E-Book 1948-1957 - Diverse Autoren - E-Book

E-Book 1948-1957 E-Book

Diverse Autoren

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. E-Book 1: Jan muß nicht mehr traurig sein E-Book 2: Adoptiertes Glück E-Book 3: Wir haben einen großen Bruder E-Book 4: Der verlorene Zwilling E-Book 5: Lieb und lustig – doch ohne Vater E-Book 6: Ich bin dein großer Bruder E-Book 7: Bald kannst du wieder spielen E-Book 8: Das Kind seines Bruders E-Book 9: David und Oliver – nie mehr getrennt? E-Book 10: Peter, der Stolz seines Vaters

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Inhalt

Jan muß nicht mehr traurig sein

Adoptiertes Glück

Wir haben einen großen Bruder

Der verlorene Zwilling

Lieb und lustig – doch ohne Vater

Ich bin dein großer Bruder

Bald kannst du wieder spielen

Das Kind seines Bruders

David und Oliver – nie mehr getrennt?

Peter, der Stolz seines Vaters

Mami – Staffel 23 –

E-Book 1948-1957

Diverse Autoren

Jan muß nicht mehr traurig sein

Elke tut alles für das einsame Kind

Roman von Simon, Lisa

Karin Gebhard schloß die Augen und hielt ihr Gesicht den warmen Sonnenstrahlen entgegen. Dabei sagte sie seufzend: »Ihr lebt hier wirklich wie im Paradies. Beneidenswert!«

Elke Carlson schenkte ihrer Schwester Kaffee nach. Karin und ihr Mann Peter besuchten die Carlsons oft am Wochenende. Und während die beiden Männer im Wohnzimmer ein Fußballspiel im Fernsehen verfolgten, hatten es sich die Schwestern auf der Terrasse des schmucken Einfamilienhauses gemütlich gemacht.

»Uns fehlt zum wunschlosen Glücklichsein nur noch ein Kind.« Elke setzte sich wieder. »Heiner und ich rufen wöchentlich beim Jugendamt an, aber wir werden immer wieder vertröstet – das geht schon über ein Jahr so.«

Karin schüttelte ungläubig den Kopf. »Das begreife ich nicht. Ihr könnt einem Kind doch alles bieten, was man sich nur erträumen kann. Und die Waisenhäuser sind voller armer Würmchen, die sich nichts sehnlicher wünschen als Eltern, die sie lieben.«

»Dieses Argument haben wir bereits vorgebracht. Aber da hieß es, daß die meisten Kinder in den Heimen gar nicht zur Adoption freigegeben sind«, erwiderte Elke niedergeschlagen und betrachtete nachdenklich ihre Hände. »Dabei haben wir sogar zugestimmt, auch ein Kind nur in Pflege zu nehmen.«

Karin warf ihrer Schwester einen erstaunten Blick über den Rand ihrer Tasse zu. »Davon würde ich lieber die Finger lassen. Kaum habt ihr euch an ein Kind gewöhnt, wird es euch wieder entrissen, weil die leiblichen Eltern es zurück haben wollen.«

Elke stöhnte leise auf. »Mit diesem Risiko müssen Heiner und ich halt leben. Doch der Wunsch nach einem Kind ist größer als die Angst, es wieder herzugeben.«

Mitfühlend strich Karin über Elkes Arm. »Sind sich die Ärzte denn hundertprozentig sicher, daß du keine eigenen Kinder bekommen kannst?«

Elke senkte den Kopf und spürte heiße Tränen aufsteigen. Mit erstickter Stimme sagte sie: »Ich bin jahrelang von einem Arzt zum anderen gehetzt – doch alle sind sich einig, daß ich niemals Mutter werden kann. Du hast es gut, wenn ihr euch ein Baby wünscht, dann bekommt ihr eben eines.«

»Vorausgesetzt, Peter gibt seine Zustimmung. Bisher war darüber nicht mit ihm zu reden.« Karin warf einen schnellen Blick durch die geöffnete Terrassentür ins Wohnzimmer hinein. Doch die Männer waren so in das Spiel vertieft, daß sie ihre Frauen zu vergessen haben schienen. »Ich möchte schon gern ein Kind haben, aber Peter hat natürlich recht. Wir sind beide den ganzen Tag im Geschäft eingespannt, eine Verkäuferin können wir uns im Augenblick noch nicht leisten, die mich vertreten könnte. Und dann die kleine Wohnung über dem Laden mit Blick auf die Hauptstraße – ich glaube nicht, daß dies alles ideal für ein Kind ist.«

Karin und Peter Gebhard hatten ein halbes Jahr zuvor ein Lampengeschäft mitten in der Innenstadt eröffnet. Noch lief es nicht so gut, wie die beiden es sich erträumten.

Elke fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Nun, eines Tages könnt ihr eine Kraft einstellen, und dann darfst du dein Baby bekommen. Du kannst dir zumindest Hoffnung auf ein eigenes Kind machen…«

Erschrocken zuckten die beiden Frauen zusammen, als unvermittelt aus dem Wohnzimmer zweistimmiges Jauchzen zu hören war. Anscheinend war gerade ein Tor gefallen.

»Bitte erwähne Heiner gegenüber nichts von meiner Traurigkeit«, bat Elke schließlich leise. »Er leidet ebenso wie ich unter unserer Kinderlosigkeit, doch wir versuchen beide ständig, unseren Schmerz darüber voreinander zu überspielen.«

»Kein Wort werde ich sagen«, versprach Karin. »Aber vergiß nicht, daß bei einem Pflegekind, das euch wieder fortgenommen wird, euer Schmerz noch schlimmer sein kann, als er es jetzt ist.«

Elke fegte mit einer raschen Handbewegung einige Kuchenkrümel von der Tischdecke. Sie hatte sich wieder einigermaßen unter Kontrolle. »Darüber können sich Heiner und ich Gedanken machen, wenn es soweit ist. Doch wie es aussieht, werden wir noch nicht einmal ein Pflegekind bekommen.«

»Aber die Leute vom Jugendamt haben sich doch euer Haus gründlich angesehen«, bemerkte Karin und machte eine umfassende Handbewegung. »Das Kind bekommt nicht nur liebevolle Eltern, sondern darf in diesem wunderschönen Garten spielen, es hat ein helles Zimmer ganz für sich alleine – und Heiner verdient als Ingenieur einen Haufen Geld. Woran kann es denn hapern, daß man euch keine Pflegschaft übertragen will?«

Elke hob die Schultern. »Wenn ich das nur wüßte. Vielleicht machen Heiner und ich bei der zuständigen Beamtin keinen guten Eindruck.«

»Ich bitte dich!« rief Karin entrüstet. »Noch seriöser als ihr kann ein Ehepaar doch gar nicht sein!«

»Na, ihr beiden Hübschen?« Heiner trat hinaus auf die Terrasse und beugte sich über seine Frau. »Habt ihr euch gut unterhalten?«

»Und wie«, gab Karin zurück. »Mindestens so gut wie ihr.«

Elke erwiderte Heiners zärtlichen Kuß. »Was nicht zu überhören war.«

»Immerhin hat unsere Mannschaft das entscheidende Tor geschossen.« Auch Peter war hinaus gekommen und setzte sich an den Tisch. »Und das bedeutet, daß ihre Teilnahme bei der nächsten Weltmeisterschaft gesichert ist!«

Karin stöhnte auf. »Eure Sorgen möchte ich haben.«

Den Rest des Sonntag nachmittags wurde über belanglose Dinge geredet.

*

Frustriert stellte Elke den Staubsauger zurück in den Haushaltsraum. Es war gerade neun Uhr morgens, und sie war bereits mit der Hausarbeit fertig. Heiner arbeitete an einem neuen Brückenobjekt und würde erst am späten Abend zurückkommen.

Elke schlenderte in den großen Wohnraum und blickte sich unschlüssig um. Als sie und Heiner vor drei Jahren ihr Haus bezogen hatten, hatten sie es gemütlich eingerichtet. Der Fußboden des Wohnzimmers war mit schneeweißen Kacheln gefliest, das Mobiliar sah edel aus, und es gab sogar einen richtigen Kamin.

Flüchtig dachte Elke daran, daß man ein spezielles Schutzgitter dort aufstellen sollte, wenn sie ein Kind hatten – doch dann verwarf sie den Gedanken schnell wieder. Niemals würde in diesen stillen Räumen fröhliches Kinderlachen hallen, niemals in dem liebevoll eingerichteten Kinderzimmer im oberen Stockwerk ein kleines Mädchen oder ein kleiner Junge begeistert spielen und abends zufrieden ins Bettchen sinken.

Elkes Blick fiel hinaus in den sonnendurchfluteten Garten. Heiner hatte beschlossen, dort auf dem gepflegten Rasen einen Sandkasten zu bauen – falls jemals ein Kind Einzug in das Haus der Carlsons halten würde.

Wieder spürte Elke Tränen aufsteigen, wie so oft in letzter Zeit. Warum nur gab man ihr keine Chance zu beweisen, daß sie eine gute Mutter sein konnte?

Kurz entschlossen griff sie zum Telefonhörer und wählte die Nummer des Jugendamtes, die sie bereits auswendig kannte. Helga Siegmann, die zuständige Beamtin, war sofort am Apparat.

»Guten Morgen, Frau Carlson«, sagte sie in ihrer freundlichen Art. »Was kann ich für Sie tun?«

Elke schluckte, bevor sie erwiderte: »Dasselbe wie immer…«

Sie hörte die andere seufzen. »Aber Sie wissen doch, daß wir Sie benachrichtigen, wenn wir ein passendes Kind für Sie haben.«

»Sie müssen mich für sehr aufdringlich halten.« Elkes Stimme klang verlegen. »Doch ich kann kaum noch schlafen vor innerer Anspannung.«

»Das verstehe ich sehr gut – den meisten Ehepaaren geht es ähnlich, die ein Kind adoptieren möchten. Doch ich kann Ihnen nur immer wieder sagen, daß Sie Geduld haben müssen, und zwar sehr viel Geduld.«

Enttäuscht legte Elke auf. Sie hatte zwar nichts anderes erwartet, doch im Innersten hatte sie wie stets gehofft, daß gerade in dem Moment, wenn sie bei Frau Siegmann anrief, ein Kind zur Adoption freigegeben wurde.

*

»Du bist so merkwürdig still«, sagte Heiner am Abend. »Bekommt dir die frühsommerliche Wärme nicht?«

Elke stand auf und räumte den Eßtisch ab. Wie jeden Tag hatte sie erst spät gekocht, damit Heiner seine warme Mahlzeit bekam.

»Mit der Wärme kann ich hervorragend umgehen«, sagte sie leise. »Aber nicht mit der Tatsache, daß es angeblich kein Kind gibt, das wir zu uns nehmen können.«

Zwischen Heiners Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. »Hast du etwa schon wieder beim Jugendamt angerufen? Du weißt doch, daß sie uns benachrichtigen werden, wenn sich etwas ergibt.«

Sie ließ sich zurück auf den Stuhl fallen und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich fühle.«

Heiner beugte sich über den Tisch und strich seiner Frau mit einer zärtlichen Geste über das Haar. »O doch, ich kann mir sehr gut vorstellen, wie sehr du unter den Umständen leidest. Glaubst du, mir geht es besser?«

»Aber du kannst dich wenigstens mit deiner Arbeit ablenken«, gab sie schroff zurück. »Du kommst sicherlich nicht so oft ins Grübeln wie ich.«

Er nickte verständnisvoll. »Da hast du allerdings recht. Den ganzen Tag über muß ich mich auf meine Arbeit konzentrieren, erst nach Feierabend setzt mein privates Denken wieder ein.«

»Siehst du, genau das meine ich. Wenn ich nur etwas Ablenkung hätte, würde es mir bestimmt bessergehen.« Sie erhob sich erneut, um das restliche Geschirr auf das Tablett zu stellen. »Ich hätte meine Arbeit eben doch nicht aufgeben sollen.«

Heiner hob erstaunt den Kopf. »Ich dachte immer, daß dir die Stelle im Büro keinen Spaß gemacht hat.«

»Das hat sie auch nicht.« Sie lächelte lahm. »Aber immerhin würde ich dann nicht den ganzen lieben langen Tag hier in diesem großen, stillen Haus sitzen und mich ununterbrochen fragen, warum ausgerechnet ich kein Kind bekommen kann.«

Bestürzt sprang Heiner auf und umarmte seine zierliche Frau. »Ich wußte nicht, daß du an nichts anderes denken kannst. Weißt du was? Wir werden verreisen, das wird dich schnell auf andere Gedanken bringen.«

»Verreisen? Wohin denn?«

Er zuckte mit den Achseln. »Das darfst du entscheiden. Am besten, du holst dir gleich morgen Reisekataloge und suchst dir etwas Hübsches aus.«

»Ich denke, du bekommst im Moment keinen Urlaub?« sagte sie verwirrt.

Er winkte lässig ab. »Ich hatte seit fast zwei Jahren keinen Urlaub, nun müssen sie eben sehen, wie sie ein paar Wochen ohne mich zurecht kommen.«

In Elkes traurigen Augen erschien ein freudiges Aufleuchten. »Das wäre schön, endlich einmal gemeinsam verreisen zu können.«

Im letzten Jahr hatte sie allein ihre Eltern besucht, die auf einer Insel im Bodensee lebten – doch ein richtiger Urlaub war dies natürlich nicht gewesen.

*

Bereits zwei Wochen später waren die Koffer für einen dreiwöchigen Urlaub in Griechenland gepackt. Für den Augenblick war Elkes Kummer der Freude über die Reise gewichen.

Einen Tag vor der Abreise besuchte Elke ihre Schwester. Es war um die Mittagszeit, und so konnte sich Karin eine Stunde vom Geschäft loseisen.

»Wir werden uns die nächsten Jahre wohl kaum einen Urlaub leisten können«, sagte Karin und stellte die Kaffeemaschine an. »Aber ich gönne dir die Wochen in Griechenland. Etwas Farbe würde dir bestimmt gutstehen.«

Elke lachte. »Du vergißt, daß ich sehr viel im Garten bin, aber meine helle Haut nimmt leider kaum Bräune an.«

Während Karin kräftiges,

dunkles Haar hatte, das sie modisch kurz geschnitten trug, war ihre Schwester blond, helläugig und zart gebaut.

Bewußt vermied Karin zu fragen, ob sich etwas wegen einer Adoption oder Pflegschaft ergeben hatte. Elke sah zum ersten Mal seit langer Zeit glücklich aus, und diesen Zustand wollte Karin nicht durch eine unüberlegte Bemerkung zerstören.

»Hoffentlich vergißt du nicht, mir eine Ansichtskarte zu schreiben«, sagte sie statt dessen und stellte Kaffeetassen auf den Küchentisch. »Wie gerne würde ich dich begleiten.«

Elke schmunzelte. »Dann komm doch einfach mit.«

»Das würde wohl weder Peter noch Heiner in den Kram passen!« ging Karin auf den lockeren Ton ihrer Schwester ein. »Peter kann unmöglich das Geschäft ganz allein führen, und es für eine Weile zu schließen, können wir uns eben nicht leisten.«

Elke nickte. »Ich bin sicher, im nächsten Jahr seid ihr aus den roten Zahlen heraus und könnt euch einen Urlaub gönnen.«

»Deinen Optimismus möchte ich haben«, erwiderte Karin grinsend und wurde sofort wieder ernst. »Manchmal frage ich mich, ob es wirklich eine gute Idee war, diesen Laden zu eröffnen. Bisher übersteigen die Ausgaben immer noch die Einnahmen – wenn ich nur an die hohe Miete oder die Steuern denke…«

Elke blickte betroffen zur Seite. Nicht nur sie hatte Sorgen, und sie nahm sich vor, in Zukunft der Schwester weniger oft ihr eigenes Leid zu klagen.

*

Heiner kümmerte sich rührend um seine Frau und richtete sich ganz nach ihren Wünschen. Wollte sie an den Strand gehen, so willigte er ebenso schnell ein wie bei einem Einkaufsbummel oder einem faulen Tag am Swimmingpool des Hotels.

Zu ihrem eigenen Erstaunen hatte Elkes empfindliche Haut bereits nach wenigen Tagen eine sanfte Bräune angenommen, die ihrem Äußeren einen reizvollen Anstrich gab. Ihr naturblondes, mittellanges Haar schien noch heller geworden zu sein.

Mit Zufriedenheit bemerkte Heiner die Gelöstheit seiner Frau. Es schien fast, als hätte sie allen Kummer zu Hause gelassen, sie aß mit großem Appetit und hatte sogar etwas zugenommen.

Heiner warf ihr ängstliche Blicke zu, sowie sich ein Kind näherte, doch zu seiner Erleichterung verdunkelten sich nicht wie daheim jedesmal ihre Züge.

Am Abend vor der Heimreise saß das Ehepaar auf dem kleinen Balkon des Hotelzimmers, von dem man einen atemberaubenden Blick hinaus aufs Meer hatte.

»Am liebsten würde ich hier bleiben«, sagte Elke seufzend und hob ihr Weinglas. »Ich werde den salzigen Geruch des Meeres vermissen.«

»Und ich den guten Wein«, gab Heiner schmunzelnd zurück und hob sein Glas. »Mir haben die letzten Wochen auch sehr gut getan.«

Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf das Meer. Die Sonne stand tief am Horizont und mußte bald untergehen. Diesen Anblick würde sie nie im Leben vergessen.

Doch dann mußte sie fast widerwillig an den grauen Alltag im fernen Deutschland denken – und zum ersten Mal, seitdem sie in Griechenland war, fühlte sie wieder einen leichten Schmerz in der Brust. Es würde nicht lange dauern, bis ihr ganzes Denken wieder von dem Wunsch nach einem Kind eingenommen wurde.

*

»Du meine Güte«, stöhnte Heiner, als er den Postberg auf dem kleinen Tischchen im Flur bemerkte, und stellte die Koffer ab. Eine Nachbarin hatte während der Abwesenheit der Carlsons nicht nur den Garten und die Zimmerpflanzen versorgt, sondern auch täglich den Briefkasten geleert.

»Ist etwas Besonderes dabei?« fragte Elke ohne großes Interesse und begann, die Fenster zu öffnen, denn im gesamten Haus befand sich abgestandene, stickige Luft.

Flüchtig blätterte Heiner die Post durch. »Jede Menge Werbung, einige Rechnungen und…« Er stockte. Er hielt einen Brief des Jugendamtes in der Hand und zögerte. Gab es eine gute oder eine niederschmetternde Nachricht?

Vorsichtig blickte Heiner auf. Doch Elke war bereits in die Küche gegangen und hatte sein Zögern offensichtlich nicht bemerkt. Ratlos drehte er das schmale Kuvert in den Händen, die unkontrolliert zu zittern begonnen hatten.

Kurz entschlossen steckte er schließlich den Brief in seine Hosentasche. Noch war Elke in Urlaubsstimmung, und er brachte es einfach nicht übers Herz, sie so schnell zu ernüchtern.

»Ich höre mal den Anrufbeantworter ab!« rief sie. »Wie es scheint, wollten während unserer Abwesenheit einige Leute etwas von uns.«

»Eine gute Idee«, murmelte Heiner und griff sich einen der Koffer. »Ich bringe derweil das Gepäck nach oben.«

Er hatte kaum die Treppe erreicht, als ihn Elkes Schrei herumfahren ließ. Mit wenigen Sätzen war er im Wohnzimmer, wo seine Frau mit leichenblasser Miene den Anrufbeantworter anstarrte, als wäre er ein widerliches Insekt.

»Um Gottes willen, Elke!« rief Heiner entsetzt und stürzte auf sie zu. »Was ist denn nur geschehen?«

Sie wandte ihm schließlich das Gesicht zu und erwiderte mit ungläubigem Unterton: »Frau Siegmann möchte uns sprechen, Heiner. Es sieht aus, als ob wir bald ein Kind bekommen könnten…«

Er riß sie ungestüm an sich und jubelte: »Ich habe gewußt, daß sie uns nicht vergißt!«

Unter Tränen lachte Elke. »Ich kann es noch gar nicht glauben. Gleich morgen früh gehen wir zum Jugendamt, ja?«

Auch ihm standen Tränen in den Augen. Er nickte und zog den Brief aus der Hosentasche. »Der war in der Post. Sicherlich ist es die schriftliche Bestätigung, daß wir ein Kind adoptieren können.«

Tatsächlich hatte Helga Siegmann den Carlsons geschrieben, daß man ihnen endlich helfen konnte.

*

»Ich dachte schon, daß Ihr Interesse inzwischen erloschen wäre«, sagte die Beamtin lächelnd. »Ich konnte ja nicht ahnen, daß Sie verreist waren.«

Elke knetete nervös ihre Hände. »Entschuldigen Sie, daß wir uns nicht vorher abgemeldet haben.«

Helga Siegmann lachte. »Ich bitte Sie, wir sind hier doch nicht beim Arbeitsamt!« Sie griff nach einem dunkelblauen Aktendeckel und fügte hinzu. »Als ich diesen Fall auf den Tisch bekam, mußte ich sofort an Sie denken.«

Elkes Herz schlug mittlerweile bis zum Hals, und auch Heiner stand die Anspannung ins Gesicht geschrieben.

»Es geht um den zweijährigen Jan Rust«, erklärte die Beamtin. »Er lebt seit seiner Geburt im Waisenhaus, weil seine Mutter sich nicht um ihn kümmern

will.«

Heiner räusperte sich. »Warum läßt man solch ein kleines Kind so lange im Heim, anstatt ihm gleich ein neues Zuhause zu geben?«

»Ihre Frage ist verständlich«, gab Helga Siegmann zurück. »In diesem Fall allerdings hatte Saskia Rust, die Mutter des Kleinen, immer wieder versprochen, ihren Sohn zu sich zu nehmen, sowie sie genügend Geld verdient. Sie ist nach eigenen Angaben eine talentierte Schauspielerin, doch mir ist bekannt, daß sie bei nicht mehr als einigen belanglosen Werbespots mitgewirkt hat.«

»Und jetzt gibt sie das Kind freiwillig zur Adoption frei?« fragte Elke mit belegter Stimme. »Warum so plötzlich?«

Helga Siegmann holte tief Luft. »Von einer Adoption kann augenblicklich noch keine Rede sein. Nur auf Drängen des Jugendamtes hat Frau Rust sich inzwischen einverstanden erklärt, Jan zunächst einer Pflegefamilie zu überlassen.«

»Dann wäre es also durchaus möglich, daß die Mutter den Jungen eines Tages für sich beansprucht?« fragte Heiner atemlos. »Kann sie das so einfach machen?«

»Theoretisch schon, aber ganz einfach wird es für sie nicht werden. Immerhin reißt man ein Kind nicht ohne weiteres aus einer Pflegefamilie, wo es sich geborgen und wohl fühlt.«

Heiner und Elke warfen sich einen zweifelnden Seitenblick zu, den die Beamtin sofort richtig deutete.

»Ich kann mir bei Frau Rust beim besten Willen nicht vorstellen, daß sie ihren Sohn zurück haben möchte – das hat sie ja bewiesen, indem sie ihn sein ganzes bisheriges Leben im Heim gelassen hat.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich gehe sogar davon aus, daß sie eines Tages in die Adoption einwilligen wird – allerdings kann ich Ihnen da nichts versprechen.«

Elke schluckte hart. »Natürlich nicht, Sie hatten uns ja bereits darauf hingewiesen, daß es Schwierigkeiten bei einem Kind gibt, für das man nur die Pflegschaft übernommen hat.«

Heiner griff nach der Hand seiner Frau und drückte sie sanft. »Zunächst kommt der Kleine erst einmal zu uns. Ich bin sicher, er wird sich bei uns wohl fühlen.«

Elke nickte voller Begeisterung. »Wann können wir Jan aus dem Heim holen?«

Helga Siegmann blickte in ihre Unterlagen und sagte dann. »Ich schlage Ihnen vor, den Steppke erst einmal zu besuchen. Jan ist noch sehr klein und kennt nichts anderes als die anderen Kinder und das Personal im Waisenhaus. Eine krasse Umstellung könnte ihn verunsichern, doch wenn er sich erst einmal an ihre Gesichter gewöhnt hat, können Sie ihn endgültig zu sich nehmen.«

Noch immer konnte Elke kaum glauben, daß ihr Traum in Erfüllung gehen sollte. »Dürfen wir ihn noch heute besuchen?«

»Wenn Sie sich eine halbe Stunde gedulden können, bringe ich Sie gern ins Waisenhaus.«

*

Jan saß in seinem Gitterbettchen und spielte mit einem Teddy, der schon bessere Tage gesehen hatte. Der Anblick des kleinen strohblonden Jungen, der sich da einsam mit seinem offensichtlich einzigen Spielzeug beschäftigte, rührte Elke so sehr, daß sie beinahe aufgeschluchzt hätte.

»Jan ist eines unserer artigsten Kinder«, erklärte die Pflegerin und strich dem Jungen, der nun neugierig die fremden Menschen an seinem Bett aus himmelblauen Augen musterte, über das lockige Haar. »Er spielt stundenlang für sich alleine, ohne ungeduldig zu werden.«

Wie auf Kommando begann Jan zu lächeln und zeigte dabei seine winzigen Milchzähne. Elke hatte den Kleinen bereits in ihr Herz geschlossen, und auch Heiner schien über seinen zukünftigen Pflegesohn glücklich zu sein.

Die Pflegerin hob Jan aus dem Bettchen und übergab ihn an Elke. »So, dies sind deine neuen Eltern, mein Kleiner.«

Jan blickte einen Augenblick erstaunt, dann lachte er wieder und schmiegte sein Köpfchen an Elkes Schulter.

»Es scheint, als hätte er genau verstanden, was Sie gesagt haben«, sagte Heiner mit einer ihm fremden Heiserkeit in der Stimme. »Können wir ihn denn nicht schon heute mitnehmen?«

»Lieber nicht«, mischte sich Helga Siegmann ein, die bisher beobachtend abseits gestanden hatte. »Ich hatte Ihnen ja bereits erklärt, daß der abrupte Wechsel für Jan nicht gut wäre.«

Elke konnte nicht anders, sie hauchte dem Jungen, der noch immer voller Vertrauen an ihrer Schulter lag, einen Kuß auf den Scheitel. Dabei sagte sie leise: »Hauptsache, wir können ihn bald abholen, Heiner.«

Der nickte schließlich und lenkte ein. »Wir haben ja auch noch gar nichts für den Kleinen vorbereitet – Kleidung, Spielzeug, Nahrung und so weiter…«

»Jan braucht keine spezielle Nahrung«, warf die Pflegerin ein, die inzwischen das Laken in seinem Bettchen glatt gezogen hatte. »Er hat einen guten Appetit und ißt alles, was auf den Tisch kommt.«

Bevor sich die Carlsons schweren Herzens von Jan verabschieden mußten, bestand Heiner darauf, den Jungen auch einmal auf den Arm zu nehmen. Auch an ihn klammerte sich der Kleine fest, als wollte er nie wieder heruntergelassen werden.

Ergriffen standen Heiner und Elke wenig später wieder auf dem Parkplatz vor dem Waisenhaus. Helga Siegmann wußte, daß sich Jan Rust keine besseren Pflegeeltern wünschen konnte.

Elke reichte der Beamtin mit einem warmen Lächeln die Hand. »Ich danke Ihnen für all Ihre Mühe, Frau Siegmann. Wenn Sie wüßten, welche große Freude Sie meinem Mann und mir machen, daß wir Jan zu uns nehmen dürfen.«

Die andere erwiderte das Lächeln. »Ich tu nur meine Pflicht, doch ich muß zugeben, daß auch ich jedesmal erleichtert bin, wenn ich ein Kind an ein passendes Ehepaar vermitteln konnte.«

»Sitzt Jan etwa den ganzen Tag in diesem Gitterbettchen?« fragte Heiner zögernd. »Ich habe keines der kleineren Kinder herumlaufen sehen.«

Helga Siegmann nestelte verlegen an ihrem Autoschlüssel. »Tja, wissen Sie, so etwas werde ich oft gefragt – und wenn ich dann mit ja antworte, ernte ich nur vorwurfsvolle Blicke. Doch es sind nicht genügend Pflegerinnen da, die sich um die kleineren Kinder kümmern könnten. In diesem Alter müssen sie doch noch ständig beaufsichtigt werden, und daher sind sie am besten in ihrem Bettchen aufgehoben.«

Elke fror plötzlich trotz der sommerlichen Wärme, und sie sagte kaum hörbar: »Ein furchtbarer Gedanke. Am liebsten würde ich all diese armen Würmchen aus dem Heim holen.«

»Ich denke, mit der Aufnahme von Jan haben Sie bereits ein gutes Werk getan.« Die Beamtin lächelte aufmunternd. »Wie ich sehen konnte, scheint er Sie beide genauso zu mögen wie Sie ihn, die Gewöhnungsphase wird daher nicht allzu lange dauern. Rechnen Sie damit, daß Sie Jan in ein bis zwei Wochen abholen können.«

*

Noch am selben Tag kauften Elke und Heiner Carlson für den Nachwuchs ein. Die Auswahl an Kleidung für Zweijährige war so überwältigend, daß Elke lange hin- und herüberlegte, was Jan wohl am besten stehen würde.

Als sie schließlich die Kinderboutique wieder verließen, sagte Heiner lachend: »Das reicht für eine ganze Fußballmannschaft!«

»Ach, laß mich doch.« Elke zwinkerte ihm zu. »So schnell werden wir nie wieder Eltern.«

Er nickte. »Stimmt. Wenn wir die Einkaufstüten im Auto verstaut haben, müssen wir noch Spielsachen für Jan kaufen.«

Elke ging wie auf Wolken. Nun blickte sie nicht mehr traurig zur Seite, wenn sie eine junge Mutter mit ihrem Sprößling sah, sondern strahlte sie wie eine Verbündete an.

»Ich möchte gern eine elektrische Eisenbahn für meinen Sohn kaufen«, verkündete Heiner stolz dem Verkäufer im Spielwarengeschäft. »Es soll etwas ganz Besonderes sein.«

»Wie alt ist denn Ihr Sohn?«

»Zwei Jahre«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück.

Der Verkäufer lächelte amüsiert. »Dann wäre wohl eine Eisenbahn aus Holz angebrachter.«

Elke wandte sich schmunzelnd ab. Es war schon immer Heiners Traum gewesen, mit seinem Sohn vor einer elektrischen Eisenbahn zu sitzen und ihm geduldig alles zu erklären.

»Nun, wenn Sie meinen…« Heiner blickte unsicher zu seiner Frau hinüber, die ihm zunickte, »… dann nehmen wir eben eine Eisenbahn aus Holz – ist ja auch nicht schlecht.«

Dazu kamen noch etliche Plüschtiere, Bauklötze, eine Spieluhr und vieles andere, was jedes Kinderherz höher schlagen lassen mußte.

»Ich wußte gar nicht, daß Einkaufen so anstrengend ist«, sagte Heiner, als er erschöpft in den Autositz sank. »Bist du sicher, daß wir auch nichts vergessen haben?«

Elke befestigte den Sitzgurt. »Nein, aber wenn mir noch etwas einfällt, können wir es immer noch besorgen. Wie gut, daß du noch Urlaub hast.«

»Hoffentlich so lange, bis wir den Kleinen ganz bekommen.« Er startete den Motor. »Ich möchte Jan nämlich nicht nur schlafend sehen.«

Sie seufzte wohlig. »Ich habe nie ein reizenderes Kind als den Kleinen gesehen. So einen Jungen habe ich mir immer gewünscht.«

»Hm, er hat mit seiner hellen Hautfarbe und den blonden Haaren sogar etwas Ähnlichkeit mit dir, finde ich.« Er lächelte sanft. »Aber ich hätte auch jedes andere Kind in diesem gräßlichen Schlafsaal genommen.«

»Ja, ich auch. Glaubst du, daß Jans leibliche Mutter ihn nicht wiederhaben will?«

Sicher war Heiner nicht, doch er sagte betont fröhlich: »Du hast doch gehört, was Frau Siegmann über Jans Mutter gesagt hat. Sie hat sich bisher nicht um ihn kümmern können und wird es aller Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft nicht tun.«

»Ich frage mich, welche Art von Schauspielerin sie wohl sein mag«, überlegte Elke laut. »Sehr talentiert scheint sie nicht zu sein, denn sonst würde sie bessere Rollen als in Werbefilmchen bekommen.«

Heiner nickte. »Eben. Aus diesem Grunde müssen wir uns bestimmt keine Sorgen machen, daß wir die Pflegschaft für Jan wieder verlieren könnten. Und vielleicht wird er sogar bald unseren Nachnamen tragen.«

»Das wäre schön.« Elke schloß verträumt die Augen. »Karin und Peter werden Augen machen, wenn wir es ihnen heute abend erzählen.«

Sie hatte ihre Schwester am Morgen nur kurz angerufen und erwähnt, daß sie etwas Dringendes zu erledigen hätte und daher erst abends vorbeikommen und von ihrem Urlaub berichten wollten.

*

In der Tat staunten die beiden nicht schlecht, als Elke mit bewegter Stimme erzählte, daß sie ein Pflegekind bekommen sollten.

Gerührt umarmte Karin schließlich ihre Schwester und sagte: »Ich freue mich so für euch, und ich bin schon richtig gespannt auf meinen neuen Neffen.«

Peter öffnete zur Feier des Tages eine Flasche guten Wein und erklärte, daß er für Jans Zimmer eine Lampe stiften wollte. »Wir haben da vor einigen Tagen ganz reizende Kinderleuchten in Tierformen bekommen, ihr dürft euch aussuchen, was euch gefällt.«

»Das ist lieb von euch«, erwiderte Elke gerührt. »Jan freut sich bestimmt sehr.«

Eigentlich waren Heiner und sie wegen des Urlaubs gekommen, doch das Gespräch kreiste einzig und allein um den kleinen Jan. Elke mußte jede Einzelheit von dem niedlichen Jungen erzählen; vor allem Karin wollte alles ganz genau wissen.

»Jetzt gibt es noch etwas, um das ich euch beneide«, sagte sie mit einem schiefen Grinsen. »Ab sofort seid ihr eine Familie.«

»Bis wir die Adoptionspapiere unterschrieben haben, wage ich nicht aufzuatmen«, wandte Heiner ein. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, daß man uns Jan wieder fortnimmt, aber wenn sich die leibliche Mutter quer stellt, werden wir in ständiger Angst leben, daß sie den Kleinen doch selbst erziehen will.«

»Frau Siegmann hat aber gesagt, daß es nicht so leicht ist, uns den Jungen wieder fortzunehmen. Immerhin verfügt seine Mutter über kein geregeltes Einkommen und kann Jan überhaupt nicht ernähren.«

Karin hob spontan ihr Weinglas und prostete den anderen zu. »Und jetzt laßt uns nicht mehr über fragliche Ansprüche dieser Frau nachgrübeln, sondern auf euren Nachwuchs anstoßen!«

*

Als die Carlsons Jan am nächsten Tag wieder besuchten, erkannte dieser sie sofort und krähte fröhlich. Dabei hob er ungeduldig die Ärmchen, und Elke nahm ihn sofort aus seinem Bettchen.

Die Pflegerin schlug vor, mit dem Kleinen etwas spazierenzugehen, und so kam es, daß er wenig später auf seinen kurzen Beinchen zwischen seinen zukünftigen Eltern im nahen Stadtpark schlenderte.

Staunend blieb Jan vor jedem Strauch und jedem Baum stehen, als hätte er so etwas noch nie gesehen. Und obwohl der Kleine noch nicht verstehen konnte, was Elke ihm geduldig über die Natur erzählte, schien er andächtig zu lauschen.

»Er hat eine ganze Menge nachzuholen«, sagte Heiner, als sie wieder auf dem Heimweg waren. »Anfangs war ich wütend auf das Personal im Waisenhaus, aber vorhin konnte ich beobachten, daß die armen Pflegerinnen wirklich nicht wissen, was sie zuerst machen sollen.«

Elke war in Gedanken noch immer bei dem Spaziergang im Park. Mehrmals waren sie und Heiner von Passanten auf ihren süßen Sohn angesprochen worden, und Elke konnte kaum den nächsten Tag erwarten.

»Ich bin sicher, daß die Kinder im Heim nicht vernachlässigt werden«, fuhr Heiner fort, »zumindest nicht, was die Pflege und Fürsorge betrifft…«

»… aber ihnen fehlt ganz offensichtlich Liebe und Zuneigung«, ergänzte Elke. »Jan klammerte sich vorhin so fest an mich, daß ich ihn am liebsten sofort mitgenommen hätte.«

Er lachte. »Mir ging es genauso. Doch wir dürfen nichts überstürzen und müssen auf grünes Licht vom Jugendamt warten. Ich denke, unsere Geduld wird nicht mehr lange auf die Probe gestellt werden.«

*

Allerdings dauerte es dann doch noch zwei lange Wochen, bis alle Formalitäten erledigt waren. An dem Tag, an dem Jan Rust endgültig in das schöne Haus der Carlsons einziehen sollte, waren Elke und Heiner so aufgeregt wie am Tag ihrer Hochzeit.

»Hast du den Kindersitz im Auto befestigt?« fragte Elke nervös und strich sich über das Haar. »Und wie sieht es mit der Schaukel im Garten aus?«

Heiner lächelte, doch er konnte seine Aufregung ebenso wenig verbergen wie seine Frau. Beschwichtigend sagte er: »Den Sitz habe ich doch schon vorige Woche eingebaut – und die Schaukel vorhin noch einmal überprüft, ob sie richtig befestigt ist.«

Elke warf zum wiederholten Male einen Blick zur Uhr. Erst in einer Stunde waren sie mit Frau Siegmann vor dem Waisenhaus verabredet.

Mit einem Kopfschütteln murmelte Elke: »Es wird gar nicht später. Ob wohl die Uhr stehen geblieben ist?«

»Das glaube ich kaum. Meine Armbanduhr zeigt dieselbe Zeit an.«

Mit verschränkten Armen ging Elke im Wohnzimmer auf und ab. »Ich halte die Anspannung nicht mehr aus. Bevor ich Jan nicht hier im Hause habe, kann ich nicht aufatmen.«

Er nickte. »Ich weiß, wovor du Angst hast: Daß im letzten Moment etwas mit der Pflegschaft dazwischen kommt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Dann hätte Frau Siegmann längst angerufen«, versuchte er, sie zu beruhigen. »Es wird schon alles gutgehen, Liebling. Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis wir unseren Knirps im Arm halten.«

Sie schmiegte ihren Kopf an seine breite Schulter und fühlte sich plötzlich etwas sicherer. »Ich werde noch einmal im Kinderzimmer nachsehen, ob wirklich nichts fehlt.«

»Hast du das in den letzten Tagen nicht schon mindestens einhundertmal gemacht?« fragte er leise lachend. »Aber wenn es dich beruhigt, sieh halt noch einmal nach.«

Das Zimmer, das für Jan gedacht war, hatten die Carlsons mit hellen, freundlichen Möbeln bereits ausgestattet, nachdem sie sich als adoptionswilliges Paar beim Jugendamt gemeldet hatten.

Elke blickte sich wohlgefällig in dem hübschen Raum um und sagte leise: »Wer hätte gedacht, daß es so lange dauern würde, bis hier jemand einzieht?«

Zärtlich strich sie über die weiche Wolldecke auf dem Bettchen. Dort würde Jan nur zum Schlafen liegen und niemals zum Spielen!

Und dann war es endlich soweit. Während Heiner auf der Fahrt zum Waisenhaus seine Nervosität mit dem Erzählen kleiner Anekdoten von seiner Arbeitsstelle zu überwinden versuchte, saß Elke mit angehaltenem Atem da und flehte im stillen, daß Frau Siegmann pünktlich war.

Erleichtert erkannte Elke, daß der grüne Mittelklassewagen der Beamtin bereits auf dem Parkplatz stand. Nun konnte nichts mehr schiefgehen!

Helga Siegmann kam sofort auf die Carlsons zu, als diese aus ihrem Auto stiegen, und sagte nach der Begrüßung: »Ich habe bereits vorhin im Waisenhaus angerufen, damit Jan reisefertig gemacht wird und seine Sachen gepackt werden. Viel ist es ja nicht, was der Kleine besitzt.«

»Dafür türmen sich in unserem Haus neue Sachen für ihn«, erwiderte Heiner schmunzelnd. »Wir konnten uns beim Einkaufen kaum zurückhalten.«

Frau Siegmann lachte. »Ich sehe schon, Sie werden Jan maßlos verwöhnen – aber aus Erfahrung weiß ich, daß dies alle Paare tun, die ernsthaft ein Kind bei sich aufnehmen möchten.«

Elke umklammerte fest Heiners Hand, als sie der Eingangspforte des Waisenhauses zustrebten. Ihr Herzschlag schien sich verdoppelt zu haben, und noch immer hatte sie Angst, daß man ihr Jan doch nicht geben würde.

Aber dann hielt sie den Kleinen im Arm, während Heiner die Plastiktüte mit den wenigen Habseligkeiten des Kindes in die Hand gedrückt bekam.

»Sie werden viel Freude mit Jan haben«, sagte die junge Pflegerin und lächelte wehmütig. »Er ist ein richtiger Sonnenschein, und fast tut es mir leid, daß er uns jetzt verläßt.«

Wie schon bei den Besuchen im Heim schmiegte sich der Kleine an Elke und blickte immer wieder ängstlich auf, wann er wohl wieder in seinem ungeliebten Bettchen landen würde. Und seine Augen wurden immer größer, als Heiner ihn sanft in den Kindersitz des Autos setzte.

Elke nahm auch im Fond Platz, damit sich Jan nicht einsam fühlte, wie sie behauptete. Während der Heimfahrt erzählte sie dem Kind von seinem neuen Zuhause, und Jan lauschte der weichen Frauenstimme mit vor Staunen geöffnetem Mund.

*

Karin ließ es sich nicht nehmen, noch am gleichen Tag den neuen Familienzuwachs ihrer Schwester zu begutachten. Sie hatte Peter überredet, das Geschäft ausnahmsweise am Nachmittag alleine zu führen.

»Goldig«, sagte sie überwältigt. »Euer Sohn ist einfach goldig.«

Jan saß mitten auf dem Rasen und spielte mit seinen neuen Bauklötzen; Heiner hockte daneben und half, einen Turm zu bauen, der allerdings immer wieder umkippte und Jan vergnügtes Lachen entlockte.

Elke betrachtete die beiden voller Zärtlichkeit. Obwohl sie Jan erst vor wenigen Stunden aus dem Waisenhaus geholt hatten, kam es ihr vor, als wäre er schon immer bei ihr und Heiner gewesen.

»Hat der Kleine denn gar nicht geweint, als ihr ihn abgeholt habt?« wollte Karin wissen. »Immerhin war das Heim bisher sein Zuhause.«

Elke schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil, er konnte es gar nicht fassen, daß wir ihn nicht wieder zurück brachten wie bei unseren Besuchen. Er hat heute mittag mit großem Appetit gegessen und danach das ganze Haus ausgekundschaftet. Von Schüchternheit habe ich nichts bemerkt.«

»Dann scheint das richtige Kind bei den richtigen Pflegeeltern gelandet zu sein«, bemerkte Karin zufrieden. »Man könnte auch vom Äußeren tatsächlich meinen, daß Jan euer leibliches Kind ist.«

Fröhlich winkte Elke ihren beiden ›Männern‹ von der Terrasse zu. »Mich würde interessieren, was seine Mutter dazu bewogen hat, den Jungen nicht gleich zur Adoption freizugeben. Sie kann sich doch gar nicht um ihn kümmern.«

»Sagtest du nicht, daß das Jugendamt zuversichtlich ist, was eine endgültige Adoption betrifft?«

»Schon, aber versprechen können die uns natürlich nichts. Das kann im Endeffekt nur die leibliche Mutter bestimmen.«

Karin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Diese Frau scheint ein ziemliches Lotterleben zu führen. Ich bin überzeugt davon, daß sie bald die nötigen Papiere unterschreibt.«

»Oh, das hoffe ich auch. Aber Heiner macht es stutzig, daß Saskia Rust bisher nur einer Pflegschaft zugestimmt hat«, gab Elke zurück. »Aufatmen können wir erst, wenn Jan für immer bei uns bleiben kann.«

Karin stupste ihre Schwester liebevoll mit dem Ellenbogen an. »Jetzt genieße es doch endlich, ein Kind zu haben, anstatt dir Gedanken über seine Zukunft zu machen. Wie man sehen kann, fühlt sich Jan pudelwohl bei euch – und das wird auch diese Frau vom Jugendamt bestätigen können.«

»Du hast recht.« Elke holte tief Luft. »Warum soll ich mir Sorgen über etwas machen, das überhaupt nicht aktuell ist? Habe ich dir eigentlich schon erzählt, worin Jans Habseligkeiten bestanden?«

Karin schüttelte den Kopf.

»Ein viel zu kleiner, verwaschener Schlafanzug, eine zerschlissene Latzhose und einige fadenscheinige Pullover.«

»Du meine Güte!«

»Ich habe diese Sachen komplett in die Mülltonne geworfen«, erzählte Elke weiter. »Nur an diesem alten Plüschtier scheint Jan zu hängen, daher habe ich es ihm gelassen. Frau Siegmann sagte, es wäre die Spende eines Geschäftsmannes gewesen, der das Waisenhaus jedes Jahr zu Weihnachten beschenkt.«

»Dann ist Jan im wahrsten Sinne des Wortes ein armes Würstchen. Hat er denn nie etwas von seiner leiblichen Mutter geschenkt bekommen?«

Elke schnaubte verächtlich. »Frau Siegmann sagte, daß Saskia Rust noch nicht einmal gelegentlich angerufen hat, um sich nach ihrem Sohn zu erkundigen. Es scheint, als habe sie vergessen, dieses Kind überhaupt geboren zu haben.«

»Unbegreiflich«, gab Karin ergriffen zurück. »Dann hat es der Kleine ja bei euch wirklich gut getroffen. Ich nahm an, daß seine Mutter sich wenigstens hin und wieder um ihn gekümmert hat.«

»Ich denke, Heiner und ich haben uns in der kurzen Zeit, die wir Jan kennen, mehr um ihn gekümmert als Frau Rust in seinem ganzen Leben.«

Karin legte ihre Hand auf die Schulter der Schwester und blickte sie beschwörend an. »Aus

diesem Grunde werdet ihr den Knirps nicht mehr hergeben müssen – die Leute vom Jugendamt sind doch auch nicht blind.«

Jan, der sein neues Spielhöschen voller Stolz trug, hatte fürs erste genug von den Bauklötzen und richtete sich auf. Sein Blick war auf die Terrasse gerichtet, auf der seine neue Mama mit der anderen freundlichen Frau saß und ihm aufmunternd zulächelte.

Seine Schritte waren zunächst zögernd, doch dann wurden sie immer sicherer, und so schnell ihn seine kleinen Beinchen trugen, eilte er zu Elke.

*

Vier Wochen später konnten sich die Carlsons ein Leben ohne ihren kleinen Pflegesohn nicht mehr vorstellen. Er hielt seine hübsche Mama den ganzen Tag auf Trab, und sie fühlte sich so zufrieden und glücklich wie nie zuvor in ihrem Leben.

Heiner hatte seinen Entschluß wahr gemacht und trat beruflich kürzer. Es gab nun keine Überstunden mehr bis in den Abend hinein, pünktlich um achtzehn Uhr war er zu Hause, um noch mit seinem Sohn zu spielen oder ihn zu baden.

Helga Siegmann trat ihren ersten Kontrollbesuch an und war mit Jans Entwicklung höchst zufrieden. Doch sie merkte sogleich schmunzelnd an, daß sie auch nichts anderes erwartet hatte.

Auf Elkes vorsichtige Frage nach Saskia Rust antwortete die Beamtin. »Es gibt keinerlei Hinweise dafür, daß sie ihren Sohn bei sich haben will.«

Langsam begann auch Heiner sich zu entspannen. Die Furcht, Jan wieder hergeben zu müssen, verblaßte von Tag zu Tag mehr.

Auch die Ehe zwischen Heiner und Elke frischte wieder auf. Zwar liebte sich das Paar so tief wie am Tag seiner Hochzeit, doch der Kummer wegen der Kinderlosigkeit hatte bisher wie eine dunkle Wolke über dem Eheleben geschwebt.

Nun ging Elke wieder singend durch das Haus wie früher, als sie noch glaubte, eigene Kinder bekommen zu können. Und auch Heiner gab zu, daß sein ganzes Leben schöner geworden war, seit es den kleinen Jan gab.

Bereits zwei Monate nach dem Unterschreiben der Pflegschaftspapiere sagte Jan zum ersten Mal zu Elke ›Mama‹, worauf sie sofort ihren Mann anrief und ihm unter Freudentränen davon berichtete.

Als Karin und Peter wieder einmal ihren obligatorischen Wochenendbesuch bei den Carlsons machten, verzogen sich die Männer nicht wie sonst vor den Fernseher, sondern mit Jan hinauf in sein Kinderzimmer, da es an diesem Tag regnete und man sich nicht im Garten aufhalten konnte.

Elke und ihre Schwester hatten es sich in der großen Küche gemütlich gemacht. Ihr einziges Thema war Jan, der seine dunkle Kindheit im Waisenhaus bereits völlig vergessen zu haben schien.

»Weißt du, worauf ich mich besonders freue?« fragte Elke. »Auf das nächste Weihnachtsfest, es wird das schönste meines Lebens werden.«

Karin wickelte vorsichtig die Folie der Erdbeer-Kaltschale ab, die sie mitgebracht hatte und erwiderte seufzend: »Ach ja, Weihnachten wird erst mit Kindern schön. Wenn ich daran denke, wieder mit Peter vor dem künstlichen Tannenbaum zu sitzen und uns unsere Geschenke überreichen, könnte ich heulen.«

»So erging es Heiner und mir sonst doch auch.« Elke stellte Schälchen auf den Tisch. »Erst jetzt kann ich mich richtig darauf freuen.«

»Hm, Jan ist bereits in einem Alter, wo er alles ganz bewußt erlebt«, sagte Karin nickend. »Ich finde, er hat in den paar Wochen, die er hier ist, schon jede Menge gelernt.«

Elke lächelte sanft. »Jeden Tag lernt er etwas Neues – mal ein Wort, mal einen bestimmten Handgriff. Immer wieder gibt es eine Überraschung, sogar Frau Siegmann ist erstaunt, welch pfiffiges Kerlchen Jan ist.«

»Im Waisenhaus wären seine Talente unweigerlich verkümmert.« Karin blickte aus dem Fenster. »Falls es am nächsten Wochenende schön ist, könnten wir doch mal mit Jan in den Zoo gehen.«

Elke kicherte. »Vorausgesetzt, unsere Männer haben nicht bereits andere Pläne gemacht.«

Oben im Kinderzimmer waren Heiner und Peter damit beschäftigt, einen Drachen zusammenzubauen, um Jan im Herbst zu zeigen, wie schön so ein Drachen fliegen konnte.

»Verflixt«, murmelte Peter, »dieses Teil paßt einfach nicht.« Er hielt ratlos ein Stück Plastik hoch. »Könnt ihr mir erklären, wohin es gehört?«

»Ich!« Jan griff mit seinen Patschehändchen nach dem Teil und hielt es gegen eine Seitenstrebe, in dessen Nut es sich auf der Stelle einfügte. Dabei lachte er schelmisch.

Die beiden Männer blickten sich einen Moment verblüfft an, bevor auch sie in schallendes Lachen ausbrachen. Jan, der auf Heiners Schoß saß, klatschte begeistert in die Hände.

»Sieh dir deinen Sohn an«, sagte Peter, nachdem er sich beruhigt hatte. »Hat er es gewußt oder war es Zufall?«

Heiner drückte den Kleinen liebevoll an sich und gab schmunzelnd zurück, daß ihm die zweite Variante weitaus besser gefiel. »Jan ist eben ein besonders intelligentes Kerlchen – im Gegensatz zu seinem Onkel.«

Peter grinste. »Dafür bin ich der bessere Geschäftsmann. So, kleiner Spatz, jetzt hängen wir deinen Drachen dort an die Wand.«

Jan hob seine Ärmchen, er wollte schon jetzt mit seinem neuen Drachen spielen. Als Heiner ihm geduldig erklärte, daß man dafür sehr viel Wind brauchte, gab sich der Kleine zufrieden und sagte: »Mama gehen.«

»Okay, dann laß uns hinuntergehen. Tante Karin hat etwas ganz Leckeres mitgebracht.«

Jan wollte die Treppe, die am oberen Absatz stets mit einem Gitter gesichert war, alleine hinuntergehen. Heiner achtete sorgsam darauf, daß das Kind nicht stolperte.

Während Jan in die Küche zu Mutter und Tante stürmte, ließen sich die beiden Männer im Wohnzimmer nieder.

»Langsam beneide ich euch auch«, sagte Peter mit einem Schmunzeln. »Und ich kann Karin immer besser verstehen, daß sie jetzt auch ein Kind haben will. Sie sieht ja, welch glückliche Familie ihr seid.«

Heiner nickte und stellte zwei Biergläser auf den Tisch. »Ja, der Kleine hat unser Leben völlig verändert. Hast du Elkes strahlende Augen gesehen? So gelöst habe ich sie seit langem nicht gesehen.«

»Die Kinderlosigkeit muß sie sehr belastet haben«, erwiderte Peter nachdenklich. »Karin sagte oft, wie leid ihr ihre Schwester täte – und jetzt sieht es ganz so aus, als müßte Elke meine Frau trösten.«

»Könnt ihr euch wirklich kein Kind leisten? So schlecht kann doch der Laden gar nicht laufen – jedesmal, wenn ich daran vorbeifahre, sind Kunden darin.«

»Schon, aber die meisten wollen sich nur umsehen, die wenigsten kaufen wirklich etwas. Sie sagen, meine Lampen gibt es im Kaufhaus billiger.«

Betroffen schwieg Heiner.

»Karin ist eine vernünftige Frau, sie weiß, warum sie ihren Kinderwunsch noch etwas zurückstecken muß. So ein Kind kostet nun mal viel Geld, das wir im Augenblick einfach nicht haben.«

»Ich verstehe.« Heiner hob sein Bierglas. »Aber dann habt ihr wenigstens etwas, worauf ihr euch freuen könnt.«

»Stimmt auch wieder.« Peter prostete seinem Schwager zu. »Schnüffelt diese Frau vom Jugendamt eigentlich immer noch regelmäßig bei euch herum?«

»Frau Siegmann schnüffelt nicht, sondern sieht nach, ob Jan wirklich gut versorgt ist«, erklärte Heiner geduldig. »Schließlich ist das ihre Pflicht. Allerdings verriet sie Elke bei ihrem letzten Besuch, daß sie nur zu uns kommt, um den Auftrag abhaken zu können; sie wußte von Anfang an, daß Jan es bei uns gut hat. Doch sie erzählte uns auch schon schlimme Geschichten von Pflegeeltern, die Kinder nur zu sich nehmen, um das staatliche Pflegegeld zu kassieren. Diese Kinder sind häufig unterernährt und verwahrlost – du siehst also, daß es schon einen Sinn hat, wenn das Jugendamt kontrolliert.«

»Sicher.« Peter wischte sich mit dem Handrücken den Bierschaum vom Mund. »Aber bestimmt müßt ihr doch gewisse Auflagen erfüllen.«

»Natürlich haben wir alle Pflichten leiblicher Eltern mit der Pflegschaft übernommen. Erst vorgestern war Elke mit Jan zur Untersuchung beim Kinderarzt, der Kleine hat noch nicht einmal geweint, als er geimpft wurde.«

»Puh, dann ist er ja tapferer als ich!« rief Peter lachend. »Ich bekomme schon Schweißausbrüche, wenn ich nur an eine Spritze denke!«

Auch aus der Küche war Lachen zu hören. Anscheinend hatte Jan gerade wieder eine ulkige Bemerkung gemacht.

»Sag’ mal«, fuhr Peter, wieder ernst geworden, fort. »Gibt es eigentlich auch Rechte für Pflegeeltern – ich meine, darüber habt ihr euch doch bestimmt auch informiert.«

Heiner nickte ernst. »Gleich, nachdem Elke und ich uns entschieden hatten, auch ein Pflegekind zu uns zu nehmen. Rechte haben wir allerdings kaum…«

»Dann bewegt ihr euch auf ziemlich dünnem Eis, wie mir scheint.«

»Möglich.« Heiner hob die Schultern. »Aber in unserem Fall können wir davon ausgehen, daß man uns Jan nicht wieder fort nimmt. Niemals wird das Jugendamt zustimmen, daß der Junge bei einer Tingeltangel-Darstellerin aufwächst, die kein geregeltes Einkommen hat.«

»Kennt ihr diese Frau persönlich?«

»Zum Glück nicht! Ich glaube, dann hätte ich ihr ins Gesicht geschrien, was für eine Rabenmutter sie ist!«

In der Zwischenzeit hatte Jan versucht, die flüssige Kaltschale selbst zu essen. Doch schnell hatte er eingesehen, daß es schneller ging, an die leckere Speise zu kommen, wenn Elke ihn fütterte.

»In ein paar Monaten, kleiner Mann«, erklärte Karin, »kannst du so etwas ganz alleine essen. Und dann gehen wir in ein ganz feines Restaurant und beeindrucken die anderen Gäste.«

»Aber bitte nur mit Lätzchen«, gab Elke kichernd zurück. »Sieh dir nur die vielen Flecken auf dem T-Shirt an.«

Jan war satt und wollte aus seinem Kindersitz gehoben werden. Liebevoll wischte ihm Elke die Reste der Kaltschale von den Mundwinkeln und setzte ihn auf dem Fußboden ab.

»Papa gehen«, verkündete Jan freudestrahlend und watschelte hinaus.

»Wie es aussieht, hängt er an euch beiden gleichermaßen«, bemerkte Karin und putzte die klebrigen Reste von der Tischplatte. »Anfangs dachte ich, er hätte dich als seinen Favoriten auserkoren.«

»O nein, Jan hängt mit ebenso großer Leidenschaft an Heiner. Kein Wunder, es vergeht nicht ein einziger Tag, an dem Heiner sich intensiv mit dem Jungen beschäftigt.«

Karin setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Wenn Jan zurück ins Waisenhaus müßte, würde seine kleine Seele daran zerbrechen…«

»Warum sagst du so etwas?« fragte Elke mit bleichem Gesicht. »Weshalb sollte er zurück ins Heim? Sein Zuhause ist doch jetzt hier.«

»So habe ich es doch nicht gemeint!« rief Karin erschrocken. »Ich habe nur immer im Hinterkopf den Gedanken, daß Jans leibliche Mutter sich querstellt und der Kleine zu guter Letzt wieder dort landet, wo er hergekommen ist.«

Energisch schüttelte Elke den Kopf. »Nein, nein, nein! Das wird nie passieren, niemals werden Heiner und ich so etwas zulassen.«

*

Mittlerweile war es Herbst geworden. Endlich konnte der neue Drachen ausprobiert werden, und an einem stürmischen Nachmittag machten sich Heiner und Elke, in der Mitte den dick eingemummelten Jan, auf den Weg hinaus aufs Land, wo es große Felder gab, auf denen man herrlich einen Drachen steigen lassen konnte.

Während Heiner die Leine hielt, wurden Jans Augen immer größer. So etwas hatte er noch nie gesehen!

Irgendwann wollte er selbst die Spule mit der Leine halten, und mit Hilfe seines Vaters ließ er den bunten Drachen höher und höher steigen.

Elke stand daneben. Der heftige Wind pfiff durch die Kleidung und zerrte an ihren Haaren. Doch davon spürte sie nichts – sie war viel zu glücklich beim Anblick der beiden Menschen, die ihr am meisten bedeuteten.

Es wurde schon dunkel, als sie mahnte, den Drachen einzuholen und nach Hause zu fahren. Ohne zu wissen, aus welchem Grund, hatte sie eine innere Unruhe ergriffen, die sie sich nicht erklären konnte.

Jan protestierte, er wollte noch weiter mit dem Drachen spielend. Erst, als Heiner ihm erklärte, daß der Drachen Angst am dunklen Himmel hatte, gab sich der Kleine zufrieden.

Auf der Heimfahrt rieb er sich die Augen und gähnte mehrmals herzhaft.

»Ich denke, heute nacht wird unser Sohn besonders gut schlafen«, sagte Heiner schmunzelnd. »Was doch ein Nachmittag auf dem Feld bewirken kann. Wir sollten unsere Aktion bald einmal wiederholen.«

Elke nickte. Die Unruhe war etwas abgeflacht, doch noch immer nicht ganz verschwunden. Instinktiv ahnte Elke, daß die schönen unbeschwerten Tage mit Jan gezählt waren.

Als sie in die Straße zu ihrem Haus einbogen, wußte sie schlagartig den Grund für ihre Unruhe: Am Straßenrand stand Helga Siegmanns grüner Wagen – es war offensichtlich, daß sie auf die Carlsons wartete!

»Nanu, was will denn Frau Siegmann von uns?« fragte Heiner verblüfft, der das Auto ebenfalls erkannt hatte. »Sie war doch erst letzte Woche hier.«

Mit zitternden Knien stieg Elke aus, während Heiner den kleinen Jan aus seinem Sitz hob. Helga Siegmann stieg aus ihrem Wagen, und an ihrer besorgten Miene erkannte Elke, daß sie nicht ohne Grund gekommen war.

»Wir waren unterwegs«, sagte Elke mit schwacher Stimme zur Begrüßung. »Warten Sie schon lange?«

Die Beamtin winkte ab. »Nicht der Rede wert, ich hätte schließlich vorher anrufen können. Doch ich dachte, daß es besser wäre, wenn ich mit Ihnen beiden persönlich spreche.«

Noch immer war Heiner ahnungslos. »Geht es um die Adoption?«

Frau Siegmann senkte den Blick und erwiderte tonlos: »Das besprechen wir lieber im Haus, denke ich.«

Heiner warf seiner Frau einen erschrockenen Blick zu, nun

schien auch er begriffen zu haben, daß sich etwas ereignet hatte, was ihm nicht gefallen würde.

Elke brachte kaum den Schlüssel ins Haustürschloß, so sehr bebten ihre Hände. Jan hopste fröhlich auf dem Arm seines Vaters und krähte vergnügt. Er war der einzige, der den Ernst der Lage nicht begriff.

Im Flur zog Elke ihm seinen dicken Anorak und die festen Schuhe aus und gab ihm dann in der Küche ein Glas Milch, das der Kleine gierig austrank.

Währenddessen hatte Heiner die Beamtin ins Wohnzimmer gebeten.

»Frau Rust hat die Adoption abgelehnt, habe ich recht?« fragte er mit belegter Stimme. »Ich kann es direkt an Ihrer Miene ablesen.«

Helga Siegmann lächelte lahm. »Warten wir doch, bis Ihre Frau sich zu uns gesellt hat. Ach, da ist sie ja schon.«

Elke setzte Jan ab und gab ihm einen Keks und seinen Lieblingsball. »So, jetzt spiel’ noch ein bißchen, bis Mama Abendbrot macht.«

Nur zögernd setzte sie sich schließlich zu den anderen. Ihr Blick hing ängstlich an den Lippen der Beamtin, als diese sagte: »Leider hat sich etwas ergeben, womit ich nie im Leben gerechnet hätte…«

»Und das wäre?« fragte Heiner zaghaft, und am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, um nichts mehr hören zu müssen.

Helga Siegmann holte tief Luft und sagte. »Zu meiner großen Überraschung besuchte mich Saskia Rust vorhin im Amt. Sie erkundigte sich nach ihrem Sohn.«

»Ach, auf einmal?« rief Elke wütend. »Jetzt, wo Jan endlich ein neues Zuhause gefunden hat, erinnerte sie sich wieder an ihn!«

»Ich verstehe Ihren Zorn, Frau Carlson. Ich erklärte ihr, daß es Jan prächtig geht und Sie ihn gerne adoptieren möchten. Doch sie lehnte augenblicklich ab mit der Begründung, daß sie ein ganz anderes Anliegen hätte.«

Mit angehaltenem Atem lauschten Elke und Heiner den nächsten Worten der Beamtin.

»Frau Rust beabsichtigt, eine Stelle als Serviererin in einem Tagescafé anzunehmen und den Jungen… zu sich zu holen.«

Voller Schmerz schrie Elke auf, und Heiner ballte die Fäuste. Wie betäubt saßen sie minutenlang da und schwiegen betroffen. Nur Jans Jauchzen vom Flur her war zu hören.

Schließlich räusperte sich Heiner und richtete den Blick wieder auf Helga Siegmann. »Glaubt diese Frau eigentlich, daß wir den Jungen einfach wieder hergeben? Er liebt uns, und wir können uns ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.«

»Nun, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Frau Rust ihre Schnapsidee wieder auszureden. Allerdings muß ich Sie darauf hinweisen, daß sie als leibliche Mutter noch immer über Jan entscheiden kann.«

Erregt sprang Elke auf. »Das kann man doch nicht einfach mit uns machen! Gerade hat sich Jan richtig bei uns eingelebt, da wird er uns schon wieder entrissen!«

»Frau Carlson«, erwiderte die Beamtin ruhig. »Sie haben doch gewußt, daß so etwas passieren kann.«

»Mein Schwager hat mich immer gewarnt, ein Pflegekind anzunehmen«, sagte Heiner verbittert. »Wir werden uns einen Anwalt nehmen.«

»Das können Sie gerne tun, Herr Carlson, aber er wird Ihnen nichts anderes sagen können als ich.« Helga Siegmann erhob sich. »Jetzt lassen Sie sich keine grauen Haare wachsen, ich wollte Sie ja nur vorab über den Lauf der Dinge informieren. Noch besteht die Arbeitsstelle von Saskia Rust nur aus einer Illusion – und selbst wenn sie einer geregelten Arbeit nachgeht, wird das Jugendamt erst einmal überprüfen, wie ernst es ihr damit ist.«

»Und wer kümmert sich um Jan, wenn sie arbeitet?« warf Elke zornig ein. »Sie kann ihn ja schlecht mitnehmen!«

»Natürlich nicht. Selbstverständlich muß Frau Rust eine Person nachweisen, die den Kleinen betreut. Wir werden alles genauestens überprüfen, bevor Jan seiner Mutter übergeben wird.«

An diesem Abend lagen Heiner und Elke im Bett, ohne einschlafen zu können.

»Vielleicht ist das wirklich nur so eine Schnapsidee«, murmelte Heiner. »Diese Frau scheint nicht recht zu wissen, was sie wirklich will. Morgen gehe ich jedenfalls zu einem Rechtsanwalt und lasse mich beraten.«

»Hast du vergessen, was Frau Siegmann gesagt hat?« Elke fuhr sich über ihre brennenden Augen. »Saskia Rust ist angeblich im Recht. Ich hasse diese Frau, ohne sie zu kennen.«

Sie bettete ihren Kopf an Heiners Schulter.

»Trotzdem will ich hören, was ein Jurist zu unserem Fall sagt«, gab Heiner mit fester Stimme zurück. »Ein Kind ist doch keine Sache, die man x-beliebig hin- und herschieben kann.«

»Ich werde mich mit Händen und Füßen dagegen sträuben, Jan dieser Frau zu übergeben. Sie ist doch für ihn eine völlig Fremde! Niemals wird es Jan so gut bei ihr haben wie bei uns.«

Heiner strich seiner Frau zärtlich über das Haar. »Wenn wir fest daran glauben, wird man uns den Jungen lassen.«

Sie nickte in die Dunkelheit – doch seine Worte überzeugten sie nicht.

*

Auch Karin war entsetzt, als sie von Saskia Rusts Forderung erfuhr.

»Die spinnt wohl!« schimpfte sie in ihrer direkten Art. »Erst ihr Kind im Heim versauern lassen und dann auch noch Ansprüche stellen – wo gibt es denn so was?«

»Ich kann das auch nicht begreifen«, gab Elke mit einer hilflosen Geste zurück. »Frau Siegmann hat aber versprochen, uns bei unserem Kampf um Jan zu unterstützen.«

»Na, viel Einfluß scheint die Dame ja nicht zu haben.« Karin machte ein verächtliches Gesicht. »Sonst hätte sie der Rust klipp und klar erklärt, daß sie Jan vergessen kann.«

»Sie muß sich schließlich an die Gesetze halten…«

»Schöne Gesetze sind das! Normalerweise müßte Jans Mutter bestraft werden, weil sie sich nie um ihren Jungen gekümmert hat!«

Die Unterhaltung fand in Karins Wohnung statt. Kurzerhand war Elke mit ihrem kleinen Pflegesohn am Tag nach der vernichtenden Nachricht in den Linienbus gestiegen, um der Schwester ihr Leid zu klagen.

Natürlich konnten auch Karin und Peter nichts tun, aber es tat gut, daß die beiden zu ihnen standen und ihnen Mut zusprachen.

»Heiner fühlt sich bestimmt ebenso deprimiert wie du«, bemerkte Karin. »Ist er heute zur Arbeit gegangen?«

Elke schüttelte den Kopf. »Er hat sich in der Firma krank gemeldet – das hat er noch nie getan! Aber daran kann man erkennen, daß er genauso verzweifelt ist wie ich. Gleich heute morgen hat er sich einen Termin bei einem spezialisierten Anwalt geben lassen, und glücklicherweise hat Heiner schon für heute einen Termin bekommen.« Sie blickte auf die Uhr. »Gerade müßte er dem Anwalt gegenübersitzen.«

Karin machte ein skeptisches Gesicht. »Meinst du, daß der euch wirklich helfen kann?«

»Nein, aber wir müssen alles versuchen, was wir können.« Traurig blickte Elke auf den Kleinen, der auf einer weichen Decke auf dem Teppich saß und selbstvergessen spielte. »Wie gut, daß Jan noch zu klein ist, um zu verstehen, was möglicherweise auf ihn zukommt.«

Gedankenverloren betrachteten die Schwestern den kleinen Mann in dem winzigen Jeanshöschen und dem farblich passenden Nicky-Pulloverchen.

Keine von beiden wagte daran zu denken, welche Auswirkungen es für Jan haben könnte, wenn man ihn seinen neuen Eltern wieder entriß.

»Möchtest du noch Kaffee?« fragte Karin irgendwann. »Ich kann gerne noch eine Kanne kochen.«

Elke hob abwehrend die Hände. »Nein, danke. Heiner und ich haben in den letzten Stunden so viel davon getrunken, daß ich fürs erste genug habe.«

»Weiß dein Mann, wo du bist? Nicht, daß er noch auf die Idee kommt, du wärst mit Jan getürmt und würdest dich verstecken?«

Ein müdes Lächeln umspielte Elkes Mundwinkel. »Du wirst es nicht glauben, aber einen Augenblick habe ich tatsächlich mit diesem Gedanken gespielt. Aber solch eine Dummheit würde ich wohl nicht begehen, damit würde ich alles kaputt machen. Natürlich weiß Heiner, daß ich bei dir bin, er holt mich nach dem Anwaltstermin hier ab.«

»Mami, haben!« Jan wies auf eine der Dekorationspuppen, die auf der Rückenlehne des Sofas saßen. »Bitte, Mami!«

Bevor Elke ihm erklären konnte, daß diese kostbaren Porzellanpuppen nicht zum Spielen waren, erhob sich Karin und gab dem Kleinen eine blonde Schönheit im Spitzenkleid. »Da, mein kleiner Spatz – aber schön aufpassen.«

Jan nickte ernst und nahm die Puppe so vorsichtig an sich, als wüßte er um deren Wert.

»Und wenn sie kaputtgeht?« fragte Elke ängstlich. »Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Versicherung dafür aufkommt.«

Karin winkte ab. »Es ist doch nur eine Puppe – kein Wesen aus Fleisch und Blut.«

Nie zuvor hatte Karin von ihren teuren Nostalgiepuppen in diesem lockeren Ton gesprochen! Bisher hatte sie ihre Schätze sorgfältig gepflegt und gehegt.

»Ich möchte, daß ihr zum Abendbrot bleibt«, sagte Karin anschließend. »Sonst sind Peter und ich immer eure Gäste, ich möchte euch auch einmal etwas anbieten.«

»Das ist lieb von dir. Aber ich fürchte, ich werde keinen Bissen hinunter bekommen.«

Karin warf einen besorgten Blick auf ihre drei Jahre ältere Schwester. Sie verkniff sich die Bemerkung, daß wegen Jan doch noch gar nichts entschieden war – das wußte Elke schließlich selbst.

Eine halbe Stunde später tauchte Heiner auf. An seinem Gesicht erkannte Elke, daß er nichts erreicht hatte.

»Anscheinend kann uns niemand helfen«, seufzte er. »Dr. Gürtler meinte, man könnte eventuell Einspruch erheben, wenn Jan schon seit seiner Geburt bei uns gelebt hätte.«

Inzwischen hatte Peter das Geschäft geschlossen und war ebenfalls nach oben in die Wohnung gekommen. Es war nur ein schwacher Trost, als er sagte. »Wer weiß, ob diese Frau überhaupt Arbeit in einem seriösen Café findet. Falls sie vorhat, in einer Nachtbar zu arbeiten, wird sie euren Jungen bestimmt nicht bekommen.«

Selbst Karins leckerer Geflügelsalat konnte Elke nicht dazu bewegen, viel zu essen; einzig Jan aß mit großem Appetit und ließ sich durch die kummervollen Gesichter der Erwachsenen nicht stören.

*

Die folgenden Wochen verbrachten die Carlsons zwischen Hoffen und Bangen. Helga Siegmann hatte mitgeteilt, daß sie nichts mehr von Jans Mutter gehört hatte, und Elke begann aufzuatmen.

Zwar schreckte sie bei jedem Läuten des Telefons oder der Haustürklingel noch immer zusammen, doch sie konnte wieder ruhiger schlafen und öfters wieder herzhaft lachen. Auch Heiners Gesicht wirkte nicht mehr so eingefallen wie an dem Nachmittag, als sie vom Drachensteigen nach Hause gekommen waren.

Als der nächste offizielle Besuch Frau Siegmanns bevorstand, wurde das Ehepaar jedoch wieder zunehmend nervöser und angespannter.

Jans Aussprache wurde von Tag zu Tag deutlicher, und immer öfter schmatzte er seinen Eltern einen feuchten Kuß auf die Wange mit der Bemerkung. »Mama lieb, Papa lieb!«

Elke hoffte, daß er dies auch tun würde, wenn Helga Siegmann da war.

»Leider gab es gestern wieder unangenehmen Besuch im Amt«, sagte diese zur Begrüßung. »Unsere beider Freundin Saskia Rust machte mir die Aufwartung.«

»Oh, nein!« entwich es Elke. »Dann hat sie eine Stellung gefunden?«

Frau Siegmann schüttelte lächelnd den Kopf. »Angeblich sucht sie Tag und Nacht, was ich ihr natürlich nicht abnehme. Fast habe ich sogar den Eindruck gewonnen, daß es ihr doch nicht so ernst mit dem Muttersein ist – vor allem, als ich sie darauf hinwies, worauf sie alles verzichten muß, wenn ihr Sohn bei ihr lebt.«

Atemlos fragte Elke: »Und das hat ihr nicht gefallen?«

»Überhaupt nicht. Ich weiß noch immer nicht, was sie bewogen hat, zu mir zu kommen. Eine Stelle konnte sie ja nicht nachweisen – vermutlich wollte sie sich nur in Erinnerung bringen.«

Jan legte der Beamtin einen zermatschten, durchweichten Zwieback in den Schoß und grinste spitzbübisch.

»Oh, vielen Dank, mein Kleiner«, sagte Helga Siegmann und strich dem Jungen über die Wange. Es wäre wirklich ein Jammer, wenn er zu dieser Frau gehen mußte, die ihn nur zur Welt gebracht hatte.

Wieder Elke zugewandt, fügte sie schmunzelnd hinzu: »Wie ich sehe, verfügt Jan bereits über hervorragende Manieren.«