E-Book 1908-1917 - Diverse Autoren - E-Book

E-Book 1908-1917 E-Book

Diverse Autoren

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. E-Book 1: Rogers große Freundin E-Book 2: Wir beide in einem fremden Land E-Book 3: Der Papi als Hausmann E-Book 4: Mein Papi soll kommen E-Book 5: Turbulente Ferien E-Book 6: Die Welt ist wieder hell und schön E-Book 7: Kinderglück am Meeresstrand E-Book 8: Mami und Papi sollen nicht streiten E-Book 9: Der Papi aus Amerika E-Book 10: Glück im Doppelpack

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Inhalt

Rogers große Freundin

Wir beide in einem fremden Land

Der Papi als Hausmann

Mein Papi soll kommen

Turbulente Ferien

Die Welt ist wieder hell und schön

Kinderglück am Meeresstrand

Mami und Papi sollen nicht streiten

Der Papi aus Amerika

Glück im Doppelpack

Mami – Staffel 19 –

E-Book 1908-1917

Diverse Autoren

Rogers große Freundin

Ein Junge hat wieder Mut

Roman von Meare, Edna

Das Drehbuch mußte in vierzehn Tagen auf dem Tisch des Produktionschefs liegen. Aber bei dem Lärm, den die Handwerker veranstalteten, konnte Wilma unmöglich arbeiten. Vielleicht hätte sie sich für die Zeit der Renovierung doch ein kleines Appartement in der Stadt mieten sollen?

Kopfschmerzen bekam sie auch. Sie mußte unbedingt raus, an die frische Luft und ihren Ohren eine kleine Erholungspause gönnen.

Mit einer ungeduldigen Bewegung schob sie die Sicherungsdiskette ins Laufwerk, speicherte die erstellten Kapitel und legte die Schutzhülle über das Keyboard. Der Computer schaltete sich nach fünf Minuten von selbst aus, darum mußte sie sich nicht kümmern.

Mit einem Seufzer erhob sie sich und pfiff nach Droste, ihrer Schäferhündin, die sich wegen des Lärms in ihren Korb verzogen hatte. Droste hieß eigentlich mit vollem Namen »Gräfin Droste-Hülshoff«, aber so nannte sie kein Mensch. Ebensowenig wie »Freya von der Beißburgischen Landgrafenkastellin«, ihrem Zuchtregisternamen. »Droste« reichte vollkommen aus, da hegte die adelige Hündin keinerlei Dünkel.

Droste kam sofort angetrabt. Mit schiefgelegtem Kopf sah sie zu, wie Frauchen ein paar Dehn- und Lockerungsübungen vollführte, um die verspannte Muskulatur zu lockern. Als Frauchen »Komm, Gassi, Gassi«, sagte, sauste die Hündin begeistert zur Haustür und wartete hechelnd, daß Wilma ihr folgte.

Gemeinsam verließen sie den Garten und folgten der Straße bis zur nächsten Biegung. Dort ging es links ab, und dann waren es nur noch ein paar Meter bis zum freien Feld.

Nein, dachte Wilma, während sie die Häuser hinter sich ließ, es war doch kein Fehler, hier heraus zu ziehen. Mag zwar sein, daß ich hier nicht gerade in der Metropole der Welt lebe, aber dafür haben wir beide unsere Ruhe und brauchen nicht stundenlang mit dem Auto herumfahren, ehe wir etwas Grün sehen dürfen.

Droste war der gleichen Meinung. Ihr hatte es auf Anhieb in der Kleinstadt gefallen. Und das tollste war, daß sie hier einen Garten hatte und rund herum freie Natur, in der sie laufen, spielen und toben konnte.

Ja, und Bauernhöfe mit vielen Hühnern gab es auch. Leider mußte sie aber immer an die Leine, wenn Frauchen mit ihr zum Milch- und Eierholen ging, denn Droste hatte Hühner zum Fressen gern. Na ja, aber mit dieser winzigen Einschränkung konnte die Hündin leben.

Das einzige, das momentan noch ungemein störte, waren diese lärmenden Handwerker. Droste mochte den Krach nicht, den die Männer veranstalteten. Aber Frauchen hatte gesagt, daß dies nun einmal nicht zu ändern sei. Sie könnten sich glücklich schätzen, daß sie überhaupt ein so schönes Dach über dem Kopf hätten.

Droste und Wilma waren nämlich erst vor kurzem aus Amerika zurückgekehrt. Wilma hatte dort ein Jahr mit einem bekannten Drehbuch- und Bühnenautor zusammengearbeitet und sich von ihm alle Tricks und Kniffe der Branche abgeguckt, die sie jetzt wunderbar anwenden konnte.

Das Haus, in dem sie jetzt lebten, hatte früher Wilmas Tante gehört. Tante Dorothée war ins Seniorenheim gezogen und hatte Wilma, kurz vor deren Rückkehr, die schöne alte Villa geschenkt. Das war wirklich ein Glück gewesen, denn sie hätten sonst beide erst einmal in eine Pension oder in ein Hotel ziehen müssen.

So waren Droste und Wilma statt dessen in die Villa gezogen. Natürlich waren umfangreiche Renovierungsarbeiten nötig gewesen, die ziemlich störten. Aber inzwischen waren die Arbeiten beinahe abgeschlossen. Nur das Bad im Erdgeschoß mußte noch modernisiert werden. Ende der Woche, hatten die Handwerker versprochen, würde auch dies abgeschlossen sein, und dann kehrte endlich Ruhe in das wunderschöne, alte Haus ein.

»Komm, Droste!« Wilma hatte einen dicken Stock gefunden, den sie der Hündin vor die Nase hielt. Droste war begeisterte Stöckchensucherin und wollte sofort danach schnappen. Aber Wilma zog den Stock blitzschnell weg und warf ihn im hohen Bogen ins Feld. Droste jagte umgehend hinterher.

Mit diesem Spiel vertrieben sich Frauchen und Hund eine ganze Weile die Zeit, dann pfiff Wilma die Hündin wieder heran.

»Es nützt alles nichts, Süße«, erklärte sie Droste. »Wir müssen zurück an die Arbeit. Sonst gibt’s nächsten Monat kein Crunchy Dog.«

Bei dem Wort »Crunchy Dog« spitzte Droste die Ohren. Schon machte sie kehrt und eilte Wilma voran den Feldweg zurück zur Stadtgrenze.

Wie immer, wenn Wilma sich ihrem Grund und Boden näherte, so erfüllte sie auch jetzt ein Gefühl von Freude und auch ein wenig Stolz, wenn sie die wunderschöne Stuckfassade der Villa sah. Das Haus war wirklich ein Schmuckstück, gut erhalten und gepflegt. Ebenso der Garten, den Tante Dorothée mit aller Liebe gehegt und gepflegt hatte.

Wilma wollte alles so belassen wie es die Tante vor Jahren angelegt hatte. Nur einen Teich mit vielen Sumpfpflanzen und mehreren, unterschiedlich hohen Sprudelsteinen plante sie demnächst von einer Gartenbaufirma einrichten zu lassen. Die Steine lagen bereits auf der Terrasse. Schlanke Basaltsäulen, die Wilma extra aus einem Steinwerk aus der Eifel geholt hatte.

Renée Chartas, eine befreundete Bildhauerin, war gerade dabei, zwei Skulpturen anzufertigen, die Wilma unter den alten Bäumen aufstellen wollte. So würde aus dem schönen, etwas verträumt wirkenden Garten mit dem herrlichen alten Baumbestand nach und nach eine kleine Insel aus Kunst und Natur werden, auf der Wilma hoffte, die nötige Ruhe zu finden, die sie brauchte, um neue Ideen für ihre Romane und Drehbücher zu entwickeln.

*

Der Nachbarsjunge stand am Zaun und sah mit großen Augen auf Droste, die sich schwanzwedelnd näherte. Man sah dem Kleinen an, daß er sich vor der großen Schäferhündin fürchtete. Obwohl der hohe Zaun zwischen ihm und dem Tier stand, wich der Knabe angstvoll zurück, als Droste stehenblieb und ihn ansah.

Wilma versuchte, den starren Blick des Kindes zu ignorieren.

»Hallo Nachbar«, grüßte sie den Jungen betont fröhlich. »Heute keine Schule?«

Der Knabe schüttelte nur stumm den Kopf, ohne den Hund aus den Augen zu lassen.

»Beißt der?« fragte er schließlich mit hoher, dünner Stimme, in der die nackte Panik schwang.

Wilma seufzte unterdrückt.

»Aber Schatz, das habe ich dir doch schon x-mal gesagt«, begann sie vorsichtig. »Droste hat noch nie jemanden gebissen. Sie ist froh, wenn du ihr nichts tust.«

Der Junge machte einen zögernden Schritt vorwärts, stockte jedoch in der Bewegung und wich erneut zurück. Und dann fuhr er herum und floh ins Haus, so schnell ihn seine Beine trugen.

Wilma sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Der Junge tat ihr leid. Sie schätzte ihn auf ungefähr sieben, acht Jahre, wobei sie sich allerdings auch täuschen konnte, denn er war ein dürres, blasses Kerlchen, das nach Wilmas Meinung für mindestens sechs Wochen an die See geschickt und aufgepäppelt werden sollte.

Er sprach selten, und wenn er sich einmal im Garten aufhielt, dann saß er am liebsten unter dem großen Kirschbaum an der Terrasse und träumte vor sich hin.

Eine Mutter schien er nicht zu haben. Oder anders ausgedrückt, sie schien nicht in der Nachbarvilla zu leben. Vielleicht war sie verstorben, oder die Eltern des Jungen waren geschieden.

Auch Freunde, die ihn besuchten, sah sie nie. Als Wilma den Knaben bei ihrem Einzug am Zaun stehen sah, hatte sie erwartet, jeden Nachmittag kreischende Kinderhorden durch den Nachbarsgarten toben zu sehen. Aber das Gegenteil war der Fall.

Die benachbarte Villa stand wie ausgestorben in dem gepflegten Garten. Keine Stimmen, keine Musik und leider auch niemals ein fröhliches Kinderlachen schallten aus dem Haus. Nur unnatürliche Stille, die Wilmas Mißtrauen weckte.

Ja, es schien ihr zuweilen sogar, daß die Vögel, die sonst überall in den Bäumen hockten und ihre fröhlichen Lieder piepsten, das Nachbargrundstück mieden. Aber das war natürlich nur eine Täuschung – trotzdem – irgend etwas stimmte nicht dort drüben.

Ich muß unbedingt versuchen, mit dem Jungen Kontakt zu knüpfen, dachte Wilma, während sie ihr eigenes Grundstück betrat.

*

Die Handwerker waren gerade dabei, die Badewanne zu setzen. Droste weigerte sich, die Villa zu betreten, und verzog sich in den hinteren Teil des Gartens, um ein bißchen zwischen den Rosenstöcken zu graben, was Frauchen überhaupt nicht schätzte, aber der Hündin einen riesen Spaß machte.

»Du hast recht, Droste«, murmelte Wilma, als sie die Hündin davontrotten sah. »Das Wetter ist viel zu schön, um im Büro zu hocken.«

Sie schnappte sich ihre Unterlagen, klemmte das Notebook unter den Arm und ging auf die Terrasse hinaus, wo sie, unter dem bunten Schirm sitzend, in Ruhe arbeiten konnte.

Es dauerte eine Weile, ehe Wilma spürte, daß sie beobachtet wurde. Sie nahm die Finger von der Tastatur und wandte den Kopf. Da stand der Junge und sah starr über den Zaun zu ihr herüber.

Wilma lächelte ihn freundlich an.

»Magst du herüberkommen?«

Er zögerte. Seine Blicke suchten Droste, die zwischen den Rosenstöcken verschwunden war.

»Beißt der Hund?«

Himmel, der Junge mußte etwas zurückgeblieben sein. Wie sonst war es möglich, daß er ihr jedes Mal dieselbe Frage stellte?

»Nein, er beißt nicht«, erwiderte Wilma geduldig. Sie klappte das Notebook zu, erhob sich und ging zum Zaun. »Wie heißt du eigentlich?« wollte sie von dem Jungen wissen. »Ich heiße Wilma«, stellte sie sich vor, um das Vertrauen des Kindes zu gewinnen. »Und ich wohne seit einigen Wochen hier. Deshalb würde ich mich freuen, wenn wir beide uns gut verstehen. Ich meine, als Nachbarn sollte man ein angenehmes Verhältnis zueinander haben und sich nicht streiten. Vor allem aber sollte man wissen, wie der Nachbar heißt.«

Der Junge betrachtete sie aufmerksam. Offensichtlich überlegte er, ob er ihr trauen konnte.

»Ich heiße Roger«, gab er nach einer kleinen Ewigkeit zur Antwort. »Roger Hartmann, und ich wohne schon immer hier.« Er schwieg und musterte Wilma erneut. »Wo ist die Frau, die sonst hier gewohnt hat?«

»Du meinst Frau Bogner?« Wilma ging in die Hocke, um dem Jungen direkt ins Gesicht blicken zu können. »Das ist meine Tante, weißt du. Sie ist in das große Seniorenwohnheim gezogen, das auf der anderen Seite des Supermarktes steht. Kennst du es?«

»Das mit den bunten Balkonen?« In Rogers Augen trat Interesse.

»Ja, genau, in dieses Haus ist Tante Dorothée gezogen«, nickte Wilma. »Die Villa war ihr zu groß geworden. Sie sagt, sie hat keine Lust mehr, nur für sich alleine sieben Zimmer zu putzen und einen riesigen Garten zu versorgen. In der Wohnanlage bewohnt sie ein kleines Appartement, und wenn sie einmal nicht kochen mag, dann kann sie in den Speisesaal hinuntergehen und dort essen.«

»Aber Sie wohnen doch auch allein in dem Haus«, stellte Roger mit ernster Miener fest. »Oder kommt Ihre Familie noch nach?«

»Nein, meine Familie wohnt in einer anderen Stadt«, seufzte Wilma. Sie wurde nicht gerne an ihre »Beamtensippe«, wie sie ihre Anverwandten gerne nannte, erinnert. »Hier habe ich nur meine Tante.« Sie lachte leise. »Aber die ist wirklich sehr nett. Hast du dich gut mit ihr verstanden?«

Roger nickte, wobei der Anflug eines Lächeln über sein Gesicht huschte.

»Ja, sie ist sehr spaßig. Papa hat gesagt, sie ist nicht ganz richtig im Kopf, weil sie so verrückte Sachen macht. Aber ich fand, daß das nicht stimmt.«

Wilma schluckte mühsam. Die Kritik an ihrer geliebten Tante gefiel ihr gar nicht, auch wenn sie zugeben mußte, daß Dorothée auf bestimmte Menschen mit Sicherheit einen merkwürdigen Eindruck machte. Sie war das, was man einen Outlaw nennen könnte. Dorothée hatte sich stets dagegen gewehrt, in ein bestimmtes Schema gepreßt zu werden, und ihr Leben lang hauptsächlich das getan, was ihr als gut und richtig erschien, und auf die Meinung anderer Leute gepfiffen.

Wenn Rogers Vater sie als »nicht ganz richtig« bezeichnete, dann bedeutete das wohl, daß der Mann eher zu der Sorte Menschen gehörte, die Dorothée »elende Spießer« nannte.

Rogers nächste Worte bestätigten diesen heimlichen Verdacht.

»Papa hat mir verboten, mit ihr zu sprechen.« Roger flüsterte nur und trat dabei ganz dicht an den Zaun heran. Offensichtlich fürchtete er, vom Haus aus beobachtet und belauscht zu werden. »Sie haben sich einmal ganz schlimm gestritten, und danach hat Papa mir verboten, mit Ihrer Tante zu sprechen. Er hat ihr auch nicht mehr ›guten Tag‹ gesagt.«

Wilma nahm sich vor, Dorothée beim nächsten Besuch einmal genauer nach den Vorfällen zu befragen.

»Ich habe aber trotzdem mit ihr gesprochen«, fuhr Roger im Flüsterton fort. »Wenn Papa oder Frau Kleintrecht nicht aufgepaßt haben, dann bin ich schon einmal an den Zaun gehuscht und dann haben wir uns Witze erzählt.« Er schwieg einen Moment, um dann betrübt hinzuzufügen: »Frau Bogner hat gute Witze erzählen können. Wir haben viel gelacht.«

Offensichtlich gab es jetzt nichts mehr zu lachen im Leben dieses kleinen Jungen. Als wollte das Schicksal Wilmas Vermutung bestätigen, erklang in diesem Moment eine schrille, durchdringende Stimme, die Wilma und Roger gleichzeitig erschüttert zusammenfahren ließ.

»Rooooger! Roooooger!!! Komm herein, du hast noch nicht deine Klavierübungen gemacht.«

Das Gesicht des Jungen wurde lang vor Abscheu. Aber er machte sofort kehrt und kroch durch die Himbeerhecke in den Garten zurück. Bevor er sich bückte, um zwischen den Zweigen zu verschwinden, drehte er sich jedoch noch einmal um und schenkte Wilma ein kleines Lächeln, durch das eine Spur des Lausbuben hindurchschimmerte, der er eigentlich sein sollte.

Traurig und sehr, sehr nachdenklich blieb Wilma zurück. Dieser Junge hatte Probleme, große Probleme, dessen war sie sich jetzt hundertprozentig sicher. Sie würde ihm helfen.

Aber wie?

*

Marga Kleintrecht stand auf der obersten Stufe der geschwungenen Steintreppe. Ihre Fäuste in die drallen Hüften gestemmt, den Blick wie immer voll unnachgiebiger Strenge, sah sie auf den kleinen Jungen hinunter, der mißmutig die Stufen erklomm.

Als er sie endlich erreicht hatte, schnappte sie ihn am Kragen seines T-Shirtes und zerrte ihn neben sich her ins Haus.

»Wo hast du denn gesteckt?« wollte Marga wissen, während sie Roger auf die Tür des Musikzimmers zuschob. »Ich habe überall nach dir gesucht. Du weißt doch, daß dein Vater schimpft, wenn er erfährt, daß du nicht geübt hast. Und wie sieht es mit den Hausaufgaben aus? Hast du die fertig?«

»Ja.« Wie ein kleiner, nasser Welpe ließ Roger sich von Marga vor den Flügel schleppen.

»Na, hoffentlich«, seufzte die Haushälterin. »Du weißt ja, was dein Vater von dir erwartet.«

Sie drückte Roger auf den Klavierhocker nieder, klappte die Klaviatur auf und verließ den Raum, ohne sich weiter um den Jungen zu kümmern.

Artig begann Roger seine Tonleitern und Fingerübungen herunterzuspielen. Anschließend schlug er das Notenbuch auf und probte die kleine Mozartetüde, die ihm die Lehrerin aufgegeben hatte.

Er spielte fehlerfrei und blieb genau im Takt, aber sein Herz und seine Gedanken waren nicht daran beteiligt. Doch danach fragte in diesem Hause niemand…

*

Die Verhandlungen zogen sich in die Länge. Für Clarissa von Beuerbach gab es nichts langweiligeres als Geschäftsbesprechungen, selbst wenn sie mit einem guten Diner in einem Luxusrestaurant verbunden waren. Die trockenen Themen und das zähe Ringen um Preise konnten kein noch so guter Wein und kein noch so exzellentes Mahl interessanter machen.

Sie versuchte, ihre Langeweile hinter einem Lächeln zu verbergen, das jedoch wie festgefroren wirkte. In Gedanken weilte sie bei ihrem derzeitigen Favoriten, einem jungen, feurigen Latin Lover, der sie mit Komplimenten und glühenden Zärtlichkeiten überschüttete.

Salvatore de la Delgadio – allein der Name klang schon wie Musik! Leider waren sein Name und seine blühende, sexuelle Phantasie das einzige Kapital, das er mitbrachte. Ansonsten verdiente sich Salvatore als Kellner und Platzanweiser in einem Kino sein Geld.

Daheim irgendwo in Südamerika warteten seine heruntergekommene Hazienda – die Bezeichnung alleine war schon Hochstapelei! – und eine Großfamilie auf ihn. Vielleicht auch eine Braut, darüber ließ sich Salvatore nicht richtig aus. Auf jeden Fall war er eine absolut unpassende Partie für eine Baroneß von Beuerbach und kam deshalb nur als Liebhaber in Betracht.

Vater hatte sie bereits gewarnt. Wenn aus ihr und Simon Hartmann ein Ehepaar werden sollte, dann mußte sie ihren lockeren Lebenswandel aufgeben. Simon Hartmann schätzte nach den Erfahrungen aus seiner ersten Ehe bodenständige, häuslich veranlagte Gattinnen, die ihm treu ergeben zur Seite standen.

Nun klang das in Clarissas Ohren alles andere als erstrebenswert. Es klang sogar ekelhaft langweilig und fade, aber Simon Hartmann war ein sehr vermögender Mann, dessen ehemals winzig kleiner Herstellungsbetrieb zu einem Imperium angewachsen war, das nicht nur auf dem deutschen, sondern auf dem gesamten europäischen Markt eine Hauptrolle spielte.

Innerlich schüttelte sich Clarissa, als sie an die Produkte dachte, die aus den Hartmannschen Manufakturen kamen: Katheter, Einwegspritzen, medizinische Kleingeräte wie Intubier- und Infusionsschläuche, Urinbecher und Nierenschalen und vieles, vieles anderes mehr, das die großen und kleinen Kliniken und Arztpraxen in der ganzen Welt dringend benötigten.

Ekliges Zeug, mit dem Clarissa nichts zu tun haben wollte, das Simon Hartmann jedoch zu einem reichen Mann gemacht hatte. Und genau das machte ihn in den Augen ihres Vaters zum idealen Schwiegersohn.

Deshalb hatte er darauf bestanden, daß Clarissa ihn zu diesem Treffen begleitete. Hugo von Beuerbach verdiente sein Geld damit, Formen herzustellen, die dann wiederum dazu dienten, zum Beispiel diese unaussprechlichen Nierenschalen in riesiger Stückzahl herzustellen.

Eine durch Heirat herbeigeführte Fusion käme Hugo sehr gelegen, denn die Hartmannschen Nierenschalen würden ihm praktisch das Tor zum Weltmarkt öffnen, das ihm bisher eisern verschlossen blieb.

Clarissa von Beuerbach war es im Grunde egal, wen sie heiratete. Ihr war immer bewußt gewesen, daß sie einmal eine Interessenehe und keine Liebesheirat eingehen würde.

Als Adlige und noch dazu Fabrikantentochter gehörte dies ganz einfach dazu. Liebesheiraten konnte sich der Pöbel leisten, der nichts zu vergeben und zu behalten hatte. Blaublütler wie sie sorgten dafür, daß der Besitz in der Familie blieb und sich vermehrte. Für die Freuden des Lebens hatte man seine kleinen Affären – basta.

So hatte Clarissa bis vor kurzem gedacht. Aber als sie in das strenge Gesicht ihres Zukünftigen blickte (der noch nichts von seinem Glück wußte), waren ihr zum ersten Mal Zweifel gekommen.

Simon Hartmann sah nicht so aus, als würde er »kleine Affären« oder sonstige Zerstreuungen akzeptieren. Er sah überhaupt nicht aus wie ein Mann, der Spaß verstand. Die fest zusammengepreßten Lippen, der kritische Blick, die abweisende Miene ließen ihn streng, ja, hart erscheinen.

Ein kleines Lächeln hätte ihn zu einem gutaussehenden Mann gemacht. Aber Simon Hartmann schien Frohsinn und Freundlichkeit für einen Luxus zu halten, den er sich nicht leisten konnte. Das Leben an seiner Seite hielt wahrscheinlich nur Pflichten bereit, vermutete Clarissa wenig begeistert. Vielleicht sollte sie sich die Sache mit der Heirat doch noch einmal überlegen?

Nun, bisher hatte er noch mit keiner noch so winzigen Andeutung Interesse an ihr bekundet. Seine Konzentration richtete sich ausschließlich auf die Verhandlungen, die er mit Hugo führte, dem allmählich der Schweiß auf die Stirn trat.

Simon Hartmann war ein knochentrockener Partner, der einem keinen Schritt entgegenkam. So wie es aussah, würde sich diese Unterhaltung noch ewig hinziehen.

Clarissa gähnte diskret hinter vorgehaltener Hand, um ihren Vater endlich auf sich aufmerksam zu machen. Aber dieser schwelgte gerade in Verkaufszahlen. Utopien, die er versuchte, Simon in den glühendsten Farben auszumalen, aber der Fabrikant blieb gelassen.

»Ich glaube, wir sollten unsere Besprechung auf einen anderen Termin verlegen«, bemerkte er plötzlich, völlig zusammenhangslos. »Ihr Fräulein Tochter langweilt sich. Dies ist wohl auch kein Thema, das eine Dame interessiert.«

Es hätte höflich geklungen, wenn es Simon nicht mit dieser herablassenden Miene ausgesprochen hätte. Clarissa verzog unwillkürlich das Gesicht.

»Oh, ich möchte diese wichtige Unterhaltung auf keinen Fall stören«, versicherte sie mit falscher Liebenswürdigkeit. »Aber wenn mich die Herren entschuldigen würden – ich hätte noch einiges zu erledigen. Papa, du erlaubst?«

Ihre Blicke flehten den Vater an, aber der schüttelte den Kopf.

»Dieses Geschäft betrifft auch deine Zukunft«, lehnte er das Ansinnen seiner Tochter rundweg ab. »Du wirst die Firma einmal übernehmen, da solltest du so langsam wissen, um was es sich bei den Investitionen und Abschlüssen im einzelnen handelt.«

Simon beugte sich vor.

»Sie haben ein abgeschlossenes Wirtschaftsstudium?« Spott leuchtete in seinen Augen, wofür Clarissa ihm am liebsten den Hals umgedreht hätte.

»Nein, ich habe Kunst studiert«, erwiderte sie wütend. »Und im übrigen bist du noch viel zu jung, um ans Aufhören zu denken, Papa.« Sie lächelte ihren Vater an, der unter dem Tisch die Hände rang. »Ich möchte jetzt wirklich gehen, Paps. Sei nicht böse, aber es ist wichtig.«

Bevor Hugo von Beuerbach dagegen protestieren konnte, hatte Clarissa ihren Stuhl zurückgeschoben und sich erhoben.

Der Abschied zwischen ihr und Simon fiel kühl aus. Sie wäre beinahe aus dem Restaurant gerannt, so froh war Clarissa, der unangenehmen Nähe dieses Mannes zu entkommen. Nein, ihr Vater konnte sich die Idee abschminken, Simon Hartmann zum Schwiegersohn zu bekommen.

Bei allem Reichtum und bei aller Vernunft, dieser Mann war ihr herzlich unsympathisch.

*

Irgendwie benahm sich die Figur seltsam. Spröde, sperrig, unlogisch, auf jeden Fall zeigte sie sich plötzlich unkooperativ. Es war nichts mehr mit ihr anzufangen.

»Ich lasse dich sterben«, drohte Wilma, als sie den Dialog zum x-ten Mal löschte und zum Neuschreiben ansetzte. Doch dann nahm sie die Finger von der Tastatur.

Solche »Stecker« hatte sie schon häufiger erlebt. Es lag natürlich an ihr, der Schöpferin der Figur, daß diese sich so seltsam benahm. Irgendwo hatte sie, die Autorin, einen Fehler gemacht, sich nicht an die erdachte Biographie gehalten, und deshalb reagierte die fiktive Person jetzt völlig unharmonisch.

Entschlossen stieg Wilma aus der Datei, sicherte das Geschriebene und ging in den Garten hinaus. Jetzt erst fiel ihr auf, daß Droste schon eine ganze Weile drängelte und winselte.

»Wir waren doch erst vor zwei Stunden Gassi«, meinte Wilma, während sie der Hündin über den Kopf strich.

Droste entzog sich der Berührung und eilte zur Terrassentür, wo sie stehen blieb und sich nach Wilma umschaute.

»Willst du mir etwas zeigen?« Neugierig folgte Wilma der Hündin, die jetzt schnurstracks an den Zaun eilte.

Und dann sah Wilma, auf was Droste sie unbedingt aufmerksam machen wollte. Der Nachbarsjunge saß auf der Treppe und weinte leise vor sich hin.

Sofort war Wilmas Herz von Mitleid erfüllt.

»He, Kleiner!« Sie reckte sich, um über die Hecke schauen zu können. »Kann ich dir helfen?«

Der Kleine verstummte. Sein Kopf hob sich, große, tränennasse Augen blickten Wilma an.

»Hast du dir weh getan?« forschte sie weiter. »Nun komm doch, ich tu dir bestimmt nichts.«

Der Kleine reckte den Hals. Ängstlich blickte er auf Droste, die mit hängender Zunge neben Wilma saß.

»Beißt der Hund?«

Wilma unterdrückte einen ungeduldigen Ausruf. Der Kleine stellte immer die selbe Frage. Langsam mußte er doch begreifen, daß Droste ein absolut harmloses Tier war.

Laut sagte Wilma: »Warte, ich bringe sie ins Haus.«

Als sie wieder herauskam, stand der Junge am Zaun. Mit schmerzverzogenem Gesicht zeigte er auf sein Knie, das von einer häßlichen Schürfwunde verunziert wurde.

»Oh, das tut aber bestimmt sehr weh«, stellte Wilma mitleidig fest. »Warte, da tun wir einmal etwas drauf.«

»Aber nichts, was brennt«, warnte Roger ängstlich, worauf Wilma lächelnd den Kopf schüttelte.

»Das brennt bestimmt nicht«, versprach sie. »Warte, ich hole nur meine Apotheke.«

Als sie zurückkehrte, hob sie den Jungen erst einmal über den Zaun, um ihn besser verarzten zu können. Wie versprochen, brannte das Desinfektionsmittel tatsächlich nicht. Der Kleine zuckte nicht einmal mit der Wimper, als Wilma die gelbe Flüssigkeit auf die Wunde träufelte.

Anschließend klebte sie ein Pflaster darauf und dann war der größte Schaden schon behoben.

»Roger!« Die strenge, männliche Stimme ließ Wilma erschrocken zusammenfahren. »Was machst du denn da?«

Wilma richtete sich auf und sah den Mann an, der auf der anderen Seite des Zaunes stand. Seine Miene drückte Ärger und Ablehnung aus. Aber das kannte Wilma schon. Ihr Nachbar schien kein besonders umgänglicher Mensch zu sein.

Sie sah zu Roger, der unter den Blicken seines strengen Vaters regelrecht in sich zusammenschrumpfte.

»Er ist nur hingefallen, und

ich habe die Wunde desinfiziert«, erklärte sie schnell, bevor das Kind antworten konnte. »Keine schlimme Wunde, nur eine Abschürfung, aber das tut am meisten weh.«

»Meine Güte!« Simon Hartmann rang die Hände. »Wollen Sie aus meinem Sohn eine Mimose machen? Er ist schon pinzig genug. So eine kleine Schramme ist doch nun wirklich kein Grund, gleich den Rot-Kreuz-Kasten auszupacken.«

»Ich wollte Ihren Sohn nur trösten«, wehrte sich Wilma empört. »Im übrigen sollte man jede noch so kleine Verletzung desinfizieren…«

»Ja, ja!« wurde sie von ihrem Nachbarn unhöflich unterbrochen. »Lassen Sie Ihre unerfüllten Muttergefühle an Ihrem Hund aus oder schaffen Sie sich ein eigenes Kind an. Mein Sohn braucht keine Verhätschelung. Er soll einmal ein ganzer Kerl werden und kein Muttersöhnchen.«

»Das könnte aber schiefgehen, wenn Sie seine Wunden nicht versorgen«, schoß Wilma zurück. Dieser Mann war eine Zumutung! Am liebsten hätte sie ihn gepackt und geschüttelt, aber er war so von sich überzeugt, daß alle Argumente an ihm abprallten.

»Kümmern Sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten«, versetzte er unfreundlich. »Roger, du kommst sofort nach Hause. Und hör auf zu weinen. Du bist doch kein Mädchen.«

»Mein Gott, in welchem Jahrhundert sind Sie denn stehen geblieben?« explodierte Wilma. Solche Machosprüche hatte sie quergefuttert! »Ich wette, Sie haben Magengeschwüre, abgekaute Fingernägel und Schuppenflechte, weil sie alle Emotionen unterdrücken…«

Der Nachbar hörte ihr nicht zu. Er hatte sich über den Zaun gebeugt, den Jungen ergriffen und herübergehoben.

»Komm, Roger.« Mit einem abschätzigen Blick, der Wilmas gesamte Person umfaßte und abwertete, drehte er sich um und ging zu seinem Haus, ohne ein Wort des Dankes oder einen Gruß an Wilma zu verschwenden.

Sprachlos vor Empörung stand sie da. Ihr fiel beim besten Willen nichts ein, daß sie diesem arroganten Schnösel hinterherrufen konnte. Was ihn so richtig in seinem übersteigerten männlichen Ego traf. Und als ihr endlich die passende Formulierung einfiel, war Simon Hartmann schon in seinem Haus verschwunden.

Wilma mußte sich ihren Zorn auf ihn für die nächste Begegnung aufheben.

*

Es war gar nicht so einfach, Tante Dorothée zu Gesicht zu bekommen. Die alte Dame hatte derartig viel Termine, daß sie einen Timer brauchte, um sie ordnen zu können.

Dabei handelte es sich beileibe nicht um Arzt- und Masseurbesuche. Tante Dorothée machte im allgemeinen einen großen Bogen um derlei Einrichtungen. Nein, die alte Dame war unter anderem Mitglied in einer Laienschauspielgruppe, für die Wilma bereits zwei Stücke geschrieben hatte.

Dann sang sie im Gospelchor, besuchte zweimal pro Woche vormittags einen Computerkurs und war politisch engagiert, was heißen sollte, daß sie keine Demo ausließ, so lange es sich nicht um irgendwelche rechten Gruppen und Parolenschreier handelte.

Im letzten Jahr hatte sie gegen die Castortransporte demonstriert. Mit Polizeigewalt war sie von den Schienen getragen und in Sicherheitsverwahrung genommen worden. Und zwei Jahre zuvor hatte sie sich zusammen mit anderen Greenpeacemitgliedern vor einem bekannten Chemiewerk angekettet und dort so lange verharrt, bis die Feuerwehr mit großen Stahlzangen, gekommen war und die Demonstranten losgeschnitten hatte.

Tante Dorothée war also eine sehr rege und außergewöhnliche alte Dame, was die Leitung der Seniorenwohnanlage zuweilen vor Probleme stellte.

Doch als Wilma an diesem Vormittag anrief, hatte sie Glück. Tante Dorothée versicherte fröhlich, daß sie an diesem Nachmittag keine Aktivitäten plante und sich auf den Besuch ihrer geliebten Nichte – eigentlich Großnichte – riesig freute.

Sie saßen auf dem Balkon. Ein bunter Sonnenschirm schützte vor der Mittagshitze. Tante Dorothée trug einen wunderschönen Sari aus hauchdünner Seide, den sie von einer ihrer vielen Reisen mitgebracht hatte. Das graue, immer noch volle Haar war im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden, den sie mit einer künstlichen Chrysanthemenblüte verziert hatte.

Ja, Dorothée war schon immer etwas gewesen. Wilma mußte lächeln, als sie ihre Tante betrachtete und dabei unwillkürlich an ihre Eltern dachte, die über Dorothées Aufzug wahrscheinlich entrüstet die Köpfe geschüttelt hätten. Spontan beugte sich Wilma vor und ergriff die Hand ihrer Tante.

»Du siehst bezaubernd aus.«

Dorothée lachte leise.

»Hör auf, mir zu schmeicheln«, erwiderte sie augenzwinkernd. »Ich bin eine alte Frau, die sich verrückt anzieht, das weiß ich. Aber es macht mir Spaß, die alten Herrschaften hier ein bißchen zu schockieren.«

»Du weißt genau, daß du wunderbar aussiehst und dich viele der alten Herrschaften hier ziemlich bewundern«, erwiderte Wilma ernsthaft. »Und im übrigen hat es dich noch nie interessiert, was andere Menschen über dich denken.«

»Stimmt.« Das Lächeln auf Dorothées Gesicht vertiefte sich. »Und weil wir gerade von Spießern sprechen, was machen deine Eltern und deine große Schwester?«

Bei den Worten der alten Dame hatte sich Wilmas Gesicht bewölkt. Ihre Oberlippe kräuselte sich leicht, als sie den Mund öffnete, um zu antworten.

»Vater und Mutter geht es gut. Sie sind mit Leib und Seele Großeltern und völlig aus dem Häuschen, vor Freude auf den neuen Enkel.« Sie hob die Schultern, um anzudeuten, daß sie das Thema nicht sonderlich interessierte. »Und Katharina ist stolze Mama, treusorgende Ehefrau und die beste Hausfrau, die es weit und breit gibt.«

»Kurz, sie ist die Tochter, die Vater und Mutter sich immer gewünscht haben«, führte Dorothée den Satz zuende. »Erzkonservativ, langweilig und verblödet.«

»Nun, verblödet will ich nun nicht gerade behaupten«, wehrte Wilma ab, aber es klang wenig überzeugend. »Ach, Tantchen, du weißt doch, wie unsere Leute sind. Generationen von Beamten, die immer treu und brav den Dienst fürs Vaterland versahen. Und in jeder dieser Generationen gab es ein schwarzes Schaf. Du warst es, ich bin es. Finden wir uns damit ab.«

»Ich denke nicht daran!« Dorothée lachte fröhlich. »Was glaubst du, was es mir für einen Spaß macht, diese Beamten zu schockieren. Und ich freue mich diebisch, daß Ewald und Gerlinde mit dir genau das in die Welt gesetzt haben, worüber sie früher immer die Köpfe geschüttelt haben.«

»Ich weiß, wir sind die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben«, seufzte Wilma, aber dann mußte sie auch lachen. »Okay, Tantchen, ich geb’s zu. Es macht mir genau solchen Spaß, meine Eltern und meine Schwester mitsamt ihrem grottendoofen Ehemann zu ärgern, wie dir. Wir sind nun einmal so.«

Sie griff nach dem Glas Eistee, das Dorothée ihr eingeschenkt hatte. Es schmeckte herrlich. Niemand machte so leckeren Eistee wie Tantchen.

»Sag einmal«, fuhr Wilma fort, nachdem sie ihren Durst gelöscht hatte. »Weshalb ich dich sprechen wollte: Weißt du eigentlich, was im Nachbarhaus vorgeht? Der Junge macht mir einen sehr gestörten Eindruck.«

Plötzlich war Dorothées Miene sehr ernst. Sie lehnte sich zurück und sah in den Garten hinunter, in dem sich ein paar Rentner zum Boccia-Spiel versammelt hatten.

»Der kleine Roger.« Ein Hauch Sehnsucht schwang in ihrer Stimme mit. »Er hat mir immer leid getan. Aber sein Vater läßt einfach nicht mit sich reden. Ach, ein furchtbarer Mensch!«

Wilma beugte sich vor.

»Schlägt er den Jungen?« Zorn funkelte in ihren Augen, aber Dorothée winkte ab.

»Nein, das nicht«, erwiderte sie schnell. »Jedenfalls habe ich keine Anzeichen dafür bemerkt. Aber dieser Mann hat nicht den kleinsten Funken Humor. Er läßt seinem Sohn so gut wie keine Freiheiten. Alles ist nur Pflicht und Leistung.« Sie schüttelte sich vor Abneigung. »Der arme Junge wächst in einer Umgebung aus Tristesse und Düsternis auf, die ihn erdrücken muß. Ich habe dieses Kind noch nie von Herzen lachen gesehen.«

»Komisch, ich habe bisher noch nicht einen erwachsenen Bewohner des Hauses kennengelernt«, bemerkte Wilma nachdenklich. »Irgendwie schaffen sie es alle, bis auf den Jungen, unsichtbar zu bleiben. Nur die Haushälterin hört man ab und zu nach dem Jungen rufen.«

»Frau Kleintrecht, ja, ja.« Dorothée winkte ab. »Sie arbeitet schon seit Jahren für die Hartmanns. Eine von der Sorte, die sich um Gottes willen nicht einmischen will.«

»Und Frau Hartmann?«

»Gibt es nicht.« Dorothée hob die Schultern. »Simon Hartmann und sein Sohn wohnen ganz allein in der Villa. Frau Kleintrecht hat eine Wohnung in der Altstadt und kommt jeden Tag, außer an den Wochenenden, um den Haushalt zu führen und für den Jungen zu kochen. Punkt sechzehn Uhr macht sie Feierabend, wahrscheinlich, um dem Hausherrn nicht über den Weg zu laufen.«

»Ist er so unangenehm?«

»Sagen wir mal so.« Dorothée überlegte einen Moment. »Wenn ich die Wahl hätte, einen Abend mit Simon Hartmann zu verbringen oder an einer CSU-Versammlung teilzunehmen, würde ich die CSU-Versammlung vorziehen.«

Oh, das wollte bei Tante Dorothée etwas heißen! Der Nachbar mußte demnach wirklich ein äußerst unangenehmer Zeitgenosse sein.

»Aber die Kleintrecht ist sowieso nicht der Mensch, der sich über andere Leute Gedanken macht«, fuhr Dorothée nach einer kurzen Pause fort. »Sie verköstigt den Jungen, paßt auf, daß er seine Aufgaben erledigt und pünktlich zu den verschiedenen Zusatzunterrichten geht, die sein Vater für ihn ausgesucht hat, und achtet ansonsten nur darauf, daß sie in nichts hineingezogen wird. Sie hat keine emotionale Bindung an das Kind.«

Wilma hob erstaunt die Brauen.

»Obwohl sie schon so lange für die Familie tätig ist?«

Dorothée seufzte.

»Ich habe dir doch gesagt, daß Frau Kleintrecht zu den Leuten gehört, die ihr eigenes Leben leben und die nichts weiter interessiert, als das, was sie ganz unmittelbar betrifft. Diese Frau macht hier oben dicht.« Tante Dorothée tippte sich an die Stirn. »Und verrichtet ihre Arbeit, fertig.«

»Aha.« Wilma schwieg betroffen. Wenn das stimmte, was die Tante ihr erzählt hatte, dann konnte einem der kleine Roger wirklich leid tun. »Nun, wie gesagt, mir fiel das Verhalten des Kindes auf, und ich wollte wissen, ob dir etwas aufgefallen ist, das vielleicht Anlaß gäbe, das Jugendamt oder den Kinderschutzbund einzuschalten.«

Dorothée schob finster die Brauen zusammen.

»Eine lieblose Atmosphäre ist leider kein Grund, die Behörden zu alarmieren«, knurrte sie böse. Dann entspannte sich ihre Haltung etwas. »Aber du solltest dich nicht abhalten lassen, ab und zu ein Schwätzchen mit dem Jungen zu halten. Das tut ihm gut. Auch wenn der Alte meckert und es verbieten will.« Sie kicherte fröhlich. »Wir haben jedenfalls immer unseren Spaß gehabt.«

»Ich weiß, Roger hat es mir erzählt.« Wilma stimmte in das Lachen ihrer Tante mit ein. »Ihr habt euch gegenseitig Witze erzählt, und du hast Roger gezeigt, wie man Holunderflöten baut. Er hat es mir erzählt.«

»Stimmt.« Wieder klang Sehnsucht in Dorothées Stimme. »Und ich hoffe sehr, daß du ihm zeigst, wie man Stinkbomben baut und Reißzwecken-Lehrerfallen versteckt, damit Roger nicht total verknöchert, bevor er auch nur eine Minute Spaß hatte.«

»Mache ich, Tantchen«, versprach Wilma treuherzig. Sie hätte gerne noch mehr über ihre Nachbarn erfahren, aber die alte Dame wechselte das Thema, offensichtlich nicht bereit, weitere Auskünfte zu geben.

So beließ es Wilma dabei und konzentrierte sich auf die Dinge, die Tante Dorothée äußerst amüsant zu berichten wußte.

*

Die Handwerker hatten Wort gehalten. Das Gästebad war fertig. Gestern hatte die Putzfrau den ganzen Tag damit zugebracht, die gesamte Villa von den Spuren der umfangreichen Umbauarbeiten zu reinigen. Jetzt erstrahlte alles in neuem, sauberem Glanz, und wunderbare Ruhe erfüllte die Räume.

Wunderbare Ruhe? Wilma hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da ertönte draußen ein markerschütternder Schrei. Wie von der Tarantel gebissen schoß sie von ihrem Stuhl hoch und stürzte zum Fenster.

Drüben im Nachbargarten stand der kleine Roger und klammerte sich am Treppengeländer fest, während sein Vater unnachgiebig an ihm herumzerrte.

Der Kleine schien sich vor irgend etwas panisch zu fürchten. Obwohl ihn Wilma von ihrem Platz am Fenster nur undeutlich erkennen konnte, spürte sie förmlich die Not des Kindes. Entschlossen verließ sie das Eßzimmer und lief in ihren Garten hinaus, um nachzusehen, was sich auf dem Nachbargrundstück abspielte, und notfalls einzugreifen.

Sie brauchte keine langen Vermutungen anzustellen. Als sie auf die Terrasse hinaustrat, erkannte sie sofort, was sich abspielte.

Droste hatte am Zaun zwischen den Sommerastern gegraben. Jetzt stand sie mit hängender Zunge da und sah zu dem Jungen hinüber, der sich immer noch am Treppengeländer festhielt.

»Du wirst jetzt mitkommen!« hörte Wilma die strenge Stimme des Vaters. »Deine alberne Angst vor Hunden gewöhne ich dir jetzt ein für alle mal ab!«

»Nein, nein, nein!« Roger war hysterisch vor Angst. Sein kleines Gesichtchen war knallrot angelaufen, ja, die Haare standen ihm buchstäblich zu Berge, während er sich mit allen Kräften gegen das Ansinnen seines Vaters zur Wehr setzte.

Wilma stieß einen Pfiff aus, auf den Droste umgehend kehrt machte und zu ihr gerannt kam. Schwanzwedelnd blieb sie vor Wilma stehen und sah sie erwartungsvoll an.

»Lassen Sie den Hund hier!«

Es dauerte einen Moment, ehe Wilma begriff, daß der Nachbar mit ihr sprach. Was heißt »sprach«! Er erteilte ihr einen Befehl!

Da war dieser Mann aber an die falsche Adresse geraten. Wütend fuhr Wilma herum und schoß einen giftigen Blick über den Zaun.

»Wie belieben?« Der süße Klang ihrer Stimme täuschte über ihre wahre Gemütsverfassung hinweg.

Der Nachbar richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Mit gestrafften Schultern kam er näher und blieb schließlich am Zaun stehen.

»Ich sagte, daß Sie Ihren Hund ruhig im Garten lassen sollten«, wiederholte er, doch es klang jetzt etwas verbindlicher. »Mein Sohn hat eine derart alberne Angst vor beinahe allen Tieren entwickelt, daß es höchste Zeit wird, sie ihm abzugewöhnen.«

»Und dazu soll ausgerechnet mein Hund dienen?«

Wilma zog die Brauen zusammen. Auch sie hatte sich dem Zaun genähert. Mit Erstaunen stellte sie fest, daß ihr Nachbar im Grunde ein gutaussehender Mann war. Wenn er bloß nicht so grimmig dreinblicken würde!

»Ich finde die Idee nicht gut«, wies sie das Ansinnen ab. »Erstens wird sich die Angst Ihres Sohnes nur noch verstärken, wenn Sie ihn zwingen, sich mit Droste anzufreunden, und zweitens finde ich es reichlich unverantwortlich, das Kind einfach auf meinen Hund loszuscheuchen. Sie kennen Droste doch gar nicht. Sind Sie sicher, daß sie nicht beißt?«

Ihre Worte schienen den Nachbarn nicht sonderlich zu beeindrucken.

»Ich habe früher selber jahrelang Schäferhunde gehalten«, erwiderte er unfreundlich. »Glauben Sie mir, ich erkenne genau, welche Tiere aggressiv sind und welche nicht. Ihr Hund ist lammfromm. Der läßt wahrscheinlich jeden Einbrecher ins Haus, solange dieser nur freundlich lächelt.«

Mit dieser Bemerkung brachte er Wilma in einen Zwiespalt. Zum einen ärgerte es sie, daß dieser Mann recht hatte. Zum anderen hätte sie ihm gerne widersprochen, doch sie wollte Drostes wirklichen gutmütigen Charakter nicht ableugnen.

»Trotzdem finde ich es nicht richtig, Ihren Sohn so zu behandeln«, wich sie schließlich aus. »Es gibt sicherlich einen Grund für seine Phobie. Sie sollten versuchen, diese auf andere Weise zu lösen.«

»Wunderbar!« Simon Hartmann verzog ärgerlich die Mundwinkel. »Noch eine von diesen Hobby-Psychologinnen und Freizeitpädagoginnen, die zwar keine Ahnung haben, aber meinen, genau Bescheid zu wissen.« Er schoß Wilma einen scharfen, glitzernden Blick zu. »Sie können mitreden, wenn Sie eigene Kinder haben. Solange dies nicht der Fall ist, halten Sie am besten den Mund.« Damit machte er kehrt und ließ Wilma einfach stehen.

Zitternd vor Wut sah sie ihm hinterher. Bevor sie sich richtig über ihr Tun im klaren war, hatte sie bereits die Worte ausgesprochen.

»Arroganter Besserwisser!«

Simon Hartmann blieb wie angenagelt stehen.

»Wie nannten Sie mich eben?« fragte er, den Kopf über die Schulter gewandt.

Wilma biß sich auf die Lippen. Es war bestimmt pädagogisch nicht sinnvoll, sich vor dem Jungen zu streiten. Also beschloß sie, der Szene ein Ende zu machen.

»Vergessen Sie’s«, knurrte sie ärgerlich, drehte sich um und ging davon, bevor Simon noch etwas sagen konnte. Droste folgte ihr mit hängendem Kopf.

*

Im Haus wurde Wilma vom Läuten des Telefons empfangen. Immer noch ärgerlich nahm sie das tragbare Gerät an sich, setzte sich an ihren Frühstückstisch und nahm das Gespräch an.

»Schön, daß du noch am Leben bist«, klang die Stimme ihrer Mutter an Wilmas Ohr. Sie biß sich vor Ärger in die Lippen. Dieser Samstagvormittag hatte eigentlich ein erholsamer Tagesbeginn werden sollen. Statt dessen schienen es heute alle Leute darauf abgesehen zu haben, ihr genau diesen Vormittag gründlich zu verderben.

Mißmutig schob sie ihr angegessenes Frühstücksei von sich und lehnte sich zurück.

»Nett, daß du anrufst, Mutter«, erwiderte sie betont freundlich. »Wie geht es euch?«

Gerlinde Bogner holte am anderen Ende der Leitung tief Luft.

»Nun, Papa hat die üblichen Schwierigkeiten mit den Knien«, hub sie schließlich an. »Die Arthrose, du weißt ja. Die Tabletten, die ihm der Arzt verschrieben hat, bringen auch keine allzu große Erleichterung. Er wird sich wohl mit dem Gedanken abfinden müssen, irgendwann in die Klinik gehen zu müssen. Aber ansonsten geht es uns ganz gut.«

»Das heißt, daß du keine Beschwerden hast?« hakte Wilma nach, worauf Gerlinde seufzte. »Mein Gott, als Frau hast du doch keine Zeit, krank zu sein«, erwiderte sie vordergründig bescheiden. »Der Haushalt, der Garten, die Enkel. Papa und ich nehmen die beiden jetzt natürlich häufiger zu uns, damit Kathi entlastet wird. Sie klagt zwar nie, aber diese dritte Schwangerschaft macht ihr doch zu schaffen. Aber du müßtest sehen, wie liebevoll sich Friedhelm um sie sorgt. Sie hat wirklich großes Glück gehabt mit diesem Goldstück von einem Mann…«

Wilma verdrehte die Augen. Sie wußte genau, was jetzt kommen würde.

»Ich wünsche mir, daß du auch einmal einen solch lieben Ehemann findest.«

»Ja, Mutter, ich weiß«, seufzte Wilma. »Aber momentan bin ich noch ganz glücklich ohne.«

Sie wußte, daß Gerlinde den Kopf schüttelte und sorgenvoll die Stirn krauste.

»Aber Kind, du solltest daran denken, daß auch du nicht jünger wirst«, sagte ihre Mutter denn auch wie erwartet. »Du bist neunundzwanzig, da wird es langsam eng. Und wenn du dann noch Kinder haben willst, ist es beinahe schon zu spät. Überhaupt, Kind, ich weiß, du hörst das gar nicht gerne, aber du brauchst Sicherheit. Gut, momentan hast du Glück, du verdienst mit deiner Schreiberei einigermaßen Geld. Aber was machst du, wenn es einmal nicht so ist? Sorgst du wenigstens für die Zukunft? Hast du ein paar Rücklagen? Und dann solltest du ans Alter denken. Was glaubst du, wie schnell du sechzig bist. Was willst du machen, ohne Pension, ohne Rente?«

Von der Sozialhilfe leben, wäre es Wilma beinahe herausgerutscht, aber sie schluckte die Worte hastig hinunter.

»Ich weiß, Mutter«, antwortete sie statt dessen. »Ich habe es dir schon hundert Mal erklärt, ich bekomme eine Rente, und Rücklagen für schlechte Zeiten habe ich auch gebildet. Du brauchst keine Angst zu haben, ich werde bestimmt nicht verhungern.«

»Aber du solltest trotzdem über einen anständigen Beruf nachdenken«, mahnte Gerlinde besorgt, dann änderte sich ihre Tonlage. »Weshalb ich eigentlich anrufe. Kommst du zu Papas Geburtstag? Er würde sich sehr freuen.«

Wilma schluckte mühsam. Alles in ihr sträubte sich gegen diesen Gedanken.

»Ich dachte, ihr wollt erst nächstes Jahr groß feiern, wenn Papa sechzig wird«, versuchte sie, Zeit zu gewinnen.

Gerlinde seufzte.

»Ach, das hatten wir eigentlich auch vor«, erklärte sie in ihrer ewig etwas schleppend klingenden Sprechweise. »Aber Kathi und Ewald meinten, daß man in unserem Alter jeden Geburtstag feiern sollte. Kathi hilft mir auch bei den Vorbereitungen. Mir ist das zwar gar nicht recht, sie hat mit ihrem Haushalt und den Kindern und der Schwangerschaft momentan wirklich genug zu tun. Aber du kennst ja deine Schwester. Es macht ihr einfach Spaß, wenn sie etwas für die Familie tun kann…«

Gleich spucke ich mein Frühstück wieder aus, dachte Wilma gereizt. Sie konnte diese ewigen Tiraden ihrer Mutter einfach nicht mehr hören.

»Oh, meine Agentur mailt mir gerade eine wichtige Mitteilung durch«, unterbrach sie Gerlindes Redestrom rigoros. »Tut mir leid, Mutter, aber es scheint wirklich immens wichtig zu sein. Ich rufe dich in den kommenden Tagen an. Grüß Papa und den Rest der Sippe von mir, tschau.«

Hastig unterbrach sie die Leitung und legte das Telefon auf den Tisch. Der Appetit war ihr jetzt restlos vergangen.

*

Wieso kann ich nicht vernünftig mit meiner Mutter sprechen, dachte sie, während sie begann, den Tisch abzuräumen. Damals, als sie ihre Familie verlassen hatte, um endlich ein eigenständiges Leben zu führen, hatte Wilma gehofft, daß sich das gespannte Verhältnis durch die räumliche Trennung etwas verbessern würde. Aber nichts dergleichen war geschehen.

Im Gegenteil, ihre Eltern und die Familie ihrer Schwester waren ihr nur noch fremder geworden.

»Vielleicht bin ich doch adoptiert?« meinte sie zu Droste, die ihr in die Küche gefolgt war. Die Hündin legte den Kopf schief und betrachtete Wilma aufmerksam.

Natürlich war sie kein Adoptivkind, das wußte Wilma. Aber schon als Kind hatte sie sich immer wieder gefragt, wieso sie sich in der eigenen Familie fremd fühlte. Ihre Eltern verstanden sie nicht und sie verstand ihre Eltern nicht, so war es immer gewesen. Und so würde es wahrscheinlich auch bleiben, damit hatte Wilma sich inzwischen abgefunden.

Da sie keine Lust hatte, weiterhin über ihre Familienprobleme nachzudenken, schnappte sie sich die Hundeleine, pfiff Droste herbei und verließ das Haus.

Ein ordentlicher Spaziergang würde sie von ihren Gedanken abbringen. Und vielleicht würde es ihr dann doch noch gelingen, das Wochenende zu genießen?

*

Am Montag rief die Produktionsfirma an, um sich nach dem Werdegang des Manuskriptes zu erkundigen, an dessen Fertigstellung Wilma fleißig arbeitete. Da sie die Ungeduld des Produktionschefs kannte, ärgerte sie sich nicht weiter über diesen Anruf. Drängelei und Zeitnot waren in diesem Geschäft üblich.

Sie versicherte der Produktionssekretärin, daß das Drehbuch zur vereinbarten Zeit auf dem Tisch des Hauses liegen würde, und begab sich wieder an ihre Arbeit.

Immer, wenn ein Manuskript kurz vor dem Abschluß stand, hätte Wilma am liebsten Tag und Nacht durchgearbeitet, um schnellstens zum Ende zu kommen. Aber sie beherrschte sich. »Wer hudelt, sudelt«, war ihr Wahlspruch und getreu diesem handelte sie. Sie schrieb, wie eh und je, zehn Seiten am Tag und begann dann, diese auf ihre Schwächen, zum Beispiel bei der Dialogführung, zu überprüfen und zu korrigieren.

Zudem neigten sich ihre Vorräte dem Ende. Es wurde höchste Zeit, wieder einmal einkaufen zu gehen. Also schaltete sie ihren Computer aus und begab sich am Mittwochvormittag auf den Weg in die Innenstadt, um das nötige zu besorgen.

Es war ein heißer Tag. Ungewöhnlich heiß für Mitte Juni.

Wilma geriet ganz schön ins Schwitzen, als sie ihren vollbepackten Drahtesel in Richtung Stadtgrenze trieb. Keuchend und schwitzend strampelte sie bergauf, innerlich fluchend über den Entschluß, das Rad zu nehmen, anstatt ganz bequem mit dem Auto zu fahren.

Aber sie hatte sich vorgenommen, etwas für ihre Kondition zu tun. Wer den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt, muß sich zwischendurch ordentlich bewegen, hatte sie sich eingeredet. Nun gut, das hatte sie jetzt davon: Eine Lunge, die beinahe platzte, und Muskeln, die vor Anstrengung zitterten.

Schließlich gab Wilma es auf, stieg ab und schob das Rad die letzten Meter bergan.

Der Schweiß lief ihr in die Augen. Deshalb hätte sie beinahe den kleinen Jungen übersehen, der in einem Bushäuschen saß und die Beine baumeln ließ. Als sie ihn erkannte, stellte sie ihr Rad ab und ging zu ihm.

»Puh!« Erschöpft ließ sich Wilma auf die Bank fallen. »Ich kann nicht mehr. Diese Hitze ist ja unerträglich.« Sie schielte zu ihrem Nachbarn. »Machst du auch eine Pause?«

Roger schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. Seine Haltung drückte Kummer aus. Es schnitt Wilma ins Herz, als sie die schmalen, kaum vorhandenen Schultern sah, die traurig herunterhingen wie die Flügelchen eines kranken Vogels.

»Ärger?« forschte sie mitleidig.

Endlich hob Roger den Kopf. Jetzt erst sah sie, daß er geweint hatte.

»Mhmmhm.« Traurig blickte er wieder auf seine Schuhspitzen.

»Mit wem?« fragte Wilma weiter. »Haben sich deine Schulkameraden gegen dich verschworen oder macht dein Lehrer Streß? Oder hast du eine Arbeit verhauen?«

Roger holte zitternd Luft. Dann wandte er ihr erneut das Gesicht zu. Ernste Kinderaugen musterten Wilma, so als überlegte der Junge, ob er ihr trauen konnte.

»Ich habe eine Drei in der Rechenarbeit«, gab er schließlich Auskunft. »Papa wird schimpfen.«

»Wegen einer DREI?« Wilma traute ihren Ohren nicht. »Komm, Roger, eine Drei ist doch okay.« Sie lachte leise. »Meine Eltern wären froh gewesen, wenn ich in Mathe mit einer Drei nach Hause gekommen wäre. Bei mir reichte es immer nur zu einer Vier-Minus, höchsten mal einer Vier.«

Rogers Augen wurden groß.

»Und deine Eltern haben nicht geschimpft?« fragte er verwundert.

»Mhmmm…« Wilma überlegte, ob sie die Wahrheit sagen sollte. »Na ja, also glücklich waren sie nicht darüber. Weißt du, meine Schwester, die war immer die Klassenbeste. Die hat fürchterlich gelernt und gepaukt, damit sie bei den Besten war. Mich hat die Schule nicht so interessiert.«

Roger hatte interessiert zugehört. Wilma konnte ihm ansehen, daß eine Frage auf seiner Seele brannte, die er jedoch nicht zu stellen wagte.

»Mathe konnte ich überhaupt nicht leiden«, fuhr sie fort, als Roger weiterhin schwieg. »Das war mir viel zu trocken. Aber Deutsch, Biologie und Kunst, da war ich Spitze, das habe ich gerne gemacht. Hast du Lieblingsfächer?«

Roger nickte eifrig.

»Erdkunde, Zeichnen, Musik mag ich am liebsten.« Wieder ein bedrückt klingender Seufzer. »Aufsätze schreibe ich auch gerne, aber ich mache immer so viele Fehler und dann bekomme ich trotzdem schlechte Noten, obwohl die Geschichten gut sind, sagt Frau Bäumler.«

»Ist Frau Bäumler deine Klassenlehrerin.«

»Mhmmm.« Roger nickte. »Sie mag mich nicht.«

»He, woher weißt du das?«

»Weil sie immer mit mir schimpft.« Roger richtete sich auf. »Wenn die anderen schwätzen oder etwas falsch machen, dann sagt sie bloß ›jetzt müßt ihr aber einmal aufpassen‹ oder ›das ist nicht so schlimm, ich erkläre euch das noch einmal‹. Aber ich brauche bloß einmal den Mark – der sitzt neben mir, weißte – etwas zu fragen, schon schimpft sie los. Und wenn ich etwas falsch mache, dann sagt sie, daß ich dumm bin und wieder nicht aufgepaßt habe.«

Nette Lehrerin, dachte Wilma bissig. Wieso besetzten solche »Pädagogen« wertvolle Planstellen, während wirklich gute Lehrer stempeln gingen?

Laut fragte sie: »Weiß dein Papa das?«

Roger ließ den Kopf hängen.

»Ach, Papa!« Er winkte ab. Eine Geste, die deutlich sagte, wie das Verhältnis zwischen Vater und Sohn stand.

»Nun, du solltest ihm das erzählen«, riet Wilma entrüstet. »So etwas darf eine Lehrerin nicht sagen. So etwas darf überhaupt niemand sagen. Weißt du was? Wer über andere Leute sagt, sie seien dumm, ist es selber.«

Roger hob den Kopf und sah Wilma aus großen Augen an. Offensichtlich überraschte ihn Wilmas Sicht der Dinge.

»Das klingt aber ziemlich frech«, bemerkte er schließlich mißtrauisch. »Papa sagt immer, daß man Erwachsenen nicht widersprechen soll.«

»Oh, Mann!« rutschte es Wilma heraus. Hastig schluckte sie den Rest des Satzes hinunter, was zur Folge hatte, daß ihr die Worte buchstäblich im Halse stecken blieben.

»Du widersprichst ja nicht«, versuchte sie, so ruhig wie möglich zu erwidern. »Wir reden nur einmal über die Sache, nicht wahr? Und wenn deine Lehrerin zu dir sagt, daß du dumm bist, dann ist das mindestens genauso frech, als wenn du zu ihr sagen würdest, daß sie dumm ist. Nicht nur Erwachsene haben das Recht auf Fairneß und Höflichkeit, so sehe ich das jedenfalls.«

Darüber mußte Roger erst einmal eingehend nachdenken. Schließlich hob er den Kopf und sah Wilma eindringlich an. Als er endlich den Mund öffnete, um die Frage zu stellen, die ihm schon seit einigen Minuten auf der Seele brannte, konnte Wilma seinem kleinen Gesichtchen ansehen, daß er schwer mit sich gerungen hatte, ehe er den Mut dazu fand.

»Hast du trotzdem einen Beruf gelernt?« Aufmerksam beobachtete er Wilmas Gesicht, um ihre Reaktion darauf abzulesen.

Ihre Antwort war ein herzliches Lachen.

»Also, wenn du meine Eltern fragst, werden sie das, was ich tu, nicht als ›anständigen‹ Beruf bezeichnen.« Sie unterbrach sich, als sie Rogers verständnislose Miene bemerkte. »Ich bin Schriftstellerin«, fuhr sie in sachlichem Ton fort. »Meine Eltern haben zwar immer behauptet, daß man mit Kunst kein Geld verdienen kann und sein Leben lang ein armer Schlucker bleibt, aber ich kann dir versichern, ich verdiene sehr gut.«

»Und hast du studiert?« fragte Roger aufgeregt.

»Ja, Germanistik«, erwiderte Wilma lächelnd. »Zugegeben, eine gute Schülerin war ich nicht. Hab’ mich gerade so durchs Abitur gewurschtelt. Ich sage es dir ehrlich, ich war stinkfaul. Sicher hätte ich bessere Noten haben können, wenn ich mir nur ein bißchen Mühe gegeben hätte. Aber meine Eltern waren derartig auf gute Leistungen fixiert, daß ich innerlich dicht gemacht habe.«

Roger stieß einen erleichterten Seufzer aus. Plötzlich wurde er richtig lebhaft.

»Genau wie bei mir!« rief er aufgeregt. »Mein Papa sagt auch immer, daß ich gute Noten haben muß, damit ich später studieren und einen anständigen Beruf erlernen kann. Und er sagt auch immer, daß Malen und Gedichte und so ’ne Sachen nichts wert sind, weil man damit kein Geld verdienen kann.« Er rückte etwas näher an Wilma heran. »Dabei machen solche Sachen viel mehr Spaß.« Er warf ihr einen neugierigen Blick zu. »Hast du auch gerne Aufsätze geschrieben?«

»Habe ich.« Wilma nickte begeistert. »Du, ich habe die tollsten Geschichten erfunden. Wann immer ich mich davonstehlen konnte, bin ich auf den Dachboden gestiegen. Da hatte ich meine Schreibmappe versteckt, in der ich alle meine Geschichten und Gedichte aufbewahrte. Ich habe die Texte teilweise sogar mit den passenden Bildern verziert.« Sie lächelte liebevoll. »Wenn es dein Papa erlaubt, kannst du mich ja einmal besuchen kommen. Dann zeige ich dir die Mappe.«

»Au, ja!« Roger klatschte vor Freude in die Hände, dann warf er Wilma einen zweiten, forschenden Blick zu. »Magst du auch einmal meine Gedichte und Geschichten lesen?« erkundigte er sich zaghaft.

Wilma nickte erfreut.

»Du schreibst auch heimlich?« fragte sie aufgeregt. »Du, ich glaube, wir zwei sind uns verdammt ähnlich. Ach, find’ ich das toll. Endlich jemand, der genauso denkt und handelt wie ich!«

»Ja!« Roger sprang auf. Ehe es sich Wilma versah, war er ihr um den Hals gefallen. Dann sah er sie mit feierlichem Ernst an. »Wollen wir Freunde sein?«

Ein Kloß bildete sich in Wilmas Hals. Gerührt strich sie dem Jungen übers Haar.

»Gerne«, erwiderte sie genauso ernsthaft. »Ich würde mich sehr freuen, wenn ich einen guten Freund hätte, mit dem ich über alles reden kann und der mit mir über alles reden mag.«

»Dann sind wir ab jetzt Freunde.« Roger strahlte übers ganze Gesicht. Dann wurde er wieder ernst. »Aber du darfst Papa nicht weitererzählen, wenn ich dir etwas erzähle.«

»Natürlich nicht!« Entrüstet schüttelte Wilma den Kopf. »Gute Freunde behalten ihre Geheimnisse für sich. Das ist doch klar.«

Roger atmete auf. Aber als Wilma vorsichtig bemerkte, daß es jetzt Zeit sei, nach Hause zu gehen, verschloß sich seine Miene wieder.

»Am liebsten würde ich bei dir wohnen«, maulte er mit vorgeschobener Unterlippe. »Frau Kleintrecht hat bestimmt wieder Karotten gekocht. Die mag ich überhaupt nicht. Und Papa wird nachher bestimmt gleich nach der Mathearbeit fragen. Mann, wird der wieder meckern, wegen der doofen Drei.«

»Mach einfach die Ohren zu und laß es über dich ergehen«, riet Wilma beruhigend. »Das habe ich auch immer gemacht, wenn meine Eltern stressig wurden. Glaube mir, eine Drei ist wirklich nicht schlecht. Sie ist gutes Mittelfeld, würde ich sagen.«

»Kannst du das meinem Papa einmal erzählen?« Rogers Blicke hefteten sich hoffnungsvoll auf Wilma, aber dann schüttelte er den Kopf. »Ach, der hört sowieso auf niemanden.«

Wilma beschloß, daß es höchste Zeit war zu gehen. Sicher machte sich die Haushälterin schon Sorgen wegen der Verspätung.

»Ich werde sehen, was sich machen läßt«, erwiderte sie lächelnd. »Nun schmeiß nicht gleich die Flinte ins Korn und laß den Kopf hängen. Komm, wir wollen gehen. Ich fange allmählich unter diesem Glasdach an zu kochen.«

Gehorsam stand Roger auf. Man sah ihm an, daß er sich nicht auf sein Zuhause freute. Aber er trottete artig neben Wilmas Rad her und machte keinen Versuch, den Heimweg in die Länge zu ziehen.

Vor Wilmas Haus verabschiedeten sich die beiden frischgebackenen Freunde. Wilma wartete noch, bis Roger in der Nachbarvilla verschwunden war, dann nahm sie den schweren Einkaufskorb vom Gepäckträger und schleppte ihn in die Diele.

*

Das Wasser im Pool glitzerte lockend, aber Clarissa verzichtete auf den Genuß, um nicht die Mühen des Beautysalons zu verderben, der ihr Haar in stundenlanger Arbeit gewaschen, mit Packungen gepflegt, danach geföhnt und schließlich kunstvoll aufgesteckt hatte.

Den ganzen Vormittag hatte sie damit zugebracht, sich auf diesen Besuch vorzubereiten. Hugo hatte sie gebeten, sich nicht zu sehr zu stylen, also kamen die langen, falschen Fingernägel nicht in Frage. Auch nicht der schicke Glitterlack, den sie so liebte.

Statt dessen hatte die Maniküre die Nägel sorgfältig gefeilt und dann einen blaßrosé-farbenen Lack aufgetragen, der zu dem dezenten Lippenstift paßte, den die Kosmetikerin nach der üblichen Gesichtsreinigung und dem übrigen Zinnober, der dazu gehörte, aufgetragen hatte.

Wegen der Hitze trug Clarissa ein leichtes Trägerkleid, das die Schultern und das Dekolleté freiließ. Die Farben waren ebenso dezent wie das Make-up. Eine ungewöhnliche Kombination, in der Clarissa sich fremd vorkam. Aber was tat man nicht alles, um einen reichen Mann zu angeln!

Sogar auf das geliebte Bad im Pool verzichten, obwohl sich Clarissa schrecklich erhitzt fühlte und sich nach dem erfrischenden Naß sehnte.

Hugo bemerkte ihre begehrlichen Blicke und schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Vergiß es, Schatz.« Er machte eine Handbewegung, die Clarissa bedeutete, sich im Kreis zu drehen. »Sehr hübsch«, stellte der Baron anschließend fest. »Ich denke, du hast haargenau den Geschmack des lieben Herrn Hartmann getroffen. Er mag keine aufgestylten, angemalten Püppchen. Und bitte, zeige heute etwas mehr Interesse an geschäftlichen Dingen. Auch solltest du freundlich zu seinem Sohn sein und ruhig durchschimmern lassen, daß deine Internatserziehung auch hausfrauliche Tätigkeiten beinhaltete.«

Clarissa verdrehte die Augen.

»Ja, Vater, mache ich.« Hugo ging ihr allmählich mit seinen Ratschlägen auf die Nerven. »Ich werde die brave, kleine Frau sein, die sich nichts Schöneres vorstellen kann, als Mann und Kinder zu versorgen.« Sie seufzte. »Aber nimm bitte zur Kenntnis, daß ich das deutliche Gefühl habe, Simon Hartmann macht sich generell nicht viel aus Frauen. Sei also nicht enttäuscht, wenn es mit uns nicht klappt.«

Hugo krauste besorgt die Stirn. Er zählte jetzt neunundfünfzig Jahre, und sein Herz war nicht mehr das beste. Es wurde höchste Zeit, daß er einen Nachfolger für sein Unternehmen fand, denn er hatte wahrlich keine Lust, an seinem Schreibtisch oder einer Befüllungsanlage sein Leben auszuhauchen.

Er hatte sich das alles schon genau ausgerechnet: Clarissa mußte mit spätestens fünfunddreißig Jahren unter der Haube sein. Da sie ein kleiner Hohlkopf war, der kaum eins und zwei zusammenzählen konnte, kam sie als Nachfolgerin nicht in Betracht. Sie mußte einen Mann finden, der die nötigen Qualifikationen mitbrachte und der andererseits reich genug war, sie nicht nur wegen des Geldes heiraten zu wollen.

Die Wahl war auf Simon Hartmann gefallen. Er war reich, besaß hervorragende Führungsqualitäten, war ein knallharter, gewiefter Geschäftsmann und würde es mühelos schaffen, beide Unternehmen zusammenzufassen und zu noch größeren Erfolgen zu führen.

Mit Simon Hartmann als Schwiegersohn an der Spitze, konnte Hugo sich sofort auf das Altenteil zurückziehen und die letzten Jahre seines Lebens genießen. In seinen Träumen sah er sich schon auf seiner Luxusyacht, die er nie nutzte, weil ihm das Unternehmen keine Zeit für längere Segeltörns ließ.

Er brannte also regelrecht darauf, seine Tochter mit Simon zu verbandeln. Der Gedanke, daß sein wunderschöner Plan nicht aufgehen könnte, versetzte den guten Hugo regelrecht in Panik.

»Dann gib dir Mühe«, schnappte er gereizt. »Ich weiß es genau. Wenn du willst, kannst du jedem Mann den Kopf verdrehen. Also will gefälligst.«

»Ist ja gut, Daddy.« Clarissa grinste hämisch, weil sie wußte, daß Hugo es haßte, wenn sie ihn »Daddy« nannte. »Wann fahren wir?«

Hugo warf einen Blick auf seine goldene Armbanduhr, dann machte er kehrt.

»Ich gehe mich umziehen«, erklärte er, während er auf die Terrassentür zuging. »Leg’ bitte noch die hübsche Perlenkette um, die ich dir zum letzten Geburtstag geschenkt habe.«

Clarissa verdrehte erneut die Augen, was Hugo allerdings nicht sehen konnte.

»Ja, Papa«, sagte sie artig, wobei sie einen spöttischen Knicks vollführte.

Hugo war zufrieden. Er ahnte nicht, daß seine Tochter ihm hinter seinem Rücken die Zunge herausstreckte.

*

Roger hob schnuppernd die Nase, als er die geräumige Diele betrat. Er hatte richtig vermutet. Es roch nach Karotteneintopf mit Steckrüben und Majoran. Igitt! Wenn Roger etwas noch mehr haßte als Karotten, dann waren es Steckrüben.

Sein Vater liebte hingegen alle Arten von Wurzelgemüse. Deshalb hatte Frau Kleintrecht in der letzten Herbst/Wintersaison kiloweise Steckrüben eingefroren, damit der Hausherr auch im Frühjahr und Sommer seine geliebten Rüben essen konnte.

Roger hegte den Verdacht, daß der gesamte Froster im Keller mit diesem Ekelzeug vollgestopft war.

»Roger?« Marga Kleintrecht klapperte mit Topfdeckeln und Besteck, während sie nach dem Jungen rief. »Roger, bist du es?«

Der Junge verzog das Gesicht. »Ja.« Es klang lahm.

»Na, Gott sei dank!« Marga hörte auf, mit dem Kochgeschirr zu klappern. »Geh’ nur schnell und wasch’ dir die Hände. Dein Vater wartet im Eßzimmer auf dich. Du weißt, daß er es haßt, wenn du zu spät kommst.«

»Noch dazu, wo wir heute Besuch erwarten«, fügte sie seufzend hinzu, worauf Roger das Gesicht verzog.

Sein Papa führte ein sehr zurückgezogenes Leben, und die wenigen Bekannten, die er hatte, waren allesamt scheußlich langweilig und sprachen eigentlich immer bloß über ihre Geschäfte.

»Wer kommt denn?«

»Was weiß ich.« Marga hob die Schultern. »Nun mach schon, Junge, deine Langweiligkeit macht mich ganz kribbelig.«

Kopfschüttelnd sah die Haushälterin zu, wie Roger ächzend wie ein alter Mann seinen Schulranzen neben dem Garderobenschrank abstellte und ins Badezimmer schlich.

Simon Hartmann war ein gutaussehender Mann, der seine Gefühle hinter einem zur Maske erstarrten Gesicht versteckte.