E-Book: 19-24 - Britta Winckler - E-Book

E-Book: 19-24 E-Book

Britta Winckler

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Beschreibung

Die große Arztserie "Die Klinik am See" handelt von einer Frauenklinik. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig eine sensible medizinische und vor allem auch seelische Betreuung für die Patientinnen ist, worauf die Leserinnen dieses Genres großen Wert legen. Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie "Die Klinik am See" ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete. E-Book 19: Aus Liebe wurde Hass E-Book 20: An das Glück muss man glauben E-Book 21: Aufbruch in ein neues Glück E-Book 22: Das Glück hat einen Riss bekommen E-Book 23: Kinderärztin in Gewissensnot E-Book 24: Jessica begegnet dem Leben E-Book 1: Aus Liebe wurde Hass E-Book 2: An das Glück muss man glauben E-Book 3: Aufbruch in ein neues Glück E-Book 4: Das Glück hat einen Riss bekommen E-Book 5: Kinderärztin in Gewissensnot E-Book 6: Jessica begegnet dem Leben

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EPUB

Seitenzahl: 854

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Aus Liebe wurde Hass

An das Glück muss man glauben

Aufbruch in ein neues Glück

Das Glück hat einen Riss bekommen

Kinderärztin in Gewissensnot

Jessica begegnet dem Leben

Die Klinik am See – Jubiläumsbox 4–

E-Book: 19-24

Britta Winckler

Aus Liebe wurde Hass

Er sollte büßen, weil er sie abwies

Roman von Britta Winckler

Die Vorlesung war beendet, und ­Alice Mangold verstaute ihre Hefte und die paar Bücher in ihrer Umhängetasche. Minuten später verließ sie den Hörsaal der Universität. Als sie an der Cafeteria vorbeikam, verspürte sie plötzlich Durst. Kurz entschlossen trat sie ein, ließ sich eine Cola geben und stellte sich an einen der Stehtische. Lächelnd erwiderte sie die Grüße einiger Kommilitonen, die ebenso wie sie Kunstgeschichte studierten. Es war erst ihr zweites Semester, das sie an der Münchener Universität begonnen hatte.

»Hallo, Alice …« Zwei junge Männer, beide erst knapp zwanzig Jahre alt, traten an den Tisch heran.

»Hallo – Peter …, Harry«, erwiderte Alice und warf ihren Kopf mit der Pferdeschwanzfrisur in den Nacken. Ihr Gruß klang nicht gerade sehr freundlich. Zumindest bezog sich das auf Harry Büchner. Den konnte sie nicht besonders leiden. Er war ihr zu aufdringlich. Jede Gelegenheit nahm er wahr, um mit ihr anzubandeln. Alice hatte ihn jedoch bisher immer wieder abblitzen lassen. Da war Peter Steinach anders. Ihn konnte Alice schon besser leiden. Er war ein ruhiger und besonnener Typ, redete wenig und war im Vergleich zu Harrys aufdringlicher Art geradezu schüchtern. Alice war es natürlich nicht unbemerkt geblieben, dass Peters Augen immer glänzend wurden, wenn er sie ansah. Sie wusste natürlich, was das bedeutete. Peter war ganz einfach in sie verliebt, hatte aber bisher noch nie den Versuch einer vertraulichen Annäherung unternommen. Ihr gefiel das nicht nur, sondern es erleichterte sie auch, denn sie wusste, dass sie ihm eine Abfuhr hätte erteilen müssen. Sie mochte Peter zwar, unterhielt sich auch gern mit ihm, aber seine Freundin zu werden, hatte sie nicht im Sinn. Gewiss, er sah gut aus – besser als Harry – und es gab einige gleichaltrige Mädchen an der Uni, die recht gern mit ihm zusammen gewesen wären. Doch Peter schien nur Augen für sie, Alice, zu haben. Auf eine ganz bestimmte Weise schmeichelte ihr das natürlich. In seiner Gesellschaft fühlte sie sich wirklich wohl, zu ihm hatte sie Vertrauen. Das war aber auch alles. Nicht zuletzt auch schon deshalb, weil es einen anderen jungen Mann gab, der ihr Interesse geweckt hatte. Volker Reinegger hieß er und studierte ebenfalls Kunstgeschichte. Es war allerdings nicht so, dass sie sich in ihn verliebt hatte, aber sie gestand sich ein, dass sie nicht ungern mit ihm in Kontakt gekommen wäre.

»Übrigens, Alice …«, unterbrach Harry Alices Gedanken und holte aus seiner Tasche eine Zeitschrift hervor, die er aufgeschlagen auf den Tisch legte. Mit dem Finger deutete er auf ein Bild mit darunterstehenden kurzen Text. »… ich habe da etwas entdeckt. Sieh mal! Fast hätte ich geglaubt, dass du das bist.«

Alice versteifte sich ein wenig. Sie ahnte etwas, und ihre Ahnung bestätigte sich, als sie das Bild sah und den dazugehörigen Text las.

»Die Ähnlichkeit ist verblüffend«, ergriff Harry wieder das Wort und lächelte faunisch. »Man könnte dich und die hier abgebildete Frau für Schwestern halten, wenn nicht …«

»Spar dir die Worte, Harry«, unterbrach Alice den jungen Mann. »Du weißt sehr gut, dass das hier meine Mutter ist.«

»Ja, das weiß ich«, räumte Harry ein. »Eine tolle Frau übrigens, und wenn sie nicht so alt wäre, könnte ich mich glatt in sie verlieben.« Sinnend betrachtete er das Foto in der Zeitschrift, deren Auflage wegen der interessanten Klatschreportagen ziemlich hoch war.

»Meine Mutter ist nicht alt«, erwiderte Alice. »Mit dreiundvierzig ist eine Frau …«

»Schon verstanden«, fiel Harry dem langbeinigen Mädchen grinsend ins Wort. »Ihren Aktivitäten entsprechend scheint sie sogar noch sehr jung zu sein.« Er hatte damit gar nicht einmal so unrecht. Der unter dem Zeitungsfoto stehende Artikel des Klatschreporters schien das nur zu bestätigen. Er beinhaltete nicht mehr und nicht weniger, als das die gerade während eines verrückten Tanzes abgelichtete Katharina Helbrecht in punkto Esprit und Lebenslust trotz ihrer bereits überschrittenen vierzig den jüngeren Altersstufen noch einiges voraus habe und ganz abgesehen von ihrem wirklich rassigen Aussehen auf dem besten Wege war, die Partylöwin der Münchener Schickeria zu werden.

Sinnend und nachdenklich betrachtete Alice das Foto in der Zeitschrift. Irgendwie tat die Mutter ihr leid. Andererseits aber ärgerte sie sich auch über sie.

Nur wenige Sekunden hatten all ihre augenblicklichen Überlegungen gedauert, da riss sie Harrys Stimme wieder aus ihren Gedanken. »Du kannst das Blatt gern behalten, wenn du willst«, sagte er und lächelte verschmitzt. »Vielleicht inspiriert dich das Bild und der Artikel ein …«

»Hör auf, Harry!«, fiel Peter dem Studienfreund energisch ins Wort. »Du siehst doch, dass du Alice damit ärgerst.«

»Ja, ja, schon gut …«, murmelte Harry und schob Alice das Blatt hin.

»Danke«, gab Alice zurück und verstaute es in ihrer Tasche. »Ich muss jetzt aber weiter«, fügte sie hinzu und wollte gehen.

Peter hielt sie zurück. »Ach, bevor ich’s vergesse, Alice«, sagte er, »ich wollte dich für den kommenden Samstag zu einer Fete einladen.« Bittend sah er Alice an.

Fragend gab sie den Blick zurück. »Fete? Wo? Bei wem und weshalb?«, kam es leise über ihre Lippen.

»Tja, eigentlich gibt es dafür keinen besonderen Anlass«, erwiderte Peter. »Volker Reineggers Eltern reisen am Freitag in die Ferien, und Volker meint, dass man das ausnützen müsse, wenn man das ganze Haus für sich allein hat. Er hat schon entsprechende Vorbereitungen getroffen.«

»Wo soll das denn stattfinden?«, wollte Alice wissen, die bei der Nennung des Namens Volker Reinegger aufgehorcht hatte.

»In Hausham, das ist unweit von Schliersee«, kam die Antwort. »Volkers Eltern haben dort ein großes Haus mit Swimmingpool.«

Alice überlegte kurz. Solche Feten hatte sie schon öfters mitgemacht, und es war immer sehr lustig und unterhaltsam gewesen. Man war schließlich jung, und es war ja auch nichts dabei, wenn man das Leben ein wenig genießen wollte. Weshalb sollte sie nicht auch diesmal mitmachen? Es störte sie zwar ein wenig, dass das außerhalb Münchens sein sollte. In der gleichen Sekunde fiel ihr aber ein, dass Schliersee beziehungsweise Hausham gar nicht so weit vom Tegernsee entfernt war, von der Südspitze, da wo bei Rottach ihre Mutter in ihrem Bungalow lebte. Gar nicht so übel, sinnierte sie weiter. Da konnte sie nach langer Zeit am darauffolgenden Sonntag wieder einmal bei der Mutter zu Hause sein. Ausschlaggebend für ihre dann folgende Entscheidung aber war, dass Volker Reinegger mit dabei war.

»Nun, was ist?«, fragte Peter in Alices Gedanken hinein.

»Okay, ich mache mit«, erwiderte Alice. »Wie komme ich aber dahin?«, wollte sie wissen. »Du weißt, dass ich kein Auto, sondern nur einen Motorroller habe.«

»Kein Problem – ich hole dich ab und fahre dich hin …«

»Auch wieder nach Hause?«

Peter nickte nur.

Damit war für Alice dieses Thema erledigt. Sie wollte nur noch wissen, zu welcher Uhrzeit am Samstag sie sich bereithalten sollte.

»Gegen sechs am Abend hole ich dich ab«, antwortete Peter. »Du hast ja noch die gleiche Adresse?«, vergewisserte er sich.

Alice bestätigte es, nickte den beiden jungen Männern verabschiedend zu und verschwand mit elastischem Gang aus der Kantine, bald darauf auch aus dem Universitätsgebäude. Als sie dem Parkplatz zuschritt, auf dem ihr Motorroller stand, fiel ihr noch ein, dass sie eigentlich hätte fragen müssen, ob Harry Büchner etwa auch an dieser Fete teilnahm. Begeistert davon war sie nicht. Dafür aber verspürte sie eine leise erwartungsvolle Freude bei dem Gedanken, dass Volker Reinegger anwesend sein würde. Dabei müsste sich doch bestimmt die Möglichkeit eines Kontaktes ergeben.

Wenige Minuten nach zwei Uhr nachmittags war es, als sie in ihrem in jungmädchenhaften Stil eingerichteten kleinen Appartement in München-Sendling eintraf und ihre Umhängetasche leerte. Dabei fiel ihr wieder das Magazin in die Hände, das sie von Harry Büchner bekommen hatte und in dem ihre Mutter abgebildet war. Über Alices Nase bildete sich eine kleine Unmutsfalte. »Ich muss einmal ernsthaft mit ihr reden«, murmelte sie vor sich hin, »ob ihr das nun gefällt oder nicht. Ja, am Sonntag nach der Fete, werde ich es tun.«

Dieser Entschluss brachte sie gleichzeitig auf den Gedanken, die Mutter anzurufen und ihr mitzuteilen, dass sie den Rest der Nacht vom Samstag auf Sonntag und auch den gesamten Sonntag im Haus am Tegernsee bleiben wolle. Sie ließ diesem Gedanken auch sofort die Tat folgen, griff zum Telefon und rief ihre Mutter an.

Etwas enttäuscht legte sie nach einer Weile wieder auf, denn es meldete sich niemand am anderen Ende der Leitung. »Mama ist wieder einmal unterwegs«, flüsterte sie. »Es würde mich nicht wundern, wenn sie jetzt schon in München ist und sich auf den Abend einstellt.« Wahrscheinlich mit ihrem jetzigen jungen Freund, fügte sie in Gedanken hinzu.

Wie mag dieser Mann wohl aussehen, fragte sie sich im nächsten Augenblick neugierig. Was hatte er Besonderes an sich, dass Mutter ihn zu ihrem Favoriten gemacht hatte? War es nur der Umstand, dass er dreizehn Jahre jünger war? Alice kannte den Mann nicht. Sie hatte ihn noch nie gesehen und wusste nur, dass er Fotoreporter für einige Blätter war und Rolf Sternau oder Sterneck oder so ähnlich hieß.

Eine ganze Weile beschäftigte sie sich in Gedanken noch mit ihrer Mutter, während sie sich in der winzigen Küche etwas Essbares zubereitete. »Na, auf jeden Fall werde ich Sonntag mit ihr reden«, stieß sie hervor. »Morgen werde ich noch einmal versuchen, sie anzurufen. Bis Samstag sind ja noch fast drei Tage. Einmal muss sie ja zu Hause sein.« Mit diesen Worten beendete sie ihre Überlegungen um die Mutter und deren jüngeren Freund und begann zu essen, weil sie sich anschließend einige vorgegebene Lektionen vornehmen wollte.

*

Abschätzend sah Katharina Helbrecht, die in ihrem roten Ferrari saß, den jungen Mann an, der vor der noch geöffneten Wagentür stand und prüfend auf sie herunterblickte. Bis vor wenigen Minuten war sie noch mit ihm im Haus gewesen und hatte seine drängenden Fragen über sich ergehen lassen. Eine Viertelstunde lang hatte es gedauert, und sie war sich wie jemand vorgekommen, der verhört wurde. Kurzerhand hatte sie der Unterhaltung ein Ende gesetzt, denn die Zeit wurde ihr knapp. Um halb drei wollte sie wie abgesprochen in der Klinik am See sein. Das sagte sie jetzt, als sie bereits startbereit im Auto saß, auch ihrem Besucher, dem jungen Fotoreporter Rolf Sternau, den sie sich vor einigen Wochen als ihren Freund ausgewählt hatte.

»Rolf, bitte begreife doch – ich muss zur Behandlung in die Klinik«, stieß sie hervor. Mit einer unnachahmlichen Handbewegung strich sie über ihr fast schulterlanges kastanienbraunes Haar.

»Das begreife ich ja auch, Liebling«, gab Rolf Sternau leicht gereizt zurück. »Was ich nur gern wissen möchte, ist, weshalb du seit fast zwei Wochen irgendwie anders geworden bist mir gegenüber.«

»Wie, anders?« Ein kaum erkennbares Lächeln kräuselte sich um die vollen Lippen Katharinas, die man auf höchstens Mitte dreißig schätzte. Zu ihrem gepflegten Äußeren in Verbindung mit ihrer gewählten Ausdrucksweise und der Art, sich zu bewegen, passte der Begriff »Dame« im wahrsten Sinne des Wortes.

»Nun, ich deutete es schon an – irgendwie kühler bist du zu mir«, erwiderte Rolf, in dessen Augen es verlangend glühte. Seit er Katharina kannte, sah er keine anderen Frauen oder Mädchen an. Mit anderen Worten – er war drauf und dran, alle seine bisherigen Prinzipien, sein Junggesellenleben so lange wie nur möglich weiterzuführen, über Bord zu werfen und mit Katharina in den Ehehafen einzulaufen. Lieber heute als morgen. Er, der eigentlich nie an die sogenannte große Liebe geglaubt hatte, gestand sich ein, dass er diese Frau liebte. Zumindest bildete er sich das ein. Dass Katharina um dreizehn Jahre älter war, störte ihn überhaupt nicht.

»Liebst du mich denn noch?«, unterbrach Rolf Sternau die blitzartigen Gedankengänge Katharinas.

Die sah den jungen Mann fest an. »Rolf, was soll diese Frage?«, gab sie zurück. »Ich mag dich, das weißt du. Ich mag dich sogar sehr.«

»Du hast mir aber auch, und das nicht nur einmal, zugeflüstert, dass du mich liebst«, konterte Rolf. »Mehr noch – wir haben sogar schon von einer festen Verbindung, von einer Ehe also, gesprochen, und du warst nicht abgeneigt.«

»So? Meinst du?«, gab Katharina leise zurück. Natürlich erinnerte sie sich an ein solches Gespräch. Oder waren es zwei gewesen? Sie wusste es nicht mehr.

»Ja, das meine ich«, stieß Rolf hervor. Um Antwort bittend sah er die Frau an, deren Mann er nur zu gern werden wollte. Nicht wegen des enormen Vermögens, das sie nach dem Tode ihres zweiten Mannes geerbt hatte, nein, sondern einzig und allein wegen ihrer Ausstrahlung und ihrer Fähigkeit, einem Mann schon auf Erden den Himmel zu geben.

»Lassen wir doch bitte jetzt dieses Thema«, ergriff Katharina wieder das Wort. Sie war es plötzlich leid, darüber weiterzudiskutieren. »Denke einmal darüber nach, dass ich dreizehn Jahre älter bin und auch eine schon erwachsene Tochter habe.«

»Die hast du mir bisher vorenthalten«, entgegnete Rolf mit einem leisen Vorwurf in der Stimme. »Ich hätte sie gern einmal kennengelernt, denn immerhin gehört sie zu dir, die ich ja liebe.« Über seine Lippen kam ein leiser Knurrlaut. »Sag mir bitte, gibt es etwa einen anderen Mann, den ich als Rivalen zu betrachten habe?!« Funkelnd sah er Katharina an.

»Rede keinen Unsinn«, erwiderte sie ausweichend, griff nach der Seitentür und zog sie zu. Durch das heruntergekurbelte Seitenfenster sagte sie: »Jetzt muss ich aber fahren, sonst komme ich zu spät.«

Rolf schluckte. »Sehen wir uns heute am Abend?«, fragte er. »In München oder bei dir zu Hause?«

Katharina überlegte nur ganz kurz. »Nein, heute nicht, Rolf«, antwortete sie. »Ich habe mir vorgenommen, das begonnene Bild endlich fertig zu malen.«

»Ach ja, deine Malerei«, murmelte er, »die ist auch zu einer Art Rivale für mich geworden.« Er wusste, dass Katharina bereits seit einem Jahr ihrem Hobby, der Malerei, nachging, obwohl sie seines Wissens bisher noch kein einziges von ihren gemalten Bildern verkauft hatte. Nun ja, es war eben nur ein Hobby von ihr. Sie hatte es nicht nötig, damit Geld zu verdienen. Von dem besaß sie genug. »Also, wann sehen wir uns wieder?«, wollte er wissen. »Ich muss leider für zwei oder auch drei Tage wegen einer größeren Fotoreportage nach Berlin …«

»Wir können ja nächste Woche miteinander telefonieren«, erklärte Katharina und drückte auf den Anlasser. Es passte ihr gut, dass Rolf für drei Tage außer Reichweite war, denn sie hatte für das kommende Wochenende schon etwas vor – zusammen mit Dr. Lindau. Sie hoffte, dass er mitmachte. »Er muss …«, entfuhr es ihr.

»Wer muss was?«, fragte Rolf, der die Worte vernommen hatte.

Keineswegs verlegen, erwiderte Katharina: »Der Motor muss anspringen.« Das geschah auch im gleichen Augenblick. »Also dann …«, rief Katharina und gab Gas.

*

Mit nachdenklicher Miene verließ Dr. Lindau, Chefarzt der Klinik am See, das Untersuchungszimmer der Chirurgie. Dr. Reichel, der Leiter der Station für innere Krankheiten, der bei der eben beendeten Untersuchung der Patientin dabei gewesen war, folgte ihm.

»Einwandfrei eine Achalasie«, ergriff er als Erster das Wort, als er wenig später mit dem Klinikchef das Stationszimmer betreten hatte.

Dr. Lindau nickte zustimmend. »So ein anhaltender Krampf des Mageneingangs kommt eigentlich relativ selten vor«, entgegnete er, »und ist auch normalerweise durch eine Drehung der Speiseröhre zu beseitigen.«

»In diesem Fall aber war es ohne Ergebnis.« Fragend sah Dr. Reichel den Chefarzt an. »Operation?«

Wieder nickte Dr. Lindau zustimmend. »Die halte ich für erforderlich«, erwiderte er. »Wir müssen den Muskelmantel der unteren Speiseröhre spalten.«

»Wann?«, fragte Dr. Reichel.

Dr. Lindau überlegte kurz. »Ich denke an morgen oder spätestens übermorgen«, erklärte er. »Wir besprechen das morgen bei der Ärztekonferenz mit dem Kollegen Hoff. Ich möchte keine Zeit verlieren.«

»Sie befürchten Komplikationen?«

»Die sind nicht auszuschließen«, antwortete Dr. Lindau. »Ich denke dabei auch an die erhöhte Wahrscheinlichkeit von Speiseröhrenkrebs. Lassen Sie also die vorhin entnommene Gewebeprobe darauf besonders untersuchen und analysieren, und zwar noch heute!«, bat er Dr. Reichel.

»Ich veranlasse das gleich«, versprach der.

In diesem Augenblick schrillte das Telefon im Stationszimmer. Schwester Marianne, die dem Pflegepersonal der Station vorstand, meldete sich und reichte dann Dr. Lindau den Hörer. »Für Sie, Herr Chefarzt«, sagte sie. »Frau Stäuber ist am Apparat.«

Dr. Lindau drückte den Hörer ans Ohr. »Ja, was gibt es?«, fragte er.

»Die Frau Konsulin ist hier und wartet auf Sie«, meldete die Sekretärin. »Sie hat ja heute einen Behandlungstermin.«

Dr. Lindau verzog das Gesicht. Daran hatte er gar nicht gedacht.

»Ich bin schon auf dem Wege«, gab er zurück. »Im Übrigen, Frau Stäuber – betiteln Sie Frau Helbrecht nicht immer mit Konsulin! Sie ist nur die Witwe des Konsuls. Sagen Sie ihr also, dass ich in wenigen Minuten unten bin!« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, legte er auf und wandte sich wieder an Dr. Reichel. »Wir sind uns also einig«, meinte er.

»Vollkommen«, bestätigte Dr. Reichel.

»Ja, dann also bis später …« Dr. Lindau entfernte sich aus dem Stationszimmer und fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss.

»Sie sitzt schon bei Ihnen drin«, empfing die Sekretärin ihren Chef, als der das Vorzimmer betrat. »Ich meine Frau Helbrecht«, fügte sie betont hinzu. »Die Krankenakte habe ich bereits auf Ihren Schreibtisch gelegt.«

Dr. Lindau feixte verstohlen, als er merkte, dass sein vorheriger Hinweis auf den Konsul-Titel Marga Stäuber anscheinend ein wenig zu schaffen machte. Er kannte seine Sekretärin. Sie war eine verlässliche Kraft und kannte sich in ihrem Metier wirklich gut aus. Aber für sie war eben die Frau eines Konsuls die Frau Konsul, ebenso wie die Gattin eines Arztes oder eines Professors eben die Frau Doktor oder die Frau Professor war. »Danke, Frau Stäuber«, murmelte er und betrat sein Zimmer, das Büro und Sprechzimmer in einem war.

»Entschuldigen Sie die kleine Verspätung, gnädige Frau«, begrüßte er Katharina Helbrecht, die mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Stuhl saß und ihn lächelnd ansah. Mit einem Händedruck begrüßte er die attraktive, rassige Frau, die als Privatpatientin seit knapp drei Wochen von ihm behandelt wurde. Ein eigenartiges Gefühl durchströmte ihn, als Katharina Helbrecht seine Hand einige Sekunden länger festhielt. Hastig zog er sie zurück und trat hinter seinen Schreibtisch.

»Das macht doch nichts, Herr Doktor«, gab Katharina Helbrecht zurück, stand auf und trat dicht neben den Chefarzt. Der Blick, mit dem sie den Klinikleiter ansah, sprach eine ziemlich deutliche Sprache.

Dr. Lindau entging das natürlich nicht. Es war nicht das erste Mal, dass diese Frau ihn so ansah, und er wusste auch, was das bedeutete. Katharina Helbrecht ließ nur zu deutlich erkennen, dass sie etwas für ihn übrig hatte. Er gestand sich ein, dass ihm das sogar ein wenig schmeichelte, denn schließlich war er nicht nur Arzt, sondern auch ein Mann in den besten Jahren, der gegen weibliche Reize einer schönen Frau nicht unbedingt immun war.

»Bekomme ich jetzt wieder meine Injektion?«, unterbrach Katharina in diesem Moment die Gedanken des Chefarztes und lächelte verheißungsvoll.

Diese Frage brachte Dr. Lindau wieder zu Bewusstsein, dass er der Arzt war und diese Frau seine Patientin. »Nein, gnädige Frau«, erwiderte er mit etwas rau klingender Stimme. »Das ist nicht mehr nötig.«

»Weshalb nicht?« Verwundert sah Katharina den Arzt an.

»Weil ich Ihre Behandlung vorläufig als abgeschlossen betrachten kann«, antwortete Dr. Lindau, griff nach der Krankenakte und schlug sie auf. »Das vor zwei Tagen durchgeführte Elektrokardiogramm zeigt, dass Ihr Herzrhythmus wieder in Ordnung, also vollkommen regelmäßig ist. Es liegt jetzt nur an Ihnen, dass das auch so bleibt«, fuhr er erklärend fort. »Meiden Sie auf jeden Fall übermäßigen Genuss von Alkohol, Kaffee und Nikotin, dann wird das Herzjagen kaum noch auftreten.«

Katharina war sekundenlang ein wenig fassungslos. Ihr wurde blitzartig klar, was die Worte Dr. Lindaus bedeuteten. Mit Worten ausgedrückt hieß das, dass sie nicht mehr wie bisher jeden dritten Tag in die Klinik zur Behandlung zu kommen brauchte. Damit war dann auch der persönliche Kontakt mit Dr. Lindau vorbei. »Wollen Sie damit sagen, dass die Behandlung vorbei ist, Herr Doktor Lindau?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»So ist es, gnädige Frau«, bestätigte Dr. Lindau.

»Ich soll also nicht mehr hierherkommen?«

Dr. Lindau nickte. »Sie brauchen es nicht, denn die Behandlung ist abgeschlossen«, erklärte Dr. Lindau. »Als Arzt gibt es für mich in diesem Fall nichts mehr zu tun. Seien Sie doch froh darüber!«

»Ich bin aber gern hergekommen«, stieß Katharina heftig hervor.

Dr. Lindau konnte sich eines feinen Lächelns nicht enthalten. »Da gehören Sie aber wirklich zu den wenigen Menschen, die wegen eines Leidens gern zum Arzt gehen«, meinte er.

Hinter Katharinas Stirn überschlugen sich die Gedanken. Wie sollte sie sich nun verhalten? Sollte sie aufgeben und versuchen, ihre Zuneigung für den Arzt zu unterdrücken? Dagegen wehrte sich alles in ihr. Nein, schien ihr eine innere Stimme zuzuraunen, du liebst ihn doch und willst ihn haben. Ergreife also die Initiative. Nur Bruchteile von Sekunden dauerten diese Überlegungen, dann hatte sich Katharina wieder gefasst. Ein Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. »Ja, natürlich bin ich froh, dass Sie mich als gesund und aus der Behandlung entlassen, Herr Doktor«, ergriff sie das Wort. »Ich bin Ihnen auch sehr dankbar dafür.« Sie verstand es vortrefflich, sich keine Enttäuschung anmerken zu lassen und schlug nun eine andere Taktik ein. »Erlauben Sie mir aber, mich ein wenig dankbar zu zeigen.«

»Sie bekommen die Honorarforderung per Post zugestellt, gnädige Frau«, entfuhr es Dr. Lindau.

»Selbstverständlich, aber das meinte ich nicht damit«, entgegnete die Konsulwitwe.

»Sondern?« Fragend und dabei ein wenig misstrauisch sah Dr. Lindau die Patientin, die ja ab sofort gar keine mehr war, an. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass etwas Unbekanntes auf ihn zukam, gegen das er sich nicht wappnen konnte. Was konnte das nur sein?

Er erfuhr es auch sofort.

»Ich möchte Sie gern zu etwas einladen, Herr Dr. Lindau«, kam es leise und beinahe zärtlich über Katharinas Helbrechts Lippen. »Zu einem Opernbesuch und einem anschließenden Essen in München. Ich habe bereits zwei Karten für die Oper«, fuhr sie fort. »La Traviata wird gegeben, und das anschließende Essen betrachte ich als eine Art kleiner Feier aus Anlass meiner Genesung, die ich Ihnen verdanke. Am kommenden Sonnabend wäre das. Bitte geben Sie mir jetzt keinen Korb!« In ihren Augen funkelte es, als sie Dr. Lindau bittend ansah.

Der schluckte. Diese Einladung überraschte ihn und machte ihn auch etwas verlegen. Wie sollte er sich jetzt verhalten? Sicher – La Traviata hätte er sich ganz gern angesehen, und gegen ein Essen mit dieser schönen Frau war im Grunde genommen ja auch nichts einzuwenden. Dennoch wehrte sich in ihm etwas dagegen.

»Nun?«, unterbrach Katharina das eingetretene sekundenlange Schweigen.

Dr. Lindau straffte sich. »Was soll ich Ihnen antworten, gnädige Frau?«, brachte er hervor. »Natürlich ehrt mich Ihre Einladung«, fügte er hinzu. »Aber ich glaube doch, dass ich abschlagen muss.«

»Weshalb das?«, fragte Katharina mit gedämpfter Stimme. »Haben Sie an mir etwas auszusetzen?«

»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Dr. Lindau und wünschte sich das Erscheinen seiner Assistentin herbei. »Doch vergessen Sie bitte nicht, dass ich Arzt und Leiter einer Klinik bin, der stets im Dienst ist.« Unwillig verzog er das Gesicht bei dieser, wie er sich eingestand, laschen Formulierung. »Es ist ja durchaus möglich, dass ich gerade am Sonnabend als Arzt gefordert werde«, fuhr er fort. »Sie werden verstehen, dass ich Ihnen jetzt keine Zusage machen kann.«

Katharina dachte kurz nach. Entschlossen blitzte sie dann den Chefarzt an. »Ich verstehe das natürlich«, erklärte sie mit fester Stimme. »Aber wenn Sie mir erlauben, so werde ich Sie am Freitag anrufen, um …« Sie brach ab, weil in diesem Augenblick Bettina Wendler, die Assistentin Dr. Lindaus, das Sprechzimmer betrat und einige Papiere auf den Schreibtisch des Chefarztes legte.

»Die Laborberichte«, sagte sie und setzte hinzu: »Ich störe wohl nicht?«

Doch, Sie stören sogar sehr, lag es Katharina auf der Zunge, aber sie schluckte es hinunter.

»Nein, nein, Bettina«, beeilte sich Dr. Lindau zu versichern. »Frau Helbrecht wollte ohnehin gehen.«

Unmerklich zuckte Katharina zusammen, fasste sich aber blitzschnell wieder und sah Dr. Lindau lächelnd an. »Also, Herr Doktor, es bleibt dabei – ich melde mich am Freitag«, sagte sie und reichte dem Chefarzt verabschiedend die Hand.

*

An diesem Abend verlief das gemeinsame Abendessen im Doktorhaus in Auefelden ziemlich schweigsam. Jedenfalls nicht so wie sonst immer. Obwohl Astrid ihrem Vater sein Leibgericht zubereitet hatte, fiel ihr auf, dass er immer wieder grübelnd auf seinen Teller sah und auf diese oder jene Bemerkung von ihr oder auch von ihrem Mann Alexander nur einsilbig reagierte. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen, ja, fast zu bedrücken. Er widmete sich kaum ihrem kleinen Sohn, der mit am Tisch saß. Nicht ein einziges Mal während des Essens hatte er mit Stefan gescherzt. Sonst ließ er kaum eine Gelegenheit aus, mit dem Jungen ein wenig herumzualbern.

»Du bist so nachdenklich, Paps«, sprach Astrid schließlich den Vater direkt an, stand auf und begann den Tisch abzuräumen. »Hast du Sorgen?«

Dr. Lindau zwang sich zu einem Lächeln und sah seine Tochter ruhig an.

»Sorgen?«, wiederholte er fragend und schüttelte den Kopf. »Nein, Astrid, die habe ich nicht«, wehrte er ab.

»Na, vielleicht nicht private, dafür aber möglicherweise …«

»Ich weiß, was du sagen willst«, fiel Dr. Lindau seiner Tochter ins Wort. »Aber ich kann dich beruhigen – in der Klinik ist alles in Ordnung.«

»Paps, ich kenne dich doch«, erwiderte Astrid, »und merke doch schon die ganze Zeit, dass du dich in Gedanken mit etwas beschäftigst. Den ganzen Abend über warst du so nachdenklich. Sogar dein Enkel hat dich heute kaum interessiert.«

»Entschuldige«, murmelte Dr. Lindau.

»Also, dann sprich dich aus!«, verlangte Astrid. »Wir beide haben uns doch versprochen, nie Geheimnisse voreinander zu haben.«

»Ich habe aber Geheimnisse«, versicherte Dr. Lindau seiner Tochter und konnte sich eines Schmunzelns nicht enthalten.

Damit gab sich Astrid aber nicht zufrieden und bohrte weiter.

»Du bist ja schlimmer als ein Staatsanwalt«, meinte Dr. Lindau nach einer Weile lächelnd. »Hartnäckig wie …, wie …, wie …«

»Das ist ein Erbteil von dir«, fiel Astrid dem Vater ins Wort und lächelte ebenfalls.

In den Augen ihres Vaters funkelte es amüsiert. »Wie ich dich kenne, gibst du nicht eher Ruhe, bevor du nicht alles aus mir herausgequetscht hast«, sagte er. »Also schön – es geht um meine gewesene Privatpatientin Katharina Helbrecht«, bekannte er.

»Ist das nicht die Witwe des Konsuls, die ich bei dir gesehen habe, vor einer Woche etwa?«, fragte Astrid interessiert.

»Genau die ist es«, bestätigte Dr. Lindau.

»Und was ist mit ihr?«, wollte Astrid wissen.

»Wie soll ich es ausdrücken?« Dr. Lindau sah seine Tochter ernst an. »Diese Dame macht …, nun ja …, sie macht mir den Hof. Mit anderen Worten – sie will mich umgarnen.«

Astrid bekam runde Augen. »Schau an«, stieß sie lachend hervor. »Und was missfällt dir dabei?«, fuhr sie fragend fort. »Ist sie nicht eine äußerst attraktive Frau? Kannst du sie nicht leiden?«

»Schon«, bekannte Dr. Lindau, »aber ich bin an einer Beziehung nicht sonderlich interessiert.«

Astrids Lächeln verschwand. Sie wurde ernst. »Weshalb nicht, Paps?«, fragte sie leise. »So wie ich sie in Erinnerung habe, würde sie doch wirklich gut zu dir passen.«

Verdutzt sah Dr. Lindau seine Tochter an. »Was willst du damit sagen?«, wollte er wissen.

»Ganz einfach, Paps«, antwortete Astrid. »Ich will damit nur andeuten, dass du noch lange nicht zu alt bist, um nicht noch eine harmonische Partnerschaft mit einer liebenswerten Frau einzugehen. Das Alleinsein bekommt dir auf die Dauer nicht.«

»Jetzt mach aber einen Punkt, Astrid!« Unwillig runzelte Dr. Lindau die Stirn. »Du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich deine Mutter sehr geliebt habe und …«

»Meine Mutter ist aber schon seit Jahren tot, und du lebst noch«, unterbrach Astrid den Vater.

»Trotzdem«, widersprach Dr. Lindau, »hänge ich im tiefsten Innern immer noch an ihr.«

»Ich weiß das, Paps, und es ehrt dich auch«, konterte Astrid. »Doch wer oder was hindert dich daran, noch einmal zu heiraten? Nicht einmal meine Mutter würde das tun, wenn sie das wüsste.«

»Sag mal, willst du mich etwa verkuppeln?«, fragte Dr. Lindau und sah seine Tochter überrascht an.

»Nein, Paps, das will ich nicht«, erwiderte Astrid ruhig. »Was ich möchte, ist nur, dass du deinem Alleinsein ein Ende bereitest und dadurch noch ein wenig glücklich wirst.«

»Was willst du? Ich habe doch dich, meinen Enkel und deinen Mann«, gab Dr. Lindau beinahe heftig zurück. »Außerdem leite ich eine gut gehende und in gutem Ruf stehende Klinik, und die Arbeit füllt mich aus. Ist das alles etwa nicht als Glück zu bezeichnen?«

»Gewiss«, pflichtete Astrid dem Vater bei.

»Na also …«, brummte Dr. Lindau.

»Woraus schließt du denn überhaupt, dass diese Frau Helbrecht dich umgarnen will?«, wechselte Astrid auf eine andere Seite dieses Themas über. »Hat sie dir das gesagt?«

»Natürlich nicht«, antwortete Dr. Lindau. »So etwas merkt man aber. Außerdem hat sie mich heute zu einem Opernbesuch am kommenden Samstag mit einem anschließenden Essen eingeladen.« Mit kurzen Sätzen berichtete er von der Unterhaltung mit der attraktiven Konsulswitwe.

»Das finde ich aber nett von der Dame«, meinte Astrid. »Du hast natürlich angenommen.« Fragend sah sie den Vater an.

Wortlos schüttelte der den Kopf.

»Weshalb nicht?«, fragte Astrid erstaunt. »Das verstehe ich nicht«, fuhr sie fort. »Du liebst doch Opern, und ein wenig Abwechslung vom Klinikleben würde dir sehr guttun. Ich meine, dass du diese Einladung annehmen solltest, Paps. Was ist schon dabei? Du brauchst die Dame ja deshalb nicht zu heiraten.« In dieser Form redete sie noch einige minutenlang auf ihren Vater ein. Ihr ging es nur darum, dass er sich nicht immer nur mit Krankheiten, Patienten und Klinikbetrieb beschäftigte, sondern auch dann und wann ein wenig ausspannte.

So ein Opernabend – noch dazu La Traviata – in Gesellschaft einer schönen Frau, das war ihrer Ansicht nach doch die beste Gelegenheit, einmal abzuschalten und ein bisschen Mensch zu sein, ohne dabei mit Krankheiten konfrontiert zu werden.

Dr. Lindau gab es schließlich auf, sich weiterhin zu sträuben. »Du hättest Politikerin werden sollen statt Kinderärztin«, sagte er lächelnd. »Deine Überzeugungskraft ist bestechend. Also gut, ich werde darüber nachdenken.«

Als er am folgenden Morgen pünktlich in der Klinik erschien, dachte er gar nicht mehr an Katharina Helbrecht und ihre Einladung. Der Klinikalltag ließ private Gedanken und Überlegungen erst gar nicht aufkommen. Dafür sorgten nicht nur die bereits vorhandenen vier Wartezimmerpatienten, sondern auch – und das vor allem – die zu behandelnden Krankheitsfälle der in der Klinik einliegenden Patientinnen. Der Vormittag verging mit den verschiedensten Untersuchungen, die Dr. Lindau zusammen mit Dr. Reichel und mit Dr. Bernau vornahm.

Er war richtiggehend erleichtert, als der Arbeitstag vorüber war und er an die Heimfahrt denken konnte. Der vergangene Tag hatte ihn doch ein wenig ermattet.

»Sie können dann auch Feierabend machen, Frau Stäuber«, rief er seiner Sekretärin zu, als er eine halbe Stunde später an ihr vorbeiging und bald darauf die Klinik verließ und nach Hause fuhr. An diesem Abend hielt er sich auch nicht sehr lange in der Wohnung seiner Tochter und seines Schwiegersohnes auf. Er nahm nur einen kleinen Imbiss zu sich und zog sich dann zurück.

»Paps braucht wirklich etwas Abwechslung«, sagte Astrid zu ihrem Mann. Sie hatte ihm von der Einladung der Konsulswitwe erzählt und freute sich, dass er ihre Ansicht teilte.

»Da kommt ein Opernbesuch mit anschließendem Essen gerade recht«, gab Alexander Mertens zurück. »Und das noch dazu mit einer schönen Frau«, fügte er feixend hinzu.

»Kennst du sie denn?« Forschend sah Astrid ihren Mann an.

»Nein …«

»Woher weißt du dann, dass sie schön ist?«, bohrte Astrid weiter.

»Von dir, mein Schatz«, erwiderte Dr. Mertens lächelnd. »Du hast es mir erzählt. Ich an Vaters Stelle würde eine solche Einladung nur zu gern annehmen.«

Astrid funkelte ihren Mann an. »Erstens bist du nicht an Vaters Stelle, und zweitens würde ich mir verbitten, dass du dich von anderen Frauen einladen lässt.«

»Aber, aber, mein Liebes …« Alexander Mertens schmunzelte. »Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«

»Bin ich nicht«, gab Astrid mit blitzenden Augen zurück, »sondern nur vorsichtig.«

Alexander gab keine Antwort. Er nahm nur seine Frau in die Arme und küsste sie zärtlich. »Ich habe ja Einladungen von anderer Seite gar nicht nötig«, flüsterte er dann seiner hübschen Frau ins Ohr. »Ich habe ja dich.« Sanft strich er Astrid über das Haar. »Heute gehen wir aber etwas früher zu Bett«, sagte er mit leiser Stimme.

»Soll ich das nun auch als eine Art Einladung auffassen?«, fragte Astrid ebenso leise, und in ihre Augen trat ein samtener Glanz.

Alexander nickte nur wortlos und zog seine geliebte Frau fest an sich.

*

Das gleißende Licht der Operationslampe trieb winzige Schweißperlen auf die Gesichter der beiden Operateure. Immer wieder musste Schwester Sylvia, eine der drei OP-Schwestern, die Stirn von Dr. Hoff und vom Chefarzt abtupfen.

»Klammer …«

»Tupfer …«

»Ist geklammert …«

»Schere …«

»Tupfer …«

Nur diese kurz hervorgestoßenen Worte der beiden Ärzte waren zu hören. Und das leise Klirren der in eine Ablageschale fallenden gebrauchten Instrumente.

Dr. Lindau und Dr. Hoff arbeiteten Hand in Hand. Jeder wusste, was er zu tun hatte, und beide wussten, worum es in diesem Fall ging. Sie waren ein gut eingearbeitetes Team, das schon unzählige Operationen erfolgreich ausgeführt hatte. Bei ihnen gab es keine falsche Handbewegung und keine Unsicherheiten.

»Das war knapp«, meinte Dr. Hoff, als er ebenso wie der Chefarzt nach gelungener Operation die Kleidung wechselte.

»Das haben wir doch schon oft genug erlebt«, meinte Dr. Lindau und lächelte sparsam. Er wollte noch etwas hinzufügen, schluckte es aber hinunter, weil in diesem Augenblick das Telefon im Vorraum des OP läutete und er abhob.

Es war seine Sekretärin, die ihm meldete, dass Frau Helbrecht ihn sprechen möchte. »Sind Sie erreichbar, oder soll ich …?«

»Ich nehme an«, unterbrach Dr. Lindau die Sekretärin. »Stellen Sie bitte durch!«

»Sofort …« Es knackte in der Leitung, und dann war die Stimme von Katharina Helbrecht zu hören.

»Hallo, Dr. Lindau, ich bin es und möchte nur gern wie abgesprochen Ihre positive Antwort wissen. Ich hoffe doch sehr, dass Sie meine Einladung nicht ablehnen und mir keinen Korb geben.«

Dr. Lindau schluckte. An seine früher Privatpatientin Katharina Helbrecht hatte er gar nicht mehr gedacht. Was noch schlimmer war – er hatte sich trotz des Zuredens seitens seiner Tochter noch nicht endgültig entscheiden können. Nun aber musste er sich entschließen. Ja oder nein?

»Nun, was bekomme ich zu hören?«, fragte Katharina Helbrecht in das sekundenlange Schweigen hinein.

Dr. Lindau wandte sich um zu Dr. Hoff. Der aber hatte sich bereits entfernt. »Tja, also«, setzte er zu einer Antwort an, während sich hinter seiner Stirn die Gedanken überschlugen, »… ich habe es mir überlegt, gnädige Frau. Weshalb sollte ich Ihre gut gemeinte Einladung nicht annehmen?«, fuhr er fragend fort und brauchte fast die gleichen Worte wie Astrid.

»Sie sagen also ja? Das freut mich.« Man konnte auch tatsächlich die Freude aus den Worten heraushören.

»Mich auch, gnädige Frau«, gab Dr. Lindau höflich zurück. Er wusste schließlich, was sich gehörte. Ganz sicher war er sich allerdings nicht, ob er sich wirklich über diesen bevorstehenden Samstagabend so sehr freute. Aber nun hatte er es gesagt. »Wann und wo darf ich Sie abholen?«, fragte er.

»Ich würde sagen, morgen um achtzehn Uhr bei mir zu Hause«, kam die Antwort durch die Leitung. »Dann schaffen wir es gut bis zum Beginn der Oper. Sie wissen, wo ich wohne?«

»Ich kenne Ihre Adresse, gnädige Frau, und werde schon hinfinden«, erwiderte Dr. Lindau.

*

Mit glänzenden Augen musterte Astrid Mertens am folgenden Samstagabend ihren Vater, der an diesem Tag die Klinik schon etwas früher verlassen hatte, weil er sich für den Abend noch ein wenig vorbereiten wollte. Da er annahm, dass es ein etwas längerer Abend sein würde, hatte er sich noch ein wenig hingelegt und war dabei tatsächlich eingenickt. Astrid hatte ihn kurz vor vier Uhr geweckt. Nun stand er vor seiner Tochter. Umgekleidet und fertig zur Abfahrt.

»Du siehst fantastisch aus, Paps«, rief Astrid begeistert aus. »Der Smoking sitzt wie angegossen.«

Dr. Lindau lächelte etwas gequält und überlegte, wann er diese festliche Kleidung das letzte Mal getragen hatte. Auf jeden Fall war es schon ziemlich lange her. Fast ebenso lange war es aber auch her, dass er sich einen Freizeitgenuss, wie es ein Opernbesuch nun einmal war, gegönnt hatte. »Ich kann mich also deiner Meinung nach durchaus in der Öffentlichkeit sehen lassen«, gab er scherzend zurück.

»Das will ich meinen«, erwiderte Astrid mit Betonung. »Du bist der bestaussehendste Mann, und ich kann dir versichern, dass sogar jüngere Semester – ich meine weibliche – auf dich fliegen würden.«

»Danke für die Blumen«, murmelte Dr. Lindau. Er wäre kein Mann gewesen, wenn er sich nicht über dieses Kompliment seiner Tochter gefreut hätte. Unwillkürlich registrierte er dabei aber auch noch eine andere gedämpfte Freude – nämlich die auf den vor ihm liegenden Abend. Ja, es war tatsächlich so, dass diese Freude auf den Opernbesuch seine noch bis zum vergangenen Tag vorhandene Skepsis gegenüber Katharina Helbrechts wirklichen Motiven für die Einladung überwand.

»Wie ich Frau Helbrecht einschätze, wird sie sicher ziemlich stolz darauf sein, mit einem so gut aussehenden Mann, wie du es bist, in der Öffentlichkeit gesehen zu werden«, erklärte Astrid ihrem Vater.

Der winkte verlegen ab. »Nun übertreibe nicht«, entgegnete er. Nach einem raschen Blick auf die Uhr setzte er hinzu: »Es wird Zeit zum Fahren, denn ich möchte nicht unpünktlich sein.«

»Ich wünsche dir einen schönen Abend, Paps.« Astrid gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und begleitete ihn bis vor die Haustür.

»Wo ist eigentlich dein Mann?«, fragte Dr. Lindau noch, als er in seinen Wagen stieg.

»In der Klinik«, antwortete Astrid. »Er hat den Nachmittagsdienst übernommen und wird erst am Abend von Dr. Köhler und Dr. Bernau abgelöst.«

»Aha … Na, dann grüß ihn schön!« Dr. Lindau startete und fuhr davon. Bis nach Rottach war es nicht allzu weit, und von da waren es nur noch wenige Fahrminuten bis zu Katharina Helbrechts Haus. Ihre Beschreibung des Weges war so klar gewesen, dass Dr. Lindau sich sehr gut zurechtfand. Fast auf die Minute genau langte er zur verabredeten Zeit vor dem imposanten Bungalow der Konsulswitwe an und stieg aus dem Wagen. Anerkennend betrachtete er den Wohnsitz seiner Privatpatientin, wie er Katharina Helbrecht für sich immer noch bezeichnete, obwohl die Behandlung inzwischen abgeschlossen war. Er war beeindruckt von dem, was er sah.

»Da steckt Geld dahinter«, murmelte er vor sich hin.

»Sie sind sehr pünktlich«, klang es in diesem Augenblick vom Haus her. In der geöffneten verglasten Eingangstür stand die Dame des Hauses. Lächelnd bat sie Dr. Lindau ins Haus. »Wir haben noch ein paar Minuten Zeit«, sagte sie, »und können uns noch einen Drink genehmen.« Fragend sah sie ihren Besucher an. »Whisky? Kognak? Ginfizz?«

»Wie bitte? Ach so.« Dr. Lindau fuhr aus seinen Gedanken hoch. Hatte ihn schon der feudale Bungalow von außen beeindruckt, so war er nun von der Eleganz im Innern überrascht. Dazu kam noch die Erscheinung der Hausherrin, die ein raffiniert geschnittenes Abendkleid trug, das ihre fraulichen Attribute ungemein vorteilhaft zur Geltung brachte. »Ja, dann bitte ich um einen Kognak«, sagte Dr. Lindau.

Er bekam ihn sehr schnell. Katharina Helbrecht zog einen Ginfizz vor. »Auf einen schönen und genussreichen Abend«, sagte sie und trank Dr. Lindau zu.

Sekundenlang war Schweigen zwischen den beiden festlich Gekleideten. »Sie wohnen wirklich sehr schön hier, gnädige Frau«, ergriff Dr. Lindau schließlich wieder das Wort und versuchte, den fordernden und verheißungsvollen Blicken Katharina Helbrechts auszuweichen, was ihm aber nur zum Teil gelang. Der Duft ihres Parfüms stieg in seine Nase und verwirrte ihn ein wenig.

»Ich möchte Sie um etwas bitten«, kam es leise und weich über die Lippen der Konsulwitwe.

»Ja?«, fragte Dr. Lindau und setzte hinzu: »Wenn ich Ihre Bitte erfüllen kann …« Er sprach nicht weiter und sah Katharina Helbrecht nur fest an.

»Sie können Sie sogar sehr leicht erfüllen«, entgegnete die Dame des Hauses lächelnd. »Nennen Sie mich nicht immer gnädige Frau!«

Überrascht hob Dr. Lindau die Augenbrauen an. In irgendeinem Winkel seines Kopfes schien plötzlich ganz leise, kaum vernehmbar eine Art Alarmsignal anzuschlagen. »Wie sonst?«, fragte er mit etwas gepresst klingender Stimme und trat einen Schritt zurück.

»Wie wär’s mit Katharina?«, fragte die Frau. »Das ist mein Vorname, wie Sie sicher wissen.« Ein eigenartiger Glanz war in ihren Augen. Das Zurückweichen des Mannes, den sie für sich gewinnen wollte, war ihr nicht entgangen. Sie deutete es auch richtig, aber es beeindruckte sie nicht sonderlich und änderte schon gar nichts an ihrem einmal gefassten Entschluss, ihr Ziel zu erreichen. Diesen Mann wollte sie haben, und sie redete sich ein, dass ihr das auch gelingen würde. Bisher hatte sie noch nie Schwierigkeiten gehabt, einen Mann, der ihr gefiel, zu erobern. Unwillkürlich musste sie lächeln, als sie zurückdachte, nämlich daran, dass die Herren der Schöpfung sich immer einbildeten, dass sie es seien, die eine Eroberung gemacht hätten, und nicht umgekehrt. Es war für sie immer leicht gewesen. In diesem Fall allerdings räumte sie ein, dass es doch ein wenig komplizierter sein würde. Dr. Lindau war aus einem anderen Holz geschnitzt. Sie hatte bereits erkannt, dass er sich keineswegs leicht von weiblichen Reizen beeindrucken und einfangen ließ. Wahrscheinlich war es nicht zuletzt auch das, was sie umso mehr an diesem Mann reizte. In den vergangenen zwei Tagen hatte sie die Erkenntnis gewonnen, dass sie Dr. Lindau liebte. Sicher – so war es auch bei den anderen Männern gewesen, die nach dem Tode ihres Mannes vorübergehend in ihr Leben getreten waren. Da hatte sie sich auch eingebildet, sie zu lieben, bis sich dann aber herausgestellt hatte, dass es immer nur eine Art Sinnesrausch gewesen war, der wahrscheinlich ihrem Verlangen entsprungen war, nachzuholen, was sie während der Ehe mit ihrem älteren Mann entbehrt hatte. Jetzt, bei diesem Arzt, war sie sich aber sicher, dass es sich nicht nur um einen Rausch handelte, der zeitlich begrenzt war. Nein, diesmal war es mehr, viel mehr, war es ernst. Sie fühlte, dass sie nur mit Dr. Lindau ihr ersehntes, etwas verspätetes Glück würde finden können.

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Dr. Lindau in die Gedanken Katharina Helbrechts hinein.

»Ja«, antwortete sie leise und sah Dr. Lindau tief in die Augen. »Würde Ihnen das denn so schwerfallen?«, fragte sie.

Dr. Lindau wand sich etwas. Ihm schien der Hemdkragen plötzlich zu eng zu werden. »Schwerfallen zwar nicht, aber es ist für mich ungewohnt«, stieß er hervor. »Ich, der Arzt, und Sie, meine Patientin …«

»Wir sind jetzt doch völlig privat«, fiel Katharina dem Arzt ins Wort. Sie griff nach ihrem Glas, trat dicht vor Dr. Lindau hin. »Also?« Nur dieses eine Wort kam fragend über ihre Lippen, und ihr Blick ließ den Dr. Lindaus nicht los.

Dem wurde es plötzlich warm. Es war schwer, sich der Ausstrahlung dieser Frau zu entziehen. Aber das wollte, musste und würde er. Er nahm es sich in dieser Sekunde fest vor. Natürlich räumte er ein, dass Katharina Helbrecht eine wirklich reizvolle und liebenswerte Frau war, die einen Mann mit allem, was sie zu bieten hatte – von ihrem Geld dabei einmal ganz abgesehen – durchaus glücklich machen konnte, und dass bestimmt viele Männer, wären sie jetzt in seiner Lage gewesen, ohne zu überlegen zugegriffen hätten. Nur er konnte es nicht. Katharina Helbrecht war ihm gewiss sehr sympathisch, und ihre Gesellschaft empfand er auch als angenehm. Mehr aber nicht. Sein Innerstes wollte da einfach nicht mithalten. Im gleichen Augenblick aber sagte er sich, dass er sich eigentlich nichts vergab, wenn er ihrer Bitte nachkam und sie beim Vornamen nannte. Letztlich lag es ja auch an ihm, die Distanz zu wahren. Dazu war er nun aber entschlossen. Um Katharina Helbrecht nicht vor den Kopf zu stoßen, ging er also auf ihr Verlangen ein. »Ja, dann also – trinken wir auf den bevorstehenden Abend …, Katharina«, sagte er und trank das Glas leer.

Katharina tat es ihm nach. »Ich nehme doch an, dass ich Sie auch Hendrik nennen darf. Oder?«, gab sie zurück, leise und beinahe flüsternd.

Dr. Lindau stutzte und fragte sich, woher Katharina seinen Vornamen wusste. Eine entsprechende Frage versagte er sich aber, weil er erkannte, dass es keine Schwierigkeit war, seinen Vornamen zu erfahren. Es gab ja Adressbücher, Telefonbücher und nicht zuletzt auch das Namensschild an der Tür zu seinem Sprechzimmer. »Ich glaube, es wird Zeit zu fahren, wenn wir pünktlich in der Oper sein wollen«, sagte er stattdessen.

»Sie haben recht, Hendrik«, entgegnete Katharina, griff nach ihrem Umhang und ihrer eleganten Theatertasche. »Fahren wir also.«

Dr. Lindau schluckte. Sekunden später verließ er mit seiner attraktiven Begleiterin den Bungalow, half ihr galant beim Einsteigen in den Wagen und setzte sich dann hinter das Steuer, startete und fuhr los – Richtung München.

Bei Holzkirchen, 35 km vor der Stadtgrenze, da, wo die von München kommende Bundesstraße 13 die Straße kreuzte, auf der er sich befand, musste er kurz anhalten, um einige in Richtung Süden fahrende Wagen erst vorbeizulassen, ehe er weiter konnte. Unter den Vorbeifahrenden war auch ein kleiner weißer Fiat, der in etwas gemäßigtem Tempo vorbeifuhr.

Katharina Helbrecht stutzte plötzlich, als dieser Fiat vorbeirauschte. Er erregte deshalb ihre Aufmerksamkeit, weil er eine dunkle Abgaswolke hinter sich ließ. Doch das war nicht der eigentliche Grund dafür, dass sie stutzte. Ihr war es lediglich vorgekommen, als hätte sie in der Beifahrerin in diesem kleinen Fiat ihre Tochter Alice erkannt. Ehe sie aber noch genauer hinblicken konnte, war es schon zu spät. Von dem Fiat war nur das das stumpfe Heck zu sehen, umhüllt von einer Abgaswolke.

Vielleicht habe ich mich nur geirrt, mich durch eine Ähnlichkeit täuschen lassen, dachte sie. Minuten später, Dr. Lindau fuhr gerade die Ausfahrt zur Schnellstraße hinauf, hatte sie das schon wieder vergessen und lenkte ihre Gedanken den Stunden zu, die vor ihr und Hendrik Lindau lagen.

*

»Ist was?«, fragte Peter Steinach und steuerte seinen schon etwas altersschwachen Fiat die über Weyarn, Miesbach und Hausham nach Schliersee und weiter führende Straße entlang. »Du bist plötzlich so nachdenklich.«

Alice Mangold schüttelte den Kopf. »Es ist nichts«, erwiderte sie. »Ich hatte nur gedacht, ich hätte meine Mutter vorhin gesehen, als wir über die Kreuzung fuhren.«

»Ach so …«, gab Peter gleichmütig zurück und konzentrierte sich wieder auf die vor ihm liegende Straße. »Wir sind auch gleich am Ziel, in fünfzehn bis zwanzig Minuten.«

Alice gab keine Antwort. Sie dachte an ihre Mutter. Das kann sie nicht gewesen sein, redete sie sich ein. Sie wusste, dass die Mutter einen roten Ferrari fuhr und nur in ganz besonderen Ausnahmefällen sich in einem anderen Wagen mitnehmen ließ – wohin auch immer.

Ich habe mich eben getäuscht, dachte sie und schob die Gedanken daran beiseite.

Es war ein großes Haus, vor dem Peter keine zwanzig Minuten später den Wagen anhielt. Alice zählte sieben Fahrzeuge, die bereits neben und vor dem Haus geparkt waren.

»Wir kommen anscheinend gerade richtig«, meinte Peter Steinach. »Die Fete scheint schon begonnen zu haben. Also dann – hinein ins Vergnügen.« Er fasste nach Alices Hand und zog das hübsche Mädchen mit ins Haus. Seine Annahme erwies sich als richtig – die Fete war schon in vollem Gange. Alice schätzte, dass etwa fünfzehn Personen anwesend waren, Jungen und Mädchen ihrer Altersgruppe. Irgendwo in den drei ineinandergehenden Räumen ertönte laute Musik.

»Hallo, Peter …, hallo, Alice.«, klang es von einigen Seiten. Einige der Mädchen und Jungen kamen von der gleichen Fakultät.

Alice gab die Begrüßungsrufe zurück und mischte sich unter die Gesellschaft, der man anmerkte, dass sie in bester Stimmung war. Volker Rein­egger hatte für entsprechende Getränke gesorgt, vorwiegend für Cola und Rum. Natürlich gab es auch Alkoholfreies zu trinken, aber auch ein paar härtere Sachen wie Kognak, Gin und diverse Liköre. Volker Reinegger konnte sich solche Ausgaben leisten, denn sein Vater war nicht gerade arm.

»Komm, Alice, jetzt tanzen wir!« Peter umfasste Alice und schwenkte sie im Rhythmus der aus den Lautsprechern dröhnenden Musik herum. Irgendjemand legte dann eine neue Platte auf. Peter Steinach, der sich rasch einen Kognak einverleibte, griff wieder nach Alice.

»Augenblick, Peter, jetzt bin ich erst einmal dran.« Es war Volker Reinegger, der das sagte und Alice auch sofort mit Beschlag belegte. Alices Herz klopfte schneller. Das war das, was sie sich schon seit einiger Zeit gewünscht hatte – einmal mit dem Volker zu tanzen, ihm nahe zu sein und mit ihm zu plaudern. Aus dem letzteren wurde allerdings nicht viel, da wegen der lauten Musik und den ebenso lauten Unterhaltungen der anderen kaum etwas zu verstehen war.

Alice war ein klein wenig enttäuscht, als Volker nach zwei Tänzen eines der anderen Mädchen beglücken wollte. Deshalb aber blieb sie beileibe kein Mauerblümchen. Es waren noch andere da, die gern mit ihr tanzen wollten und es auch taten. Das aber wiederum sehr zum Ärger von Peter Steinach, der sich von dieser Fete erhofft hatte, in einen etwas engeren Kontakt mit Alice zu kommen. Er hatte aber immer das Nachsehen, weil ein anderer schneller war. Die Folge davon war, dass er dem Kognak zusprach, mehr als ihm guttat.

Alice ließ sich sehr schnell von dem Trubel und der herrschenden Ausgelassenheit mitreißen, und das ohne Alkohol. Es machte ihr einfach Spaß. Sie wehrte sich auch gar nicht besonders, wenn dieser oder jener sie etwas fester in die Arme nahm und vielleicht sogar versuchte, ihr einen Kuss zu rauben. Bei dem letzteren jedoch blieb sie hart, auch wenn sie dabei lachte. Küssen wollte sie sich nun nicht lassen.

Einer der jungen Männer hatte es darauf besonders hartnäckig abgesehen. Immer wieder versuchte er es, glücklicherweise in einer Art, die Alice nicht schockierte. Glück aber hatte er nicht.

Alice kannte ihn gar nicht, sah ihn zum ersten Mal, und sie fand ihn nicht unsympathisch. Gerhard hieß er – seinen Familiennamen hatte sie nicht mitbekommen – und er wohnte in Gmund, also an der Nordspitze des Tegernsees. In München studierte er Forstwirtschaft. Er verstand, interessant und charmant zu plaudern und sparte auch nicht mit Komplimenten, die Alice gar nicht ungern hörte. Sie wunderte sich auch nicht darüber, dass ihr früheres Interesse für Volker Reinegger mehr und mehr abflaute und schließlich überhaupt verschwand. Gerhard gefiel ihr besser, was natürlich nicht hieß, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Ihr Herz hielt sie sich frei für den wirklich Richtigen, wobei sie nicht die geringste Vorstellung hatte, wie der aussehen sollte. Im Augenblick jedenfalls genügte es ihr, dass sie sich mit Gerhard gut unterhielt und sich freute, dass er ständig an ihrer Seite war. Er wimmelte sogar einen seiner Freunde ab, mit dem zusammen er in dessen Auto von Gmund herübergekommen war.

»Es gibt noch mehr nette Mädchen hier, mit denen du anbandeln kannst«, sagte er fast brüsk zu ihm, wenn er versuchte, Alice zum Tanz zu holen. »Sie gehört mir.«

Das wiederum gefiel Alice nicht sehr. »Ich gehöre niemandem«, belehrte sie den eifersüchtigen Gerhard. »Noch nicht«, fügte sie lächelnd hinzu.

Gerhard nahm diese Belehrung nicht sonderlich ernst. Sie reizte ihn höchstens dazu, in seinen Bemühungen um Alices Gunst nicht nachzulassen.

Eine ganze Weile ließ sich Alice das noch belustigt gefallen, doch dann kam der Augenblick, wo sie langsam genug davon hatte und die Bemühungen ihres heißblütigen Verehrers aus Gmund schon etwas banal fand. Doch nicht nur das, sondern auch eine gewisse Müdigkeit machte sich bei ihr bemerkbar. Es ging immerhin schon langsam auf die Mitternachtsstunde zu. Alice war nun einmal nicht der Typ von jungen Mädchen, der Gefallen daran fand, bis in die frühen Morgenstunden hineinzufeiern. Bei den bisherigen geselligen Zusammenkünften mit Freunden, Freundinnen und Kommilitonen – relativ selten war es vorgekommen, dass sie daran teilgenommen hatte – war sie nie länger als bis elf Uhr nachts geblieben.

»Ich bin müde«, sagte sie, als Gerhard sie wieder zum Tanzen animieren wollte, »und möchte nach Hause.«

»Was? Jetzt schon?«, wunderte sich Gerhard. »Es ist doch gerade erst elf vorbei.«

»Na und?«, gab Alice zurück. »Ich bin nun mal kein Nachtfalter.« Suchend sah sie sich dabei nach Peter Steinach um, konnte ihn aber nicht entdecken. Wo mochte er nur stecken? Er hatte ihr doch versprochen, sie wieder nach Hause zu fahren, das heißt, hinüber zum Tegernsee, nach Rottach, weil sie die Nacht und den folgenden Sonntag im Haus ihrer Mutter verbringen wollte.

Ob sie überhaupt zu Hause war? Das fragte sich Alice in diesem Augenblick. Sie wusste es nicht. Dreimal hatte sie am Vortage und auch an diesem Samstagvormittag versucht, die Mutter telefonisch zu erreichen. Ohne Erfolg aber. Sie machte sich darüber keine großen Gedanken, denn sie wusste, wie sie ins Haus kommen konnte. An einer bestimmten Stelle des Bungalows, der nur ihr und der Mutter bekannt war, befand sich immer ein Reserveschlüssel.

»Für alle Fälle …«, hatte die Mutter damals gesagt, »… damit du auch ins Haus kannst, wenn ich einmal nicht da bin.«

Alice hatte also keinen Grund, sich nun Sorgen zu machen. Nur eines hoffte sie – dass die Mutter, falls sie in dieser Nacht noch nach Hause kam, nicht etwa auch ihren Freund mitbrachte. Das hätte sie doch als etwas peinlich empfunden.

»Na, ihr beiden …« Der Gastgeber stand plötzlich vor Alice und Gerhard, »… wie amüsiert ihr euch?«

»Im Augenblick nicht besonders«, erwiderte Gerhard. »Alice ist müde und möchte nach Hause.«

»Was? Schon?«, wunderte sich Volker Reinegger. »Jetzt geht es doch erst richtig los?«

»Ohne mich«, erklärte Alice entschlossen. »Ich bin wirklich müde, und niemand hätte große Freude an mir.«

»Ich verstehe«, entgegnete Volker und gab sich ganz gentlemanlike. »Hast du ein Auto?«

»Nein, Peter Steinach hat mich hergefahren«, antwortete Alice. »Wo ist er eigentlich? Er hat mir versprochen, mich wieder …«

»O weh«, fiel Volker dem hübschen Mädchen lachend ins Wort.

»Der Peter Steinach, tja, auf den wirst du jetzt wohl verzichten müssen. Der liegt flach, weil er etwas zu viel dem Kognak zugesprochen hat. Vor morgen früh ist der nicht zu gebrauchen.«

Alice blickte Volker Reinegger fassungslos an. »Aber wie komme ich jetzt fort von hier?«, brachte sie stockend über die Lippen.

»Hm, wenn ich nicht irre, wohnst du in München.« Volker Reinegger kratzte sich am Kinn.

»Ja, aber dahin will ich heute nicht, sondern hinüber zum Tegernsee, nach Rottach, zu meiner Mutter, die dort ein Haus hat«, erklärte Alice.

»Na, das ist ja nicht sehr weit«, meinte Volker. »Da müsste sich doch jemand finden lassen, der dich hinüberfährt.«

Da blitzte es in Gerhards Augen auf. »Schon gefunden«, sagte er lächelnd. »Ich bringe Alice nach Hause.« Suchend sah er sich nach seinem Freund Michel um, in dessen Wagen er hergekommen war, und winkte ihn heran, als er ihn entdeckte.

»Tja, dann wäre das ja geklärt. Ihr entschuldigt mich!« Volker Reinegger gesellte sich wieder zu einer kleinen Gruppe.

»Das finde ich nett, dass du mich …«

»Ist doch selbstverständlich«, fiel Gerhard seinem Schwarm gönnerhaft ins Wort. »Michel«, wandte er sich an seinen nähergetretenen Freund, »wir fahren jetzt gleich nach Rottach. Alice will nach Hause zu ihrer Mutter.« Scharf sah er Michel an und blinzelte verstohlen mit dem rechten Auge.

Michel, nicht gerade das, was man als einen männlichen Typ bezeichnen konnte, der sich deshalb auch nur zu gern im Fahrwasser des gut aussehenden Gerhard bewegte, hatte verstanden. Er nickte und feixte ein wenig. »Sofort?«, fragte er.

»Ja«, bestätigte Gerhard. »Anschließend fahren wir natürlich wieder hierher zurück.«

Damit war alles abgesprochen, und ohne sich groß von den anderen zu verabschieden, verließen Alice, Gerhard und Michel wenige Sekunden darauf das Haus.

»Darf ich bitten!« Michel deutete auf den viertürigen schwarzen Wagen, der eigentlich seinem Vater gehörte, der ihm aber großzügigerweise öfters überlassen wurde. So wie eben an diesem Samstagabend.

Erleichtert stieg Alice ein – in den Fond des Fahrzeuges, annehmend, dass Gerhard auf dem Beifahrersitz Platz nehmen würde. Doch da hatte sie sich geirrt. Gerhard setzte sich einfach an ihre linke Seite und gab Michel, der schon hinter dem Steuer saß, das Startzeichen. »Also dann los, Michel!«, rief er.

Eine ganze Weile war Schweigen im Innern des Autos. Weder Michel noch Gerhard sprachen ein Wort, als der Wagen den Ort verließ und auf die direkt hinüber zum Tegernsee führende Landstraße einbog. In Alice meldete sich mit einem Mal ein etwas beklemmendes Gefühl. Ihr war, als würde etwas Unangenehmes auf sie zukommen, dem sie nicht auszuweichen vermochte. Sie merkte, dass der links neben ihr sitzende Gerhard immer näher an sie heranrückte. Zweimal war sie dieser Annäherung schon ausgewichen. Nun ging es nicht mehr. Sie saß inzwischen schon ganz dicht an der rechten hinteren Wagentür.

»Was soll das, Gerhard?«, fragte sie energisch. »Du hast doch genügend Platz. Weshalb rückst du mir so dicht aufs Fell?«

Gerhard lachte leise. »Dreimal darfst du raten«, erwiderte er. »Habe ich mir nicht einen Kuss für mein Entgegenkommen verdient?«, fragte er und legte seinen Arm um Alices Schulter.

»Lass den Quatsch!«, fauchte Alice und versuchte sich, aus dem Zugriff des jungen Mannes zu befreien. Es gelang ihr nicht. Sie erreichte mit ihren Bemühungen nur das Gegenteil. Der Griff Gerhards wurde fester und fordernder. »Wenn du nicht sofort Ruhe gibst, steige ich aus«, zischte sie.

»Hier auf der gottverlassenen Landstraße und in der Dunkelheit?« Gerhard lachte leise. »Herrgott, sei doch nicht so prüde!«, ließ er plötzlich die Maske des wohlerzogenen jungen Mannes fallen. Durch den genossenen Alkohol angeregt, wurde er immer aggressiver. Seine Hand tastete verlangend über Alices Körper. Jetzt wollte er es genau wissen. Wozu sonst hatte er sich den ganzen Abend mit diesem Mädchen abgegeben, statt sich einem der anderen hübschen Mädchen zu widmen?

Der Wagen fuhr jetzt schon an der Ostseite des Tegernsees entlang und näherte sich Rottach.

Alice kam es vor, als hätte ihr Begleiter plötzlich fünf oder noch mehr Hände, die sie an ihrem Körper fühlte. Zornig schrie sie Gerhard an, als sich dessen Gesicht dem ihren bis auf wenige Zentimeter näherte! »Ich will nicht … Lass mich los!« Mit aller Kraft wehrte sie sich gegen die Zudringlichkeiten des jungen Mannes. Ihre rechte Hand kam dabei an den Türgriff der nicht verriegelten Seitentür. Erneut warf Alice ihren Oberkörper zurück, als Gerhard sie küssen wollte. Ungewollt drückte sie dabei den Türgriff herunter, und die Seitentür öffnete sich – gerade in dem Augenblick, in dem Gerhard sich fester an sie drängen wollte. Alice spürte plötzlich keinen Halt mehr auf ihrer rechten Seite. Sie verlor das Gleichgewicht, spürte sekundenlang den Fahrtwind und im nächsten Augenblick stürzte sie aus dem glücklicherweise nicht allzu schnell fahrenden Auto. Das ging alles so schnell, dass sie nicht einmal Zeit hatte, einen Schrei auszustoßen. Sie spürte lediglich einen dumpfen Schlag auf ihrem Kopf und einen plötzlichen stechenden Schmerz in ihrem Leib. Dann schwanden ihr die Sinne.

Gerhard starrte entgeistert auf den leeren Platz neben ihm.

»Bist du verrückt geworden, Gerhard?«, fuhr Michel auf und drosselte das Tempo. »Du kannst sie doch nicht aus dem Wagen werfen.«

»Hab ich doch gar nicht«, schrie Gerhard mit heiserer Stimme. »Die Tür ging plötzlich auf.« Angst erfasste ihn. Hastig drehte er sich um. Da sah er, wie sich Alice vom Straßenrand aufrichtete. »Scheint nichts passiert zu sein«, stieß er hervor und wandte sich wieder an Michel. »Fahr weiter, schnell! Sie wird schon weiterkommen.« Er war völlig durcheinander und konnte nicht klar denken. So etwas wie Panik hatte ihn erfasst. Aber nicht nur ihn, auch seinem Freund Michel. Den sogar nicht wenig. Der dachte an seinen Vater, vor dessen Zorn er sich fürchtete, wenn er erfuhr, was in seinem Wagen geschehen war. Statt nun auf das Bremspedal zu treten, wie er es vor Sekunden noch hatte tun wollen, trat er das Gaspedal tiefer durch. Keinem der beiden jungen Männer fiel es ein, sich um Alice zu kümmern. Beide redeten sich in diesen Paniksekunden einfach ein, dass dem Mädchen nicht viel passiert sein konnte, nachdem sie sich nach dem Sturz aus dem Auto wieder aufgerichtet hatte, wie Gerhard es gesehen hatte. Michel fuhr jedenfalls weiter. Aber nicht mehr zurück zur Fete, sondern um den Tegernsee herum in Richtung Gmund.

Dass Alice in diesen Minuten bewusstlos am Straßenrand lag, wussten sie gar nicht. Alice hatte nach dem Sturz tatsächlich versucht, wieder auf die Beine zu kommen, und hatte es auch geschafft. Aber nur für Sekunden. Dann war sie mit einem Wehlaut wieder zusammengebrochen und bewusstlos liegen geblieben.

Sie merkte auch nicht, dass etwa zwanzig Minuten später ein von der Arbeit kommender Radfahrer sie fand, bis zum nächsten Telefon fuhr und die Rettung verständigte, die auch nach wenigen Minuten eintraf.

Mit heulender Sirene und rotierendem Blaulicht wurde Alice sofort in die Klinik am See gefahren, weil sie die nächstgelegenste war.

*

Dr. Köhler, der den Nachtdienst hatte, kam gerade von einem Rundgang durch die Stationen zurück und wollte einen von der Nachtschwester schon vorbereiteten Kaffee trinken, als er von der Schwester in der Notaufnahme verständigt wurde, dass die Rettung eine Verletzte gebracht hatte.

»Nichts mit dem Kaffee«, rief er der Nachtschwester zu und eilte in die Notaufnahme hinunter. Die kurze Information des Notarztes sagte ihm nichts. Ein Unfall, das war sicher. Aber welcher Art und mit was für Auswirkungen?

Dr. Köhler reagierte sofort. In aller Eile untersuchte er die junge Frau, aus deren Personalausweis hervorging, dass sie Alice Mangold hieß, Studentin war und in München wohnte. »Auf jeden Fall eine Gehirnerschütterung«, murmelte Dr. Köhler. »Sofort zum Röntgen!«, befahl er den diensthabenden Schwestern. »Alle Körperregionen, damit wir sehen, ob noch weitere Schäden vorhanden sind.«