmer. Anettes Schluchzen folgte ihm.
*
Nach dem Besuch bei Muriel Buri war Dr. Daniel Norden auf menschenleeren Fluren unterwegs in sein Büro. Nur hier und da huschte eine Schwester auf leise quietschenden Gummisohlen über den Gang. Aus dem Schwesternzimmer drangen verhaltene Stimme. Wieder einmal fiel Daniel auf, dass die Menschen leiser sprachen, wenn es dunkel war. Erklären konnte er sich dieses Phänomen nicht. Vielleicht lag es daran, dass Dunkelheit gleichbedeutend mit Ruhe war. Automatisch hielt er die Luft an, schlich auf Zehnspitzen an dem Zimmer vorbei. Dabei fiel sein Blick auf die Uhr über der Tür.
Der kleine Zeiger marschierte auf die drei zu. Daniel zögerte. Was sollte er tun? Nach Hause fahren? Mehr als zwei, drei Stunden Schlaf waren jetzt nicht mehr drin. Da konnte er sich genausogut an den Schreibtisch setzen und die Zeit sinnvoll nutzen. Er hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als er Geräusche hinter sich hörte.
Ein Blick über die Schulter. Ein Ultraschallgerät auf Rädern kam direkt auf ihn zu. Geistesgegenwärtig sprang er zur Seite. Am Haarschopf identifizierte er den Assistenzarzt Benjamin Gruber. Der junge Kollege sah immer so aus, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Da konnte er kämmen, was er wollte.
»Nanu, Kollege. Was gibt es denn so Dringendes um diese Uhrzeit?«
»Meine Güte! Haben Sie mich erschreckt!« Gruber blieb stehen und presste die Hand auf das Herz.
»Tut mir leid. Das war keine Absicht.« Daniel bedeutete ihm, weiterzugehen und begleitete ihn. »Also, was ist los?«
»Verdacht auf akute Cholezystitis«, erwiderte der Assistenzarzt.
Daniel runzelte die Stirn. Hatte er das Martinshorn überhört?
»Gerade eingeliefert?«
Benjamin Gruber spürte, wie ihm das Blut bis hinauf in die Haarspitzen schoss.
»Die Patientin kam gestern Abend mit einer Fischvergiftung.«
»Wer hat die Erstanamnese übernommen?«
»Dr. Weigand und ich.« Benjamin räusperte sich.
Er saß in der Falle. Wenn er gestand, dass Weigand ein CT abgelehnt hatte, würde der Kollege in Schwierigkeiten kommen, und er selbst wäre eine Petze. Andererseits: Die Schuld auf sich zu nehmen bedeutete eine Lüge. Und barg die Gefahr einer Abmahnung. Es war eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Was sollte er tun? »Für uns war die Sache sonnenklar«, presste er durch die Lippen. »Bis sich Frau Pastors Zustand auch nach der Gabe des Antitoxins nicht bessern wollte.« Sie waren vor der Tür des Krankenzimmers angekommen.
Daniel zögerte. Sollte er sich in die Behandlung einmischen? Er entschied sich dagegen. Das Letzte, was die Patientin jetzt brauchen konnte, war eine vergiftete Stimmung.
Sie hatte auch so schon Probleme genug.
»Gehen Sie schon!«, wies er Gruber scharf an. »Schöne Grüße an den Kollegen Weigand. Wir sehen uns morgen alle in meinem Büro.«
Benjamin Grubers Adamsapfel hüpfte auf und ab.
»Jawohl, Chef!«, krächzte er und stießt die Tür auf.
Um Haaresbreite verpasste er die Kurve und schrammte mit dem Gerät am Türstock entlang.
Kopfschüttelnd ging der Klinikchef weiter. Jeder weitere Kommentar war überflüssig.
*
Bleich wie der Tod persönlich lag Muriel im Bett. Die vergangenen Stunden hatten ihrem Körper alles abverlangt.
Trotzdem konnte sie schon wieder lächeln, als Milan ins Zimmer zurückkehrte.
»Hey! Ich wusste ja gar nicht, dass ich mir einen Onkel Doktor angelacht habe.« Sie musterte ihn eingehend. »Wusstest du, dass Männer in Uniform besonders anziehend auf Frauen wirken?«
»Das ist ein Arztkittel!«