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Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! Diese Box enthält: E-Book 1146: Die Gelben Götter E-Book 1147: Die unvollständige Dame E-Book 1148: Striptease Girl E-Book 1149: Unberechenbar E-Book 1150: Spiel des Tigers E-Book 1: Wenn das Herz nicht mitspielt … E-Book 2: Keine Angst vor Dr. Lammers E-Book 3: Ehrlich währt am längsten E-Book 4: Sein weicher Kern E-Book 5: Jede Liebe fordert Opfer
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Seitenzahl: 502
Veröffentlichungsjahr: 2021
E-Book 1146-1150
Wenn das Herz nicht mitspielt …
Keine Angst vor Dr. Lammers
Ehrlich währt am längsten
Sein weicher Kern
Jede Liebe fordert Opfer
»Willst du nicht doch lieber im Wagen bleiben, Manni?«, fragte Eva Tuck und stellte den Motor ab. Mit beängstigend langen, pinkfarbenen Fingernägeln zog sie den Schlüssel ab. »Dann sage ich einer Schwester oder einem Pfleger Bescheid, dass sie dich hier abholen sollen.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage. Ich bin doch kein Pflegefall«, knurrte Manfred.
Er stieß die Wagentür auf und kämpfte sich vom Beifahrersitz hoch.
Auf seine Frau gestützt machte er sich auf den Weg Richtung Klinikeingang. Passend zur Stimmung war der Himmel wolkenverhangen. Das hielt einige Patienten nicht davon ab, ihre Morgenzigarette zu rauchen. Ein Mann im Frotteebademantel stand neben einem anderen, der einen Ständer mit Infusionslösung mit sich führte. Bei Evas Anblick verstummte das Gespräch schlagartig. Kein Wunder beim Anblick der Fleisch gewordenen Barbiepuppe.
Eva war sehr blond. Sehr vollbusig. In einem sehr kurzen Kleid in kreischendem Pink. I-Tüpfelchen ihrer Erscheinung waren die glitzernden Highheels und jede Menge Schmuck, der klimperte und klirrte, als wollte er der platinblonden Mähne die Show zu stehlen.
Als das ungleiche Paar die Lobby betrat, wurde es schlagartig still. Alle starrten das seltsame Wesen an. Die Besucher, die es sich auf den Loungemöbeln gemütlich gemacht hatten. Die Frau im Rollstuhl, einen Arm in einer monströsen Schiene, die pausenlos auf ihren Mann eingeredet hatte. Die drei Ärzte, die in einer Ecke standen und diskutiert hatten. Allen stockte der Atem.
Eva nahm von dem Aufsehen keine Notiz. Sie hörte Schritte hinter sich. Trat zur Seite, um einen Paketboten vorbeizulassen. Auch er riss die Augen auf. Verdrehte sich den Kopf. Der Stapel Päckchen in seinen Armen schwankte. Es war nur Evas beherztem Eingreifen zu verdanken, dass er nicht stürzte.
»Vorsicht, die Teppichkante!«, warnte sie ihn.
In einer Ecke hatte sie einen freien Sessel entdeckt, auf den sie zusteuerte.
»Warte hier.« Sie drückte ihren Mann in die Polster. »Ich sage Bescheid, dass wir hier sind.«
»Tu, was du nicht lassen kannst.«
Eva verdrehte die Augen. Sie war seit zwei Jahren mit ihm verheiratet. Bisher hatte sie ihre Entscheidung nicht bereut. Ganz im Gegenteil. Doch seit einiger Zeit war Manfred nicht mehr er selbst. Erst heute Morgen hatte er sie angeschrien, dass ihr noch immer die Ohren klingelten. Wegen einer Fliege an der Wand.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Vor zwanzig Jahren hätte sich Schwester Elena auch noch lustig gemacht über die skurrile Erscheinung, die vor ihr aufgetaucht war. Doch im Laufe der Zeit hatte sie viele Erfahrungen gemacht. Obwohl die eigenwillige Aufmachung dieser Frau nicht dem mitteleuropäischen Stilempfinden entsprach, wirkte ihr Lächeln freundlicher als das mancher gewöhnlicher Zeitgenossen.
»Das ist sehr freundlich. Schwester Elena.« Das Schild an ihrer Brust verriet Eva den Namen. »Mein Mann hat einen Termin bei Dr. Norden. Manfred Tuck.«
»Kleinen Augenblick.« Elena verschwand hinter dem Tresen. Die Tastatur klapperte unter ihren Fingern. »Ah, hier haben wir ihn ja. Wo ist denn Ihr Mann?«
Eva deutete mit der pinkfarbenen Pfeilspitze auf den Sessel neben dem Eingang.
»Er ist nicht besonders gut zu Fuß.«
Schwester Elenas Blick huschte von Eva zu Manfred und wieder zurück. Gut, dass Eva die Verhältnisse geklärt hatte. Elena hätte den Mann für ihren Vater gehalten.
»Ich sage nur schnell Dr. Norden Bescheid und bin gleich bei Ihnen.«
Sie legte den Hörer gerade zurück auf die Gabel, als ein Donnerschlag die Lobby erschütterte.
»Wozu haben wir einen Termin ausgemacht, wenn wir dann stundenlang herumsitzen und warten müssen?«
»Manni, bitte!«, flehte Eva ihren Mann an. Ein Glück, dass sie daran gewöhnt war, Aufmerksamkeit zu erregen. Sonst hätte sie die neugierigen Blicke nicht ertragen. Ein Glück, dass in diesem Moment Schwester Elena mit einem Rollstuhl vor ihnen auftauchte. Ihr Blick zeugte von ihrem Verständnis für Evas Lage.
»Guten Morgen, Herr Tuck. Mein Name ist Elena. Ich bin die Pflegedienstleitung im Haus«, wandte sie sich an den Patienten. »Es tut mir leid, dass Sie warten mussten. Dr. Norden war noch bei einem Notfall. Aber jetzt hat er Zeit für Sie. Ich bringe Sie sofort zu ihm.« Sie deutete auf den Rollstuhl.
Mannis Miene verhieß nichts Gutes. Eva reckte das Kinn vor und klimperte mit den schwarz getuschen Wimpern. Doch der gefürchtete Anfall blieb aus.
»Sieh mal einer an!« Manfred sah der Schwester dabei zu, wie sie die Fußstützen hochklappte. »Sie haben ja an alles gedacht.«
»Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wenn Sie wollen, können Sie selbstverständlich auch zu Fuß gehen.«
Manfred zögerte.
»Schon gut. Ich nehme Ihr Angebot besser an.« Er schob das Haar über der Stirn fort. Blasslila Spuren und Reste einer Kruste wurden sichtbar. »Vielleicht muss ich mich ja in Zukunft daran gewöhnen.«
»Was redest du denn da, Manni?« Evas Schmuck klimperten leise. »Wo müssen wir jetzt hin?«
»Kannst du endlich aufhören, mich zu bemuttern?«
Da war er wieder, der Ton, der Eva zur Verzweiflung brachte.
»Am besten, Sie warten in unserem Klinikkiosk«, empfahl Schwester Elena schnell. »Immer geradeaus und am Ende der Lobby rechts.«
Eva zögerte nicht.
»Sehr gern«, erwiderte sie und machte den Eindruck, als wäre sie der Schwester am liebsten um den Hals gefallen.
*
»Hast du die Einladung zur Eröffnung des neuen Thailänders gesehen?« Christine Lekutat stand an einem der Schreibtische im Dienstzimmer der Ärzte und durchsuchte einen Stapel Papier. Heute wollte sie es endlich wagen. Heute wollte sie den Kollegen zum Mittagessen einladen.
»Hängt an der Pinnwand«, erwiderte Milan Aydin, ohne von der Patientenakte aufzusehen.
Der Stoff ihrer Dienstkleidung raschelte, als sie das Zimmer durchquerte. Sie nutzte die günstige Gelegenheit, um eine Handvoll Gummibärchen in den Mund zu werfen. Das Rascheln verstummte.
»Warst du das? Hast du ihn da oben hingehängt?«, nuschelte Christine und reckte sich nach dem Flyer. Hüpfte vor der Pinnwand in die Höhe. Vergeblich.
Aydin beobachtete die Kollegin mit hochgezogener Augenbraue. Ein Lachen zuckte in seinen Mundwinkeln.
»Na klar. Warum nicht?«
»So hoch? Da kommst du als Lahmer doch gar nicht hin!«
Ein typischer Lekutat-Witz!
Milan unterdrückte ein Seufzen. Würde er sich je an diese Art von Humor gewöhnen? Er klappte die Akte zu, packte die Greifräder des Rollstuhls und fuhr hinüber zu Christine. Eine Drehung, und er saß auf der rechten Lehne.
»Lieber lahm als klein und fett.« Er landete wieder auf der Sitzfläche und drückte ihr die Einladung in die Hand.
»Frechheit!«
Ihr Schnauben entlockte ihm nur ein müdes Lächeln.
»Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es auch wieder heraus.«
»Meine Güte, was war doch nur ein Spaß. Kein Grund, gleich ausfallend zu werden«, wetterte Christine und sah hinüber zur Tür. Die Assistenzärztin Sophie Petzold kam ihr gerade recht. »Ach, sieh mal einer an! Die Dame ist auch schon da.« Sie warf einen demonstrativen Blick auf die Uhr. »Ist mir da irgendwas entgangen? Gibt es eine neue Arbeitszeitregelung?«
Sophie stutzte. Was war denn jetzt los? Bisher hatten sie sich doch recht gut verstanden, hatten sogar ab und zu miteinander gelernt. Umso weniger verstand sie diesen Angriff.
Bevor Sophie antwortete, schenkte sie sich eine Tasse Kaffee ein. Sie stellte die Kanne zurück auf die Warmhalteplatte. Löffelte Zucker in den Kaffee. Goss Milch dazu. Rührte gründlich um. Erst dann drehte sie sich um.
»Falls es Sie interessiert: Ich schreibe morgen meine Facharztprüfung. Aus diesem Grund hat mir Dr. Norden freigestellt, wie ich meinen Dienst plane.
»Interessant.« Christines Augen wurden schmal. »Wenn Sie so viel Zeit auf Ihre Studien verwenden, können Sie mir sicherlich sagen, welche hirneigenen Tumore häufig vorkommen.«
Christine Lekutat hatte der angehenden Fachärztin für Chirurgie überhaupt nichts zu sagen. Trotzdem wusste Sophie, dass sie diese Herausforderung annehmen musste. Es ging um Macht und darum, wie sich die Verhältnisse in Zukunft verteilen würden.
Aufreizend ruhige schlenderte sie hinüber zum Schreibtisch von Milan Aydin und setzte sich auf die Tischkante.
»Die Medizin unterscheidet Meningeome, Neurinome, Hypophysenadenome, Gliome und Medulloblastome.« Sie garnierte ihre Ausführung mit einem liebenswürdigen Lächeln. Dagegen wirkte Christine wie ein Hund, der die Zähne fletschte.
»Sehr schön. Dann können Sie mir sicher auch etwas mehr über Gliome berichten.«
Mist! Ausgerechnet die Gliome hatte Sophie nur überflogen. Mut zur Lücke, wie ihr Verlobter Dr. Matthias Weigand ihr geraten hatte.
Sie durchbohrte Dr. Aydin mit Blicken. Doch er war vertieft in seine Arbeit. Die Tastatur klapperte unter seinen Fingern.
Sophie konzentrierte sich.
»Gliome entstammen … entstammen den Stützzellen des Hirngewebes, den sogenannten Gliazellen. Von ihnen leiten sich verschiedene Tumoren ab wie zum Beispiel das Astrozytom. Oder wie das Oligo …« Wieder ein hilfesuchender Blick Richtung Milan. Er nickte unauffällig in Richtung Computer. Sophie hätte ihm um den Hals fallen wollen. »Das Oligodendrogliom. Es existieren auch Mischformen aus beiden Zellarten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat diese Tumoren in verschiedene Grade eingeteilt. Sie reichen von WHO I bis WHO …«
»Genug. Ablesen kann ich das auch selbst«, zischte die Lekutat.
Dr. Aydin und Sophie lachten, während die Kollegin vor Wut zitterte.
»Sie werden schon sehen, was Sie davon haben! Und wie heißt es so schön: Wer zuletzt lacht, lacht am besten.« Mit diesen Worten rauschte sie – im wahrsten Sinne des Wortes – aus dem Dienstzimmer.
Nach und nach verging Sophie das Lachen. Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. Sie wischte sich eine Träne von der Wange.
»Welche Laus ist der Kollegin denn heute über die Leber gelaufen?«
»Das kann man nie so genau wissen«, erwiderte Aydin grinsend. »Schließlich ist sie eine Frau.«
*
Wie versteinert saß Manfred Tuck auf dem Stuhl im Untersuchungszimmer. Dr. Daniel Norden kehrte mit einem Glas Wasser zurück und drückte es ihm in die Hand.
Er setzte sich auf einen Hocker und rollte vor seinen Patienten. Eine Weile saß er nur da und sah Manfred beim Nachdenken zu.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er schließlich.
»Was erwarten Sie denn? Mit so einer Diagnose.« Mannis Stimme war rau.
»Dafür wissen Sie jetzt wenigstens, was für die Wesensveränderung und die Schwindelanfälle verantwortlich ist.«
»Eva wird sich freuen. Jetzt kann sie wenigstens sicher sein, dass es nicht an ihr liegt.« Er zupfte mit den Zähnen an der Unterlippe. »Und nicht an meiner Liebe zu ihr.« Manfred hob die Augen. Suchte den Blick seines Arztes. »Können Sie sich vorstellen, wie schlimm das ist? Von einem Moment auf den anderen nicht mehr man selbst zu sein. Ein Fremder im eigenen Körper.« Er schüttelte den Kopf. Senkte den Blick wieder und betrachtete das Glas in seinen Händen. »Wenn mir das früher einer gesagt hätte, hätte ich ihn für verrückt erklärt.«
»Zum Glück kann die Medizin heutzutage erklären, welchen Ursprung diese Symptome haben. Wobei Sie wenigstens wissen, dass Ihre Reaktionen nicht normal sind. Andere Patienten nehmen ihre Persönlichkeitsveränderungen gar nicht wahr.«
»Ich weiß nicht, ob das ein Glück ist«, erwiderte Manfred rau. »Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, hierher zu kommen. Ich weiß überhaupt nichts mehr.«
Dr. Norden musste nicht lange überlegen, was in diesem Fall zu tun war. Gründliche Aufklärung war für ihn schon immer Dreh- und Angelpunkt einer erfolgreichen Behandlung gewesen. Er griff nach dem Tablet und schaltete es ein. Rollte neben Manfred Tuck, damit er die Aufnahmen sehen konnte.
»Bildmorphologisch spricht alles für einen gutartigen Tumor. Wir werden noch ein Angio-MRT durchführen. Dabei handelt es sich um eine radiologische Untersuchung zur bildgebenden Darstellung von Gefäßen im menschlichen Organismus. Mit dieser Untersuchung können wir den Eingriff besser planen.« Er legte die Hand auf den Arm des Patienten und lächelte. »Mein Ziel ist es, den Tumor komplett zu entfernen.«
Manfred erwiderte das Lächeln nicht.
»Und was ist mit den Risiken?«
Mit dieser Frage hatte Dr. Norden gerechnet. Gern beantwortete er sie deshalb noch lange nicht.
»Neben den üblichen Narkoserisiken birgt ein Eingriff im Gehirn natürlich besondere Risiken.«
Manfred Tucks Blick schnitt ihm tief in die Seele.
»Was heißt das?« Die Stimme war rau, zornig.
»Aufgrund der Verletzungsgefahr des umliegenden Gewebes kann es zu einem Funktionsverlust und Ausfallerscheinungen kommen.«
Manfred sprang so unvermittelt auf, dass Daniel Norden erschrak.
»Und das erzählen Sie mir so nebenbei? Wie ein Märchenonkel im Kindergarten?« Seine Stimme krachte wie ein Donnerschlag.
Auch Dr. Norden stand auf. Es war ihm wichtig, auf Augenhöhe mit seinem Patienten zu sprechen.
»Es handelt sich dabei um Möglichkeiten, nicht um ein unausweichliches Schicksal«, sprach er eindringlich auf seinen Patienten ein. »Ich kenne viele Patienten, die nach einer Operation am Gehirn putzmunter nach Hause gegangen sind.«
»Und was, wenn nicht?«
Daniel unterdrückte ein Seufzen.
»Es gibt keine Alternative.« Er musste sich zwingen, den Tatsachen und Manfred Tuck in die Augen zu sehen. »Der Tumor wächst. Ihre Symptome – Schwindel, Kopfschmerzen, Wesensveränderung – werden noch stärker werden, da er auf das umgebende Gewebe drückt. Mit einem Eingriff haben Sie wenigstens die Chance auf ein gesundes Leben. Ohne Operation gibt es diese Option nicht.«
Manfred Tuck schwankte wie eine Tanne im Wind. Er ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.
»Dann behalten Sie mich hier?«
»Das ist der Plan.«
Manfred nickte mehrmals hintereinander.
»Sagen Sie bitte meiner Frau Bescheid? Sie wartet im Kiosk.«
»Natürlich. Schwester Elena informiert sie gleich.«
»Aber sagen Sie ihr noch nichts von der Diagnose. Eva ist so furchtbar sensibel und nimmt sich alles so sehr zu Herzen. Ich glaube, diesen Job übernehme lieber ich.«
Daniel Norden hatte seine Zweifel, ob das die richtige Entscheidung war. Aber er hatte keine Wahl.
»Wie Sie wollen«, erwiderte er und ging zum Telefon, um alles Weitere in die Wege zu leiten.
*
Dieter Fuchs, Verwaltungsdirektor der Behnisch-Klinik, saß an seinem Schreibtisch und starrte auf die Tabellen, die vor ihm lagen. Wie konnte das sein? Woher rührte die Differenz zwischen seiner Berechnung und der des Controllings. Schlimm genug, wenn es sich um ein paar Cents gehandelt hätte. Aber 3462,12 Euro? Das war eine Katastrophe. Er griff sich an den Hals. Lockerte den Krawattenknoten und öffnete den obersten Knopf. Wartete auf Erleichterung. Doch nichts wurde leichter. Ganz im Gegenteil. Seit seine Tochter aufgetaucht war und in der Behnisch-Klinik entbunden hatte, war seine Welt aus den Fugen geraten. Noch immer wusste Dieter Fuchs nicht, ob Elsa – Wirtschaftsmanagement-Studium und ehemalige Wirtschaftsberaterin in einem weltweit agierenden Pharmaunternehmen – ihm eine Falle gestellt hatte oder ob es wirklich einem Missverständnis geschuldet war, dass seine Position in Gefahr war. Seit das Damoklesschwert über ihm schwebte, ging schief, was schief gehen konnte. Verlegte er Unterlagen, traf Fehlentscheidungen, übersah falsche Buchungen. Fehler, die ihm, dem Pedanten, noch nie unterlaufen waren. Jedem anderen Mitarbeiter hätte er angesichts eines solchen Fehlverhaltens fristlos gekündigt. Und sich selbst?
Mit zitternden Fingern öffnete er die oberste Schreibtischschublade. Er tastete nach einer Schachtel, die er seit einiger Zeit dort versteckt hatte. Wo steckte sie nur? Dieters Bewegungen wurden hektischer. Er durchwühlte den Inhalt der Schublade, bis er das Objekt der Begierde doch noch fand. In der hintersten Ecke. Gut verborgen vor neugierigen Blicken. Er drückte zwei Tabletten aus dem Blister. Wog sie in der Hand. Ach was, eine dritte konnte nicht schaden! Er griff nach dem Glas Wasser und spülte sie mit einem kräftigen Schluck hinunter. Dann wartete er. Inzwischen wusste er, dass er ein bisschen Geduld haben musste, bis sich sein Herzschlag beruhigte. Sich die Welt um ihn herum langsamer drehte. Geduld war keine seiner Stärken. Doch das Warten lohnte sich. Auch das hatte Dieter Fuchs inzwischen gelernt. Er wusste, dass das Rauschen in seinen Ohren gleich nachlassen, der Schweiß auf seiner Stirn trocknen würde. Endlich war es so weit. Er freute sich über die Kühle auf seinen Wangen. Aber warum wurde es immer kälter? So kalt, dass er zu zittern begann. Er wollte aufstehen, doch seine Beine zitterten auch. Er wollte nach dem Telefonhörer greifen, um seine Assistentin Regina Kampe nebenan anzurufen. Und griff immer wieder daneben. Deshalb öffnete Dieter Fuchs den Mund.
Obwohl Regina nur ein paar Meter weiter saß, hörte sie ihren Chef nicht. Sie starrte auf den Bildschirm. Die Buchstaben tanzten vor ihren Augen. Jetzt war es also so weit!
Regina Kampe stand auf. Strich den Rock glatt und ordnete die Frisur. Sie nahm allen Mut zusammen und marschierte auf die Tür des Chefbüros zu. Ein kurzes Klopfen. Sie drückte die Klinke herunter.
»Chef, Dr. Beckmann vom Trägerverein bittet um ein persönliches Gespräch. Sind Sie mit dem …« Mitten im Satz hielt sie inne. Ihr Atem stockte. Ihr Schrei hallte bis hinaus auf den Flur.
*
»Wie eine Gänsemama mit ihren Jungen«, spottete Schwester Josepha und sah Dr. Matthias Weigand und seiner Gefolgschaft nach, die auf dem Weg zur Visite waren. Sie hatte nur Glück, dass er im Begriff war, seine Aufgaben zu verteilen und deshalb nicht auf die beiden Lästerschwestern an der Ecke achtete.
»Dr. Gruber, Sie sprechen mit Frau Baader. Ich möchte ihre Überbein-Operation auf morgen verschieben. Oder nein«, revidierte er seine Entscheidung einen Atemzug später. »Sophie, du übernimmst das.«
»Ich?«
Matthias Weigand blieb stehen und drehte sich um.
»Warum nicht du?«
»Weil ich diese Gespräche immer führen muss. Und weil ich sie hasse.«
Matthias lächelte seine Verlobte an. Er wusste, dass er mit Argusaugen beobachtet wurde. Ein Krankenhaus war ein Moloch aus Klatsch und Tratsch. Da bildete die Behnisch-Klinik keine Ausnahme. Es würde schnell die Runde machen, wenn er Sophie wegen ihrer privaten Beziehung bevorzugt behandelte. Ungerecht durfte er aber auch nicht sein. Es war ein beständiger Drahtseilakt. Ehrlich gesagt war er froh, wenn sie endlich ihren Facharzt hatte. Dann würden sich ihre Arbeitsfelder nur noch hin und wieder berühren. Aus seiner Sicht ein klarer Vorteil. Sein Lächeln wurde tiefer.
»Genau deswegen musst du diese Situationen üben. Immerhin bist du bald Fachärztin.« Er zwinkerte Sophie zu und setzte seinen Weg fort.
Das Fußgetrappel hinter ihm zeugte davon, dass ihm seine Küken folgten. Matthias straffte die Schultern und grüßte lächelnd einen entgegenkommenden Kollegen.
Noch vor ein paar Monaten wären Sophie und er sich in so einer Situation an die Gurgel gegangen. Doch sie hatten sich beide geändert. Er wusste, unter welcher Anspannung sie stand. War bereit, seine Liebe über seinen Ärger zu stellen. Sie verstand, dass sie nicht jedes Mal einen Streit vom Zaun brechen konnte, wenn er den Vorgesetzten gab. Zumindest war es das, was Matthias dachte.
Sophie dagegen dampfte vor Zorn.
»Na warte! Heute Nachmittag habe ich meine Prüfung. Dann kann er diese Gespräche selbst führen.«
Ihr Kollege Benjamin Gruber eilte mit wehendem Kittel neben ihr her.
»Aber was, wenn du nicht bestehst? Immerhin bist du erst seit ein paar Wochen wieder in der Klinik.«
»Natürlich bestehe ich.« Wenn Blicke töten könnten, wäre Benjamin in diesem Augenblick umgefallen. »Glaubst du etwa, ich habe im vergangenen halben Jahr nur den Babysitter für meine Tochter gespielt?«
Diese Vorstellung brachte Benjamin zum Lachen.
»Nein, du hast recht. Wahrscheinlich war Matthias der Babysitter, während du die Fachbücher auswendig gelernt hast.«
Es hatte ein Scherz sein sollen. Doch Benjamin hatte dir Rechnung ohne den Wirt gemacht.
»Was soll denn das schon wieder heißen? Du denkst also, dass ich eine Bestie bin, die ihren Mann unter dem Pantoffel hält?«, fauchte Sophie wie eine wütende Katze und bog bei der nächstbesten Gelegenheit rechts ab, während der Rest ihrer Kollegen weiter geradeaus ging.
*
Wo Eva Tuck auftauchte, erregte sie Aufmerksamkeit, von der sie selbst aber offenbar keine Notiz nahm.
Als hätte sie nie etwas anderes getan, schob sie den Rollstuhl mit ihrem Mann darin über den Klinikflur. Dr. Aydin blieb stehen und sah ihr nach.
»Ich werde eine Eingabe beim Klinikchef machen. Wir brauchen eine neue Schwesterntracht.«
Sein Kollege Arnold Klaiber konnte nur den Kopf schütteln.
»Lieber nicht. Dann verdoppelt sich die Anzahl unserer Herzinfarktpatienten sprunghaft.«
»Aber dann bekommen die Herren am Ende ihrer Tage noch ein Mal etwas Hübsches zu Gesicht.«
»Ansichtssache.« Klaiber winkte seinen Kollegen mit sich. Und auch Eva hatte ihr Ziel erreicht.
Sie half ihrem Mann vom Rollstuhl ins Bett.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass es dir so schlecht geht?«
»Soll ich eine junge, schöne Frau wie dich mit meinem Altmännerkram belästigen?« Stöhnend ließ sich Manni in die Kissen fallen.
Eva setzte sich auf die Bettkante und streichelte ihrem Mann über die Wange.
»Ich mag es nicht, wenn du so redest. Du bist mein kluger Mann, mein Beschützer. Du hast für alles eine Lösung, wenn ich längst nicht mehr weiterweiß.«
Manfred schüttelte den Kopf und murmelte Unverständliches, das nicht gerade nach Zustimmung klang. Laut sagte er:
»Was hätte das denn gebracht? Wir wären nicht zu deiner Familie nach Kiew geflogen und hätten nicht dieses schöne Fest gefeiert. Stattdessen läge ich schon seit letzter Woche hier in der Klinik.«
»Dann wärst du vielleicht schon wieder gesund«, gab Eva zu bedenken. »Was hat der Arzt überhaupt gesagt?«
Manni wich dem Blick seiner Frau aus.
»Er … Er wollte sich nicht festlegen. Muss noch ein paar Untersuchungen machen.«
Eva legte den Kopf schief. Eine platinblonde Strähne fiel ihr in die Stirn. Sie wischte sie weg und lächelte ein pinkfarbenes Lächeln. Das Strasssteinchen im rechten oberen Eckzahn blitzte.
»Dann ist es sicher nichts Schlimmes, und du kannst endlich wieder gute Laune haben.«
»Mal sehen.« Manfred rang sich ein Lächeln ab. »Und jetzt gib mir einen Kuss und verschwinde. Ich brauche meine Sachen.«
Eva zögerte kurz. Dann stand sie auf und stöckelte durch das Zimmer. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und winkte. Schickte ihrem Mann eine Kusshand.
Manni atmete auf, als sie endlich verschwunden war. Viel länger hätte er die Verzweiflung nicht verbergen können.
*
Dr. Norden war gerade auf dem Rückweg in sein Büro, als er Regina Kampes Schrei hörte. Keine fünf Minuten später kniete er neben dem Verwaltungsdirektor, den er gemeinsam mit dem Pfleger Jakob auf den Boden gelegt hatte. Herz und Lunge waren abgehört. Puls und Blutdruck gemessen. Sämtliche Ergebnisse waren halbwegs zufriedenstellend.
»Herr Fuchs, können Sie mich hören?« Daniel klopfte ihm sanft auf die Wangen.
Dieters Augenlider flatterten.
»Hallo, Herr Fuchs. Hier spielt die Musik.«
»Lassen Sie mich in Ruhe«, presste Fuchs durch die fahlen Lippen.
Dr. Norden atmete auf.
»Nichts lieber als das. Leider bin ich als Arzt verpflichtet, Ihnen zu helfen.« Er sah hinüber zu Jakob, der inzwischen nicht untätig gewesen war. »Sagen Sie im Labor Bescheid, dass ich die Blutwerte so schnell wie möglich brauche.«
Wieder verdrehte der Verwaltungsdirektor die Augen.
»Schön hierbleiben, Herr Fuchs.«
Wieder klatschte Daniel auf Dieters Wangen. Davon hatte er schon oft geträumt. Doch wie so oft war die Realität nicht halb so befriedigend wie die Vorstellung. »Und jetzt erzählen Sie mir bitte, was passiert ist.«
Dieter warf den Kopf hin und her und rang nach Luft.
»Ich … Ich weiß nicht … Plötzlich war es kalt. So furchbar kalt.«
»War Ihnen schlecht? Hatten Sie Beschwerden? Herzstechen? Kopfschmerzen? Schwindel?«
»Nein. Nichts.«
Daniel musterte den Mann auf dem Boden.
»Wollen Sie mir erzählen, dass Ihnen aus heiterem Himmel schlecht geworden ist?«
Regina Kampe stand am Schreibtisch. Die Computermaus lag genau in der Mitte des Mousepads, das ein großes Logo einer Pharmafirma zierte. Sie hätte schwören können, dass auch die Akten rechts neben der Schreibtischunterlage fein säuberlich Kante auf Kante aufeinandergelegen hatten, bevor Dieters Kopf darauf gelandet war. Unter den Mappen spitzte eine Liste hervor. Regina Kampe zog sie hervor. Sie erkannte das Dilemma auf einen Blick.
»Möglich, dass das hier der Grund für den Zusammenbruch war.« Sie zeigte Dr. Norden den Differenzbetrag.
»Schwer vorstellbar, dass ein gestandener Mann ohne großartige gesundheitliche Beschwerden wegen so einer Meldung ohnmächtig wird«, tat der seinen Zweifel kund. »Da muss noch etwas anderes dahinterstecken.« Er wandte sich wieder an den Mann auf dem Boden. »Nehmen Sie Medikamente ein?«
Dieter Fuchs wandte den Kopf ab. Antwort genug für Dr. Norden.
»Was haben Sie geschluckt?«
Der Verwaltungsdirektor presste die Lippen aufeinander. Daniel seufzte.
»Warum müssen Sie mir das Leben eigentlich immer so schwer machen?«
Vom Flur wehten Geräusche herein. Das Klirren von Metall, Schritte und Stimmen. Die angeforderte Liege traf ein. Während sich die Kollegen um den Verwaltungsdirektor kümmerten, nahm sich Dr. Norden den Schreibtisch vor. Lange musste er nicht suchen.
»Beruhigungsmittel.« Er öffnete die Schachtel und schüttelte sie. Zwei leere Blister fielen heraus. Vom dritten fehlten drei Tabletten. »Alle Achtung! Wenn er die drei auf einmal geschluckt hat, wundert mich nichts mehr.« Mit ein paar Anweisungen schickte er die Kollegen mitsamt dem Patienten in die Notaufnahme, wo Dieter Fuchs ordnungsgemäß behandelt werden konnte. Er selbst blieb noch kurz am Tisch stehen. Dachte über seine Zeit mit dem Verwaltungsdirektor nach. An die Intrigen und Bosheiten, mit denen Dieter Fuchs nicht nur ihn, sondern das gesamte Klinikpersonal nach Lust und Laune schikaniert hatte. Und er dachte an das, was dem Verwaltungsdirektor in den vergangenen Wochen widerfahren war. Gab es doch so etwas wie Gerechtigkeit?
*
Als Pflegedienstleitung hatte Schwester Elena die Gesamtverantwortung für den Pflegebereich der Behnisch-Klinik und war Mitglied im Direktorium. Sie steuerte sämtliche Prozesse von der Personalplanung bis hin zur Qualitätssicherung. Sie erteilte Arbeitsanweisungen, wirkte mit bei der Erarbeitung von Pflegekonzepten und half bei der Umsetzung in die klinische Praxis. Neben all diesen Aufgaben war es ihr aber wichtig, den Kontakt zu ihren Mitarbeitern und Patienten nicht zu verlieren. Aus diesem Grund mischte sie sich immer wieder unter Schwestern und Pfleger und tat gewöhnlichen Dienst. Wie an diesem frühen Nachmittag bei Manfred Tuck.
»Das Gespräch bei Dr. Norden war wohl nicht gerade erfreulich, was?« Sie legte den Deckel über den welken Salat, der auf dem Tablett in einer Schale neben angetrocknetem Fischfilet mit Kartoffelpüree lag.
»Meine Gefäße müssen noch untersucht werden«, erwiderte Manfred, der mit geschlossenen Augen im Bett lag.
Einfach einschlafen, wieder aufwachen und feststellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Doch diesen Gefallen wollte ihm das Schicksal nicht tun.
Elena beobachtete das Gesicht ihres Patienten. Es erinnerte sie an einen See, über den der Wind strich.
»Was beschäftigt Sie?«, fragte sie und stellte eine frische Wasserflasche auf den Nachttisch.
»Dr. Norden hat von der Wesensveränderung gesprochen, die so ein Tumor auslösen kann.«
»Und davor haben Sie Angst?«
Manfred öffnete die Augen. Er lächelte wie ein trauriger Clown.
»Ich stecke schon mittendrin.« Er stützte sich auf den Ellbogen und sah die Schwester an. »Das, war ich in letzter Zeit gedacht und getan habe … Was davon bin wirklich ich? Und was macht das Ding in meinem Kopf? Ich schreie meine Frau an, obwohl sie das Liebste ist, das ich habe. Und das ist wahrscheinlich erst der Anfang. Vielleicht schlage ich Eva irgendwann oder tue ihr noch Schlimmeres an. Das ist doch beängstigend.«
»Sie haben recht.« Genau wie Dr. Daniel Norden es verabscheute, schlimme Diagnosen zu überbringen, konnte Elena es nicht ausstehen, keinen Trost parat zu haben. Doch was sagte man einem Menschen in so einer Situation? »Deshalb werden unsere Ärzte alles dafür tun, um Sie von dem Parasiten in Ihrem Kopf zu erlösen.« Sie nickte ihm zu. »Verlieren Sie nicht den Mut.« Mehr konnte sie im Augenblick nicht für Manfred Tuck tun und gab die Klinke Dr. Norden in die Hand, der im Begriff war, das Zimmer zu betreten.
Klinikchef und Pflegedienstleitung kannten und schätzten sich seit vielen Jahren. Hatten schwierige Situationen gemeistert, zusammen gelacht und manchmal auch getrauert. Diese Erlebnisse hatten sie zusammengeschweißt. Eine tiefe Freundschaft wachsen lassen, die viele Worte überflüssig machte. Daniel schenkte Elena ein Lächeln, ehe er ans Bett seines Patienten trat. Er stellte die Nierenschale auf den Nachttisch, rollte einen Hocker herbei und setzte sich.
»Eine Angio-MRT läuft nicht anders ab als eine normale MRT«, erklärte er, während er einen Zugang in Manfreds Handrücken legte. »Der Unterschied besteht lediglich darin, dass wir ein Kontrastmittel spritzen, um die Gefäße deutlich sichtbar zu machen. Deshalb dieser Zugang hier.« Er klebte ein Pflaster auf die Kanüle, um sie am Verrutschen zu hindern. »Die Untersuchung dauert in etwa 45 Minuten. Haben Sie sonst noch eine Frage?«
Manfred Tuck schüttelte den Kopf. Die Fragen, die er auf dem Herzen hatte, konnte kein Mensch dieser Welt beantworten.
»Nein.«
»Gut. Dann auf in die Radiologie!«
*
»Na, das ist ja mal eine Überraschung. Unser lieber Herr Verwaltungsdirektor.« Dr. Weigand trat an die Liege und blickte auf Dieter Fuchs herab. »Was machen Sie denn für Sachen?«
»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.« Fuchs verschränkte die Arme und blickte demonstrativ auf das Foto an der Wand.
Ein wogendes Weizenfeld, gesprenkelt mit blutroten Mohnblüten. Was für eine Verschwendung! Sobald er wieder auf den Beinen war, würde er sich darum kümmern, dass dieser Firlefanz durch eine anatomische Darstellung ersetzt wurde. Dummerweise sah Weigand nicht danach aus, als ob er ihn gleich wieder gehen lassen würde.
»Draußen würde es mich auch nicht interessieren. Hier drinnen bin ich leider dazu verpflichtet.« Matthias‘ Augen blitzten vor Vergnügen. Es kam nicht oft vor, dass ihm der Verwaltungsdirektor hilflos ausgeliefert war. Endlich konnte er sich für die Kekse revanchieren, die der Verwaltungschef zusammen mit Verbrauchsmaterial wie Papierhandtücher und Verbandmaterial bestellte und die genauso schmecken. Für den abgelehnten Antrag für eine SPECT-fähige Gammakamera. Und nicht zuletzt für die falsche Auslastungsanalyse, die den Ärzten viel Ärger bereitet hatte, bevor die Tochter des Verwaltungsdirektors den Irrtum aufgeklärt hatte.
Wenn Matthias Weigand nur daran dachte, konnte auch er eine Beruhigungspille vertragen. Ein Glück, dass der Trägerverein der Klinik eine Entscheidung angekündigt hatte. Hing Fuchs‘ desolater Gemütszustand etwa damit zusammen? »Die Kollegen haben mir verraten, dass Sie eine ordentliche Portion Sedativa geschluckt haben und deshalb ohnmächtig geworden sind. Das passt überhaupt nicht zu Ihnen und Ihrer Sparsamkeit.« Dr. Weigand faltete die Hände vor dem Bauch. »Warum haben Sie das getan?«
Dieter Fuchs zog Augenbraue und Mundwinkel hoch.
»Beruhigungsmittel nimmt man gemeinhin, wenn man sich beruhigen will. Oder sehe ich das falsch?«
»Und worüber haben Sie sich aufgeregt? Noch dazu so sehr, dass es gleich drei Tabletten sein mussten.«
»Spielt das eine Rolle?«
»Wenn ich Sie behandeln soll, tut es das.«
»Dann spielt es keine Rolle.«
Dr. Weigand holte tief Luft. Von rechts hörte er ein unterdrücktes Grunzen. Ein strafender Blick, und Pfleger Jakob senkte den Kopf.
»Gut«, wandte sich Matthias wieder an den Verwaltungsdirektor. »Dann untersuche ich Sie jetzt. Die Ergebnisse liegen frühestens morgen Vormittag vor. Solange müssen Sie leider hierbleiben.« Er machte eine kunstvolle Pause. »In der psychiatrischen Abteilung.«
»Aber …«
»Kein Aber. Solange ich mir nicht sicher sein kann, dass Sie sich selbst absichtlich Schaden zugefügt haben, schütze ich Sie nur vor sich selbst.« Er setzte sich auf den Hocker und zog das Ultraschallgerät heran. »Nicht, weil Sie mir so sympathisch sind.« Er nahm den Schallkopf zur Hand und drückte durchsichtiges Gel aus einer Flasche darauf. »Sondern weil es meine Pflicht als Arzt ist.«
*
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Dr. Aydin.«
Der Neurochirurg lächelte zufrieden.
»Indem Sie aufstehen und das Zimmer auf zwei Beinen verlassen«, machte er einen Vorschlag.
Das ließ sich sein Patient Holger Brandhorst nicht zwei Mal sagen. Er stand auf und machte ein paar Extraschritte durch das Zimmer, ehe er es in Begleitung seiner Frau und seines Arztes verließ.
Am Ende des Flurs blieb Milan Aydin stehen und sah dem Ehepaar nach. Ein tiefes Gefühl der Befriedigung erfüllte ihn. Menschen von ihren Schmerzen zu befreien und ihnen zu helfen, war einer der Gründe, warum er die Mühen und Strapazen jeden Tag aufs Neue auf sich nahm. Hinzu kam, dass die Medizin für Milan Ähnlichkeit mit einer Wildwasserfahrt hatte. Auch wenn gerade alles ruhig dahin plätscherte, konnte hinter der nächsten Ecke schon die nächste große Herausforderung warten. Ein Rascheln hinter ihm bestätigte diese Ansicht.
Auch ohne den Rollstuhl zu wenden wusste Milan, dass seine Kollegin Christine Lekutat im Anmarsch war. Anders als sonst würdigte sie ihn keines Blickes. Watschelte an ihm vorbei, als wäre er Luft.
Bei ihrem Anblick drückte Milan das schlechte Gewissen. Sicher, sie hatte einen seltsamen Sinn für Humor. Benahm sich wie ein Elefant im Porzellanladen und sah genauso aus. Abgesehen davon war sie aber eine hervorragende Chirurgin und eine zuverlässige Kollegin.
»Dr. Lekutat«, rief er ihr nach.
Als hätte sie nur darauf gewartet, machte sie Halt. Sie drehte sich so schwungvoll um, dass sie sich um ein Haar in ihrem Kittel verfangen hätte. Ihre Wangen leuchteten in schönstem Rot.
»Milan … ich meine Dr. Aydin. Ich habe Sie gar nicht gesehen.«
Um ein Haar wäre Milan laut herausgeplatzt. Ihr zuliebe tat er es nicht. Er packte die Greifräder und fuhr auf sie zu.
»Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen. Mein Kommentar vorhin war wirklich nicht nett.« Er legte den Kopf ein wenig schief. Schenkte ihr dieses neckische Lächeln, das Frauen so mochten. »Wenn Sie immer noch Lust haben, mit mir zum Thailänder essen zu gehen, komme ich gern mit.«
Christine strahlte wie ein Honigkuchenpferd.
»Wirklich?«
Ihre Augen leuchteten. Auf ihren Wangen zeigten sich rote Flecken. Plötzlich bekam es Milan mit der Angst zu tun. Hatte sie sein harmloses Angebot falsch verstanden?
»Wenn Sie nicht mehr wollen …«
»Doch, doch. Mir tut meine dumme Reaktion von vorhin leid. Im Grunde genommen weiß ich ja, dass Ihr Humor ein wenig daneben ist.«
»Das sagt die Richtige«, platzte Milan heraus.
Schweigen.
Christine sah aus, als hätte er ihr einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet. Sie griff sich ans Herz und wurde blass.
»Wie meinen Sie das?«
Kurz nach seinem Unfall hatte sich Milan Aydin Sorgen gemacht, seine Chancen bei den Frauen verspielt zu haben. Bis er festgestellt hatte, dass das genaue Gegenteil der Fall war. Der Rollstuhl hatte eine magische Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht. Auf die Professorin für Altphilologie genauso wie auf die Laborantin der Behnisch-Klinik. Doch trotz seiner mannigfaltigen Erfahrungen mit Frauen stieß Milan bei Christine Lekutat an seine Grenzen. War sie am Ende gar keine Frau? Kein menschliches Wesen?
»Bitte nicht ohnmächtig werden«, flehte er sie an.
Er griff nach dem Tablet in seinem Schoß und fächelte ihr Luft zu.
»Hören Sie schon auf damit! Ich brauchte Ihr Mitleid nicht.«
Milan ließ das Gerät sinken.
»Nehmen Sie es mir nicht übel. Aber offenbar verstehen wir uns einfach nicht. Deshalb ist es in Zukunft bestimmt besser, wenn wir unseren Kontakt auf das Medizinische beschränken«, machte er einen Vorschlag zur Güte.
Christine fiel von einem Schrecken in den nächsten.
»Dann wollen Sie jetzt doch nicht mit mir zu Mittag essen?«
»Ich glaube nicht.« Milan schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn ich ehrlich bin, ist mir der Appetit vergangen.« Er wagte es noch nicht einmal, ihr ein Lächeln zu schenken. Stattdessen fuhr er mit gesenktem Kopf davon.
Eigentlich hätte er erleichtert sein müssen.
Doch zum wohl ersten Mal in seinem Leben machte er die Erfahrung, dass es Siege gab, die sich wie Niederlagen anfühlten.
*
»Ich habe keine Ahnung, was in diese Lekutat gefahren ist.« Sophie Petzold hatte die Hände in die Hüften gestützt und sah mit halb geschlossenen Augen haarscharf an ihrem Verlobten vorbei.
Matthias war ganz sicher, dass er mit dem Rücken zur Wand stand. Andernfalls hätte er sich umgedreht in Erwartung, Christine Lekutat hinter sich zu sehen.
»Die ganze Zeit war sie so nett. Und plötzlich lässt sie mich so auflaufen. Aus heiterem Himmel. Ausgerechnet heute. Das ist nicht fair.«
»Vielleicht hat sie einfach einen schlechten Tag. Das kommt in den besten Familien vor«, versuchte Dr. Weigand, seine zukünftige Frau zu trösten. Er streckte die Arme aus, um Sophie an sich zu ziehen. Seine Hände fielen ins Leere.
»Vielleicht rächt sich auch dieser übermäßige Zuckerkonsum. Ich kenne niemanden, der derart viele Süßigkeiten in sich hineinstopft. Als Ärztin müsste sie doch wissen, dass das gefährlich ist.«
»Deine Sorge ehrt dich. Aber statt dir den Kopf über die Kollegin Lekutat zu zerbrechen, solltest du dich lieber auf deine Prüfung konzentrieren.« Matthias sah auf die Armbanduhr. »Du hast noch eine Stunde.«
Sophie starrte ihn an, als hätte er sich vor ihren Augen in ein Monster verwandelt.
»Waaaaas? Eine Stunde nur noch? Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Wie ein aufgescheuchtes Huhn lief sie im Büro auf und ab. Sogar ihr »O Gott, o Gott, o Gott«, erinnerte entfernt an ein Gackern. »Dabei wollte ich unbedingt noch einmal das Gliom durchgehen. Du mit deinem Mut zur Lücke! Das geht garantiert schief. Schon mit der ersten Frage hat mich die Lekutat eiskalt erwischt.«
Matthias konnte seiner Verlobten nicht böse sein. Dazu erinnerte er sich zu genau an den Tag seiner eigenen Facharztprüfung. Anders als Sophie war er auf jede mögliche und unmögliche Frage vorbereitet gewesen. Und war dank seiner Nervosität mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Das würde Sophie nicht passieren. Er kannte sie. Hatte sie oft genug in Krisensituationen erlebt. Und für ihre Coolness und Gelassenheit bewundert.
»Es geht nur um die hirneigenen Tumore, die du nicht so gründlich gelernt hast.«
Sophie hielt in ihrem Marsch inne. Durchbohrte ihn mit Blicken.
»Stell mir eine Frage!«, verlangte sie.
»Wie bitte?«
»Du sollst mir eine Frage zu hirneigenen Tumoren stellen.«
Matthias Weigand lächelte. Seine Sophie! Er hätte es sich denken können.
»Also gut. Erzähl mir was über Medulloblastome.«
»Medulloblastome sind Tumore, die fast ausschließlich im Kindes- und Jugendalter auftreten. Dabei handelt es sich um Tumoren des Kleinhirns, die sich besonders durch Koordinationsstörungen, Stand- und Gangunsicherheit bemerkbar machen. Ihrer Lage ist die Möglichkeit einer Nervenwasserabflussstörung geschuldet, die eine akute Hirndrucksteigerung mit entsprechender Symptomatik zur Folge haben kann. Obwohl es sich beim Medulloblastom um einen besonders bösartigen …«
»Genug, genug«, wehrte Matthias Weigand ab. »Du bist ja ein wandelndes Medizinlexikon.«
Atemlos hielt Sophie Petzold inne. Sie lächelte.
»Richtige Antwort.«
»Gut. Dann solltest du dich langsam umziehen. Sonst verpasst die Prüfungskommission das Beste, was ihr an diesem Tag geboten wird.«
Sophie stemmte die Hände in die Hüften. Legte den Kopf schief. Eine Strähne fiel ihr ins Gesicht. Sie
»Hab ich dir schon einmal gesagt, dass du ein widerlicher Schleimer bist?«, scherzte Sophie.
»Ein Mal?«, fragte Matthias lachend zurück und zog sie in seine Arme, um sie – wenn nicht schon mit Worten, so wenigstens mit Taten – zu überzeugen.
*
Das Tablet in der Hand, blieb Dr. Daniel Norden einen Moment vor dem Zimmer seines Patienten Manfred Tuck stehen. Er konnte von Glück sagen, nicht in früheren Zeiten gelebt zu haben. Lange Zeit war es Usus, den Überbringer schlechter Nachrichten zu töten. Nicht nur in der griechischen Antike fanden sich solche Berichte. Erst am Wochenende hatte Daniel eine Dokumentation über die Azteken gesehen, in dem ihr Herrscher Montezuma den Boten hinrichten ließ, der ihm das Nahen des Spaniers Cortez gemeldet hatte.
Trotzdem fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut, als er zu seinem Patienten trat.
Manfred saß im Bett und sah ihn mehr oder weniger erwartungsvoll an.
»Ah, der Herr Doktor …«
»Herr Tuck, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie ein Meningeom haben.«
»Soso, jetzt hat das Ding also einen Namen.« Er fasste sich an den Kopf. »Werde ich daran sterben?«
»Nein.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Dabei handelt es sich um einen gutartigen Tumor der Hirnhaut. Wir werden Sie morgen früh operieren.«
Manfreds Augen wurden schmal.
»Morgen früh schon?«
»Wie bereits in der ersten Untersuchung festgestellt, ist die Lage des Tumors sehr erfolgversprechend. Ich habe die berechtigte Hoffnung, dass Sie den Eingriff ohne bleibende Schäden überstehen werden.« Daniel Norden sah seinem Patienten an, dass er Redebedarf hatte. Er zog sich einen Hocker ans Bett und setzte sich. »Wie gesagt, die Lage des Tumors ist günstig«, wiederholte er in Ermangelung einer anderen Idee.
Manfred Tuck seufzte aus tiefstem Herzen. Er blickte hinab auf seine ineinander verschlungenen Hände.
»Wissen Sie, bisher war ich immer ein Glückskind«, begann er zu erzählen. »Zuletzt, als ich Eva kennengelernt habe. Ausgerechnet in einer Zeit, in der ich so unzufrieden gewesen bin wie nie zuvor. Die Kinder erwachsen, die Frau an meiner Seite nur noch eine alte Bekannte, die ich hin und wieder zufällig im selben Haus traf.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Und dann kam Eva. Wie ein Wirbelwind ist sie durch dieses Leben gefegt, hat den Mief und Staub weggeweht. Statt Stoffhosen trage ich jetzt moderne Jeans und einen flotten Haarschnitt. Statt Rinderrouladen mit Klößen esse ich jetzt Soljanka mit Oliven und Tomaten. Und habe Spaß wie nie zuvor in meinem Leben.« Seine Mundwinkel zogen sich wieder nach unten. »Aber irgendwann ist offenbar bei jedem Zahltag.«
*
Nach diesem Gespräch wanderte Daniel Norden mit gesenktem Kopf über den Flur. Wie Manfred Tuck zählte auch er sich zu den Glückskindern. Wie auch nicht, mit dieser Frau an seiner Seite, den fünf gut gelungenen Kindern und seinem Enkelkind Fynn. Mit seinem Traumberuf, der ihn ans Ziel seiner Wünsche – die Leitung einer renommierten Privatklinik – geführt hatte. Würde auch er eines Tages büßen müssen für dieses unverschämte Glück?
Derart in Gedanken vertieft, nahm Daniel die Schritte hinter sich nicht wahr. Erst die Stimme riss ihn aus seiner Versunkenheit.
»Dan! Halt! Warte doch auf mich!«
Er drehte sich um und wartete auf seine Frau Fee. Ihre Wangen leuchteten, ihre Brust hob und senkte sich.
»Du siehst aus, als hättest du einen Marathon hinter dir.«
»Wir wollen es nicht übertreiben. Es war nur ein Halbmarathon«, schmunzelte sie und stemmte die Hände in die Hüften. Je mehr sich ihr Atem beruhigte, umso blasser wurde ihr Strahlen. »Stimmt es, dass Fuchs kollabiert ist?« Seite an Seite setzten sie ihren Weg fort.
»Das ist leider richtig. Ich habe Erst Hilfe geleistet und ihn dann in die Ambulanz zu Matthias bringen lassen.«
»Wusstest du, dass er ihn in die Psychiatrie verlegt hat?«
»Das ist mir neu.« Daniel wiegte den Kopf. »Wundert mich aber nicht. Meiner Ansicht nach war eine ordentliche Portion Beruhigungsmittel Grund für den Zusammenbruch.
»Ich weiß. Matthias hat es mir erzählt. Er hat auch gesagt, dass Fuchs sich weigert, mit den Kollegen der Psychiatrie zu sprechen.« Felicitas schickte ihrem Mann einen Seitenblick. »Hast du etwas dagegen, wenn ich mich mal mit ihm unterhalte?« Die Frage war nicht ungewöhnlich. Schließlich war Fee Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Alles, was mit diesem Thema zusammenhing, interessierte sie brennend.
Trotzdem wunderte sich Daniel über diese Bitte.
»Deine Fähigkeiten in allen Ehren. Aber denkst du wirklich, Dieter Fuchs spricht ausgerechnet mit dir über seine Befindlichkeiten? Immerhin bist du die Frau seines Erzfeindes.« Er zwinkerte Fee zu.
»Dann hast du also nichts dagegen, wenn ich mein Glück einmal versuche?«
»Natürlich nicht. Solange du nicht zu enttäuscht bist, wenn er dich abblitzen lässt.«
»Das lass mal meine Sorge sein.« Felicitas hielt ihren Mann am Kittel fest, drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Im nächsten Moment war sie um die Ecke verschwunden. Nur die Schritte, die schnell leiser wurden, bewiesen Daniel, dass er nicht geträumt hatte.
Gleichwohl dachte Dieter Fuchs an einen Traum, als Frau Dr. Norden an seinem Bett auftauchte.
»Was wollen Sie denn hier?« Er runzelte die Stirn. »Falls Sie noch weitere Untersuchungen durchführen wollen, können Sie gleich wieder gehen. Und überhaupt ist es eine Frechheit, dass mich dieser Weigand in diese Abteilung abgeschoben hat. Ich bin doch nicht geisteskrank.«
Beim Anblick des Verwaltungsdirektors erschrak Fee. Schwammig und blass, wie er war, hatte er noch nie besonders gesund ausgesehen. Neu waren die dunklen Ringe unter den Augen. Zeugen schlafloser Nächte? Oder doch einer Nierenerkrankung? Und was war mit dem Zucken des rechten Augenlids?
»Falls es Sie beruhigt: Keiner unserer Patienten hier ist geisteskrank.« Was für eine unmögliche Bezeichnung! »Sie befinden sich hier in der psychiatrischen Abteilung unserer Klinik, die sich auf die Behandlung psychischer Störungen und psychosomatischer Erkrankungen spezialisiert hat.«
»Egal, wie Sie es nennen«, schnaubte Fuchs. »Es ist eine bodenlose Frechheit, mich so zu behandeln.«
»Bitte beruhigen Sie sich. Heutzutage sind psychische Erkrankungen kein Stigma mehr. Ganz im Gegenteil sind sie genauso ernst zu nehmen wie körperliche Krankheiten.«
Fuchs saß aufrecht im Bett und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper.
»Das sagen Sie doch nur, damit Sie keinen Ärger bekommen.«
Nur mit Mühe gelang es Felicitas, ein Lächeln zu unterdrücken. Die Zeiten, in denen sie sich vor dem Verwaltungsdirektor gefürchtet hatte, waren lange vorbei. Aber das musste sie ihm nicht unter die Nase reiben. Nicht ausgerechnet jetzt.
»Herr Fuchs, ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu streiten. Ich möchte Ihnen helfen.«
»Vielen Dank. Da nehme ich lieber meine Tabletten.« Er griff nach der Fernbedienung. Leise surrend fuhr das Kopfteil des Bettes herunter. Unten angekommen, drehte er sich um und zog die Bettdecke über die Schulter. Deutlicher konnte er seine Ablehnung nicht zum Ausdruck bringen.
Im ersten Moment war Fee versucht, auf dem Absatz kehrtzumachen und das Zimmer zu verlassen. Arbeit hatte sie schließlich genug. Darüber hinaus wussten ihre kleinen Patienten ihre Bemühungen mehr zu schätzen als dieser Stoffel. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie aus freien Stücken hier stand. Sie dachte an die Worte ihres Mannes. Reckte trotzig das Kinn vor.
»Was soll das, Herr Fuchs?«, fragte sie und gab sich keine Mühe mehr, freundlich zu klingen. »Warum sträuben Sie sich so gegen Hilfe? Haben Sie keinen Spaß mehr am Leben? Wollten Sie sich etwas antun?«
»Unsinn!«, schnaubte er. »Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Ich habe meine Tabletten.«
»Wenn alles in Ordnung ist, dann brauchen Sie die doch auch nicht, oder?«
»In Ordnung! In Orndung!«, äffte Dieter Fuchs die Ärztin nach. Der Gefühlsausbruch kam überraschend. »Nichts ist mehr in Ordnung. Seit meine Tochter aufgetaucht ist und hier alles durcheinanderbringt, klappt nichts mehr. Ich verrechne mich ständig. Kann nicht mehr schlafen. Mich nicht konzentrieren. Und dann dieses Herzrasen. Diese Angst vor jedem neuen Fehler. Schrecklich.«
»Deshalb nehmen Sie Tabletten?«
»Ja.« Dieter nickte.
Fee betrachtete seinen Rücken.
»Sind Sie sich dessen bewusst, dass Sie mit diesen Beruhigungsmitteln alles nur noch schlimmer machen?«
Die Bettdecke raschelte. Dieter Fuchs kämpfte sich auf die andere Seite.
»Und was sollte ich Ihrer Ansicht nach denn sonst gegen all das tun?«, blaffte er sie an.
»Lassen Sie sich von mir helfen.«
Dr. Fee Norden wertete es als Erfolg, dass Dieter Fuchs ihr nicht sofort widersprach.
»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, knurrte er endlich. »Sonst werde ich Sie überhaupt nicht mehr los.«
*
»Wow!« Als Dr. Weigand seine Verlobte das nächste Mal zu Gesicht bekam, blieb ihm die Spucke weg. »Du weißt aber schon, dass du zur Facharztprüfung gehst und nicht zum Vorstellungsgespräch bei einem Millionenunternehmen.«
Sophie drehte sich um ihre eigene Achse. Das Etuikleid war schlicht geschnitten. Hellblau wie ihre Augen und knielang, wie es sich gehörte. Mit kleinem V-Ausschnitt. Die seitliche Raffung war das einzige auffällige Detail und sorgte doch für den besonderen Kick.
»Heißt das, dass ich dir gefalle?«
»Du siehst umwerfend aus.«
»Das ist schlecht. Wenn die Prüfer umfallen, können sie nicht mehr über mein Können richten.«
Matthias zog Sophie an sich.
»Wenn du Glück hast, ist eine Prüferin dabei.« Er wollte sie an sich drücken.
Zwei Hände vor seiner Brust hinderten ihn daran.
»Berühren verboten. Es darf nicht verknittern.« Auf flachen Sohlen ging Sophie hinüber zur Garderobe, nahm dem Blazer vom Haken und hängte sich die Tasche über die Schulter. »Bist du soweit?«
»Moment.« Matthias zog den Pieper vom Gürtel und schaltete ihn aus. »Deine Prüfung ist Notfall genug. Noch mehr Aufregung verkrafte ich heute nicht.« Er nahm Sophie an der Hand und zog sie mit sich.
Auf dem Weg durch die Flure der Behnisch-Klinik hallten ihnen Glückwünsche entgegen. Alle Kollegen schienen zu wissen, was Dr. Sophie Petzold an diesem Nachmittag erwartete.
»Alles hier oben gespeichert?«, fragte ihr Leidensgenosse Benjamin Gruber und tippte sich an die Stirn.
»Ich hoffe.« Sophie sah ihn an. »Wann ist es eigentlich bei dir soweit?«
»Ich habe noch ein bisschen Galgenfrist. Aber merk dir alles gut, damit du mir hinterher Tipps geben kannst.«
»Dein Fachgebiet ist psychosomatische Medizin. Schon vergessen?«
Sie zwinkerte Benjamin zu.
»Ich meinte so allgemeiner Natur.«
In der Lobby trennten sich ihre Wege. Matthias war froh darum. Nicht, dass er den Assistenzarzt nicht mochte. Aber es gab Situationen, in denen er gut und gern auf Smalltalk verzichten konnte.
Sie überquerten den Platz vor der Klinik. Mit einem Hupton schnappten die Schlösser des Wagens auf. Matthias hielt seiner Verlobten die Tür auf. Wenig später waren sie auf dem Weg durch die Stadt.
»Prüfer sind keine Monster. Keiner wird es darauf anlegen, dich durchfallen zu lassen«, erklärte er.
»Ich werde nicht durchfallen.«
Matthias starrte durch die Windschutzscheibe.
»Meine Güte, so eine Schlafmütze da vorn!« Er schlug mit der Hand auf das Lenkrad. »Hast du deinen Führerschein im Lotto gewonnen?«
Sophie musterte ihn sichtlich irritiert. »Was ist denn mit dir los, Matse? Du bist doch sonst nicht so ungeduldig.«
»Wir sind auf dem Weg zu deiner Facharztprüfung. Schon vergessen?« Er atmete ein paar Mal tief ein und aus. »Wo waren wir stehengeblieben?«
»Entspann dich! Ich werde nicht durchfallen!«, wiederholte Sophie.
Matthias Weigand rollte mit den Augen.
»Ich bin dein Anleiter. Hör wenigstens ein Mal, ein einziges Mal auf das, was ich dir zu sagen habe.«
»Schon gut. Reg dich nicht so auf.« Das, was Sophie jetzt am wenigsten brauchen konnte, war ein Streit.
Leicht machte Matthias es ihr allerdings nicht.
»Oberste Priorität: Lass die Prüfungsfrage auf dich wirken und antworte dann erst. Und falls es Unklarheiten gibt: Frage nach! Bitte.«
»Hier sind wir! Da drüben ist mein Lieblingsschmuckgeschäft.«
»Wie kannst du jetzt an Schmuck denken?«, schimpfte Matthias.
»Da wird ein Parkplatz frei.« Sophie deutete auf den Wagen vor dem Ärztehaus. Das orangefarbene Blinklicht leuchtete weithin. »Wenn das kein gutes Omen ist.«
Matthias blieb stehen und wartete, bis der Parkplatz frei war. Seine Fingerspitzen trommelten auf dem Lenkrad.
»Du sollst nachfragen! Hast du das gehört?«, wiederholte er seine Anweisung.
»Jahaaa. Ich bin doch nicht schwer von Begriff.«
»Ich meine es ernst. Dein Stolz in allen Ehren. Aber die Prüfung zu bestehen, ist mindestens genauso wichtig.« Er kurbelte am Lenkrad, um den Wagen in die Lücke zu bugsieren.
»Ich frage nach, wenn ich etwas nicht verstanden habe«, versprach Sophie. »Auch wenn ich mir das nicht vorstellen kann.«
Matthias stellte den Motor ab. Er öffnete den Sicherheitsgurt und drehte sich zu Sophie um.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich nervöser sein werde als du«, gestand er und strich ihr eine Strähne aus der Stirn. »Aber du bist der erste meiner Assistenzärzte, der die Facharztprüfung macht.«
»Wenn ich durchfalle, bekommst du die Kündigung vom Chef«, scherzte Sophie.
»Das mit ziemlicher Sicherheit nicht. Trotzdem würde ich an mir zweifeln.«
Täuschte er sich oder war ihr Lächeln spöttisch?
»Keine Sorge. Ich werde dir keine Schande machen.«
Matthias überlegte noch, was er darauf antworten sollte, als Sophie die Tür aufstieß.
»Wenn ich mich jetzt nicht beeile, bekomme ich gar nicht erst die Chance, nicht zu bestehen.« Sie schickte ihm eine Kusshand.
Krachend fiel die Tür ins Schloss.
»Viel Glück!«, rief Matthias ihr nach.
Doch Sophie hörte ihn nicht mehr.
*
»Nemaye! Nein! Das ist nicht dein Ernst.« Eva Tuck schüttelte den Kopf. Ihr ganzer Körper klimperte, als wäre eine Schmuckschatulle auf den Boden gefallen. »Das kannst du nicht machen!«
»Meine Güte! Jetzt mach es mir doch nicht schwerer, als es ohnehin schon ist«, schimpfte ihr Mann. »Ich verlasse dich und damit basta!«
»Aber warum?« Eva wollte nicht weinen. Ausgerechnet heute hatte sie keine wasserfeste Wimperntusche aufgetragen. »In guten wie in schlechten Zeiten, hast du das schon vergessen?«
»Hör mir doch auf mit diesem altmodischen Unsinn!«, wütete Manfred weiter. »Ich bin viel älter als du und demnächst ein Krüppel. Aber du, du hast noch dein ganzes Leben vor dir.«
»Hör du auf damit!« Eva staunte selbst über ihren Tonfall. »Was soll ich mit einem ganzen Leben ohne dich?«
»Du meinst wohl mit einem Krüppel.« Manni lachte abfällig. »Schau dich doch an!« Er griff nach ihrer Hand. Betrachtete die langen Fingernägel. Pink lackierte Pfeilspitzen. »Wie willst du denn mit diesen Krallen einen Krüppel pflegen? Nein.« Er ließ ihre Hand fallen und schüttelte den Kopf. »Das will ich gar nicht miterleben. Genauso wenig, wie ich erleben will, dass du mich wegen eines anderen, gesunden Mannes verlässt.«
»Aber …«, wollte Eva aufbegehren.
»Kein Aber! Raus jetzt!«
Die Mitarbeiter im Schwesternzimmer horchten auf. Was war das?
Im nächsten Moment fiel eine Tür krachend ins Schloss. Schritte stöckelten über den Flur und wurden schnell leiser.
»Die Barbiepuppe, unverkennbar«, schloss Schwester Astrid messerscharf.
»Nur kein Neid«, erwiderte ihr Kollege, der Pfleger Jakob. »Es kann ja nicht jeder so scharf aussehen wie Frau Tuck.«
»Schluss damit!« Mit einem Machtwort beendete Schwester Elena diese Diskussion. »Statt sich den Mund über unsere Patienten und deren Angehörige zu zerreißen, sollten Sie lieber nach dem Rechten sehen.« Sie stand vom Schreibtisch auf und ging zur Tür. »Eigentlich dachte ich, Sie wären über das kleine Einmaleins der guten Pflege hinaus.« Ohne eine Antwort abzuwarten, machte sie sich auf den Weg zu Manfred Tuck. Sie öffnete die Tür. Und erschrak. Mit zwei, drei Schritten war sie am Bett.
»Um Gottes willen, Herr Tuck!«
Mit weit aufgerissenen Augen lag Manfred im Bett. Er zuckte am ganzen Körper. Elena legte ein Kissen unter seinen Kopf. Sprach beruhigend auf ihn ein und wartete darauf, dass er sich wieder beruhigte. Ein Krampfanfall, verursacht durch ein Meningeom, war keine Seltenheit. Sie wusste, dass sie nicht viel mehr tun konnte, als abzuwarten. Schneller als vermutet zeigte die Strategie Wirkung. Mannis Glieder entspannten sich. Sein Atem beruhigte sich. Er blinzelte ins schwindende Licht des Tages.
»Schwester …« Seine Blicke irrten im Zimmer umher. »Ist sie weg?«
»Ihre Frau ist vor ein paar Minuten gegangen.« Elena griff nach seinem Handgelenk und sah auf die Uhr. »Sie wirkte sehr verstört.« Sie legte seinen Arm zurück auf das Bett und half Manfred, sich zuzudecken. »Darf ich fragen, was passiert ist?«
Erschöpft von dem überstandenen Anfall lag er einfach nur da und blickte hinüber zum Fenster. Von hier aus sah er nur ein Stück grauen Himmel und die Wipfel der Bäume im Klinikgarten. Mit an den Rändern gewellten Blättern. Der Sommer lag in den letzten Zügen. Bald würde er sein buntes Kleid anziehen, ein letztes Fest feiern, bevor die Welt die Farben verlor. Genau wie sein Leben.
»Ich habe mich von Eva getrennt«, gestand er tonlos.
»Wie bitte?«
»Hören Sie schlecht? Dann sollten Sie mal einen Ihrer HNO-Ärzte aufsuchen. Wozu ist das hier eine Klinik?«
Schwester Elena legte die Hand auf seine Schulter.
»Warum haben Sie Ihre Frau verlassen?«
Ihre sanfte Stimme verfehlte ihre Wirkung nicht.
»Das fragen Sie noch? Ich habe einen Gehirntumor. Soll sich eine junge, schöne Frau wie Eva an einen alten Krüppel verschwenden? Sie hat auch nur ein Leben.« Manfred fuhr sich über die Augen. »Ich kann mir gut vorstellen, wie das wird. Die mitleidigen Blicke der Leute. Evas Mitleid mit mir. Ihr Überdruss. Meine Eifersucht. Mit wem war sie beim Shoppen? Wer hat die neue Handtasche bezahlt? Riecht sie nach Herrenparfum?«
»Herr Tuck …«
»Eines Tages werde ich Eva hassen für all das, wofür ich sie heute liebe. Das hat sie nicht verdient.«
»Finden Sie nicht, dass Ihre Frau in dieser Sache auch noch ein Wörtchen mitzureden hat?«
Manfred Tucks Lachen jagte Elena einen Schauer über den Rücken.
»Ich bitte Sie, Schwester. Das Leben ist kein Groschenroman. Wir wissen doch beide, dass eine Frau wie Eva einen alten Mann wie mich nicht aus Liebe geheiratet hat.« Er schüttelte den Kopf. »Zum einen war es für Eva eine schöne Selbstbestätigung, den kapitalen Zwölfender – also mich – erobert zu haben. Zum anderen hat sie dadurch nicht nur einen Mann, sondern auch gesellschaftliche Achtung und Macht erhalten. Ein nicht zu verachtender Nebeneffekt.« Sein Lächeln war maskenhaft. »Aber was ist mit Achtung, der Selbstbestätigung, wenn ich zum Pflegefall werde?«
Im Gegensatz zu seinem Lächeln war Elenas warm.
»Mal abgesehen davon, dass ich Sie nie einen Hirsch nennen würde, denke ich, dass Sie Ihre Frau unterschätzen.« Noch einmal fühlte sie Manfred Tucks Puls. Er hatte sich wieder halbwegs beruhigt.
»Geben Sie sich keine Mühe. Ich kenne meine Frau besser als jeder andere Mensch. Ich weiß, wie Eva tickt.« Manfred seufzte. »Leider.«
*
»Und? Schon was von Sophie gehört?«, erkundigte sich Dr. Daniel Norden. Er war auf dem Rückweg in sein Büro, als ihm Matthias Weigand über den Weg lief.
»Nein, noch nicht.« Matthias schob den Kittelärmel zurück. »Ich verstehe gar nicht, warum das so lange dauert.«
»Vielleicht ist sie mit ein paar Kollegen feiern gegangen.«
»Oder aber sie steht mal wieder vor dem Schaufenster ihres Lieblingsjuweliers und hat die Zeit vergessen. Der ist nämlich nur ein paar Minuten Fußweg entfernt vom Ärztehaus.« Matthias trat von einem Bein auf das andere. »Ich rufe sie an.«
»Auf keinen Fall.« Daniel hob die Hände. »Das würde ich nicht tun. Stell dir vor, du erwischst sie mitten in der Prüfung.«
»Ausgeschlossen. Ich habe ihr selbst zugeschaut, wie sie das Handy ausgeschaltet hat.« Er zog das Mobiltelefon aus der Tasche und drückte ein paar Tasten. Ein Foto von Sophie, aufgenommen im Sommer am See, blinkte auf. »Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal«, äffte er die Stimme des Anrufbeantworters nach und legte wieder auf. »Diese Warterei macht mich noch wahnsinnig.«
»Ich kenne ein probates Mittel gegen diese Art von Wahnsinn.«
»Ich bin gespannt.«
»Arbeit.« Daniel lachte, klopfte seinem Freund und Kollegen auf die Schulter und setzte seinen Weg fort.
An diesem Abend war er mit seiner Frau zum Essen verabredet und wollte pünktlich Feierabend machen.
Ähnliche Pläne hatte auch Dr. Weigand. Hinter Sophies Rücken hatte er einen Babysitter organsiert. Einen Tisch in ihrem Lieblingsrestaurant reserviert. Er hatte Champagner und Torte bestellt. Aber was, wenn das Leben wieder einmal Kapriolen schlug? Lieber nicht daran denken! Blieb also nur der Rat seines Freundes.
Mit Schwung betrat Dr. Weigand das Zimmer des Verwaltungsdirektors.
»Endlich kümmert sich mal jemand um mich«, schallte ihm postwendend eine Beschwerde entgegen.
»Sie haben jede Behandlung abgelehnt.«
»Weil ich nicht geisteskrank bin. Am Ende verpassen Sie mir noch eine Libo … Labo … Lebitomie.«
»Sie meinen wohl eine Lobotomie«, korrigierte Dr. Weigand den Verwaltungsdirektor. »Falls es Sie beruhigt: Dieser neurochirurgische Eingriff ins Gehirn wird in Deutschland seit den 1970er Jahren nicht mehr durchgeführt.«
Dieter Fuchs schickte dem Chef der Ambulanz einen schiefen Blick.
»Bei Ihnen kann man nie wissen. Aber wechseln wir lieber das Thema. Wissen Sie endlich, was mir fehlt?«
Matthias kämpfte mit einer passenden Antwort. Daniel hatte ihm nicht verraten, dass die Mischung aus Nervosität und Ärger gefährlich werden konnte für den Patienten.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass die Ergebnisse erst morgen früh kommen.« Er schaltete das mitgebrachte Tablet ein und öffnete die Patientenakte Dieter Fuchs.
»Wieso erst morgen früh?«, wetterte der Verwaltungsdirektor unterdessen weiter. »Warum dauert das so lange? Man könnte den Eindruck bekommen, dass das Labor nicht sehr effizient arbeitet. Am Ende war meine Auslastungsanalyse doch richtig.«
»Das sehen die Herrschaften vom Trägerverein anders«, erwiderte Matthias in aller Seelenruhe, während er auf dem Bildschirm vor und zurück wischte.
Dieter Fuchs schluckte.
»Wie meinen Sie das?«
Dr. Weigand schaltete das Tablet aus und widmete sich wieder seinem Patienten.
»Das wissen Sie nicht?«, schützte er Unwissenheit vor. »Ach, und ich dachte, Sie hätten die Tabletten aus Angst vor dem Termin genommen.«
»Wie bitte?« Sämtliche Farbe wich aus Dieter Fuchs‘ Gesicht. »Welcher Termin?«
Matthias blickte verwirrt drein. War es möglich, dass Fuchs noch nichts von der Entscheidung des Trägervereins mitbekommen hatte? Obwohl die Spatzen die bittere Wahrheit längst von den Dächern respektive durch die Flure der Behnisch-Klinik riefen.
»Am besten, Sie setzen sich mit Dr. Beckmann vom Trägerverein in Verbindung. Er kann Ihnen genau sagen, um was es geht. Sie wissen doch, wie das in einer Klinik so ist. Da kursieren immer nur Halbwahrheiten.«
Das Klingeln des Telefons befreite ihn aus der unangenehmen Situation.
»Wenn ich sonst nichts für Sie tun kann, wünsche ich Ihnen einen schönen Abend«, verabschiedete er sich.
Auf dem Weg zur Tür nestelte er das Mobiltelefon aus der Kitteltasche. Es war Sophie! Endlich!
*
Durch die Durchreiche der Küche wehten Rufe ins Restaurant. Töpfe, Geschirr und Besteck klapperten. Wie das Summen eines Bienenvolks erfüllte das Gewirr aus Stimmen die Luft. Ab und zu riss ein Lachen aus und flatterte durch die Gaststube.
Der Duft nach einem Urlaubsabend in Italien ließ nicht nur Daniel und Fee das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Ein Besuch bei Enzo ist immer wie ein Kurzurlaub«, murmelte Fee und schob ein Stück ölglänzende Paprikaschote in den Mund.
»Genau das war der Plan, warum ich dich heute hierher entführt habe.« Ein Teller mit Antipasti stand vor ihm. Vom Balsamico dunkelbraun gefärbte Zwiebeln. Silbrige Sardinen. Streifen vom Fenchel auf Orangenscheiben, die leuchteten wie die untergehende Sonne.
Doch Daniel schien das Wunder vor sich nicht zu bemerken. Ein Glas Weißwein in der Hand saß er da und bewunderte seine Frau.
Sie hörte auf zu essen. Zog eine Augenbraue hoch.
»Was ist? Warum schaust du mich so an?«
»Weil es mir gefällt, mit wie viel Genuss du isst.«
Belustigtes Lachen. Fee spießte eine Cocktailtomate mit Rucola auf und wedelte mit der Gabel vor seinem Gesicht herum.
»Wenn du dich nicht beeilst, bekommst du nichts mehr.« Ein Haps, und die Tomate verschwand in ihrem Mund.
»Dann bestelle ich mir einfach was Neues.«
»Das könnte schwierig sein im Moment.« Fee nickte hinüber zu Kellnerinnen und Obern, die sich vor dem Tresen versammelt hatten.
Daniel drehte sich um.
»Oh, sieht nach einem Geburtstag aus.«