E-Book 1181-1190 - Patricia Vandenberg - E-Book

E-Book 1181-1190 E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! 1181 - Kekse, die nach Liebe schmecken 1182 - Mit dem Leben abgeschlossen? 1183 - Vermisst! 1184 - Ich bin deine Tochter 1185 - Wenn Träume wahr werden 1186 - Dein Leben in meiner Hand 1187 - Mein Augenlicht bist du! 1188 - Doppelter Verrat! 1189 - Wenn jede Hoffnung schwindet 1190 - Entscheidung am Limit E-Book 1: Kekse, die nach Liebe schmecken E-Book 2: Mit dem Leben abgeschlossen? E-Book 3: Vermisst! E-Book 4: Ich bin deine Tochter! E-Book 5: Wenn Träume wahr werden E-Book 6: Dein Leben in meiner Hand E-Book 7: Mein Augenlicht bist du! E-Book 8: Doppelter Verrat! E-Book 9: Wenn jede Hoffnung schwindet E-Book 10: Entscheidung am Limit

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Inhalt

Kekse, die nach Liebe schmecken

Mit dem Leben abgeschlossen?

Vermisst!

Ich bin deine Tochter!

Wenn Träume wahr werden

Dein Leben in meiner Hand

Mein Augenlicht bist du!

Doppelter Verrat!

Wenn jede Hoffnung schwindet

Entscheidung am Limit

Chefarzt Dr. Norden – Staffel 8 –

E-Book 1181-1190

Patricia Vandenberg

Kekse, die nach Liebe schmecken

Wofür es sich zu leben lohnt …

Roman von Pergelt, Jenny

Jette liebte diesen besonderen Augenblick, wenn sie die Tür des Backofens öffnete und ihr der Duft von karamellisiertem Zucker, zerlaufener Butter und weichem Biskuit entgegenströmte. Mit einem entrückten Lächeln schloss sie die Augen und war glücklich, dass sie sich für den schönsten Beruf der Welt entschieden hatte.

»Nicht träumen! Arbeiten!«

Jette zuckte schuldbewusst zusammen, als sie Ankas schnippische Stimme hinter sich hörte.

»Ich träume nicht«, verteidigte sie sich halbherzig und nahm den Kuchen aus dem Ofen. Sie hatte gelernt, dass es besser war, über Ankas Sticheleien hinwegzusehen.

Die Tochter des Bäckermeisters kam zum Glück nur selten zu ihr in die Backstube. Sie hatten zwar im selben Jahr dieselbe Schule abgeschlossen, waren sich im Grunde aber völlig fremd. Während Jette eine Konditorlehre begonnen hatte, war Anka sofort in den elterlichen Betrieb eingestiegen, um ihren Platz hinter der Ladentheke einzunehmen. Erst Jahre später hatte der Zufall die beiden jungen Frauen wieder zusammengeführt.

Jette war nach ihrer Ausbildung auf der Suche nach einer neuen Herausforderung gewesen, und im Café Stiller gab es eine freie Stelle in der Backstube. Als Jette die Anzeige im Wochenblatt gelesen hatte, war ihr sofort Anka eingefallen. Anka Stiller, das unscheinbare und zurückhaltende Mädchen, dem die Schule nie leichtgefallen war und das nur wenige Freunde hatte.

Jette bewarb sich auf die Stelle, arbeitete einen Tag auf Probe und bekam dann den Job. Damals war sie überzeugt gewesen, gut mit Anka auskommen zu können. Doch Anka hatte ihr schnell klargemacht, wer hier das Sagen hatte und dass sie als Juniorchefin keine freundschaftliche Beziehung zu einer Angestellten unterhielt.

Inzwischen arbeitete Jette seit zwei Jahren im Café Stiller, und sie hatte sich mit Ankas Eigenarten längst abgefunden. Sie musste nicht mit ihr befreundet sein. Für Jette zählte nur, dass ihr die Arbeit Spaß machte und dass man ihr in der Backstube freie Hand ließ. Sie konnte nach ihren eigenen Rezepten backen und neue Kreationen entwickeln. Manfred Stiller, der Bäckermeister, mischte sich nicht in die Arbeit der jungen Konditorin ein. Er machte das, was er am besten konnte: das Backen von unschlagbar gutem Brot. Für Kuchen und Torten hatte er allerdings nicht viel übrig, obwohl gerade sie dafür sorgten, dass sein kleines Café immer gut besucht war und der Umsatz im Verkauf kontinuierlich anstieg.

Fast alle Kuchen, Torten und Plätzchen wurden inzwischen nach Jettes alter Rezeptsammlung gebacken. Die einzelnen Komponenten, die für den unvergleichlichen Geschmack ihrer Schöpfungen verantwortlich war, kannte nur sie. Sie standen in einem kleinen abgegriffenen Büchlein, das sie wie einen Goldschatz hütete und nie aus der Hand gab. Nicht nur, weil sie das ihrer Großmutter versprochen hatte, sondern auch, weil sie wusste, dass sie sich damit ihren eigenen Arbeitsplatz sicherte.

In wenigen Wochen lief ihr befristeter Arbeitsvertrag aus. Jette machte sich deswegen keine Sorgen. Sie war sich sicher, dass ein neuer, unbefristeter Vertrag schon längst für sie auf dem Schreibtisch des Chefs bereitlag.

»Ist der Käsekuchen endlich fertig? Ich habe dir bereits vor Stunden gesagt, dass ich im Laden Nachschub brauche.«

»Und deshalb habe ich ihn auch sofort gebacken. Er musste nur noch ein wenig abkühlen«, erklärte Jette ruhig und ging dann zum Tisch hinüber, auf dem der Käsekuchen auf einem Gitterrost stand. Mit routinierten Handgriffen schob sie ihn auf die Tortenplatte aus glänzendem Edelstahl.

»Ich bringe ihn dir sofort raus«, sagte sie zu Anka, die ungeduldig auf der Stelle trampelte.

»Nein, ich nehme ihn gleich mit.« Anka drängelte sich an Jette vorbei und riss ihr den Kuchen fast aus den Händen. »Ich brauche ihn sofort.«

Jette lächelte nachsichtig und ignorierte dabei die eigene Sehnsucht in ihrem Herzen. »Lass mich raten: Lukas ist gekommen und verlangt nach meinem Käsekuchen.«

»Nach deinem?«, fragte Anka spitz zurück.

Jette hätte fast aufgestöhnt. »Nein, natürlich ist es nicht mein Kuchen, sondern der des Café Stillers.«

Sie sah zu, wie Anka mit dem Käsekuchen davoneilte, um Lukas ein extragroßes Stück davon zu servieren. Lukas hatte eine Schwäche für Käsekuchen und Anka eine Schwäche für Lukas. Allerdings schlug auch Jettes Herz schneller, wenn Lukas im Café saß. Noch vertrackter wurde die Situation, weil Jette nicht wusste, wie Lukas zu dem Ganzen stand. Kam er ihretwegen oder wegen Anka? Oder womöglich nur wegen des Kuchens?

Vor einigen Wochen war Lukas zum ersten Mal im Café aufgetaucht. Es war ein verregneter, stürmischer Herbsttag gewesen, und nur wenige Menschen hatten im Café Zuflucht vor dem schlechten Wetter gesucht. Weil Anka frei hatte, musste Jette an diesem Tag die Bedienung übernehmen. Obwohl sie ihre Backstube liebte, gefiel es ihr auch gut, im Service zu arbeiten und mit den Gästen, die sich ihren Kuchen schmecken ließen, ins Gespräch zu kommen.

Lukas hatte allein an dem kleinen Fenstertisch im hinteren Teil des Cafés gesessen. Ganz vertieft in sein Buch, das vor ihm auf dem Tisch lag, schenkte er seiner Umgebung kaum Beachtung. Als Jette an seinen Tisch kam, um die Bestellung aufzunehmen, musste sie ihn zweimal ansprechen, bevor er überhaupt von ihr Notiz nahm und von seiner Lektüre aufsah. Verwirrt hatte er sie angesehen. Dann begannen seine Augen zu strahlen, und Jette vergaß, ihn nach seinen Wünschen zu fragen.

»Was kannst du mir empfehlen?«, hatte er gefragt und mit seinem umwerfenden Lächeln dafür gesorgt, dass ihr Kopf völlig leer war. Ihre Beine drohten nachzugeben, und in ihrer Brust gab es dieses komische Gefühl, das ihr Herz zum Stolpern brachte und ihr die Kraft zum Sprechen nahm.

»Käsekuchen«, stammelte sie, weil ihr nichts anderes einfiel.

»Käsekuchen! Das klingt fantastisch!« In seiner Stimme schwang so viel übertriebene Begeisterung mit, dass Jettes seltsame Anspannung im Nu verschwand und sie fröhlich in sein Lachen einstimmen konnte.

Sie hatte ihm den Käsekuchen und einen großen Milchkaffee gebracht, und als er sie bat, ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten, musste sie nicht lange überlegen. Nur zu gern war sie seiner Bitte nachgekommen und hatte sich zu ihm an den Tisch gesetzt, um mit ihm zu plaudern und zu lachen. Als er später ging, versprach er, bald wiederzukommen. Und das hatte er getan. Lukas wurde zu einem Stammgast im Café. Er saß immer am selben Tisch am Fenster und bestellte jedes Mal Käsekuchen. Leider gelang es Jette nie wieder, mehr als ein paar Worte oder einen flüchtigen Gruß mit ihm zu wechseln. Sie war meistens in der Backstube, während Anka ihn und die anderen Gäste bediente. In letzter Zeit kümmerte sich Anka um ihn mit besonderer Hingabe. Nirgends verweilte sie so lange wie an seinem Tisch. Sie scherzte und lachte mit ihm, während Jette nur die wehmütigen Erinnerungen an seinen ersten Besuch im Café Stiller blieben.

Jette holte die Zitronentörtchen aus der Kühlung und dekorierte sie mit frischer Minze. Nach einem letzten kritischen Blick nahm sie die Glasplatte hoch, um sie in den Verkaufsraum zu tragen. Auf dem Flur, der die Backstube mit dem Laden verband, blieb sie kurz vor dem Spiegel stehen. Genauso kritisch wie zuvor die Zitronentörtchen besah sie ihr Gesicht. Sie war nicht überrascht, als sie dort und auf ihrem dunklen Haar Spuren von feinstem Mehlpuder entdeckte. Mit der freien Hand rieb sie ihr Gesicht sauber und setzte dann ihren Gang fort. Sie wollte gerade den schweren Vorhang beiseiteschieben, als ihr Ankas ungeduldige Stimme entgegenschlug und sie innehielt.

»Nein, du kannst nicht zu Jette in die Backstube. Wie oft soll ich dir das denn noch sagen? Unsere Hygienevorschriften verbieten, dass die Gäste … «

»Das weiß ich doch schon alles.« Das war eindeutig Lukas, und Jette blieb, wo sie war, um ihm zuzuhören.

»Du musst dich nicht ständig wiederholen, Anka. Wenn ich nicht zu ihr darf, dann hol sie doch einfach her!«

»Das geht schon mal gar nicht!«, wies ihn Anka zurecht. »Schließlich hat sie zu tun. Sie kann nicht alles stehen und liegen lassen, um mit dir zu schwatzen.«

»Ich wollte nicht mit ihr schwatzen, sondern ihr nur kurz Hallo sagen, bevor ich wieder gehe.«

»Kein Problem, Lukas. Ich richte ihr deine Grüße aus.«

»Anka, bitte, kannst du Jette nicht doch herholen? Es dauert auch nicht lange. Bitte!«

Als Jette nun hörte, dass sich Lukas aufs Bitten verlegte, trat sie mit ihrem Zitronentörtchen hinter dem Vorhang hervor.

»Habe ich gerade meinen Namen gehört?«, fragte sie betont fröhlich. Sie sah, wie Lukas’ Gesicht zu strahlen begann, während hinter Ankas Stirn eine Gewitterwolke aufzog.

»Jette! Schön, dass ich dich doch noch zu sehen bekomme!«

Jette merkte, wie in der Nähe ihres Herzens wieder dieses flatternde Gefühl einsetzte, das sie kannte, seit sie Lukas zum ersten Mal begegnet war.

»Ich freue mich auch, Lukas.« Sie zwinkerte ihm zu. »Und? Hat dir der Käsekuchen geschmeckt?«

Lukas grinste. »Ja, so gut wie immer.«

»Willst du nicht mal etwas anderes ausprobieren?«, gab Jette mit einem leisen Lachen zurück.

Entschieden schüttelte den Lukas den Kopf. »Auf gar keinen Fall! Ich verbinde mit dem Käsekuchen meine schönsten Erinnerungen.« Sein Lächeln wurde weicher, als er nun nachsetzte: »Besonders mit dem ersten Stück.«

»Hast du nichts zu tun, Jette?«, mischte sich jetzt Anka ein. »Am Ende verbrennt dir noch ein Kuchen.«

»Keine Sorge. Das passiert schon nicht.« Jette lächelte, doch als sie Ankas wütenden Blick auffing, wurde sie sofort nervös und lenkte schnell ein. »Aber du hast recht. Ich sollte wirklich mal nachschauen, ob alles in Ordnung ist.«

»Schade«, sagte Lukas. »Ich dachte, wir könnten uns noch ein bisschen unterhalten.«

»Dafür wird Jette nicht bezahlt«, fauchte ihn Anka an, ruderte dann aber zurück und sagte freundlicher: »Du könntest mich ja fragen, wenn du Gesellschaft brauchst. Ich nehme mir gern Zeit für dich. Sehr gern sogar.«

»Nun ja, also … « Lukas sah nervös von ihr zu Jette und fuhr sich dabei mit einer Hand durch seine blonden Haare, die anschließend aussahen, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen. Hastig warf er einen Blick auf seine Uhr. »Oh! Schon so spät! Ich muss dann leider los. Vielleicht ein anderes Mal … « Er winkte den beiden Frauen noch einmal zu und lief dann so schnell aus dem Café, dass es wie eine Flucht wirkte.

Aufgebracht drehte sich Anka zu Jette um, die sich beeilte, in den vermeintlichen Schutz der Backstube zurückzukehren. Sie hatte nichts verbrochen, und trotzdem hatte sie sich Ankas Zorn zugezogen. Am besten ging sie ihr für eine Weile aus dem Weg, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Doch Anka folgte ihr.

»Was läuft da zwischen dir und Lukas?«, blaffte sie.

»Gar nichts! Er ist ein Gast wie jeder anderer auch … «

»Für wie blöd hältst du mich? Denkst du wirklich, ich weiß nicht, was hier los ist?«

Jettes Verärgerung ließ sie vergessen, dass ihre Strategie eigentlich lautete, jede Konfrontation mit Anka zu vermeiden. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Klär mich auf! Ich habe nämlich keine Ahnung, wovon du sprichst oder was du mir hier vorwirfst.«

»Du machst ihm schöne Augen!« Anka hatte sich vor Jette aufgebaut und funkelte sie wütend an. »Was fällt dir ein, ihn mir auszuspannen?«

»Wie bitte? Spinnst du jetzt total? Du warst doch nie mit ihm zusammen!«

»Woher willst du das denn wissen? Was glaubst du wohl, warum er jeden Tag herkommt? Ganz sicher nicht wegen deines blöden Käsekuchens.« Als Anka sah, wie Jette bei ihren Worten zusammenzuckte, setzte sie noch eins drauf. »Lukas und ich sind uns in den letzten Tagen nähergekommen.«

»Nähergekommen?«, echote Jette und wunderte sich, wie weh ihr Ankas Worte taten.

»Ja, sogar sehr nahe! Also lass ihn gefälligst in Ruhe! Du kannst ruhig zugeben, dass du vorhin nur rausgekommen bist, um ihn anzuschmachten.«

»Nein, ich bin rausgekommen, um die Zitronentörtchen in die Auslage zu stellen.« Mit Jettes Beherrschung war es nun vorbei. Der Gedanke, dass Anka und Lukas ein Paar sein könnten, brannte wie Feuer in ihrem Herzen.

»Die Zitronentörtchen waren der Grund und nicht Lukas«, wiederholte Jette diesmal energischer und gab nun jede Zurückhaltung auf. »Und selbst wenn es anders gewesen wäre, würde es dich überhaupt nichts angehen!«

»Natürlich geht es mich etwas an, wenn meine Angestellte mit den Gästen flirtet und dabei ihre Arbeit vernachlässigt!«, keifte Anka lautstark zurück. »Oder hast du etwa vergessen, wer dir deine Lohntüte füllt?«

»Na, du ganz bestimmt nicht! Noch sind das deine Eltern! Schließlich stehen ihre Namen auf meinem Arbeitsvertrag!«

»Ruhe! Seid augenblicklich still!«, zischte es plötzlich hinter den beiden streitlustigen Frauen, die sich inzwischen wie Kampfhähne gegenüberstanden.

Als Jette sich umdrehte und das aufgebrachte Gesicht ihrer Chefin sah, zog sie vor Verlegenheit den Kopf ein. Warum hatte sie sich nur zu diesem Streit hinreißen lassen? Sie hätte einfach ihre Arbeit machen und sich weder um Anka noch um Lukas scheren sollen. Bei dem Gedanken an Lukas begehrte ihr Herz allerdings sofort auf und sagte ihr, dass er jedes Wortgefecht wert sei.

»Was ist denn bloß in euch gefahren?«, schimpfte Dagmar Stiller so leise, wie es ihr Ärger gerade noch zuließ. »Euren Krach hört man bis ins Café.«

»Es tut mir leid, Frau Stiller«, sagte Jette ehrlich beschämt, während Anka die Hände vors Gesicht schlug und nur ein herzerweichendes Schluchzen vernehmen ließ. Sofort eilte Dagmar zu ihr, um sie zu trösten. Kaum hatte sie Anka in ihre Arme gezogen, nahm das Schluchzen an Lautstärke zu.

»Schon gut, meine Kleine«, versuchte Dagmar, ihr einziges Kind zu beruhigen. »Wir gehen jetzt zu Papa ins Büro. Wenn es dir wieder besser geht, erzählst du uns, was los war.«

Fassungslos sah Jette zu, wie Dagmar Stiller die immer noch weinende Anka aus der Backstube führte. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und atmete tief durch. Ein ungutes Gefühl sagte ihr, dass das Ganze für sie Konsequenzen haben würde. Äußerst unangenehme Konsequenzen, wie sie befürchtete. Leider half es wenig, sich zu sagen, dass sie an diesem Streit nicht die alleinige Schuld trug. Genauso wenig, wie sie darauf vertrauen konnte, dass Dagmar und Manfred Stiller so vernünftig waren, das einzusehen.

Jette blieb noch eine Weile sitzen und zermarterte sich ihren Kopf mit der Frage, wie schlimm die Sache für sie ausgehen mochte. Dann beschloss sie, diese fruchtlose Grübelei zu beenden und sich mit dem, was sie am liebsten machte, abzulenken. Es war Zeit, ein paar Kekse zu backen. Das half immer, um Kummer oder Sorgen zu vertreiben.

Sie hatte gerade die Butter abgewogen, als Manfred Stiller die Backstube betrat. Er musste nicht erst den Mund aufmachen, um die schlechte Nachricht zu verkünden. Seine bitterernste Miene verriet Jette sofort, dass ihre Zeit im Café Stiller vorüber war.

*

Katja sah auf die Liste, die vor ihr auf dem kleinen Küchentisch lag, und schrieb nach kurzem Überlegen einen weiteren Namen dazu.

»Was machst du da?«, murmelte Hagen schlaftrunken, als er zu ihr in die Küche kam. »Und warum bist du schon wach? Es ist erst halb sechs.« Er ging zu ihr, um ihr einen leichten Kuss auf die Wange zu geben.

»Ich konnte nicht mehr schlafen«, erklärte Katja und sah ihren Liebsten zärtlich an. »Du aber anscheinend auch nicht. Halb sechs ist sogar für deine Verhältnisse sehr früh.«

»Ich habe um sieben eine Fallbesprechung und möchte vorher noch einmal die Akten durchlesen.«

»Ein komplizierter Fall?«, fragte Katja nach. Hagen arbeitete als Staatsanwalt am Oberlandesgericht. Frühe Termine mit den ermittelnden Behörden kamen häufig vor und gehörten für ihn zu einem ganz normalen Arbeitstag dazu. Über seine Fälle sprach er nie mit ihr, obwohl sie sich sehr für seine Arbeit interessierte. Er begründete es mit der Schweigepflicht, der er unterlag, aber Katja vermutete, dass es ihm vor allem darum ging, die vielen unschönen Dinge, mit denen er beruflich zu tun hatte, von ihrem Leben fernzuhalten.

»Nein, nicht kompliziert, eher mühsam und aufwändig mit riesigen Aktenbergen, deren Sichtung viel zu viel Zeit verschlingt.« Als Hagen herzhaft gähnte, reichte ihm Katja ihre halbvolle Kaffeetasse.

»Trink! Dann geht’s dir bestimmt gleich besser.«

»Danke, du bist ein Schatz.« Hagen setzte sich, nahm einen Schluck und seufzte genussvoll auf, als die belebende Wirkung des Koffeins einsetzte.

»Hätte ich gewusst, dass du heute so zeitig aufstehst, hätte ich uns Frühstück gemacht.«

»Nicht nötig. Das Meeting um sieben schließt ein Frühstück mit ein. Frau Karsten besteht darauf, belegte Brötchen und literweise Kaffee zu besorgen.« Frau Karsten war Hagens persönliche Assistentin. Eine bessere konnte er sich nicht vorstellen, und er dachte bereits jetzt mit Grauen daran, dass sie in einigen Jahren in Pension ging.

Hagen sah zu, wie Katja neuen Kaffee aufsetzte, und warf dann einen Blick auf die Liste, die noch immer auf dem Tisch lag.

»Advent? Weihnachten?«, las er fragend die Überschriften der beiden Spalten vor. Darunter standen viele Namen, von denen er die meisten kannte. »Was ist das? Eine Geschenkeliste?«

»Ja, genau.« Katja nickte eifrig mit dem Kopf. »In vier Wochen haben wir den Ersten Advent. Bis dahin muss ich noch allerhand besorgen.«

Hagen runzelte nachdenklich die Stirn. »Zum Advent? Tut mir leid. Wahrscheinlich bin ich noch nicht munter genug, um das verstehen zu können. Dass alle meinen, sich zu Weihnachten mit Geschenken zu überhäufen, mag ja noch in meinen Kopf reingehen, aber wer verteilt denn außerdem Geschenke zum Advent?«

»Ich«, sagte Katja lässig, als wäre das die normalste Sache der Welt. »Das mache ich jedes Jahr.«

»Warum?«, fragte Hagen konsterniert nach. »Reicht dir das Weihnachtsfest nicht aus?«

Katja lachte und setzte sich wieder zu ihm an den Tisch. »Nein, es reicht mir tatsächlich nicht. Von mir aus kann Weihnachten das ganze Jahr über sein. Ich liebe es. Und die Adventszeit erst recht. Menschen, die mir wichtig sind, erinnere ich mit kleinen Geschenken daran, dass dann eine besondere Zeit anfängt. Eine Zeit zum Innehalten und Besinnen, eine Zeit, der wir leider viel zu wenig Beachtung schenken. Findest du nicht auch, dass den Adventswochen ein wundervoller Zauber innewohnt? Wäre es nicht schrecklich schade, wenn wir ihn einfach ignorieren würden?« Mit ihren rehbraunen Augen sah sie ihn erwartungsvoll an.

Liebevoll strich Hagen seiner Katja über die Wange. »Ja, das wäre wirklich sehr schade, mein süßer, wunderschöner Weihnachtsengel«, erwiderte er weich, bevor er ihr einen zärtlichen Kuss gab.

Katja war es, die diesen Kuss leider viel zu früh beendete. Sie griff nach ihrem Stift und schrieb einen weiteren Namen auf die Liste.

»Frau Karsten?«, wunderte sich Hagen, als er ihn las. »Meine Frau Karsten?«

»Ja, natürlich! Schließlich sorgt sie dafür, dass du heute ein gutes Frühstück bekommst. Außerdem ist sie immer so freundlich, wenn ich sie anrufe. Ich mag sie.«

»Ich mag sie auch«, gab Hagen unumwunden zu.

»Das weiß ich. Und genau deshalb gehört Frau Karsten auch auf meinen Zettel.«

Als Hagen aufgebrochen war, nahm sich Katja ihre Liste ein weiteres Mal vor. Sie war froh, dass sie noch an Frau Karsten gedacht hatte, befürchtete aber trotzdem, jemanden vergessen zu haben.

»Einundzwanzig«, sagte sie halblaut, nachdem sie die Namen gezählt hatte. »Einundzwanzig plus vier Reservegeschenke.« Lächelnd schrieb sie eine große Fünfundzwanzig auf das Blattende.

Katja hatte schon ganz genaue Vorstellungen, wie ihre diesjährige Adventsüberraschung aussehen sollte: eine kleine Grußkarte mit lieben Wünschen, handgefertigter Baumschmuck und etwas Weihnachtsgebäck. Die Karten lagen schon bereit und mussten nur noch beschrieben werden, und den Baumschmuck würde sie heute bestellen. Genauso würde sie es mit den Keksen machen.

Unweit der Behnisch-Klinik, in der sie als Assistentin des Chefarztes arbeitete, gab es eine Bäckerei mit einem kleinen Café. Katja war der festen Überzeugung, dass es dort den leckersten Kuchen, aber vor allem die himmlischsten Schokoplätzchen gab. Mit Fug und Recht konnte sie von sich behaupten, keine großen Laster zu haben. Doch den Schokokeksen der Stillers konnte sie nie widerstehen. Für sie hatte Katja eine große Leidenschaft entwickelt, kaum dass sie den ersten gekostet hatte.

Katja nahm sich vor, nach Dienstschluss zum Café Stiller zu gehen und ihre Plätzchenbestellung aufzugeben. Zusammen mit den anderen Sachen waren sie das ideale Geschenk, um beim Schein der Adventskerzen dem Alltag für ein paar wertvolle Augenblicke zu entfliehen. Wenn der zarte Schmelz der Schokolade und die süßen Keksbrösel im Mund zergingen, würde sich niemand der vorweihnachtlichen Stimmung entziehen können.

Als Katja am späten Nachmittag das Café betrat, wunderte sie sich, wie leer es heute war. Nicht ein einziger Tisch war besetzt, und außer einem anderen Kunden stand niemand am Verkaufstresen. Sie meinte, den jungen Mann schon öfter hier gesehen zu haben. Hatte er nicht immer an diesem kleinen Fenstertisch gesessen? Plötzlich stutzte Katja. Sie vergaß den Mann und starrte entgeistert auf das mehr als dürftige Kuchenangebot in der Auslage. Wo waren all die kunstvollen Sahnetorten geblieben? Die Biskuitrollen? Oder diese kleinen verführerischen Mini-Törtchen, von denen sie sich so gern eins gönnte? Sie waren kaum größer als ein Plätzchen, hatten aber alles, was von einer echten Sahnetorte erwartet wurde: einen lockeren Biskuitteig, cremige Füllungen und eine fluffige Sahnehaube. Eine sündhafte Versuchung, der Katja immer gern nachgab, weil die süßen Miniausführungen kein schlechtes Gewissen zuließen.

Katja verbarg ihre Enttäuschung über die fehlenden Törtchen, grüßte freundlich in Anka Stillers Richtung und wartete, bis sie an der Reihe war. Dabei wurde sie unfreiwillig Zeugin des kleinen Disputs zwischen Anka und ihrem Kunden.

»Lukas, wenn du nichts kaufen willst, sondern nur herkommst, um mich ihretwegen auszufragen, kannst du gleich wieder gehen.«

Erstaunt registrierte Katja, wie unfreundlich sich Anka heute anhörte.

»Sobald du mir ihre Adresse oder Telefonnummer gibst, siehst du mich nie wieder«, erwiderte der junge Mann ungeduldig. »Bis dahin werde ich jeden Tag hier aufkreuzen und … «

»Von mir aus! Ich habe jedenfalls Besseres zu tun, als mir weiter von dir die Zeit stehlen zu lassen.«

Anka ließ ihn stehen und sah zu Katja. Ihr Lächeln wirkte aufgesetzt und verriet, wie sehr sie sich über diesen Lukas ärgerte. »Guten Tag, Frau Baumann. Was darf es denn heute sein? Vielleicht wieder ein schönes Vollkornbrot?«

»Nein, vielen Dank, heute nicht. Ich bin nur gekommen, um eine Bestellung aufgeben.«

Katja wartete, bis Anka das dicke Buch, in dem alle Vorbestellungen eingetragen wurden, unter der Ladentheke hervorholte und aufschlug.

»Für wann?«, fragte Anka und begann zu blättern.

»Für den Donnerstag vor dem Ersten Advent brauche ich fünfundzwanzig Beutel mit den leckeren Schokokeksen. Sie wissen schon, meine Lieblingskekse, die ich immer nehme. Ich denke, hundertfünfzig Gramm … «

»Tut mir leid«, unterbrach Anka sie schnell. »Also, die backen wir nicht mehr. Wir haben sie aus dem Sortiment genommen. Aber ich kann Ihnen andere anbieten, die so ähnlich sind und mindestens genauso gut schmecken.«

Katja blinzelte irritiert. Das konnte unmöglich wahr sein. Ihre Kekse wurden nicht mehr gebacken? Aber sie liebte sie doch sehr!

»Ich möchte keine anderen Kekse«, sagte Katja aufgeregt. »Es müssen unbedingt die Kekse sein, die ich hier immer kaufe. Sie können sie doch nicht so einfach aus dem Programm nehmen!«

»Nun, eigentlich können wir das schon«, gab Anka mit einem süffisanten Lächeln zurück. »Immerhin ist das hier unser Laden, und wir legen fest, was angeboten wird.«

»Anka!«, erklang plötzlich die mahnende Stimme von Dagmar Stiller. Sie war aus der Backstube gekommen und sah ihre Tochter tadelnd an, bevor sie sich Katja zuwandte.

»Gibt es ein Problem, Frau Baumann?«

»Ja, leider. Ich höre gerade, dass Sie meine Lieblingskekse nicht mehr backen.« Sie warf einen bezeichnenden Blick auf die magere Auslage. »Auch andere Sachen, die ich immer so gern mochte, fehlen plötzlich.«

Dagmar seufzte. »Ja, leider. Unsere Konditorin hat uns verlassen und ihre Rezepte mitgenommen. Wir sind deshalb wieder auf unser altes Sortiment zurückgegangen.«

»Jette ist fort?«, fragte Katja entsetzt. Plötzlich verstand sie auch, was das Gespräch zwischen Anka und dem anderen Kunden zu bedeuten hatte. Anscheinend gab es neben ihr noch jemanden, der Jettes Weggang als Katastrophe ansah.

»Ja, seit zwei Wochen«, sagte Dagmar Stiller und druckste ein wenig herum. »Sie brauchte wohl eine Veränderung«, sagte sie unbestimmt, und Katja bemerkte, wie sie bei diesen Worten ihrer Tochter einen langen Blick zuwarf.

Anka schien das nicht zu kümmern. Vor ihr lag noch immer das aufgeschlagene Bestellbuch. »Soll ich Ihre Bestellung jetzt aufnehmen? Wie viel von unseren Schokokeksen möchten Sie denn nun haben?«

Vor Schreck verschluckte sich Katja fast. Sie war einfach nicht bereit, sich mit einem Ersatz zufriedenzugeben. Sie wollte Jettes Kekse und keine anderen. Noch während sie nach einer höflichen Ausrede suchte, griff Dagmar Stiller an ihrer Tochter vorbei und schlug das Buch wieder zu.

»Wissen Sie, was mir machen, Frau Baumann? Ich packe Ihnen jetzt ein paar von unseren Keksen ein. Sie probieren Sie nachher zu Hause bei einer schönen Tasse Kaffee und kommen dann einfach noch mal vorbei, um Ihre Bestellung aufzugeben. Einverstanden?«

Fünf Minuten später verließ Katja den Laden. In ihrer Tasche befand sich ein kleiner Beutel mit Schokoladenkeksen, von denen sie jetzt schon wusste, dass sie bei dem Geschmackstest zu Hause durchfallen würden. Jettes Kekse waren etwas Besonderes gewesen, und keine anderen konnten es mit ihnen aufnehmen.

»Hallo«, rief ihr plötzlich jemand hinterher. »Bitte warten Sie einen Moment.« Als sich Katja umdrehte, stand sie dem jungen Mann aus dem Laden gegenüber. »Entschuldigung. Ich habe vorhin mitbekommen, dass Sie Jette kennen.«

»Ja, aber nicht besonders gut. Ich bin ihr ein paar Mal im Laden begegnet und habe mich manchmal mit ihr unterhalten.«

Enttäuscht verzog Lukas das Gesicht. »Ach so. Ich hatte gehofft, dass Sie sie vielleicht näher kennen würden und wüssten, wie ich sie erreichen kann.«

Katja schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, leider nicht. Wenn es so wäre, würde ich Jette jetzt anrufen und sie bitten, mir meine Kekse zu backen. Ich kann es nicht fassen, dass sie nicht mehr dort arbeitet.« Katja deutete mit einem Kopfnicken zum Café Stiller hinüber. Dann fragte sie: »Warum suchen Sie sie eigentlich? Vermissen Sie auch Ihre Schokokekse?«

»Nein, bei mir ist es wohl eher der Käsekuchen«, antwortete er mit einem leisen Lachen auf Katjas Frage. Dann wurde er wieder ernst. »Um ehrlich zu sein, Jettes Käsekuchen ist mir völlig egal. Eigentlich bin ich überhaupt kein Kuchenfan. Ich mag viel lieber herzhafte Sachen. Aber trotzdem saß ich jeden Tag im Café und habe Jettes Käsekuchen gegessen. Und nun ist sie fort … «

Katja unterdrückte einen langen, gefühlvollen Seufzer. Sie liebte romantische Geschichten. Und dass sie es hier mit einer zu tun hatte, war nicht zu übersehen. Leider schien das Happy End noch in weiter Ferne zu liegen.

»Schade, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Aber vielleicht sollte ich mal mein Glück bei Frau Stiller versuchen. Möglicherweise lässt sie sich von mir erweichen und gibt mir Jettes Kontaktdaten.«

»Das glaube ich zwar nicht, aber für den unwahrscheinlichen Fall, dass Sie Erfolg haben, möchte ich Sie um etwas bitten.« Lukas zog ein kleines Notizbuch und einen Stift aus seiner Tasche. »Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer. Sollten Sie etwas von Jette in Erfahrung bringen, rufen Sie mich bitte an. Und wenn Sie mir Ihre geben, mache ich es im umgekehrten Fall genauso. Ich habe nämlich nicht vor, mit der Suche nach Jette aufzuhören. Ich werde weiterhin jeden Tag im Laden auftauchen und Anka so lange bearbeiten, bis sie nachgibt, weil sie mich nicht mehr ertragen kann und froh ist, mich endlich loszuwerden.«

*

In den nächsten Tagen musste Katja ständig an Jette denken. Was mochte nur vorgefallen sein, dass sie ihre Arbeit im Café Stiller aufgegeben hatte? Sie wusste von Jette, dass sie gern dort gearbeitet hatte. Dass sie den Job hinwarf, nur weil ihr der Sinn nach Veränderung stand, konnte Katja nicht glauben. Irgendetwas musste geschehen sein. Etwas, was Jette veranlasst hatte, woanders ihr Glück zu versuchen.

Katja war noch einige Male ins Café gegangen, in der Hoffnung, etwas über Jettes Verbleib zu erfahren. Aber weder Anka noch ihre Mutter waren bereit gewesen, mit ihr über Jette zu sprechen. Schließlich hatte Katja aufgegeben und war dem Café Stiller ferngeblieben. Seitdem tingelte sie von einem Bäcker zum nächsten, auf der Suche nach Jettes unvergleichlichen Schokokeksen.

Auch heute war sie wieder unterwegs. Unweit des Isartors hatte eine neue Bäckerei eröffnet. Vielleicht hatte es Jette dorthin verschlagen. Doch ihr reichte ein kurzer Blick in die Kuchenauslage, um festzustellen, dass die Fahrt hierher umsonst gewesen war. Nichts von dem, was sie hier sah, hatte auch nur entfernteste Ähnlichkeit mit Jettes Köstlichkeiten. Enttäuscht verließ sie die Bäckerei und erschrak, als sie an der Tür mit jemanden zusammenstieß. Doch sofort lachte sie glücklich auf.

»Jette! Endlich!«

»Katja, wie schön, dich wiederzusehen!« Auch Jette freute sich, ihre ehemalige Lieblingskundin zu treffen. »Was machst du denn hier? Bist du dem Café Stiller etwa untreu geworden?«

»Natürlich!« Katja nickte eifrig. »Seitdem du fort bist, kaufe ich dort keinen einzigen Krümel mehr. Ich bin ja so froh, dich endlich gefunden zu haben!«

»Hast du denn nach mir gesucht?«, fragte Jette erstaunt.

»Ja, aber das erzähle ich dir am besten bei einer Tasse Kaffee.« Sie zeigte auf die Tür der Bäckerei, die sie gerade verlassen hatte. »Wollen wir uns reinsetzen?«

Als sie sich bei ihrem Kaffee gegenübersaßen, erzählte Katja von ihrem Dilemma und legte dabei theatralisch eine Hand auf die Brust. »Du weißt, dass ich ohne deine Schokokekse nicht mehr leben kann. Wie konntest du mir das nur antun und einfach so kündigen?«

Jette lachte und war sehr froh, Katja Baumann getroffen zu haben. In den letzten zwei Wochen hatte es für sie kaum einen Grund zum Fröhlichsein gegeben.

»Ich habe nicht gekündigt«, stellte sie nun richtig. »Mein Arbeitsvertrag lief aus und wurde nicht verlängert.«

»Warum nicht?«, wunderte sich Katja. »Die Stillers verdanken ihren Umsatz doch zum größten Teil deinem Können. Warum sollten sie so dumm sein, ausgerechnet dich gehen zu lassen?«

»Wegen Anka. Besonders gut sind wir ja noch nie miteinander ausgekommen. Die Sache mit Lukas hatte unserer ohnehin schon schwierigen Beziehung dann den Rest gegeben.«

»Lukas?«, fragte Katja nach.

»Ein Gast, der jeden Tag vorbeikam«, erklärte Jette, ohne zu ahnen, dass Lukas für Katja kein Unbekannter war. »Er ist sehr nett und sieht zudem umwerfend aus. Kein Wunder, dass sich Anka sofort in ihn verknallt hat.«

»Aber er sich nicht in sie, stimmt’s?«

»Doch, ich denke schon«, sagte Jette zögerlich. »Zumindest hat Anka das behauptet.« Jette zuckte traurig die Schultern. »Es wäre durchaus möglich, dass es stimmt. Schließlich haben sie sich jeden Tag gesehen und viel Zeit miteinander verbracht, während ich hinten in der Backstube war und ihn oft noch nicht mal zu sehen bekam. Und obwohl von mir keine Gefahr drohte, war sie schrecklich eifersüchtig auf mich gewesen. Wir hatten deswegen einen fürchterlichen Streit.«

»Ich denke nicht, dass Lukas Interesse an Anka hat«, überlegte Katja. »Besonders nett sind die beiden nämlich nicht miteinander umgegangen.«

»Woher weißt du das?«, fragte Jette verblüfft.

»Ich bin ihm einmal begegnet, als ich im Laden war. Er hat sich sehr hartnäckig bei Anka nach dir erkundigt und wollte unbedingt wissen, wie er dich erreichen kann.«

»Oh«, sagte Jette dazu nur. In den letzten Wochen hatte sie oft an Lukas denken müssen. Sie vermisste ihn, obwohl es doch Anka war, der sein Herz gehörte. Oder etwa nicht?

»Er hat mich dann vor dem Geschäft angesprochen und wollte von mir wissen, ob ich wüsste, wo du bist.«

Als Jette auch diesmal nur ein gehauchtes »Oh!« zustande brachte, lachte Katja. »Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Willst du denn gar nicht wissen, ob ich dich und Lukas zusammenbringen kann?«

»Kannst du das denn?«, fragte Jette vorsichtig.

Katja holte den Zettel, den Lukas ihr gegeben hatte, aus ihrer Handtasche und schob ihn über den Tisch. »Das ist seine Handynummer. Ruf ihn einfach an.«

Jette nickte so zaghaft, dass Katja stutzig wurde. »Du siehst nicht begeistert aus. Ich hatte wirklich gedacht, dass du dich darüber freuen würdest.«

»Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. War er nun mit Anka zusammen oder nicht? Hat er sie vielleicht meinetwegen fallengelassen? Das würde ich ziemlich schäbig finden, und ich weiß nicht, ob so ein treuloser Mann der Richtige für mich ist.« Sie seufzte traurig. »Obwohl ich zugeben muss, dass er mir sehr gefällt und er mir schrecklich fehlt.«

»Dann ruf ihn an! Auf mich hat er übrigens einen ausgesprochen netten und ehrlichen Eindruck gemacht. Allerdings habe ich mich selbst auch schon oft in Menschen getäuscht. Ich neige nämlich dazu, immer nur das Gute in ihnen zu sehen, und leider genieße ich den Ruf, etwas leichtgläubig zu sein.«

Weil Katja dabei so bekümmert aussah, sagte Jette schnell: »Wer behauptet denn, dass das keine gute Eigenschaft ist? Ich finde es schön, wenn man nicht hinter jedem netten Wort etwas Schlechtes vermutet. Und vielleicht ist Lukas wirklich so ehrlich, wie du vermutest oder ich es mir wünsche. Aber nun lass uns nicht mehr über ihn reden.«

»Wirst du ihn denn anrufen?«

Jette sah auf den kleinen Zettel, der noch immer vor ihr auf dem Tisch lag. Sie nahm ihn und steckte ihn in ihre Hosentasche. »Ich werde darüber nachdenken, obwohl mir Lukas kein Glück gebracht hat. Seinetwegen hat Anka viele Tränen vergossen und ihren Vater überredet, mir keinen neuen Vertrag zu geben. Ich musste noch am selben Tag meine Sachen zusammenpacken und gehen.«

»Mitsamt dem Rezeptbuch«, ergänzte Katja.

»Du weißt davon?« Jette grinste. »Natürlich habe ich mein Rezeptbuch mitgenommen. Das ist schließlich mein größter Schatz. Seit mehreren Generationen befindet es sich im Besitz meiner Familie. Mein Großvater hat es meiner Mutter gegeben, als er seine Bäckerei in Augsburg schließen musste. Als ich dann mit der Konditorlehre begann, habe ich es von ihr bekommen. Nach diesen alten Familienrezepten habe ich bei den Stillers gebacken.«

»Gehören deine Schokokekse auch dazu?«

Um Jettes Mund erschien ein feines, wissendes Lächeln. »Ja, sie sind etwas ganz Besonderes. Ich kenne niemanden, der ihnen widerstehen kann. Mein Großvater meinte, das liegt nur an dieser einen bestimmten Zutat … « Sie legte eine Pause ein und verkniff sich ein Lachen, als sie sah, wie Katja vor Aufregung zu atmen vergaß. »… die ich natürlich niemals verraten werde«, schloss sie dann glucksend und fing sich dafür von Katja einen empörten Blick ein.

»Tut mir leid, Katja, aber ich darf das Rezept wirklich nicht weitergeben. Ich musste einen feierlichen Schwur ablegen, dass alle Rezepte aus dem Buch innerhalb der Familie bleiben.«

»Dann bleibt mir wohl nur zu hoffen, dass ich deine Kekse bald wieder irgendwo kaufen kann. Hast du denn schon eine neue Stelle in Aussicht?«

»Nein, leider nicht. Für einen der vielen Backshops, wo nur Fertigmischungen oder Aufbackware in den Ofen kommen, bin ich mir zu schade.« Unwillig schüttelte sie Kopf. »Ich liebe meinen Beruf, aber so möchte ich auf gar keinen Fall arbeiten.«

»Das kann ich gut verstehen.« Katja überlegte. »Muss es denn unbedingt eine Bäckerei sein?«

»Nun ja, ich möchte schon beim Backen bleiben. Und wo soll ich das sonst machen, wenn nicht in einer Bäckerei?«

»Ich weiß nicht so recht … Mir ist da nur gerade eine Idee gekommen.« Diese Idee war so verrückt, dass Katja sich fast sicher war, dass sie keine Lösung für Jettes Problem sein konnte. Trotzdem hatte sie sich ganz plötzlich in ihren Kopf festgesetzt, und sie musste nun einfach darüber sprechen. »Ich arbeite in der Behnisch-Klinik. Dort gibt es eine wunderschöne Cafeteria, die nicht nur bei den Mitarbeitern sehr beliebt ist. Die warme Küche bietet fantastische kleine Gerichte an, und der Cappuccino schmeckt nirgends so gut wie dort. Aber das Kuchenangebot könnte wahrlich besser sein. Wäre es nicht toll, wenn du dort backen könntest?«

»Das wird wohl kaum das Richtige für mich sein, Katja. Und wahrscheinlich gibt’s da noch nicht mal eine freie Stelle.«

Katja strahlte. »Doch! Die gibt es! Ich habe mich erst vor ein paar Tagen mit Helge Karberg, dem Betreiber, unterhalten. Er war gerade dabei, einen Aushang anzubringen. Er braucht dringend jemanden für die Küche, der sich zutraut, auch mal im Service mitzuarbeiten. Das kannst du bestimmt. Im Café Stiller hast du doch auch den Verkauf und die Bedienung übernommen, wenn Anka ihren freien Tag hatte.«

»Ja, das schon. Das war nie ein Problem für mich gewesen. Ganz im Gegenteil, es hat mir sogar Spaß gemacht. Ich mache mir eher Sorgen, dass meine Kochkünste für die Cafeteria nicht ausreichen werden. Ich bin Konditorin, keine Köchin.«

»Das bekommst du schon hin. Wir reden hier schließlich nicht von Haute Cuisine, sondern von kleinen, schmackhaften Gerichten, die jeder mit ein wenig Anleitung hinbekommen dürfte«, sagte Katja im Brustton der Überzeugung.

»Du musst es ja wissen«, griente Jette.

»Nein, leider nicht«, gab Katja grinsend zu. »Meine Talente liegen nicht gerade in der Küche. Ich bekomme ja noch nicht mal ein paar ordentliche Weihnachtsplätzchen hin. Da hoffe ich übrigens noch immer auf deine Unterstützung.« Bittend sah sie Jette an. »Ich brauche unbedingt deine Schokoladenkekse. Deshalb musst du auch ganz schnell wieder eine Anstellung finden.«

Jette musste lachen. »Nur deshalb? Das ist ja wirklich sehr uneigennützig von dir. Aber keine Sorge. Du bekommst deine Weihnachtsplätzchen von mir. Die kann ich dir nämlich auch an meinem heimischen Herd backen. So viel du willst.«

»Fünfundzwanzig Beutel«, hauchte Katja andächtig und mit einem seligen Lächeln. »Ich brauche unbedingt fünfundzwanzig Beutel. Und natürlich noch einen riesigen Vorrat für mich.«

*

»Kann es sein, dass du nach meinen Keksen süchtig bist?«, fragte Jette amüsiert, als sie Katja dabei half, die vielen Tüten in einer großen Einkaufstasche zu verstauen. Jette hatte den ganzen Tag damit verbracht, Katjas Bestellung abzuarbeiten, und fühlte sich zum ersten Mal seit Wochen wieder rundum glücklich. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr ihr das Backen gefehlt hatte.

Jette besaß noch keine eigene Wohnung, sondern lebte im Haus ihrer Mutter. Sie hatte vorgehabt auszuziehen, sobald ihr die Festanstellung bei den Stillers sicher gewesen wäre. Doch leider war es dazu nicht mehr gekommen.

»Natürlich bin ich süchtig nach ihnen«, antwortete Katja auf Jettes Frage und bediente sich bei den Keksen, die Jette in einer großen Schale auf den Küchentisch gestellt hatte. »Als ob du das nicht wüsstest!«

»Es war eher eine leise Ahnung als fundiertes Wissen«, stellte Jette richtig. Sie schob die Keksschale dichter zu Katja. »Du solltest dich hinsetzen. Mit einer Tasse Kaffee schmecken sie nämlich noch besser.«

Jette hatte bei Katjas Ankunft die Kaffeemaschine angemacht und füllte nun die beiden Tassen, die auf dem Tisch standen. Sie freute sich, dass Katja ihrer Aufforderung sofort folgte und am Küchentisch Platz nahm. Seit Jette ihren Job verloren hatte, vermisste sie – neben dem Backen – auch die Gesellschaft anderer Menschen. Sie verstand sich zwar mit ihrer Mutter blendend, aber der Kontakt zu Gleichaltrigen fehlte ihr.

Sie mochte Katja und war froh, sie wiedergetroffen zu haben. Schon damals, als Katja regelmäßig ins Café kam, um ihren Keksvorrat aufzufüllen, waren sie sich sympathisch gewesen. Katja kannte keine schlechte Laune und war immer guter Dinge. Dass sie ihr ausgerechnet jetzt, in einer Zeit, in der sie eine gute Freundin besonders nötig hatte, über den Weg gelaufen war, wertete sie als glückliche Fügung.

»Was sagt eigentlich deine Mutter dazu, wenn du aus ihrer Küche eine Backstube machst?«

»Meiner Mutter mache ich damit eine große Freude. Sie backt selbst ausgesprochen gern.«

»Ist sie auch Konditorin?«

»Nein, obwohl sie aus einer Konditorfamilie stammt, ist aus ihr nur eine Hobbybäckerin geworden. Sie arbeitet als Lehrerin.« Jette fand, jetzt war die beste Gelegenheit, um mit ihrer guten Nachricht herauszurücken. »Ich habe übrigens eine tolle Neuigkeit.«

Katjas Hand, mir der sie sich gerade einen neuen Keks nehmen wollte, verharrte über der Keksschale.

»Du hast endlich Lukas angerufen!«, rief sie entzückt aus. »Ich wusste doch, dass ihr füreinander bestimmt seid! Ihr passt einfach so gut zusammen!«

»Nein!« Jette schüttelte entschieden den Kopf. »Ich habe ihn nicht angerufen!«

»Oh! Wie schade!« Katja wirkte so bestürzt, dass Jette sich beeilte fortzufahren:

»Ich war gestern in der Behnisch-Klinik, um einen Blick auf die Cafeteria zu werfen. Dieser Aushang, von dem du erzählt hast, war immer noch da. Als ich ihn mir durchlas, wurde ich plötzlich von dem Besitzer der Cafeteria angesprochen.«

»Helge Karberg! Ein sehr, sehr netter Mann!«

»Stimmt.« Jette lächelte über Katjas Enthusiasmus. »Wir sind ins Gespräch gekommen, haben uns lange unterhalten und waren uns dann einig, dass ich nächsten Montag in der Cafeteria der Behnisch-Klinik anfange!«

»O Jette! Das ist ja toll!«, jubelte Katja laut. »Ich freue mich so für dich!«

Jette lachte glücklich. »Ich freue mich auch. Aber der Gedanke, nicht mehr in einer Backstube zu arbeiten, ist schon ein wenig komisch. Mein neuer Chef meinte allerdings, dass ich bei ihm genauso gut backen könnte. Er ist nämlich über sein Kuchenangebot auch nicht glücklich und möchte es unbedingt ändern.«

Katja klatschte vor Freude in die Hände. »Ich wusste, dass sich letztendlich alles zum Guten fügt. Jetzt müssen wir nur noch dafür sorgen, dass du mit Lukas zusammenkommst und … «

»Nein!«, stoppte Jette den Redeeifer ihrer neuen Freundin so schnell, dass Katja erschrocken aufsah. »Tut mir leid, Katja, aber daraus wird nichts. Ich weiß, du meinst es nur gut, aber ich möchte mich jetzt erst mal nur auf meine neue Stelle konzentrieren. Die Sache mit Lukas … « Jette atmete tief durch. »Sie ist kompliziert, und im Moment kann ich keine Komplikationen gebrauchen. Ich bin einfach nur froh, dass ich wieder eine Arbeit habe. Darauf werde ich jetzt meinen Fokus legen. Lukas wäre nur eine Ablenkung.«

»Aber er mag dich doch!«

»Wie kann ich mir da sicher sein? Hatte Anka nicht auch geglaubt, dass er sie mag? Und nun sieh dir an, was daraus geworden ist!« Jette schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was das mit mir und Lukas ist. Er gefällt mir, aber ich habe schreckliche Angst, enttäuscht zu werden.«

»Haben wir das nicht alle?«, fragte Katja tiefsinnig. »Manchmal muss man etwas wagen, Jette. Denk wenigstens darüber nach. Du hast doch noch seine Nummer, oder?«

»Ja«, sagte Jette und klopfte lächelnd auf die Tasche ihrer Jeans, wo sie Katjas Zettel sicher verwahrt wusste. »Die behalte ich auch. Vielleicht … irgendwann, wenn ich wieder Fuß gefasst habe und endlich weiß, was ich will … «

›Falls es dann nicht zu spät ist‹, dachte Katja betrübt.

*

Dr. Erik Berger, der leitende Arzt in der Notaufnahme der Behnisch-Klinik, runzelte die Stirn, als er den Bauch des Patienten abtastete.

»Was ist los?«, fragte sein Patient. Stefan Grabas hörte sich dabei eher interessiert als besorgt an.

»Das kann ich noch nicht sagen. Wahrscheinlich etwas Harmloses, aber um ganz sicher zu sein, werde ich noch eine Ultraschalluntersuchung machen.«

»Muss das denn sein?« Stefan warf einen auffälligen Blick auf die Uhr, die in dem Behandlungszimmer an der Wand hing. Dass er hier seit Stunden in der Aufnahme der Klinik festsaß, hielt er für reine Zeitverschwendung. Um zwei war die offizielle Eröffnung einer Fotoausstellung im Stadtmuseum. Er wollte sich dort mit einem Berufskollegen treffen, den er im letzten Monat in Singapur kennengelernt hatte. Wenn diese Untersuchungen hier nicht bald ein Ende nahmen, würde er es kaum noch pünktlich schaffen.

»Was erwarten Sie denn, dort zu finden?«, fragte er und bemühte sich nicht, die wachsende Ungeduld aus seinen Worten herauszuhalten. »Ich werde ja wohl kaum innere Blutungen haben, nur weil ich von der Leiter gefallen bin. Sicher sind es nur ein paar blaue Flecken und im schlimmsten Fall eine leichte Prellung.«

»Warum sind Sie überhaupt hergekommen, wenn Sie sich bei der Diagnose schon so sicher sind?«, spöttelte Erik Berger.

»Ich wurde gezwungen.«

»Von Ihrer Frau?«

»Nein, ich habe keine Frau. Meine Pensionswirtin ist schuld daran, dass ich jetzt hier liege. Sie hatte mich gebeten, eine defekte Lampe auszuwechseln. Die Leiter, die sie mir dafür gegeben hat, ist leider zusammengebrochen, kaum dass ich draufstand. Nach dem Sturz gab meine Wirtin keine Ruhe, bis ich bereit war, mich hier durchchecken zu lassen.«

»Wenn Ihre energische Vermieterin nicht gewesen wäre, hätte ich Sie also gar nicht zu sehen bekommen?«

»Ganz sicher nicht«, lachte Stefan.

Erik Berger betrachtete seinen Patienten etwas genauer. Stefan Grabas sah tatsächlich so aus, als könnte ihn nichts so schnell aus der Bahn werfen. Er war Anfang vierzig, schlank und drahtig und schien regelmäßig Sport zu treiben. Die dunklen Haare trug er recht lang, sodass sie sich an den Seiten und in seinem Nacken kringelten. Alles in allem machte er einen gesunden und fitten Eindruck.

»Waren Sie kürzlich im Urlaub, Herr Grabas?«, fragte Erik und schaltete das Ultraschallgerät ein. »Sie sind sehr braun, und ich denke, dass das nicht an unserer Wintersonne liegen kann.«

»Nein, das verdanke ich der Sonne auf Bali. Ich bin freiberuflicher Fotograf und kam erst vor drei Tagen in München an.« Stefan lächelte. »Nennen Sie mich ruhig sentimental, aber Weihnachten muss ich einfach in Deutschland verbringen. So schön Bali auch sein mag, bei dreißig Grad im Schatten kommt keine Weihnachtsstimmung auf.«

»Ich kann auf Weihnachtsstimmung gut verzichten«, murmelte Erik leise und fuhr dann lauter werdend fort: »Nicht erschrecken, jetzt wird es etwas kalt.« Er ließ das Gleitgel auf Stefans Bauch laufen und verteilte es großflächig. Bevor sein Patient zu Wort kommen konnte, fragte er: »Sie sind Fotograf? Was für Bilder machen Sie denn?«

»Das hängt von dem Auftrag ab, den ich gerade habe. In Bali habe ich zum Beispiel Fotos von einer neuen Hotelanlage gemacht, die in den nächsten Reisekatalog kommen. Da ich schon mal vor Ort war, habe ich auch gleich ein paar Aufnahmen von der Landschaft und den Menschen dort geschossen. Eigentlich von allem, das mir vor die Linse kam. Die meisten Fotos verkaufe ich dann über Bildagenturen.«

»Mhm … «, machte Erik nur und schaute wie gebannt auf den Monitor des Ultraschallgeräts.

»Sie haben mich reingelegt«, stellte Stefan amüsiert fest. »Lenken mich mit Ihren Fragen ab und machen nebenbei einfach, was Sie wollen. Hatte ich Ihnen nicht gesagt, dass ich diese Untersuchung gar nicht will?«

»Nicht mit diesen Worten. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie mich nur gefragt, ob das wirklich sein muss. Diese Frage kann ich Ihnen jetzt mit einem eindeutigen Ja beantworten. Ja, es musste sein.«

Alarmiert hob Stefan den Kopf, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen. »Wieso? Was haben Sie denn gefunden?« Zum ersten Mal meinte Erik, eine leichte Anspannung in Grabas’ Stimme zu bemerken. »Ist es Krebs? Haben Sie einen Tumor entdeckt?«

»Nein, einen Tumor kann ich sicher ausschließen.« Die Miene des Arztes wurde noch ernster, als er weiter mit dem Schallkopf über die Bauchdecke des Patienten fuhr. »Seit wann haben Sie diese Bauchschmerzen, von denen Sie vorhin sprachen? Traten Sie wirklich heute erstmalig auf?«

»Nun … Also … Nein, eigentlich nicht. Seit einiger Zeit habe ich dieses Ziehen im Bauch … « Er zeigte auf eine Stelle oberhalb des Bauchnabels.

»Wie lange schon?«

»Zwei oder drei Monate. Vielleicht auch etwas länger. Sagen sie mir jetzt endlich, was los ist? Irgendetwas haben Sie doch gefunden.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, sagte Erik ausweichend. »Genaues kann ich Ihnen erst nach der Computertomografie sagen.«

»Computertomografie?« Energisch schob Stefan nun Bergers Hand und den Ultraschallkopf weg und setzte sich auf. »Was soll das? Sie machen hier eine Untersuchung nach der anderen, ohne mir dafür auch nur einen plausiblen Grund zu liefern. Jetzt reicht’s! Entweder sagen Sie mir endlich, was los ist, oder ich verschwinde auf der Stelle!«

Erik Berger rang mit sich. Es war nicht seine Art, mit einer Diagnose – vor allem nicht mit einer so schwerwiegenden - herauszuplatzen, ehe die Untersuchungen abgeschlossen waren. Aber in diesem Fall musste er zwangsläufig eine Ausnahme machen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Stefan Grabas ansonsten seine Ankündigung wahrmachte und die Notaufnahme verließ, womöglich mit fatalen, ja, tödlichen Konsequenzen.

»Also gut, Herr Grabas. Ich sage Ihnen, was ich bis jetzt herausgefunden habe, obwohl ich lieber erst alle Befunde abwarten würde.« Erik drehte den Monitor so, dass Stefan einen guten Blick darauf hatte. Dann rief er die gespeicherten Aufnahmen ab. Mit einem Stift zeigte er auf ein längliches Gebilde.

»Das hier ist Ihre Aorta, also die Hauptschlagader in Ihrem Körper. Sie bringt das Blut von Ihrem Herzen in alle anderen Gefäße des Blutkreislaufs. Und hier unten sehen Sie eine kleine Ausstülpung, die dort nicht hingehört. Die Gefäßwand der Aorta ist hier dünner als üblich und wird durch den Druck, der in den Gefäßen herrscht, einer enormen Belastung ausgesetzt. Vor allem, wenn man – so wie Sie - an einem erhöhten Blutdruck leidet.«

»Diese Ausstülpung, wie Sie das nennen, ist ein Aneurysma, nicht wahr?«

»Ja, ein Aortenaneurysma. Wir haben es rechtzeitig entdeckt, deshalb gibt es keinen Grund, in Panik auszubrechen … «

»Mache ich einen panischen Eindruck auf Sie?«, fragte Stefan etwas ungeduldig. »Ich bin höchstens sauer, dass mir dieses Aneurysma meinen gesamten Zeitplan durcheinanderbringt.« Wieder sah er auf die Uhr. »Ich bin mit einem Bekannten verabredet. Wahrscheinlich wäre es besser, ihn anzurufen, damit er weiß, dass ich später kommen werde.«

»Noch besser wäre es, Sie sagen ihm gleich ganz ab. Das hier wird nämlich noch eine Weile dauern. Allein für die Computertomografie …«

»Moment mal! Noch habe ich dem CT nicht zugestimmt. Und das werde ich auch nicht. Zumindest nicht heute, wenn ich ohnehin schon spät dran bin. In den nächsten Tagen wird sich bestimmt ein Termin finden lassen.«

»In den nächsten Tagen?« Erik Berger war aufgestanden und sah ungläubig auf Stefan Grabas herab. Es fiel ihm schwer, weiter die Contenance zu wahren. Meistens gelang es ihm, seinen Patienten höflich und angemessen gegenüberzutreten. Seinen beißenden Spott und den ungebremsten Zynismus, für den er berühmt und berüchtigt war, hob er sich für seine Kollegen auf. Doch Eriks heutiger Patient hatte seine Geduld über die Maße strapaziert. Grabas’ Uneinsichtigkeit ging ihm inzwischen gehörig gegen den Strich.

»In den nächsten Tagen?«, wiederholte er nun lauter. »Dann sollten Sie mal hoffen, dass das auch Ihrem Aneurysma zeitlich passt und es sich bis dahin benimmt. Im Allgemeinen sind diese Biester allerdings unberechenbar und wenig rücksichtsvoll. Sie machen einfach, was sie wollen, und platzen je nach Lust und Laune!«

»Wie … Was meinen Sie damit? Glauben Sie wirklich, dass die Lage so ernst ist?«

»Woher soll ich das denn wissen?«, wetterte Erik nun unbeherrscht los. »Sie lassen mich ja nicht meine Arbeit machen und stellen meine Entscheidungen ständig infrage! Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als dass jedes Szenario möglich wäre. Vielleicht reißt die dünne Gefäßwand in den nächsten fünf Sekunden, vielleicht macht sie auch nie Scherereien.« Berger schaffte es, seine Fassung wiederzufinden. Mit einer hilflosen Geste hob er die Hände. »Leider kann ich dazu nur vage Vermutungen anstellen, wenn Sie mich hier ständig ausbremsen. Sie brauchen die Computertomografie. Erst danach kann ich Ihnen mehr sagen. Aber falls Ihnen Ihre Verabredung wichtiger ist als Ihr Leben … «

»Schon gut, schon gut«, gab Stefan nach. »Dann machen wir das eben auch noch. Aber danach ist wirklich Schluss.«

»Ganz wie Sie wünschen«, knurrte Erik und ging dann kopfschüttelnd zum Telefon, um in der Radiologie anzurufen und die Untersuchung anzukündigen. Die Reaktion seines Patienten hatte ihn überrascht. Er hielt den Mann für klug genug, dass er die Bedeutung dieser Hiobsbotschaft verstand. Wenn Stefan Grabas in Panik geraten und völlig ausgeflippt wäre, hätte er dafür Verständnis gehabt. Doch diese zur Schau gestellte Ruhe mit dem Anflug von Verärgerung, weil er nun in Zeitnot geriet, war einfach nicht normal. Bedeutete ihm sein Leben womöglich gar nichts?

»Sie können das nicht verstehen, Dr. Berger«, sagte Stefan, als hätte er die Gedanken des Arztes erraten. »Ich bin zufrieden, so, wie es gerade läuft. Und daran soll dieses Aneurysma nichts ändern. Ich werde ihm nicht so viel Raum geben, dass es mein Leben bestimmt. Mir wäre es lieber, ich hätte nie etwas davon erfahren.«

»Die meisten Patienten sind froh, wenn ihr Aneurysma rechtzeitig entdeckt wird. Das bewahrt sie vielleicht vor einem plötzlichen Tod.«

»Ganz richtig: vielleicht! Genauso gut wäre es möglich, dass mir dieses Ding überhaupt keine Probleme macht und ich hundert Jahre damit werde. Und falls nicht … « Er zuckte mit den Schultern. »Nun, dann ist es eben so.«

Noch während Erik Berger die Nummer der Radiologie wählte, beschloss er, auch den Chefarzt der Behnisch-Klinik zu informieren. Stefan Grabas war eindeutig ein Fall für Dr. Norden. Und das lag nicht nur daran, dass ein Aortenaneurysma keine alltägliche Diagnose war.

*

»Verraten Sie mir, was da drin ist?«, fragte Daniel Norden, als er sah, wie Katja Baumann einen mittelgroßen Karton neben ihrem Schreibtisch abstellte.

»Die schönsten Sachen für die schönste Zeit des Jahres«, erwiderte seine Assistentin mit glücklich leuchtenden Augen.

Als sie dafür nur einen verständnislosen Blick ihres Chefs erntete, sagte sie gefühlvoll: »Am Sonntag beginnt die Adventszeit. Das können Sie doch unmöglich vergessen haben.«

»Äh … Nein, natürlich nicht. Aber ich verstehe nicht, was dieser Karton damit zu tun hat.«

»Na, da ist der Adventsschmuck drin. Sie wollen doch sicher auch, dass es hier ein bisschen weihnachtlich aussieht.«

»Also eigentlich … « Unter dem tadelnden Blick seiner Assistentin behielt Daniel lieber für sich, dass es ihm nichts ausmachte, wenn es in seinen Räumlichkeiten nicht wie auf dem Christkindlmarkt aussah. »Sie scheinen die Adventszeit wirklich zu lieben«, sagte er stattdessen nur diplomatisch.

»O ja! Ich liebe diese vier Wochen bis zum Heiligabend! Für mich … « Als das Telefon klingelte, brach sie ab.

»Oh! Dr. Berger!«, rief sie kurz darauf mit einem strahlenden Lächeln in den Hörer und brachte Daniel Norden damit zum Schmunzeln. Er kannte nur wenige Menschen, die sich so offensichtlich freuten, wenn sie einen Anruf vom bärbeißigen Leiter der Notaufnahme bekamen. Nun, eigentlich kannte er niemanden. Selbst er fühlte sich sofort in Alarmbereitschaft versetzt, wenn Erik Berger unverhofft vorbeikam oder anrief.

»Ja, Dr. Norden ist hier«, sprach Katja weiter. »Einen kleinen Moment … «

Daniel nahm seiner Assistentin den Telefonhörer ab und meldete sich. Nur Sekunden später hatte er Katjas Schwärmerei für die Adventszeit oder ihre fast freundschaftliche Beziehung zu Erik Berger vergessen.

»Ein Aortenaneurysma? Wie groß ist es?«, fragte er angespannt. »In Ordnung, Herr Berger. Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen.«

Katja wartete, bis der Chefarzt aufgelegt hatte. Auch wenn sie keine medizinische Ausbildung besaß, wusste sie, dass diese Diagnose schwerwiegend sein konnte. »Das hört sich ja gar nicht gut an«, sagte sie bedrückt.

»Da muss ich Ihnen leider recht geben. Ich gehe jetzt in die Radiologie und bin dann wahrscheinlich für die nächsten Stunden im OP. Sollte die Lage so ernst sein, wie Berger vermutet, werden wir den Eingriff nicht aufschieben können.«

Zusammen mit Erik Berger und Dr. Nils Heinrich, dem Leiter der Radiologie, saß er wenig später dem Patienten gegenüber, um ihm ruhig und teilnahmsvoll den Befund mitzuteilen. Ein Befund, der ein ganzes Leben verändern und viele Ängste freisetzen konnte.

Doch falls Stefan Grabas wirklich Angst hatte, ließ er sich das nicht anmerken. »Ein Aneurysma«, wiederholte er fast gelangweilt. »Das wusste ich doch schon. Dr. Berger hat mir das bereits nach dem Ultraschall gesagt. Und? Wie schlimm ist es nun?«

Daniel Norden hatte erwartet, einem völlig aufgelösten, schockierten Patienten gegenüberzusitzen. Diese Gleichgültigkeit überraschte ihn.

»Zum Glück ist ein Aneurysma oft recht harmlos«, begann Daniel. »Die meisten machen keine Probleme und müssen nur regelmäßig überwacht werden.«

»Dann ist ja alles in Ordnung«, unterbrach Stefan den Chefarzt. »Geben Sie mir einfach einen Termin für die nächste Kontrolle und schon bin ich verschwunden.« Er warf Dr. Berger einen kurzen Blick zu, bevor er fortfuhr: »Ich hatte es ja Ihrem Kollegen bereits gesagt. Ich bin etwas in Eile und habe für diese ganzen Untersuchungen eigentlich überhaupt keine Zeit.«

»Nun, dann sollte ich wohl zum Punkt kommen«, erwiderte Daniel und ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn Grabas’ Worte überraschten. »Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Aneurysma reißt, hängt von seiner Größe und von begleitenden Risikofaktoren ab. Je größer das Aneurysma, umso größer die Gefahr, dass es zu einer Ruptur kommt. Beträgt der Durchmesser weniger als fünf Zentimeter, liegt das Rupturrisiko bei etwa drei Prozent. Mit zunehmender Größe steigt auch das Risiko.«

»Und wie groß ist mein Aneurysma?«, fragte Stefan nach.

»Sieben Zentimeter. Eine Operation wird sich nicht vermeiden lassen, und das nicht nur wegen der Größe. Bei Ihnen kommt noch erschwerend hinzu, dass Sie einen hohen Blutdruck haben, der nicht gut eingestellt ist. Außerdem sind Sie nicht symptomfrei. Sie haben seit längerer Zeit Schmerzen, die uns zeigen, dass Ihr Aneurysma keine harmlose Gefäßveränderung ist. Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Herr Grabas: Die Wahrscheinlichkeit, dass es bei Ihnen zu einer Ruptur der Aorta kommt, ist sehr groß. Deshalb empfehle ich eine schnellstmögliche Operation, bei der wir Ihnen eine Kunststoffprothese an der betreffenden Stelle einsetzen.«

Stefan sah unsicher von einem Arzt zum anderen. »Schnellstmöglich? Was heißt das?«

»Sofort«, entgegnete Daniel Norden. »Ich habe den OP schon für Sie reservieren lassen. Die Anästhesistin weiß Bescheid und kommt gleich für die Narkosevorbereitung zu Ihnen. Sie haben aber noch genügend Zeit, um Ihre Familie zu verständigen.«

Stefan schüttelte heftig den Kopf. »Nein … Nein, ich habe keine Familie. Und außerdem … « Er atmete ein paar Mal tief durch und sah dann Daniel Norden fest in die Augen. »Außerdem will ich das alles nicht.«

»Natürlich wollen Sie das nicht. Niemand will das.«

»Sie verstehen mich nicht. Ich will keine Operation. Und auch keine weiteren Untersuchungen. Ich will nichts davon.«

»Aber … «, begann Daniel konsterniert, doch sein Patient ließ ihn nicht ausreden.

»Ich glaube, ich kenne jedes Ihrer Argumente, und nicht eins davon kann mich umstimmen. Mein Entschluss stand schon vor dem CT fest: Eine OP kommt für mich nicht infrage.«

»Herr Grabas, bitte denken Sie doch erst mal in Ruhe darüber nach. Im Augenblick stehen Sie unter Schock … «

»Nein, Dr. Norden, Sie irren sich. Die Aussicht auf einen plötzlichen Tod kann mich nicht schockieren. Seit Jahren reise ich beruflich durch die ganze Welt. Mit der Möglichkeit, dass alles von einer Sekunde auf die andere vorbei sein kann, lebe ich schon seit langer Zeit.« Er zuckte gleichgültig die Schultern. »Ein Flugzeugabsturz, ein Schlangenbiss oder eine verirrte Kugel … Wer kann schon sagen, was als Nächstes geschieht. Darüber mache ich mir schon lange keine Gedanken mehr. Wenn es passieren soll, passiert es eben. C’est la vie – so ist das Leben.«

Daniel hob abwehrend eine Hand. »Moment mal. Bei diesen Ereignissen, die Sie schildern, mag das ja zutreffen. Sie sind nicht vorhersehbar, und unser Einfluss darauf ist nur begrenzt. Aber Ihr Aneurysma? In dem Moment, als Sie davon erfuhren, ist es zu einem kalkulierbaren Risiko geworden. Ihnen stehen nun alle Möglichkeiten offen, dieses Risiko auszuschalten. Oder wollen Sie wirklich mit einer tickenden Zeitbombe durch die Gegend laufen? Das kann unmöglich Ihr Ernst sein! Bedeutet Ihnen Ihr Leben denn so wenig?«

»Sie haben es doch selbst gesagt, dass es keine Garantie dafür gibt, dass das Aneurysma wirklich platzt«, sagte Stefan, ohne die eigentliche Frage zu beantworten. »Wahrscheinlich habe ich dieses Ding schon seit einer Ewigkeit. Bisher ist alles gutgegangen. Wäre doch möglich, dass ich auch weiterhin so viel Glück habe.«

Es geschah nicht oft, dass Daniel Norden sprachlos war. Stefan Grabas war mit seinen einundvierzig Jahren ein junger Mann, für den der Tod in weiter Ferne liegen müsste. Von seinem Aneurysma und einem moderaten Bluthochdruck abgesehen war er kerngesund. Er war in seinem Beruf erfolgreich und schien auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Warum wollte er das so leichtfertig wegwerfen?

Mit einem Anflug von Hilflosigkeit sah Daniel zu seinen beiden Kollegen. Dr. Berger, der dem Gespräch ungewöhnlich schweigsam gefolgt war, lehnte mit verschränkten Armen an der Wand. Seiner unbewegten Miene war nicht zu entnehmen, was er von dem Ganzen hielt. Er machte auch jetzt keinerlei Anstalten einzugreifen. Nur Daniels leitender Radiologe, Dr. Nils Heinrich, fühlte sich unter dem Blick seines Chefarztes genötigt, die Initiative zu ergreifen und seinerseits die Notwendigkeit des Eingriffs zu bekunden.

Er zeigte auf eine CT-Aufnahme, die das Aneurysma besonders gut darstellte. »Herr Grabas, sehen Sie diese sackförmige Ausbuchtung? Genau da wird das Blut bei jedem einzelnen Herzschlag hineingeschleudert und fließt dann wieder zurück. Millionen Mal. Tag für Tag. Hin und her. Das Blut fließt rein, prallt von der Wand ab, fließt in die Aorta zurück. Immer wieder, bei jedem Herzschlag. Die Gefäßwand dehnt sich bei jedem Aufprall ein wenig, ohne dass etwas passiert. Aber irgendwann … « Der Radiologe machte eine bedeutungsschwere Pause, bevor er lautstark »Peng!« brüllte und mit seinen Händen eine explodierende Kugel andeutete.

Stefan Grabas zuckte erschrocken zurück, und Daniel schloss vor stummem Entsetzen für eine Sekunde die Augen.

»Und von mir behaupten alle, ich sei der unsensible Holzklotz in der Klinik«, sagte Berger spöttisch.

»Vielen Dank, Herr Heinrich, für diese eindrucksvolle, aber leider überflüssige Demonstration«, sagte Daniel mit eiserner Beherrschung. »Ich denke, Sie haben Herrn Grabas sehr plastisch gezeigt, was ihm im schlimmsten Fall passieren kann.«

»War mir ein Vergnügen«, erwiderte Heinrich mit einem breiten Lächeln. Für Sarkasmus war er leider nicht empfänglich, sodass die Bemerkung seines Chefs wirkungslos an ihm abprallte. »Wenn Sie mich dann nicht mehr brauchen … Auf mich wartet der nächste spannende Fall.«