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Die große Arztserie "Die Klinik am See" handelt von einer Frauenklinik. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig eine sensible medizinische und vor allem auch seelische Betreuung für die Patientinnen ist, worauf die Leserinnen dieses Genres großen Wert legen. Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie "Die Klinik am See" ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete. Obwohl Schliersee nur eine kleine Stadt mit knapp 8000 Einwohnern war, konnte sich die Städtische Bibliothek über bildungshungrige und informationsbesessene Besucher nicht beklagen. Aus allen Schichten kamen sie – Jugendliche ebenso wie Ältere, gut Betuchte und weniger gut Betuchte, beiderlei Geschlechts. Bärbel Scheller und ihre Kollegin, Frau Rombach, konnten sich über mangelnde Arbeit nicht beklagen. Es machte fast den Eindruck, als kämen vor allem männliche Kunden gern in diese Bibliothek, weil sie mit der stets freundlichen und hübschen blondhaarigen Bärbel ein paar Worte wechseln wollten. Sie schien so etwas wie ein Anziehungspunkt in dieser Bibliothek zu sein. Das war durchaus verständlich bei ihrem attraktiven Äußeren. Sie war jung, vor einigen Wochen gerade erst zweiundzwanzig Jahre alt geworden, hatte eine Figur, mit der sie durchaus bei einer Miß-Wahl hätte kandidieren können, und ihre dunkelblauen Augen strahlten Lebensfreude aus. Keiner der männlichen Bibliotheksbesucher jedoch konnte sich rühmen, es zu einem näheren Kontakt mit ihr gebracht zu haben. Sie ließ sich auf nichts ein. Einladungen zu einer Tasse Kaffee oder zu einem Glas Wein nahm sie von niemandem an. Zuvorkommend, oft auch ratgebend bediente sie an der Buchausgabe die Kunden, notierte die Aus- und Eingänge der Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Fachblätter auf den Karteikarten und hatte für jeden ein kleines Lächeln übrig. Mehr aber nicht. Das heißt, es gab doch jemanden, den sie ganz gern in der Bibliothek sah und mit dem sie – sofern es die Arbeit und die Zeit zuließ – auch dann und wann ein paar Worte wechselte, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun hatten. Das war der junge aufstrebende Rechtsanwalt Volker Brinck. Vor Wochen war er das erste Mal in die Bibliothek gekommen. Seither aber erschien er regelmäßig jeden dritten Tag. Immer vormittags. Bärbel fand ihn sehr sympathisch. Vor allem gefiel ihr, daß er keinerlei Annäherungsversuche machte wie manche andere. Sie rechnete ihm das hoch an, wußte sie doch, oder besser gesagt, fühlte sie doch, daß er sich für sie interessierte.
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Obwohl Schliersee nur eine kleine Stadt mit knapp 8000 Einwohnern war, konnte sich die Städtische Bibliothek über bildungshungrige und informationsbesessene Besucher nicht beklagen. Aus allen Schichten kamen sie – Jugendliche ebenso wie Ältere, gut Betuchte und weniger gut Betuchte, beiderlei Geschlechts.
Bärbel Scheller und ihre Kollegin, Frau Rombach, konnten sich über mangelnde Arbeit nicht beklagen. Es machte fast den Eindruck, als kämen vor allem männliche Kunden gern in diese Bibliothek, weil sie mit der stets freundlichen und hübschen blondhaarigen Bärbel ein paar Worte wechseln wollten. Sie schien so etwas wie ein Anziehungspunkt in dieser Bibliothek zu sein. Das war durchaus verständlich bei ihrem attraktiven Äußeren. Sie war jung, vor einigen Wochen gerade erst zweiundzwanzig Jahre alt geworden, hatte eine Figur, mit der sie durchaus bei einer Miß-Wahl hätte kandidieren können, und ihre dunkelblauen Augen strahlten Lebensfreude aus. Keiner der männlichen Bibliotheksbesucher jedoch konnte sich rühmen, es zu einem näheren Kontakt mit ihr gebracht zu haben. Sie ließ sich auf nichts ein. Einladungen zu einer Tasse Kaffee oder zu einem Glas Wein nahm sie von niemandem an. Zuvorkommend, oft auch ratgebend bediente sie an der Buchausgabe die Kunden, notierte die Aus- und Eingänge der Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Fachblätter auf den Karteikarten und hatte für jeden ein kleines Lächeln übrig. Mehr aber nicht.
Das heißt, es gab doch jemanden, den sie ganz gern in der Bibliothek sah und mit dem sie – sofern es die Arbeit und die Zeit zuließ – auch dann und wann ein paar Worte wechselte, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun hatten. Das war der junge aufstrebende Rechtsanwalt Volker Brinck. Vor Wochen war er das erste Mal in die Bibliothek gekommen. Seither aber erschien er regelmäßig jeden dritten Tag. Immer vormittags.
Bärbel fand ihn sehr sympathisch. Vor allem gefiel ihr, daß er keinerlei Annäherungsversuche machte wie manche andere. Sie rechnete ihm das hoch an, wußte sie doch, oder besser gesagt, fühlte sie doch, daß er sich für sie interessierte. Natürlich schmeichelte ihr das. Doch vorläufig stand ihr nicht der Sinn nach einer festen Beziehung zu einem Mann, und für ein kurzfristiges Abenteuer war sie schon gar nicht zu haben. Das hatte sie einmal, vor nunmehr fast vier Jahren, erlebt, als sie noch Schwesternschülerin in der Klinik am See in Auefelden war. Achtzehn Jahre jung war sie damals gewesen, und wie ein Blitz hatte die Liebe bei ihr eingeschlagen, als Jörg Flemming ihr über den Weg gelaufen war. Er hatte sie mit seinem Wagen angefahren. Es war nicht schlimm gewesen. Nicht einmal eine Schramme hatte sie davongetragen. Aber sie hatte seine Entschuldigung und seine Einladung zu einem Wiedergutmachungs-Kaffee angenommen. Das war dann der Augenblick gewesen, in dem es bei ihr gefunkt hatte. Aus diesem Funken war innerhalb weniger Tage ein inneres Feuer bei ihr entstanden, das alle Bedenken weggefegt hatte – sie war für eine einzige Nacht seine Geliebte geworden. Nur jenes eine Mal hatte sie beiseite geschoben, was ihre Mutter ihr immer wieder versucht hatte, beizubringen. Das Ergebnis jener Nacht war die nun dreieinhalbjährige Sandra, ihre kleine süße Tochter, die sie abgöttisch liebte.
»So nachdenklich heute, Frau Scheller?«
Bärbel schrak aus ihren erinnernden Gedanken hoch, in die sie sich einige Sekunden lang verloren hatte. Ihre Blicke trafen sich mit dem vor dem Ausgabepult stehenden Dr. Brinck. »Ich habe Sie gar nicht kommen sehen, Herr Doktor«, sagte sie lächelnd. »Außerdem ist das auch gar nicht ihre gewohnte Zeit. Es ist gleich Mittag, und in ein paar Minuten wäre ich nicht mehr hier gewesen. Sie hätten sich dann mit Frau Rombach begnügen müssen.«
Volker Brinck verzog das Gesicht ein wenig. »Na, da habe ich ja noch einmal Glück gehabt«, meinte er. »Frau Rombach ist…«
»Ist auch nett«, fiel Bärbel dem Anwalt ins Wort.
»Aber sie ist eben schon ein älteres Semester und lange nicht so hübsch wie Sie«, konterte Volker Brinck lächelnd.
»Soll das nun ein Kompliment sein?«
»Es ist lediglich eine Feststellung«, gab der Anwalt zurück.
»Tja, was darf es denn heute sein, Herr Doktor?« wechselte Bärbel fragend das Thema.
»Nichts, Frau Scheller«, erwiderte Volker Brinck und legte zwei Bücher auf die Pultplatte. »Ich möchte die beiden Bücher nur zurückbringen und Ihnen auf Wiedersehen sagen.«
»Auf Wiedersehen?« wiederholte Bärbel fragend und sah den Anwalt verwundert an. »Kommen Sie denn nicht mehr her?«
»Doch«, versicherte der Anwalt, »aber erst in einer Woche oder zwei. Ich fahre in einer Stunde aus beruflichen Gründen nach Hamburg.«
Schade, dachte Bärbel, behielt es aber für sich. Ihr Lächeln verflüchtigte sich. Schweigend nahm sie die beiden auf dem Pult liegenden Bücher und trug sie aus Dr. Brincks Karteikarte aus.
*
Apathisch ließ die kleine Sandra die Untersuchungen des Arztes über sich ergehen. Ihre Augen glänzten fiebrig, und ihr ganzer Körper war heiß.
»Seit wann hat die Kleine das Fieber?« fragte Dr. Welpert die Großmutter des Mädchens.
»Schon seit einigen Tagen«, erwiderte Anna Scheller und sah den Arzt besorgt an. Sie hatte ihn am Vormittag kurz entschlossen um sein Kommen gebeten, weil sie wirklich Angst um ihre kleine geliebte Enkeltochter hatte. Ihre Geduld war auf eine harte Probe gestellt worden, denn Dr. Welpert, der auch ihrer Tochter Bärbel auf diese Welt verholfen hatte, war nicht so schnell von seiner Praxis freigekommen. »Wovon um Himmels willen hat das Kind denn das Fieber?« fragte sie.
Dr. Welpert erhob sich von der Bettkante und verstaute sein Stethoskop in seiner geräumigen Arzttasche, der er dann einen Rezeptblock entnahm. Sein faltenreiches Gesicht – er ging immerhin schon langsam auf das Pensionsalter zu – zeigte keine Regung. Die letzte Frage der Großmutter des Kindes ließ er unbeantwortet. »Gehen wir ins Wohnzimmer, Frau Scheller«, sagte er nur.
Anna Scheller nickte, wandte sich an das im Bett liegende kleine Mädchen und rief ihm zu: »Ich komme gleich wieder, mein Liebling.«
Sandra war aber auch wirklich ihr Liebling. Sie liebte das Kind ihrer Tochter abgöttisch. Dabei wußte sie bis heute noch nicht, wer Sandras Vater war. Trotz ihrer mehrmaligen Versuche, das von Bärbel zu erfahren, hatte die bis zum heutigen Tag geschwiegen. Sie konnte das nicht verstehen. Doch mit der Zeit hatte sie es aufgegeben, ihre Tochter zu bedrängen. Sie wußte nur, daß auf dem Konto ihrer Tochter regelmäßige Unterhaltszahlungen eingingen.
»Also, Frau Scheller«, ergriff Dr. Welpert das Wort, als sie beide im Wohnzimmer waren, »ich habe Ihnen hier ein Rezept aufgeschrieben, das Sie in der Apotheke einlösen können.« Er reichte der Großmutter des Kindes den Rezeptzettel.
Anna Scheller seufzte verhalten, legte das Rezept auf den Wohnzimmertisch und begann in der Küche mit den Vorbereitungen für das Mittagessen. Bärbel würde ja auch bald kommen.
Es dauerte auch gar nicht lange eine Viertelstunde war seit Dr. Welperts Weggang verstrichen, da kam Bärbel. Sie gab ihrer Mutter einen Kuß auf die Wange und fragte nach Sandra. »Wie geht es ihr? Hat sie immer noch Fieber?«
Anna Scheller nickte. »Sie scheint jetzt aber eingeschlafen zu sein«, erwiderte sie. »Ich habe übrigens ein Rezept, Bärbel«, fuhr sie fort. »Es liegt drüben auf dem Tisch, und du mußt nachher noch zur Apotheke damit.«
»Ein Rezept? Von wem?« Erstaunt blickte Bärbel ihre Mutter an.
»Vom Arzt natürlich«, antwortete diese. »Von Dr. Welpert.«
»Warst du etwa mit Sandra beim Arzt?«
»Nein, er war hier«, klärte Anna Scheller ihre Tochter auf. »Ich habe ihn gerufen, weil ich mir Sorgen machte. Vor einer Viertelstunde ist er wieder gegangen.«
In Bärbels Zügen arbeitete es. Bange sah sie ihre Mutter an. »Und?« fragte sie mit zitternder Stimme. »Was hat der Doktor herausgefunden? Ist Sandra ernsthaft krank?«
»Ernsthaft nicht gerade, wenn ich Dr. Welpert richtig verstanden habe«, gab die Mutter zurück. Sie wollte Bärbel erklären, was sie von Dr. Welpert erfahren hatte.
»Laß nur, Mutti«, ließ Bärbel ihre Mutter gar nicht weitersprechen.
»Na, jedenfalls meint der Doktor, daß das Fieber durch das Medikament, das er aufgeschrieben hat, in spätestens einer Woche wieder weg sein wird.«
»Hoffen wir’s«, murmelte Bärbel, griff nach dem Rezept und steckte es ein. »Ich gehe jetzt gleich in die Apotheke«, rief sie der Mutter zu und wandte sich zur Tür.
»Willst du nicht vorher etwas essen?« fragte Anna Scheller.
»Nachher, wenn ich wieder zurück bin«, erwiderte Bärbel. Gleich danach schloß sich die Tür hinter ihr.
Seufzend ging Anna Scheller wieder in der Küche, um das Essen fertig zu machen. Die Apotheke war nicht weit entfernt, und Bärbel würde sehr schnell wieder zurück sein.
*
Bärbel Schellers Hoffnung, und damit auch die ihrer Mutter, erfüllte sich nicht. Obwohl sie ihrer kleinen Tochter wie vom Arzt verordnet täglich dreimal das Medikament eingab, war in Sandras Zustand keine Besserung zu merken. Das Fieber hielt sich hartnäckig in dem kleinen und von Tag zu Tag schmächtiger werdenden Mädchenkörper.
Bärbels Sorge wuchs. In der Bibliothek mußte sie sich ganz enorm anstrengen, um sich auf ihre Arbeit konzentrieren zu können. Ihre bisher an den Tag gelegte Freundlichkeit gegenüber den Kunden ließ nach, denn ihre Gedanken waren ständig bei ihrer kleinen Tochter. Es drehte sich ihr das Herz im Leibe um, wenn sie Sandra apathisch in dem Bettchen liegen sah. Jede nur freie Minute saß sie neben ihrer kleinen Tochter, streichelte sie und versuchte den vom Fieber heiß gewordenen Körper zu kühlen. Mit sanften Worten redete sie auf Sandra ein. Antworten bekam sie nur wenige. Nicht einmal essen wollte das Mädchen, und Bärbel mußte Sandra geradezu zwingen, einige Bissen oder eine Suppe zu schlucken.
Eine große Ungeduld war in ihr, als sie die Wohnung betrat und ihrer Mutter gegenüberstand. »Wie geht es Sandra?« fragte sie aufgeregt.
»Keine Änderung, Bärbel.« Anna Scheller sah ihre Tochter prüfend an. »Du bist so aufgeregt«, setzte sie hinzu. »Ist etwas passiert?«
»Nein, Mutti, passiert ist nichts, aber es wird etwas passieren und zwar sofort«, stieß Bärbel hervor und griff auch schon nach dem Telefon.
»Ich verstehe nicht«, entgegnete die Mutter verwundert. »Was soll denn passieren?«
»Ich rufe jetzt die Klinik am See an.«
»Weshalb?« Anna Scheller sah ihre Tochter ängstlich an. »Wegen Sandra?« fragte sie leise.
»Genau«, bestätigte Bärbel. »Ich habe nachgedacht, Mutti, und werde das Gefühl nicht los, daß Dr. Welpert sich bei seiner Diagnose geirrt hat.«
»Aber er hat doch bisher…«
»Bisher, ja«, fiel Bärbel ihrer Mutter ins Wort. Sie konnte sich denken, was sie hatte sagen wollen. »Jetzt will ich aber sichergehen und werde deshalb Sandra in der Klinik am See untersuchen lassen. Dr. Lindau wird sich sicher noch an mich erinnern können und mir meine Bitte nicht abschlagen. Immerhin habe ich ja eine ganze Weile in der Klinik gearbeitet.« Sie wählte auch schon die Nummer der Klinik am See. Die hatte sie immer noch im Gedächtnis.
»Glaubst du, daß man dort etwas anderes feststellen kann?« Leise Skepsis schwang in den Worten der Mutter mit, die im Grunde genommen viel von Dr. Welpert hielt. »Willst du nicht lieber noch einen oder zwei Tage warten?«
»Nein, Mutti«, erklärte Bärbel mit fester Stimme. »Ich sehe doch, daß das von Dr. Welpert verschriebene Medikament bis jetzt noch keine Besserung bei Sandra hervorgerufen hat.«
»Es sind doch erst fünf Tage vergangen«, wandte Anna Scheller ein. »Wunder darfst du nicht erwarten.«
»Mutti, ich erwarte keine Wunder, sondern nur ein Ende des fiebrigen Zustands meiner Tochter«, konterte Bärbel. »Ich möchte – ja, hallo, Klinik am See?« Fest preßte sie den Hörer ans Ohr. »Bitte, verbinden Sie mich mit dem Büro des Chefarztes!«
»Büro des Chefarztes«, meldete sich gleich darauf eine Frauenstimme.
»Frau Stäuber, sind Sie es?« fragte Bärbel, die sich an die Sekretärin von Dr. Lindau noch gut erinnerte.
»Ja, das bin ich«, kam es leicht erstaunt zurück. »Mit wem spreche ich?«
Bärbel nannte ihren Namen. »Ich habe vor wenigen Jahren in der Klinik als Schwesternschülerin gearbeitet«, fügte sie hinzu.
»Scheller? Bärbel Scheller? Moment, ich glaube, ich entsinne mich Ihrer«, antwortete Marga Stäuber. »Hatten Sie damals nicht aufgehört, weil sie ein Baby bekamen?«
»So ist es, Frau Stäuber«, bestätigte Bärbel.
»Wollen Sie etwa wieder bei uns weitermachen?« kam die Frage der Sekretärin.
»Nein, Frau Stäuber«, erwiderte Bärbel. »Ich wollte nur um einen dringen Termin für eine Untersuchung meiner kleinen Tochter bitten.«
»Aha. Warten Sie, ich sehe nach.« Sekundenlang war Stille in der Leitung. Dann meldete sich Marga Stäuber wieder. »Ich habe nachgesehen morgen vormittag um neun Uhr.«
»Danke«, flüsterte Bärbel.
»Ich sehe gerade, daß der Chefarzt möglicherweise morgen wegen einer Besprechung im Rathaus etwas später kommen wird«, erklang die Stimme der Sekretärin noch einmal. »Sie werden vielleicht ein wenig warten müssen, Frau Scheller.«
»Das macht nichts«, erwiderte Bärbel, bedankte sich ein zweites Mal und beendete das Gespräch mit einem freundlichen Gruß.
»Nun?« fragte Anna Scheller, die das Gespräch nur zum Teil mitbekommen hatte.
»Ich fahre morgen nach Auefelden in die Klinik am See und lasse Sandra dort genau untersuchen«, beantwortetete Bärbel die Frage ihrer Mutter.
»Was ist mit deiner Arbeit in der Bibliothek?« fragte Anna Scheller besorgt.
»Ich rufe nachher gleich an und werde mir den morgigen Tag freinehmen«, erklärte Bärbel. »Meine Tochter ist mir jetzt wichtiger. Dr. Welperts Diagnose kommt mir nun etwas vage vor. In der Klinik am See wird man feststellen, was Sandra wirklich fehlt. Ich habe zu Dr. Lindau, zu den Ärzten dort und zu den modernen und zeitgemäßen Untersuchungsmethoden der Klinik mehr Vertrauen als zu Dr. Welpert, der im Grunde genommen doch nur ein einfacher Landarzt ist.«
Anna Scheller bedachte ihre Tochter mit einem tadelnden Blick. »So abwertend sollst du von unserem Doktor nicht reden, Bärbel«, murmelte sie. »Immerhin hat er dir heil und unbeschadet auf die Welt geholfen.«
»Dafür bin ich ihm auch dankbar, Mutti«, gab Bärbel zurück. »Inzwischen sind zwei Jahrzehnte vergangen, und vieles hat sich geändert seit damals. Vor allem in der Medizin, in den Untersuchungsmethoden und Behandlungen verschiedener Leiden, die man damals zum Teil gar nicht kannte. Dr. Welpert ist bestimmt nicht der einzige Mediziner, der mit den Entwicklungen nicht Schritt halten konnte.«
Anna Scheller versagte sich eine Erwiderung auf diese Belehrungen ihrer Tochter. »Essen wir jetzt?« fragte sie nur.
»Ja, Mutti, gleich«, gab Bärbel zurück. »Ich sehe nur noch rasch nach Sandra.« Mit raschen Schritten verschwand sie im Kinderzimmer.
*
Mit zufriedener Miene verließ Dr. Hendrik Lindau, Chefarzt der Klinik am See, das Rathaus von Auefelden. Die Besprechung mit dem Bürgermeister und einem der Gemeinderäte war gut verlaufen. Es war um die Anschaffung von Liegestühlen für die Klinik gegangen und um die Ausbesserung der von Auefelden zur außerhalb liegenden Klinik am See führenden Zufahrtstraße. Der Bürgermeister hatte versprochen, diese beiden Angelegenheiten in allerkürzester Zeit zu ordnen.
Es war schon zwanzig Minuten nach neun Uhr, als Dr. Lindau seinen Wagen bestieg und zur Klinik fuhr, die er in wenigen Minuten auch erreichte.
»Hatten Sie Erfolg?« fragte Marga Stäuber, die natürlich wußte, worum es bei dieser Besprechung im Rathaus gegangen war.
»Auf der ganzen Linie, Stäuberlein«, erwiderte Dr. Lindau schmunzelnd. »Gibt es was Neues, während ich weg war?« setzte er fragend hinzu. »Patienten?«
»Ja, eine«, erwiderte Marga Stäuber. »Sie sitzt schon über zwanzig Minuten im Wartezimmer – mit ihrem Kind.«
»Kind?« fragend sah Dr. Lindau seine Sekretärin an. »Wer von beiden ist nun krank beziehungsweise sucht ärztlichen Rat?« wollte er wissen. »Die Mutter oder ihr Kind?«
»Das Mädchen, das Kind also«, antwortete Frau Stäuber.
»Weshalb haben Sie die beiden dann nicht an meinen Schwiegersohn in die Kinderabteilung weitergeleitet?« fragte Dr. Lindau. »Er oder die Kollegin Bertram sind doch für Kinderkrankheiten zuständig. Statt dessen lassen Sie die arme Mutter und das Kind im Wartezimmer schmoren.« Seine letzten Worte waren keineswegs vorwurfsvoll gemeint.
Marga Stäuber faßte sie auch gar nicht so auf. »Tja, Herr Doktor, es gibt eben eine Menge Leute, die wollen zuerst einmal mit Ihnen sprechen«, entgegnete sie und lächelte verhalten. »Ihr Name in Verbindung mit der Klinik am See ist schließlich so etwas wie ein Markenzeichen.«
»Na, nun übertreiben Sie nicht, Frau Stäuber. Nicht ich bin es, der unserer Klinik Ansehen verschafft hat, sondern wir alle, weil wir ein großes Team sind, das wunderbar zusammenarbeitet. Die Kollegen Hoff, Bernau, Göttler, mein Schwiegersohn und, und, und – die haben alle ihren Anteil daran.« Dr. Lindau sah auf die Uhr. »Also genug der vielen Worte«, fuhr er fort. »Es wird langsam Zeit für die Hauptvisite. Hm, wer ist denn die Mutter im Wartezimmer?« fragte er.
»Bärbel Scheller«, erwiderte Marga Stäuber. Gespannt sah sie den Chefarzt an. Sie war neugierig, ob er sich an die damalige Schwesternschülerin noch erinnerte. Oft genug schon hatte sie Gelegenheit gehabt, das enorme Erinnerungsvermögen ihres Chefs zu bewundern.
»Bärbel Scheller?« Dr. Lindau blickte seine Sekretärin sinnend an. »Dieser Name ist mir irgendwie geläufig«, murmelte er. »Besonders der Vorname.« Unvermittelt blitzte es in seinen Augen auf. »Sagen Sie mal, Frau Stäuber, hatten wir nicht einmal eine Schwester Bärbel hier bei uns?« warf er die Frage auf.
Marga Stäuber nickte. »Erraten, Herr Doktor«, sagte sie. »Schwesternschülerin war sie. In der Ausbildung also.«
»Richtig«, gab Dr. Lindau zurück. »Ich erinnere mich jetzt. Sie bekam hier in der Klinik ein Baby und verließ uns dann. Das muß vor etwa drei Jahren gewesen sein.«
»Dreieinhalb«, berichtigte die Sekretärin ihren Chef.
»Also, dann wollen wir mal sehen, worum es geht«, wurde Dr. Lindau lebendig und betrat sein Büro, das gleichzeitig sein Sprechzimmer war.
Sekunden darauf stand Bärbel Scheller vor dem Chefarzt. Ihre kleine Tochter hielt sie im Arm.
Stehend begrüßte Dr. Lindau die junge Mutter mit einem Händedruck. »Nehmen Sie Platz, Frau Scheller!« bat er die Besucherin.