E-Book 1978-1987 - Diverse Autoren - E-Book

E-Book 1978-1987 E-Book

Diverse Autoren

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. E-Book 1: Fröhlich, frech und unbeschwert E-Book 2: Ich liebe dich und deine Kinder E-Book 3: Kind, Karriere – doch keine Liebe? E-Book 4: So klein und schon berühmt E-Book 5: Unseren Papi geben wir nicht her E-Book 6: Biggi ist die Waise – aber nicht allein E-Book 7: Mami hat einen neuen Chef E-Book 8: In den Ferien gibt's keine Tränen E-Book 9: Im Schlosshotel geht's lustig zu E-Book 10: Ronny wird's schon richten

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Inhalt

Fröhlich, frech und unbeschwert

Ich liebe dich und deine Kinder

Kind, Karriere – doch keine Liebe?

So klein und schon berühmt

Unseren Papi geben wir nicht her

Biggi ist die Waise – aber nicht allein

Mami hat einen neuen Chef

In den Ferien gibt's keine Tränen

Im Schlosshotel geht's lustig zu

Ronny wird's schon richten

Mami – Staffel 26 –

E-Book 1978-1987

Diverse Autoren

Fröhlich, frech und unbeschwert

Annika hat einen Traum

Roman von Clausen, Bettina

»Weißt du, was ich heute nacht geträumt habe, Oma?«

Natürlich wußte Luise es nicht. Aber Annika, ihre Enkelin, liebte es, so die Aufmerksamkeit ihrer Großmutter auf sich zu ziehen und ihre Traumgeschichten auch möglichst spannend und haarklein zu erzählen.

Den Kopf auf die Hand gestützt, rückte sie ihre Spielfigur fünf Felder weiter.

»Was hast du denn geträumt? Wieder so ein verrücktes Zeug wie letztens?«

Annika war sichtlich erfreut, daß ihre Großmutter sie fragte, obgleich sie es ihr auch erzählt hätte, wenn sie nicht gefragt hätte.

»Also, ich habe geträumt, ich säße in meinem Zimmer. Auf einmal hörte ich so merkwürdige Geräusche aus dem Bad. Vorsichtig schlich ich an die Badezimmertür und schaute hinein.« Jetzt sprach sie wieder ohne Punkt und Komma, so wie sie es immer tat, wenn sie aufgeregt war.

»Da habe ich gesehen, wie kleine Zwerge in der Badewanne Flick-Flack übten! Die hatten die gleichen Hüte auf wie die vom Hütchenspiel.«

Luise brachte eine ihrer Spielfiguren im Haus in Sicherheit.

»Wir sollten nicht so oft ›Mensch ärgere Dich nicht‹ spielen. Es scheint dich zu sehr zu belasten«, witzelte Luise.

Annika schaute mit bösem Blick, was schon fast zum Fürchten aussah, da sie sowieso schon große ausdrucksstarke braune Augen hatte.

»Zu eurer Zeit war ›Mensch ärgere Dich nicht‹ oder ›Hütchen‹ bestimmt ein aufregendes Spiel, liebe Oma, aber die heutige Jugend ist da doch ganz anderes gewöhnt.« Sie setzte eine mitleidig überlegene Miene auf und sah in das ihr sehr ähnliche, nur fünfzig Jahre ältere Gesicht der Großmutter, welche den Blick erwiderte und Annikas Spielfigur vom Brett fegte, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Ich hoffe, ich bereite dir keine Alpträume, aber ich fürchte, ich habe schon fast gewonnen.«

»Du bist ja auch viel älter als ich«, jammerte Annika mit gespielt kindlichem Ton. Beide fingen herzlich an zu lachen. Genau diesen Satz hatte Annika als Kleinkind immer als Rechtfertigung benutzt, wenn sie im Spiel verloren hatte. Nun mußte sie selbst darüber lachen, da sie mit zehn Jahren natürlich besser Bescheid wußte. Zudem war sie ein sehr intelligentes, keckes Kind, das vielleicht zur Altklugheit geneigt hätte, wäre ihr nicht wirklich schon einmal die traurige Seite des Lebens begegnet.

»Ich mach mir einen Kaffee, möchtest du Kakao?«

»Lieber Zitronentee, wenn du hast.«

Natürlich hatte Luise einen. Sie war berühmt für ihre Gastfreundschaft und Fürsorge, insbesondere ihrem einzigen Enkelkind gegenüber. Sie war überhaupt die perfekte Oma, ohne daß sie sich dafür anstrengen mußte. Luise und Annika waren aus dem gleichen Holz geschnitzt. Sie sprühten nur so vor Lebenslust und Optimismus, was beiden allerdings auch häufiger schon bei allzu zart besaiteten Mitmenschen Ärger eingebracht hatte. Da beide ihr Herz auf der Zunge trugen, fiel es ihnen manchmal schwer, im entscheidenden Moment besser zu schweigen. Annika brachte dies einigen Ärger mit ihrer Mutter und ihren Lehrern ein, und Luise mit ihrem Mann. Seit ihr Mann allerdings vor sechs Jahren gestorben war, brauchte sie keine Rücksicht mehr zu nehmen, und so entwickelte sie sich zu einer sehr selbstbewußten, fast schon ein bißchen schrägen Frau. Meist trug sie Jeans und ziemlich ausgefallene selbstgestrickte Pullover, in denen sie, auch aufgrund ihrer schlanken Figur, noch sehr jung aussah.

»Wann mußt du denn nach Hause?« fragte Luise und stellte das Tablett ab.

»Jetzt gleich. Ich muß noch Hausaufgaben machen.«

»Läuft in der Schule alles nach Plan?«

»Ja klar«, erwiderte Annika, die schon immer gern zur Schule gegangen war. Sie plauderten noch eine Weile über die Schule und Annikas Freunde. Luise fand es immer sehr spannend zu hören, wie die Kinder heute lebten und was sie für Sorgen hatten. Waren ihre eigenen Sorgen als Kind, durch die Nachkriegszeit geprägt, doch ganz andere gewesen.

»Nadine, ein Mädchen aus meiner Klasse, hat heute in der Schule geheult, weil sie in Mathe eine Zwei geschrieben hat.«

»Wollte sie lieber eine Eins?«

»Ja, schon, sie schreibt sehr oft Einsen, weil sie den ganzen Tag lernen muß. Einmal durfte sie sogar nicht auf meinen Geburtstag, weil zwei Tage später eine Schulaufgabe anstand.«

»Ach du meine Güte! Das ist ja schlimmer, als morgens um sechs die Kühe zu melken.«

»Ich finde, sie hat es trotzdem gut«, meinte Annika.

»Ja, wieso das denn?« fragte Luise bestürzt.

»Sie hat ein eigenes Pferd!« Damit war für Annika alles gesagt. Nun bekam sie wieder diesen schwärmerischen Ausdruck in den Augen, der jedem nur zu gut bekannt war, der sie kannte.

»Du und deine Pferde.« Mehr wußte Luise dazu auch nicht mehr zu sagen, da der Fall klar auf der Hand lag. Annikas Mutter, welche allein für sie sorgen mußte, konnte ihr kein Pferd kaufen, ja, nicht einmal Reitstunden bezahlen. Ein paarmal war Annika reiten gewesen, das blieben aber Ausnahmen. Auch Luises Einkommen war einfach zu gering, um dieses teure Hobby zu finanzieren.

»Ich muß jetzt gehen. Mami kommt bestimmt bald. Ich habe noch eine kleine Überraschung für sie.«

»Mach’s gut, mein Schatz. Und gib nicht auf, für alles findet sich irgendwann eine Lösung.«

»Ja, wenn ich alt und grau bin!« Beide lachten, und Annika gab ihrer Oma noch ein Küßchen, um sich dann auf den Heimweg zu begeben.

*

»Frau Jordan, bitte ins Büro, Frau Jordan, bitte!« Zum fünften Mal an diesem Tag ließ man sie ausrufen. Monika sackte in sich zusammen. Mechanisch stellte sie die Palette Joghurt ab und begab sich zum Büro des Marktleiters. Sie betrat den verqualmten Raum.

»Was gibt’s denn?« fragte sie mit müder Stimme.

»Ist die Lieferung von Milchgut inzwischen eingegangen?« wollte Stefan wissen, der Marktleiter des Supermarktes war und gleichzeitig seit fast zwei Jahren ihr Lebensgefährte.

»Ja, vor einer halben Stunde, ich hatte nur noch keine Zeit, die Ware auszuräumen.«

»Dann sollte es jetzt gleich geschehen, immerhin ist es Kühlware«, sagte Stefan.

»Ja, sicher«, murmelte Monika und verließ den Raum. Heute war ihr nicht nach Diskussionen zumute. In Gedanken freute sie sich auf einen ruhigen Abend, und nach dem langen Tag hatte sie nur noch den Wunsch, ihre Füße hochzulegen.

Nachdem alle Arbeit erledigt und längst alle Kunden gegangen waren, hatten auch endlich die Mitarbeiter Feierabend. Monika atmete tief durch und suchte Stefan. Sie betrat das Büro und betrachtete ihren Lebensgefährten von der Seite.

»Wollen wir?« fragte sie.

»Sofort. Ich fülle noch schnell das Formular aus.«

»Kannst du das nicht vielleicht morgen erledigen? Annika wartet doch auf uns.«

»Ich bin schon fertig. Was gibt’s denn heute abend Gutes zu essen?«

»Mal schauen, was der Kühlschrank so hergibt!« war ihre lässige Antwort. Stefan verzog das Gesicht.

»Was Warmes wäre mir wirklich lieber.«

Endlich verließen sie den Supermarkt, und Monika ließ sich erschöpft in den Autositz fallen. Sie mochte die langen Tage überhaupt nicht. Da das Leben aber nicht umsonst war, mußte sie zweimal die Woche bis abends arbeiten, ansonsten hatte sie schon mittags Schluß und konnte sich um ihre Tochter Annika kümmern. Vor der Geburt ihrer Tochter war sie Landschaftsgärtnerin gewesen. Sie liebte ihren Beruf in der freien Natur sehr. Doch seit ihr Mann gestorben war, war alles anders.

»Hallo, Mausi! Wir sind wieder da!« rief Monika in den leeren Flur.

»Hallo, Mami!« Annika kam ihnen entgegengestürmt. »Ich hab’ eine Überraschung für euch.« Erwartungsvoll hüpfte sie auf der Stelle, so daß ihre Zöpfe auf und ab wippten.

»Ich muß mich entschuldigen. Ich möchte jetzt duschen gehen«, murmelte Stefan und verzog sich ins Bad. Enttäuscht schauten sie, wie er die Tür hinter sich schloß.

»Es war ein langer Tag für uns. Nimm es ihm nicht übel«, tröstete Monika ihre Tochter. »Was hast du denn für eine Überraschung? Du machst mich richtig neugierig.«

»Du mußt die Augen zumachen und mitkommen.« Annika hüpfte schon wieder vor Vorfreude und zog ihre Mutter ins Wohnzimmer.

»Bei drei darfst du die Augen aufmachen. Eins… zwei… drei! Tä-täää!«

Wie im Zirkus ahmte sie einen Tusch nach und präsentierte ihrer Mutter einen herrlich komisch gedeckten Tisch. In der Mitte thronte eine Suppenschüssel, eigentlich vielmehr der Kochtopf, umrahmt von mindestens zehn kleinen Teelichtern und genauso vielen Stofftieren. Sogar der Boden rund um die Stühle war mit Stofftieren geschmückt. Auf die Stühle hatte sie viel zu dicke Kissen gelegt, so daß alle unweigerlich einen krummen Rücken beim Essen bekommen würden. Annikas Wangen glühten vor Stolz auf ihr Werk.

»Oh, ist das toll! Was ist denn da Gutes drin?« Monikas Beine paßten kaum noch unter den Tisch.

»Nudelsuppe!« Sie betonte das Wort so, als wenn sie mindestens Hummer oder Kaviar sagen wollte.

»Oh, wie lecker! Das kommt mir ja gerade recht. Ich hatte heute nicht mehr den geringsten Nerv zum Kochen.«

»Möchtest du einen Schluck Zitronentee?«

»Ist das wirklich Zitronentee?« fragte Monika vorsichtig. »Das sieht eher aus wie Kaffee!« Sie kannte Annikas Vorliebe für viel zu starken Zitronentee.

»Na, klar. Zitronentee à la Annika. Der hat wenigstens Geschmack!« Geschickt schöpfte sie die Suppe in den Teller und goß sich Tee ein.

»Also, die Nudelsuppe schmeckt köstlich, du kannst gern öfters Essen kochen. Und wie romantisch du den Tisch gedeckt hast! Da wäre ich nie drauf gekommen!«

Annika begann zu erzählen, und eine sehr gemütliche Stimmung kam auf. Monika konnte wirklich zufrieden sein mit ihrer Tochter.

»Was ist denn hier los?« Stefan betrat den Raum, als sie schon fast fertig gegessen hatten.

»Abendessen à la Annika! Und dazu auch noch warm! Anscheinend hat sie deinen Wunsch geahnt.« Monika sah ihn zufrieden an.

»Wozu liegen denn die ganzen Stofftiere herum?«

»Zur Zierde halt, du phantasieloses Wesen!«

Stefan zog seinen Stuhl hervor, legte das Kissen beiseite und schaute in den Kochtopf.

»Darf ich dir noch einen kleinen Tipp geben?« bemerkte er schulmeisterlich. »Die Suppe hättest du besser in eine Suppenschüssel umgefüllt. Dann sieht es appetitlicher aus.«

Monika seufzte in sich hinein. Stefan hatte einfach keine Kinderliebe. Es war auch nicht möglich, ihm zu erklären, was er falsch machte. Sicher meinte er es nicht böse, er wußte es einfach nicht besser. Wenn Annika seine eigene Tochter gewesen wäre, hätte er vielleicht mehr Stolz empfinden und mehr Rücksicht auf ihre Gefühle genommen. Aber so… Immer wieder zertrat er die zarte Pflanze der Freundschaft zwischen ihm und ihr.

»Das weiß ich wohl. Nur kam ich leider nicht an die Schüssel heran, weil sie ganz oben auf dem Schrank steht.« Er hatte es wieder geschafft, Annika war gekränkt.

»Ja, sicher, daran hat Stefan bestimmt nicht gedacht«, versuchte Monika einzulenken. »Wenn man 1,90 m groß ist, erscheint einem bestimmt das oberste Regal noch wie im Zwergenland. Wollen wir zur Feier des Tages noch eine Flasche Sekt öffnen, Stefan?«

Sie öffneten. Der Abend wurde noch sehr gemütlich. Für Annika jedoch war er schon recht früh zu Ende, da sie am nächsten Tag Schule hatte. Monika setzte sich noch einen Moment auf Annikas Bettkante für das allabendliche letzte Gespräch.

»Du, Mami?«

»Hm. Was ist?«

»Wann kann ich denn mal wieder reiten gehen?«

»Das weiß ich leider auch nicht. Reitunterricht ist zu teuer, das weißt du. Und ansonsten gibt es ja doch kaum eine Möglichkeit. Zumindest nicht hier in der Stadt.«

»Ich möchte aber soo gern mal wieder reiten.« Sie setzte ihr traurigstes Gesicht auf, daß es zum Herzerweichen war.

»Wir könnten ja vielleicht am Wochenende in die Talmühle fahren. Das ist dieser Vergnügungspark, wo wir vergangenen Sommer waren. Dort wird doch Ponyreiten angeboten.«

»Au, ja! Das wäre super. Bitte, Mami, laß uns dorthin fahren!«

»Zumindest hätte ich Sonntag Zeit. Ich möchte aber noch mit Stefan darüber reden. So, und jetzt schlaf schön. Gute Nacht.«

»Gute Nacht. Du bist die liebste Mami der Welt!«

Monika war zufrieden mit sich und ihrer Tochter. Sie hatten sich so lieb wie nichts anderes auf der Welt. Annika war die einzige Erinnerung an ihren verstorbenen Mann. Er wäre sicher sehr stolz auf seine Tochter gewesen. Sie war ein so liebes und lebenslustiges Kind. Warum nur hatte ihr Vater sterben müssen? Nie hätte sie geglaubt, daß er Krebs hatte. Er strotzte nur so vor Gesundheit, und alles kam so plötzlich. Es traf sie beide wie ein schrecklicher Faustschlag, der alles hätte zerstören können. Das Leben war einfach nicht gerecht, davon war sie überzeugt. Doch wollte sie auch nicht undankbar sein, immerhin blieb ihr ja noch ihr Kind. Einen Moment versank sie in den Gedanken, daß manche Menschen niemanden mehr auf der Welt hatten. Sie fand diese Vorstellung so traurig, daß ihr sofort Tränen in die Augen stiegen. In Gedanken versunken setzte sie sich auf die Couch.

»Schatzi, was machen wir am Wochenende?« Stefan unterbrach ihre Grübelei. Ach, ja, Stefan gab es natürlich auch noch. Und nicht zu vergessen ihre Mutter. Und ihre Freundin Antje, welche bestimmt die beste Freundin war, die man sich nur vorstellen konnte. Zudem hatte sie ja noch einen großen Bekanntenkreis und nette Kollegen. Ihre Stimmung steigerte sich zusehends und zauberte wieder ein Lächeln auf ihre Lippen. Gedankenverloren blickte sie durch Stefan hindurch und holte sich Annikas »Tä-tää« vom Abend noch einmal ins Gedächtnis.

»Redest du nicht mehr mit mir?« Stefan brachte die Seifenblase zum Platzen.

»Doch. Entschuldige. Ich war ganz in Gedanken. Was hast du gesagt?«

»Ich wollte gern wissen, was wir am Wochenende unternehmen wollen.«

»Annika würde gern mal wieder in den Vergnügungspark vom letzten Sommer. Wir waren schon lange nicht mehr da und könnten so auch das schöne Frühlingswetter genießen«

»Oh, nein! Tu mir das nicht an! Ich hasse diese Art von Familienfesten. Überall nur kleine Kinder und stinkende Tiere.«

Monikas gute Laune verflog schlagartig.

»Wir müssen doch nicht lange dort bleiben. Sie wünscht sich so sehr, mal wieder auf einem Pony zu reiten.«

»Und was ist mit meinen Wünschen? Denkst du auch ab und zu mal daran?«

»Wir machen doch sehr häufig das, was du möchtest. Ich habe nun mal eine Tochter, um die ich mich auch kümmern muß.« In solchen Situationen verließ sie immer der letzte Hoffnungsschimmer auf eine Annäherung zwischen Stefan und Annika. Seit über einem Jahr wohnten sie nun zusammen, und doch war noch kein wirklich herzliches Verhältnis entstanden.

»Was soll denn das heißen? Der ganze Tagesablauf richtet sich nach deiner Tochter. Wir leben nicht wie ein Liebespaar miteinander, sondern wie Vater und Mutter. Ich verlange ja nicht viel. Nur ab und zu möchte ich mit dir allein sein.«

»Und was soll ich Annika sagen? Sie möchte so gern mit uns etwas unternehmen.«

»Dann verschieb’ das auf ein andermal. Ich wollte gern mit dir in die Kunstausstellung in der Galerie.«

Monika wußte sich keinen Rat mehr.

»Bitte, Stefan, laß uns die Entscheidung verschieben. Ich werde noch einmal mit Annika reden, und außerdem bin ich sehr müde.« Wieder spürte sie diese Leere in sich. Teilnahmslos legten sie sich schlafen, und Monika wurde durchflutet von der Schwere des Tages in ihren Beinen und in ihrem Herzen.

*

Am folgenden Tag zog sie es vor, noch nicht mit Annika über den Ausflug zu reden, da in der kurzen Zeit sowieso nichts zu klären gewesen wäre. Wie gewohnt machten sie sich alle gemeinsam auf den Weg.

Im Laden lief alles wie gewöhnlich, und Monika hatte Zeit genug, über ihr Problem ein wenig nachzudenken. Nur die Dauerberieselung aus den Lautsprechern fiel ihr auf die Nerven. Heute mußte noch etwas Besonderes passieren, um ihre Laune merklich aufzubessern, da war sie sich sicher.

»Hallo, Frau Jakob!« Monika fuhr erschrocken herum.

»Ach, Sie! Jetzt hab’ ich mich aber erschreckt.« Vor ihr stand Frau Albert, und Monika begann innerlich zu fluchen.

»So? Schreckhaft sind nur die Schuldigen!« Frau Albert riß ihren knallrot geschminkten Mund zu einem künstlichen Gelächter auf.

»Nein, nein, nix für ungut. War nur ein Scherz. Wie geht’s denn so? Waren Sie krank? Ich hab’ Sie gestern gar nicht gesehen?« Nichts bleibt ihr verborgen, die geborene Spionin, dachte Monika.

»Nein, ich war den ganzen Tag hier. Vielleicht war ich gerade im Büro, als sie kamen?«

»Na ja, kann schon sein. Wissen Sie, was mir passiert ist?« Sie sind ahnungslos auf der Straße gelaufen und von Kindern gefragt worden, ob Sie der Clown aus dem Zirkus sind, dachte Monika grimmig.

»Nein, was denn?« Mit großen fragenden Augen sah sie die andere an, während Frau Albert tief Luft holte, um loszulegen.

»Also. Gestern morgen wach’ ich auf, und wie ich mich aufrichten will, da tut es einen Schlag!« Ihr Gesicht bekam einen gequälten Ausdruck, wobei sie das Wort Schlag in eine bedrohliche Länge dehnte.

»Sie haben ja keine Ahnung! Sie kennen ja bestimmt den Spruch: Wenn man über vierzig ist und morgens aufwacht und es tut einem nichts weh, dann ist man tot! Ha, ha, ha! Also, ich meine, über kleine Wehwehchen beklage ich mich ja schon gar nicht mehr, aber diesen Schlag, den werde ich mein Lebtag nicht mehr vergessen. Ich habe gedacht, Jutta, jetzt hat’s dich erwischt!«

»Oje, hatten Sie einen Hexenschuß?« Monika tat interessiert.

»Ach was, Hexenschuß! Viel schlimmer. Ich bin sofort mit dem Taxi zu Dr. Latzke gefahren, der ja eine Konifere auf dem Gebiet ist!«

Monika befürchtete, gleich laut loszulachen.

»Also, dort wurde ich auch gleich untersucht, weil ich ja sozusagen ein Notfall war. Der Arzt hat dann gesagt, das wäre ein eingeklemmter Nervenstrang an der Wirbelsäule!« Nachdem sie jedes Wort in sauberem Hochdeutsch akzentuiert aufgesagt hatte, schaute sie Monika erwartungsvoll an.

»Das ist ja unglaublich!« Monika spielte überzeugend große Anteilnahme. Für ihr schauspielerisches Talent war sie bekannt, und sie amüsierte sich über sich selbst.

»Wie ist es nur möglich, daß es Ihnen heute wieder so gut geht?«

»Ach, wissen Sie, mit ein bißchen Selbstdisziplin geht das schon. Ich sag ja immer: Wer rastet, der rostet! Und wer sollte sich denn um mich kümmern, wenn ich im Bett liegen würde? Nein, nein, gleich gestern mittag bin ich schon wieder aufgestanden. Ich hatte ja fast nichts mehr zu essen im Haus! Wo ist denn eigentlich Ihr Verlobter heute? Ich hab’ ihn noch gar nicht gesehen!«

»Mein Lebensgefährte wird vermutlich seiner Arbeit nachgehen. Wir sind noch nicht verlobt, wie Sie wissen.«

Diese alte Klatschbase, dachte Monika. Am liebsten hätte sie ihr die Meinung gegeigt, aber leider verlangte es ihre Stellung, daß sie immer freundlich bleiben mußte.

»Ach, ja, entschuldigen Sie. Das entfällt mir jedesmal.« Frau Albert drehte mitleidig den Kopf zur Seite und schaute Monika bedauernd an.

»Das ist für Sie aber auch nicht schön. Man will doch gern wissen, woran man ist, nicht wahr?«

Ihr Blick wanderte langsam zur Seite. Sie beugte sich über die Sahne im Kühlregal und betastete mit ihren überlangen roten Fingernägeln die Verpackungen. Monika nutzte die Gelegenheit und verschwand im Lager. Sie machte sich einen Kaffee, um sich in einer stillen Ecke auf einer Kiste auszuruhen. So wie Frau Albert dachten bestimmt viele, schoß es ihr durch den Kopf. Ärger kam in ihr hoch. Es konnte ihr doch egal sein, wie alle darüber dachten. Würde sie Stefan heiraten, wenn er es wollte? Einen Bruchteil einer Sekunde schoß ihr ein »Nie!« durch den Kopf, doch ehe sie den Gedanken hätte festhalten können, wurde er von einem anderen Wunsch wieder verdrängt. Sie genoß die Sicherheit durch Stefan, die Sicherheit, die ihr ein geregelter Tagesablauf bot. Und auch das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie brauchte jemanden, mit dem sie ihre Sorgen teilen konnte. Sie hatte sich schon so an seine Anwesenheit gewöhnt, daß sie sich nichts anderes mehr vorstellen konnte. Als junge Frau war ihr ihr Leben noch ganz anders vorgekommen. Alles war selbstverständlich, ihre Arbeit, ihre Art, die Freizeit zu verbringen, ihre Freunde, nie machte sie sich Gedanken darüber, was wäre, wenn sie dieses oder jenes verlieren würde. Aber heute…

Obwohl sie erst 34 Jahre war, kam sie sich wie eine alte Frau vor, die sich scheut, länger als bis zum Abendessen auszugehen. Früher hätte sie anders auf Frau Albert reagiert, nie hätte sie sich von ihr ärgern lassen. Sicher tat das gestiegene Alter sein Scherflein dazu, die Lebenserfahrung und auch die Sorge um ein Kind. Trotzdem kam ihr ihr Leben unwirklich vor. Jeden Tag im Supermarkt Regale einzusortieren, Hausarbeit zu erledigen und die wenigen Höhepunkte darin zu erleben, daß sie einmal ins Theater oder Bummeln gingen. Sollte das alles sein? Braucht der Mensch die Sicherheit des Alltags? Am Morgen wissen, was am Abend kommt? Wie auch sollte sie ihr Leben ändern?

Wenn Annika erwachsen ist, dachte sie, dann könnte sie ihr Leben neu ordnen. Solange sie jedoch für den Unterhalt aufkommen mußte, erschien es ihr zu kompliziert.

Gut, daß sie Stefan hatte, der ja auch noch seinen Teil zu den Finanzen zusteuerte. Überhaupt war es wichtig, daß Annika eine männliche Bezugsperson hatte. Viel schlechter waren doch die Kinder dran, die nur bei ihrer Mutter aufwuchsen und später Schwierigkeiten mit ihren Ehepartnern bekamen. Mit sich und ihren Gedanken zufrieden, machte sich Monika wieder an ihre Arbeit. Der restliche Vormittag verlief wie gewohnt, es gab die eine oder andere Reklamation, alles wurde wieder ins reine gebracht, so wie es jeden Tag war. Monika verabschiedete sich noch von Stefan, der wie gewohnt seine Nase in den Büchern hatte und sie kaum wahrnahm. Sie fuhr mit der U-Bahn nach Hause, damit er am Abend das Auto nutzen konnte. Als sie die Haustür öffnete, hörte sie schon das Telefon klingeln. In letzter Sekunde hob sie den Hörer ab.

»Jordan!«

»Hallo, hier ist Antje! Stör’ ich dich?«

»Nein, im Gegenteil. Ich kam nur gerade erst zur Tür herein.« Monika entledigte sich mit eingeklemmtem Hörer ihrer Jacke und sonstigen Utensilien. Sie liebte es, mit Antja zu plaudern. Das Problem war nur, daß sie kein Ende finden konnte. Antje war schon zu Kinderzeiten ihre Freundin gewesen. Sie kannten sich und ihre Probleme ganz genau. Antje, welche schon mit zwanzig Jahren geheiratet hatte, war inzwischen auf die stattliche Anzahl von fünf Kindern gekommen. Was sie allerdings nicht im geringsten daran hinderte, einen ausgeprägten Bekanntenkreis zu pflegen.

»Du Arme! Bei mir herrscht noch Ruhe. Seit Dietlind auch im Kindergarten ist, habe ich den ganzen Vormittag für mich.«

»Ich beneide dich aber nur für deinen Vormittag. Den Nachmittag möchte ich nicht erleben!«

»Dafür hat mein Vormittag echte Qualität. So oft ich möchte, kann ich mich in einen wunderbaren Roman vertiefen.«

»Da hast du auch wieder recht. Und zudem hast du einen erfolgreichen, reichen Chemiker geheiratet, der dich fürstlich versorgt.«

Monika beneidete ihre Freundin um ihre perfekte Familie. Auch Annika war sehr gern dort und genoß das Großfamilienambiente.

»Was macht ihr drei denn am Wochenende?« traf sie gleich ins Schwarze.

»Das ist noch nicht raus. Stefan will unbedingt in eine Kunstausstellung und Annika in die Talmühle. Und ich muß mich jetzt zerreißen.« Monika seufzte tief.

»Dann geht doch an einem Tag in die Ausstellung und am nächsten in den Vergnügungspark.«

»Wir haben nur Sonntag frei, also werden wir uns entscheiden müssen. Außerdem ist die fehlende Zeit nur die Hälfte des Problems.«

»Stefan mag nicht in die Talmühle, stimmt’s?« Antje bewies mal wieder ihre gute Menschenkenntnis.

»Stimmt. Woher weißt du?«

»Na, ich kenne doch deinen Stefan. Er ist sich doch nur selbst wichtig. Was hast du von einem verwöhnten Einzelkind denn erwartet?«

»Ich weiß auch nicht. Es wird immer schwieriger mit ihm und Annika. Ich überlege mir, ob

Annika ihn mehr respektieren würde, wenn wir verheiratet wären.«

»Vielleicht würde sie das, aber mag er deswegen Annika auch mehr?«

»Möglicherweise. Wenn sie ihn eben nicht respektiert. Vielleicht wäre es für ihn auch hilfreich, unser aller Verbundenheit schwarz auf weiß zu sehen?«

»Na, ich weiß nicht. Möchtet ihr denn heiraten?« Antjes Stimme klang skeptisch.

»Er hat mich nicht gefragt. Ich habe heute nur darüber nachgedacht.«

»Erwartest du denn, daß er dich fragt?« Antje wollte keine Wunden aufreißen, aber immerhin waren sie seit über einem Jahr ein Paar, und noch nie hatte Monika das Wort heiraten erwähnt.

»Ich halte es zumindest nicht für abwegig. Immerhin sind wir lange genug zusammen.«

War sie sich sicher über das, was sie da gerade gesagt hatte? Hielt sie es wirklich für möglich, daß er sie fragen würde?

»Da hast du recht. Warte doch einfach ab, was passiert. Und was euer Wochenende betrifft, denke ich, solltest du mit beiden gleichzeitig reden. Vielleicht ergibt sich dann eine Lösung.«

»Ja, das sollte ich vielleicht tun. Du, es hat eben geklingelt. Annika kommt nach Hause, und ich habe noch nichts zu Essen gemacht.«

»Da bin ich dir einen Schritt voraus, ich habe schon alles vorbereitet! Na, dann will ich nicht länger stören. Meldet euch, wenn wir uns mal wieder sehen wollen. Tschüß!«

»Mach ich. Tschüß, Antje!«

Monika konnte Annika die Treppen heraufstampfen hören. Sie ahnte schon, was sie gleich erwarten würde.

»Na, mein Schatz, wie geht’s?« fragte sie ihre Tochter beim Eintreten.

Ohne Begrüßung und mit finsterem Blick pfefferte sie ihren Ranzen in die Ecke, Schuhe und Jacke gleich hinterher, und begann zu fluchen:

»Ach, dieser blöde Geschichtslehrer. Der hat mir eine Strafarbeit gegeben, obwohl ich nichts getan habe!«

»Bist du dir sicher? Du merkst ja manchmal gar nicht, wenn du zuviel redest.«

»Diesmal aber wirklich nicht. Eva hat ja zugegeben, daß sie es war, die geschwätzt hat, aber leider erst, als es zu spät war! Und ihm hat sie es auch nicht gesagt. Und deswegen muß ich jetzt eine Seite aus dem Buch abschreiben. Das ist ja so gemein.« Annika schossen die Tränen aus den Augen. Sie ließ sich auf den Stuhl fallen und verschränkte stinkwütend ihre Arme vor der Brust.

»Habt ihr noch mit dem Lehrer reden können?«

»Nein. Sie wollte es vor ihm nicht zugeben. Nur mir hat sie es gestanden. Und ich kann sie ja schließlich nicht verpfeifen!« Die Tränen versiegten wieder. So war es bei Annika immer. Sie konnte wie auf Knopfdruck bitterlich weinen und genauso schnell wieder aufhören. Früher benutzte sie diese Fähigkeit je nach Bedarf, und es hatte viele Jahre gedauert, bis Monika den Trick durchschaut hatte. Sie hätte sich nie vorstellen können, daß so etwas überhaupt möglich ist. Obwohl ihre Mutter behauptete, diese Technik als Kind auch spielend beherrscht zu haben. Die Großmutter und ihr Enkel, sie waren sich ja so ähnlich.

»Das finde ich allerdings auch gemein. Nun wirst du aber kaum mehr umhin kommen, die Strafarbeit zu machen. Es sei denn, Eva wollte sie für dich schreiben?«

In Anbetracht von Annikas unleserlicher Schrift, fand Monika diese Extraübung allerdings doch nicht so übel.

»Oh, Mann, das würde nie funktionieren. Eva hat eine Schrift, die könnte Bibeln mit der Hand schreiben! Das glaubt uns kein Mensch!«

Eine neue dicke Träne quoll aus dem Augenwinkel.

»Na, komm! Augen zu und durch. Das schaffst du in zehn Minuten, wenn du dich beeilst. Was hättest du denn gern zu Mittag gegessen? Ich mache dir dein Lieblingsessen, wenn du möchtest.«

Bei der Aussicht auf ein gutes Essen kam in Annika wieder eine versöhnliche Stimmung auf. So saßen sie denn eine halbe Stunde später vor gebackenem Camembert mit Bratkartoffeln, und aller Unmut war verflogen.

»Weißt du, auf was ich mich freue, Mami?« Annika sah mit einem zuckersüßen Lächeln und Krümeln auf den Lippen erwartungsvoll zu ihrer Mutter.

»Nein? Auf was denn?« tat Monika ahnungslos.

»Auf das Ponyreiten am Wochenende!«

»Du weißt, daß Stefan auch noch einverstanden sein muß. Ich hatte dir nichts versprochen!«

»Ooch! Hoffentlich hat er nichts dagegen. Sicher will der wieder was ganz anderes machen. In ein langweiliges Museum gehen oder so was. Dann sagt er wieder: Wissen ist geistige Munition, mein Kind! Wer nichts weiß, der bringt es auch zu nichts!« Annika ahmte Stefans Art zu sprechen nach.

»Wobei er ja nicht ganz unrecht hat!« bemerkte Monika.

»Jeden Tag Schule und dann noch am Wochenende Museen! Nein, danke! Man muß auch mal entspannen. Und für ein Kind ist es viel wichtiger, mit Tieren zu spielen. Damit es Verantwortung lernt. Da stand letztens sogar in der Zeitung!«

Monika mußte schmunzeln. Annika konnte so herrlich argumentieren, daß sie geneigt war, ihr zuviel nachzugeben. Das verwöhnte Einzelkind. Sie lächelte in sich hinein. Der Gedanke hallte in ihrem Kopf. War es bei Stefan auch so gewesen? Sie verglich ihre Tochter mit den Kindern von

Antje. Ja, ein kleiner Unterschied bestand da schon. Wie Annika wohl ein Geschwisterchen fände? Sie schob den Gedanken wieder beiseite.

»Ich würde vorschlagen, daß du jetzt deine Hausaufgaben machst, dann hast du heute mittag frei und kannst spielen gehen.«

»Kann ich Melanie besuchen, wenn ich fertig bin?«

»Ja, sicher«, erwiderte Monika und fing an, ihren Haushalt auf Vordermann zu bringen. Zuerst widmete sie sich ihrer Lieblingsbeschäftigung, der Pflege ihrer Zimmerpflanzen. Wenn sie schon keinen Garten haben konnte, dann wollte sie wenigstens eine Wohnung voller Blumen. Lieber hätte sie ihren Pflanzen die frische Luft in der freien Natur gegönnt, aber was nicht geht, geht eben nicht. Nachdem sie alle Gewächse abgeduscht und gedüngt hatte, brachte sie die übrige Unordnung wieder in eine wohltuende Ordnung. Da klingelte plötzlich das Telefon. Antje meldete sich noch einmal.

»Du, ich wollte dir noch ein Angebot machen, wegen eures Wochenendproblems. Frauke würde sich freuen, wenn Annika bei ihr übernachten könnte. Vielleicht kannst du sie damit trösten, falls ihr nicht zur Talmühle fahrt?«

Frauke war Antjes zweitältestes Kind, genauso alt wie Annika und eine gute Freundin.

»Das ist aber ein netter Vorschlag. Vielleicht mag sie dann gar nicht mehr zur Talmühle. Und Stefan wäre auch zufrieden, weil er mich am Wochenende allein für sich hat.«

»Besprecht doch die Idee und informiert uns, falls sie kommen möchte.«

»Ja, gern, wenn es dir nicht zu viel Arbeit macht. Hast du nicht schon genug zu tun?«

Monika überkam das schlechte Gewissen. Wie konnte sie als Mutter von einem Kind jenes einer Mutter von fünf Kindern, noch dazu übers Wochenende, überlassen?

»Nein, da mach dir mal keine Gedanken. Annika ist ja schon groß. Ob fünf oder sechs, da merk’ ich keinen Unterschied. Zwei Kartoffeln mehr geschält und dafür kein Gejammer von wegen. Mir ist so langweilig! Was kann ich denn mal machen? Und so weiter. Du weißt schon, was ich meine.«

»Na, schön. Du bist wirklich lieb. Bei Gelegenheit werde ich mich revanchieren.«

»Das mach’ ich doch gern für dich. Oje, Dietlind schreit wie verrückt. Ich muß Schluß machen! Mach’s gut!«

Bei Müllers war immer etwas los. Insbesondere Dietlind, die Jüngste, hielt die Mutter auf Trab. War das eine Dilemma endlich behoben, passierte das nächste. Und trotzdem galten sie überall als Vorbild. Das ganze Dorf war stolz auf ihre Mitbewohner mit dem großen Familiensinn und den freundlichen und hilfsbereiten Kindern.

Monikas freier Nachmittag verging wie im Flug, und der Abend brach schon an, als Stefan die Tür aufschloß.

»Hallo. Was gibt’s denn zu essen?« fragte er mit uninteressierter Stimme.

»Ich habe uns eine große, saftige Pizza gemacht. Und zum Nachtisch Vanilleeis mit heißen Himbeeren.«

»Hmh! Lecker!« hörte man Annika aus ihrem Zimmer rufen.

Stefan verschwand im Bad.

»Wir können gleich essen! Wasch dir die Hände, Annika!« Monika stellte zuletzt die Pizza auf den festlich gedeckten Tisch.

»Wir wollten doch noch über das Wochenende sprechen«, fing Annika sogleich an, die es mal wieder nicht geschafft hatte, etwas geduldiger zu sein.

»Fahren wir nun in die Talmühle?« Sie setzte einen bittenden Gesichtsausdruck auf.

»Also, ich habe nicht die geringste Lust dazu. Schließlich gehe ich den ganzen Tag arbeiten. Da mag ich am Wochenende etwas Erholsames tun.«

Stefan ist unerbittlich, schoß es Monika durch den Kopf.

»Ich hätte noch eine andere Idee. Frauke läßt anfragen, ob du von Samstag auf Sonntag bei ihr übernachten möchtest. Stefan und ich könnten dann zur Kunstausstellung. Dafür würden wir vielleicht nächste Woche zur Talmühle fahren.«

Annika schossen die Tränen in die Augen. Wütend ließ sie ihr

Pizzastück auf den Teller fallen.

»Ich wollte aber so gerne mal wieder reiten gehen. Nie macht ihr, was mir Spaß macht!« Sie sah wütend, mit verschwommenem Blick auf ihre Mutter und dann auf Stefan.

»Das stimmt ja gar nicht«, versuchte Monika zu beschwichtigen. »Wir gehen ja noch Reiten, aber eben erst nächste Woche! Und Frauke würde sich so freuen, wenn du kämst!«

»Es kann eben nicht immer alles nach deiner Nase gehen!« bemerkte Stefan mit vollem Mund.

»Was meinst du? Soll ich Frauke Bescheid sagen, daß du kommst?« Monikas letzte Hoffnungen auf eine friedliche Lösung schwanden dahin.

»Ja, dann sag’ ich halt Bescheid. Ich habe ja doch keine andere Wahl.« Annika verschränkte wieder beleidigt die Arme vor der Brust und ließ ihre Tränenquelle versiegen.

»Du solltest nicht so frech mit deiner Mutter reden. Das gehört sich nicht«, stieß Stefan hervor.

Wortlos stand Annika auf und verließ das Zimmer. Der Appetit auf Pizza war ihr nun gründlich vergangen. Sie konnte Stefan noch nie wirklich leiden, aber das sprengte nun jedes Maß. Warum mußte sich Mutter ausgerechnet so einen Mann aussuchen? Jetzt hatte sie die Nase gründlich voll. Daß sie morgen bei Frauke sein durfte, empfand sie nun als ihr Glück im Unglück. Dieser Fall mußte einmal ausführlich diskutiert werden. Monika öffnete leise die Tür und betrat das Kinderzimmer. Einen Moment schaute sie Annika nachdenklich an.

»Könnt ihr euch nicht auch mal vertragen? Ihr macht mir solch einen Kummer.«

»Was heißt hier ihr? Er macht doch den Kummer!«

»Jetzt ist aber Schluß! So darfst du nicht von Stefan reden. Schließlich könnte er dein Vater sein!«

»Wenn er mein Vater wäre, würde er nicht so gemein sein zu mir!« Annika hatte sich zwischenzeitlich ihren Schlafanzug angezogen und verkroch sich unter ihrer Bettdecke. Heute wollte sie niemanden mehr sehen. Monika ging wortlos, aber gedankenschwer hinaus. Sie verständigte noch Antje über Annikas Kommen und versuchte, ihre schlechten Gedanken zu verdrängen. Schließlich sollte sie sich auf das kommende Wochenende ganz allein mit Stefan freuen.

*

»Na! Wie gefällt dir mein neues Stück?« Luise streckte stolz die Brust nach vorn, stemmte die Hände in die Seite und blickte Annika erwartungsvoll an. Sie hatte ihr neuestes selbstgestricktes Werk von Pullover an, welches in fünf verschiedenen Farben strahlte und mit vielen winzigkleinen Bommeln betupft war, die wie Konfetti auf den Schultern lagen. Für Annikas Geschmack war es ein wirklich toller Pullover. Nicht so langweilig gleich wie alle anderen, die zu kaufen waren.

»Ist der nicht ein bißchen zu bunt für dich? Der ist doch mehr was für Kinder!« Diplomatisch tastete sie sich heran.

»Man ist immer so alt, wie man sich fühlt! Den Pulli gibt’s kein zweitesmal! Ich finde es wirklich peinlich, wenn man ausgeht und es kommt einem noch mal der gleiche Pullover entgegen!« Doch die Großmutter hatte ihre Enkelin längst durchschaut.

»Magst du ihn haben?« Sie schaute Annika mit erwartungsvollen Augen an.

»Darf ich? Das ist ja toll!« Annika zog ihn sogleich an und betrachtete sich im Spiegel.

»Ach, Omi, du bist wirklich die Liebste!«

Ein dicker feuchter Kuß auf Omis Wange bekräftigte das eben Gesagte.

»Mami natürlich auch! Nur Stefan könnte ich auf den Mond schießen.« Sie verengte ihre Augen zu wütenden Schlitzen.

»Habt ihr euch schon wieder gestritten? Mach dir keine Sorgen, das geht auch wieder vorüber.«

Luise kannte die Sorgen ihrer Enkeltocher. Doch frei nach dem Motto, daß Sorgen nicht kleiner werden, wenn man sie ständig mit sich herumträgt, versuchte sie, vom Thema abzulenken, und den Samstag mit ihrer Lieblingsenkelin zu genießen.

»Magst du mit mir in die Zeitung schauen? Ich spiele mit dem Gedanken, mir ein Mofa anzuschaffen!«

Annika blickte überrascht.

»Kauf dir doch lieber ein Pferd! Das ist bestimmt nicht teurer!« Wie konnte man nur so unvernünftig sein, schoß es ihr durch den Kopf. Ein Pferd macht doch viel mehr Spaß als ein Mofa!

»Ja, sicher, ich hatte auch schon mit dem Gedanken gespielt«, Luise sprach wie selbstverständlich, »ob ich nicht einfach das Schlafzimmer in einen Stall umbaue? Den Mist könnte ich auf den Balkon häufen und tränken könnte ich das Pferd in der Badewanne. Ich mache mir nur Gedanken, ob der Vorgarten von Müllers als Auslauf ausreichend ist?«

Herausfordernd schaute Luise in Annikas große Augen. Das Mädchen war sich noch nicht sicher, ob ihre Oma einen Scherz machte oder es eventuell doch ernst meinte. Doch dann brachen beide in schallendes Gelächter aus.

»Aber jetzt Scherz beiseite, ein Mofa wäre wirklich praktisch für mich, wenn ich schon kein Auto habe. Laß uns mal die Gebrauchtanzeigen durchsehen.«

Die Zeitung wurde auf dem Tisch ausgebreitet, und beide steckten ihre Nasen hinein. Nach einer Weile, nachdem Luise einige Anzeigen herausgeschrieben hatte, wurde es Annika zu langweilig.

»Verkaufen die nichts anderes als Motorräder und Autos?« wollte sie wissen.

»Doch! Eine ganze Menge anderer Sachen auch noch. Es gibt fast nichts, was nicht auch gebraucht verkauft würde. Hier zum Beispiel!« Luise schob Annika eine Seite rüber.

»Hier werden Kleider und Tiere angeboten!«

»Oh! Prima! Pferde auch?«

»Ich denke schon. Du mußt einfach danach suchen.« Luise wollte sich schon wieder ihren Anzeigen zuwenden, als Annika ein spitzer Schrei entfuhr, was darauf schließen ließ, daß sie ihre erste Pferdeanzeige gefunden hatte. Ständig rief sie aus: »Oh, wie süüüß!« oder »Hör mal, Oma!« und Luise kam kaum mehr dazu, sich ihren Interessen zu widmen. Eine ganze Weile später verfiel ihre Enkelin in ein riesiges Gelächter. Sie konnte sich kaum mehr beruhigen.

»Hier verkauft sich einer selbst! und sein Stockmaß hat er auch angegeben! Hör mal, Oma: Mann, 30 Jahre, 1,74 m groß und 70 kg sucht ein neues Zuhause! Ist der verrückt oder warum schreibt er das?«

Nun mußte auch Luise schrecklich lachen.

»Der Mann verkauft sich nicht, sondern er sucht eine Frau über die Zeitung. Die Formulierung mit dem neuen Zuhause ist vielleicht etwas unglücklich gewählt.«

Annika mußte erst einmal ihre Gedanken sortieren. So etwas hatte sie noch nie gehört. Sie sah die Anzeige eine ganze Weile an und dachte nach.

»Das ist ja komisch, der wohnt auf einem Schiff oder so etwas!« Annikas Gesicht verzog sich ungläubig.

»Tatsächlich?« fragte Luise und schaute interessiert auf die Zeilen.

»Schau, hier steht, Interessenten sollen sich bitte an Chiffre Nr. 2567 wenden.« Mit dem Zeigefinger unterstrich sie das Gelesene.

»Ach, das meinst du.« Luise schmunzelte.

»Rechtschreibung ist wohl nicht gerade deine Stärke? Das bedeutet nicht Schiff, sondern das ist eine Postadresse bei der Zeitung. Dadurch muß der Mann nicht gleich seine Privatadresse bekanntgeben. Die Zeitung sammelt die eingegangenen Briefe für ihn, und er kann sie sich dann abholen.«

»Ach, das ist aber praktisch!« Nun wurde Annika sehr still und nachdenklich. Ihre Oma hätte, wenn sie aufmerksam gewesen wäre, bemerken können, daß sich nun in dem jungen Kopf ihrer Enkelin ein fast verrückter Gedanke zusammenbraute. Doch glücklicherweise bemerkte sie nichts. Der restliche Tag verlief wie gewöhnlich mit »Mensch ärgere Dich nicht« – Spielen und Plaudern über Gott und die Welt. Alles war wie sonst, nur die etwas roteren Wangen und der glühendere Augenausdruck fielen Luise an ihrer Enkeltochter auf. Doch freute sie sich nur über die Lebenslust, die ihre Enkelin ausstrahlte, und schenkte ihnen keine weitere Beachtung.

*

Stefan schloß die Autotür auf und stieg ein. Monika nahm ebenfalls Platz und streckte ihre Beine so gut es ging aus.

»Wir müssen Annika noch von meiner Mutter abholen und zu Frauke bringen«, erinnerte Monika ihren Lebensgefährten und sah ihn an.

»Ja, ich weiß. Ich habe zwar nicht die geringste Lust dazu, aber was tu’ ich nicht alles für euch!« Stefan ließ einen leicht beleidigten Unterton heraushören.

»Wenn du möchtest, kannst du auch zu Hause bleiben, und ich fahre Annika alleine.« Dies bedeutete zwar einen Umweg, aber Monika spürte, daß ihm dies lieber wäre.

»Das wäre mir sehr recht. Ich möchte mich noch ein wenig ausruhen.«

Vor der Haustür angekommen, wechselten sie die Plätze, und Stefan verschwand hinter der Haustür. Monika dachte darüber nach, daß Stefan sie erwartete, wenn sie später heimkäme. Sie empfand den Gedanken als sehr angenehm und erleichternd. Trotzdem hatte er nicht die Herzenswärme, die sie für angemessen gehalten hätte. Vielleicht würde es ihrem Zusammenleben ja doch den entscheidenden Kick verleihen, ein familiäres Gefühl geben, wenn sie verheiratet wären und ein gemeinsames Kind hätten. Langsam ließ Monika in sich das Gefühl aufkommen, eine junge Mutter zu sein, die Wärme eines kleinen Säuglings zu spüren, für diesen sorgen zu können, mit all den positiven Gefühlen, die sie damit verband. Dieser Gedanke arbeitete und entwickelte sich die ganze Fahrt über und entfachte in ihr eine Lebenskraft, die die ganze Welt in neuem Licht erscheinen ließ. Fröhlich sprang sie die Stufen hinauf zur Wohnung ihrer Mutter und verbreitete gute Laune bei ihren Liebsten. Nach einer kleinen Tasse Kaffee, bei der sie die neuesten Mofaideen ihrer Mutter als verrückt begutachtete, machte sie sich mit Annika auf den Weg zu ihrer Freundin Antje. Beide waren ausgefüllt mit Vorfreude auf das Haus voll Leben, welches sie gleich erwarten würde. Mutter wie Tochter waren bester Laune. Doch so schicksalhaft wie das Leben sein kann, ahnte keine von der so gegensätzlichen Idee der anderen.

*

Nachdem alle Anwesenden begrüßt wurden, was durchaus keine kleine Angelegenheit war, setzte sich Monika zu einem kurzen Plausch zu Antje. Annika zog Frauke eilig in ihr Kinderzimmer.

»Ich muß dir was Dringendes erzählen«, sprudelte Annika heraus.

»Was denn? Darfst du endlich reiten gehen?« Frauke fieberte mit Annikas größtem Wunsch mit, da auch sie nichts lieber tat, als ihre Freizeit auf dem Rücken der Pferde zu verbringen.

»Nein, damit hat es leider nichts zu tun. Aber ich habe eine Idee!« Sie macht eine lange Pause, um ihre Gedanken zu sortieren.

»Ich suche meiner Mutter einen neuen Freund!« Erwartungsvoll schaute sie ihre Freundin an.

»Hää? Du willst was machen? Hast du schlecht gefrühstückt?« Frauke fand Annika schon immer ein wenig ausgeflippt, aber das sprengte nun doch ein wenig den Rahmen.

»Mit Stefan halte ich es nicht mehr länger aus! Der kann mich nicht leiden. Und von Mami läßt er sich auch nur bedienen. Aber sie tut immer, was er will. Nur wegen dem sind wir nicht in die Talmühle gefahren. Das ist doch wirklich so gemein!« Die Arme wie üblich vor der Brust verschränkt und mit einem wäßrigen Blick unterstrich sie ihre Entschlußkraft.

»Na ja, so richtig nett finde ich Stefan ja auch nicht gerade. Aber wie willst du denn einen neuen Freund finden?« Frauke war immer an allem Neuen interessiert und sprühte nur so vor Ideen, aber dazu wollte ihr wirklich nichts Sinnvolles einfallen.

»Weißt du, was Bekanntschaftsanzeigen sind?« fragte Annika altklug.

Frauke zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung!« Langatmig erörterte Annika ihrer Freundin die ganze Angelegenheit, vom Stockmaß bis zum Chiffre.

»Und du willst auf so eine Anzeige für deine Mutter antworten?« Fasziniert sah sie Annika an.

»Nein, besser! Ich gebe selbst eine Anzeige auf! Dann wissen die Männer gleich, auf was sie sich einlassen. Und ich kann mir in Ruhe den Besten raussuchen!« Annika war sichtlich stolz auf ihre Idee.

»Mann, hast du einen Mut. Was willst du denn in die Anzeige schreiben?« Frauke warf einen schnellen Blick zur Tür hinaus, ob nicht irgendeines ihrer Geschwister lauschte. Da sah sie Annikas Mutter kommen. Schnell kramten sie ein Spiel aus dem Schrank und taten beschäftigt.

Monika streckte ihren Kopf durch den Türspalt.

»Hallo, ihr zwei. Ich muß mich jetzt aufmachen. Hast du alles, was du brauchst, Annika?«

»Ja, klar. Kannst ruhig gehen. Wir spielen schon schön.« Sie hüpfte ihrer Mutter entgegen und gab ihr ein Abschiedsküßchen.

»Na, dann bis morgen abend.« Monika freute sich über die offensichtliche Veränderung der Stimmung ihrer Tochter und verließ beschwingt das Haus.

Nachdem sich die Kinder davon überzeugt hatten, daß ihr Auto abgefahren war, suchten sie eifrig Zettel und Stifte, um den Anzeigentext zu formulieren.

Plötzlich kamen Frauke Zweifel.

»Wie willst du denn die Briefe, die du dann bekommst, vor deiner Mutter verheimlichen?«

»Ich laß’ mir eine Chiffrenummer geben. Dann bekomme ich die Post nicht nach Haus, sondern kann sie mir bei der Zeitung abholen. Ist doch prima, oder?« All diese Dinge ließen Annika sich vor ihrer Freundin sehr klug fühlen.

Nun formulierten sie, was das Zeug hielt, kicherten über ihre lustigen Texte, versuchten Annikas Mutter so positiv wie möglich darzustellen und auch über Annika selbst verloren sie ein paar Worte.

»Ein Problem haben wir aber noch!« Annika schaute betrübt.

»Welches denn?«

»Die von der Zeitung erkennen doch an der Schrift sofort, daß das ein Kind geschrieben hat!«

»Wir könnten es auf dem Computer von Wolfram schreiben. Der läßt uns bestimmt mal ran.« Frauke war froh, auch eine gute Idee beisteuern zu können. Ihr Bruder würde bestimmt nichts dagegen haben. Sie selbst mußte schon mehrmals einen Aufsatz für die Schule am PC schreiben, also wußte sie auch einigermaßen damit umzugehen. Nach kurzen Verhandlungen und gegen eine Mark Taschengeld hatte Wolfram auch nichts mehr einzuwenden.

»Wie willst du denn die Anzeige zur Zeitung bringen? Wenn sie dich sehen, glauben sie doch kaum noch, daß die Anzeige ernst gemeint ist.« Frauke fand die Angelegenheit langsam doch komplizierter, als sie zuerst gedacht hatte.

»Tä-tää!« Annika zog aus der Tasche ein Stück zusammengefaltete Zeitung hervor und präsentierte sie in der Luft.

»Das ist ein Zettel zum Ausfüllen. Dann kann man sehen, was die Anzeige kostet, und eine Adresse ist auch drauf. Den hab’ ich heute morgen heimlich ausgerissen. Und das Geld schicke ich einfach mit dem Brief mit.«

»Oh, Mann! Du hast aber auch wirklich an alles gedacht!« Frauke war platt.

Ein Briefumschlag ließ sich auch noch organisieren, das Geld streckte Frauke bis zum nächsten Treffen vor, und die Sache war perfekt. Den ganzen Abend bis in die Nacht hinein sprachen sie über die Anzeige und was wohl alles passieren würde. Keine wurde müde. Nachdem das Gespräch zu ihrem anderen Lieblingsthema, den Pferden, überwechselte, legte sich die Aufregung allmählich, und ein langer Tag, der vielleicht einer der wichtigsten in dem Leben der kleinen Annika werden sollte, ging doch noch seinem Ende zu.

*

Am darauffolgenden Tag brachten die Mädchen den Brief zum Postkasten. Die Zeit bis zum Erscheinen der Anzeige dehnte sich Annikas Meinung nach ins Unendliche. Sie war so ungeduldig, daß ihre Konzentration in der Schule etwas zu wünschen übrig ließ. Als dann endlich der langersehnte Samstag angebrochen war, bot sie sich ihrer Mutter auffallend freundlich an, frische Brötchen zum Frühstück zu holen, um so unauffällig die Morgenausgabe der örtlichen Tageszeitung zu erstehen. Ihr Herz raste, als sie noch auf dem Rückweg die eigene Anzeige fand, und sie konnte kaum glauben, daß sie wirklich von ihr handelte. Vor der Haustür angekommen, versteckte sie aufgeregt die Zeitung unter ihren Kleidern und setzte sich so unauffällig wie möglich an den Frühstückstisch. Mit einem leicht rachsüchtigen Blick musterte sie Stefan, der sich gerade sein Brötchen strich. Für einen kurzen Moment überkam sie ein Hauch von Mitleid für ihn, doch dann überwog wieder die Wut über Vergangenes.

»Darf ich aufstehen? Ich bin schon fertig, Mama.«

»Nanu, das ging heute aber schnell! Aber wenn du magst, darfst du ruhig gehen.« Monika wunderte sich nur kurz, wandte ihre Aufmerksamkeit aber sogleich wieder Stefan zu, welcher, wie so oft, von seiner Arbeit sprach.

Annika schloß sorgfältig ihre Zimmertür und holte die Zeitung, die sie eiligst unter ihrer Bettdecke versteckt hatte, hervor. Feierlich faltete sie die richtige Seite auf und las noch einmal den Text, den sie eigentlich schon auswendig konnte.

»Hübsche Frau, 34 Jahre, 172 groß und schlank mit sehr langen Beinen und wirklich netter zehnjähriger Tochter sucht kinderlieben freundlichen Mann. Gerne auch mit Tieren. Meldungen erbeten an Chiffre Nr. 123.«

Annika warf sich auf den Rücken, drückte die Zeitung an ihre Brust und lächelte verträumt die Zimmerdecke an. Ihr Herz ging auf bei all den Gedanken, die sie sich für die Zukunft erhoffte.

*

»Weißt du, wo meine graue Hose ist?« Stefan stand vor seinem Kleiderschrank, und sein Rufen durchdrang die Wohnung.

»Ich glaube, die ist noch in der schmutzigen Wäsche«, antwortete Monika und legte einen Hauch von Lippenstift auf. Heute fand sie sich besonders hübsch, mit ihren gelockten braunen Haaren und der guten Laune im Gesicht.

»Aber die wollte ich doch heute anziehen! Eine andere paßt nicht zu meinem Jackett! Warum hast du sie denn nicht gewaschen?« Stefan kam zu ihr ins Bad gelaufen und blickte sie vorwurfsvoll an.

»Tut mir leid, die Hose hat zu keiner Wäschefuhre dazugepaßt. Ich konnte auch nicht ahnen, daß du sie heute brauchst.«

»Nichts funktioniert hier. So bin ich das nicht gewohnt. Meine Mutter hat immer alles ordentlich geregelt. So etwas hat es bei ihr nie gegeben.« Schmollend nahm er eine andere Hose aus dem Schrank.

»Deine Mutter mußte auch nicht noch arbeiten gehen. Sie brauchte sich den ganzen Tag nur um dich zu kümmern.« Da war es wieder, dachte Monika. Das typische Einzelkind.

»Im übrigen mag ich die blaue Hose an dir viel lieber.« Sie wollte sich ihre gute Laune nicht verderben lassen. Zärtlich umfaßte sie seine Hüften, schmiegte sich tröstend an ihn und deutete einen Kuß in seine Richtung an. Etwas zögerlich beugte Stefan sich herunter und erwiderte ihre Zärtlichkeit. Er liebte es, von ihr besänftigt zu werden, so wie er es schon immer mochte, im Mittelpunkt ihres Lebens zu stehen. Die Mütterlichkeit, die sie ausstrahlte, hatte ihm von Anfang an gefallen, von dem Tag, an dem sie sich bei ihm im Laden beworben hatte. Zudem fand er sie sehr hübsch, ihre langen schlanken Beine waren ihm besonders aufgefallen. Sicher war sie eine gute Partie, eine Frau zum Vorzeigen. Hätte sie nicht so viele Vorzüge, wäre er aufgrund der Probleme, die sie mit Annika hatten, sicher nicht so lange geblieben.

Zuerst war er abgeneigt, eine Frau mit Kind zu lieben. Doch später sah er auch einen Vorteil in der Tatsache, daß sie schon ein Kind hatte. So konnten sie ein ruhiges Leben führen, mit geregeltem Tagesablauf und einem funktionierenden Haushalt. Frauen ohne Kinder erwarteten immer Aufregendes, wollten mit Blumen beschenkt oder ausgeführt werden, und waren insgesamt seiner Erfahrung nach unpraktisch veranlagt. Nicht jedoch Monika. Sie stellte kaum Erwartungen an ihn und war im großen und ganzen unkompliziert, was seiner bequemen Haltung entgegenkam. Nur den Gedanken, den heutigen Nachmittag in einem Kindervergnügungspark verbringen zu müssen, fand er alles andere als erbaulich.

Für Annika wiederum schien dieser Tag perfekt. Endlich hatte sie mal wieder die Möglichkeit, eines ihrer geliebten Ponys zu streicheln. Sie griff nach ihrem Steckenpferd und ritt gedankenversunken mit lautem »Hü!« und »Brrr!« durch die Wohnung. Nachdem sie mehrmals an der Schlafzimmertür vorbeigeritten war, trat Stefan in den Flur, machte ein verächtliches Gesicht und sagte kopfschüttelnd:

»Also, ich weiß nicht, ob das noch normal ist. Ich habe so etwas als Kind nicht gemacht!«

»Na und? Mir macht es Spaß. Du hast bestimmt den ganzen Tag gelernt und dein Taschengeld gezählt.«

Beleidigt verzog sich Annika in ihr Zimmer. Nun war ihr doch die Lust vergangen. Sie schnitt die Anzeige aus, legte sie unter ihr Kopfkissen und strich wie in einem heiligen Ritual noch einmal darüber. Ordentlich machte sie ihr Bett. Überhaupt wollte sie heute alles ganz ordentlich machen, so wohl und überlegen war ihr zumute.

Der Tag in der Talmühle verlief, wie erwartet, für alle Beteiligten unterschiedlich. Stefan verzog sich so schnell wie möglich in eines der Cafés, während Annika sich nicht mehr von den kleinen Ponys und Küken, Ferkeln und Ziegen losreißen konnte. Monika war hin und her gerissen. Sie wußte nicht, um wen sie sich nun kümmern sollte. So eilte sie von einem Ort zum anderen und beschwichtigte und vermittelte. Zuletzt war sie froh, daß es wenigstens keinen Streit gegeben hatte, und ermüdet beendeten sie den Abend in aller Ruhe zu Hause vor dem Fernseher.

*

Die letzte Schulstunde zog sich wie Kaugummi, und Annika war drauf und dran, sich eine Ausrede auszudenken, um früher gehen zu dürfen. Keine Minute hätte sie länger sitzen bleiben können, als endlich die Glocke läutete. Ohne sich zu verabschieden, raste sie zur Tür hinaus in Richtung Stadtmitte. Ihr einziger Gedanke galt dem Gebäude der Zeitung. Dort angekommen, betrat sie aufgeregt die Vorhalle und strich sich noch einmal die Haare ordentlich. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie die junge Frau hinter der Theke mit dem höflichsten Hochdeutsch, daß ihr möglich war, ansprach:

»Guten Tag! Ich soll bitte die Post für meine Mutter abholen.« Sie blickte die Frau mit ehrlichem, braven Blick von unten herauf an.

»Für welche Adresse, bitte?«

»Chiffre Nr. 123!«

Die Dame händigte ihr die Post ohne weitere Nachfragen aus. Annika jubelte innerlich, daß es zum Zerplatzen war. Ihre Anspannung steigerte sich ins Unermeßliche, und so rannte sie nach Hause, um sich die Briefe in aller Ruhe anzuschauen. Ihre Mutter mußte heute bis zum Abend arbeiten, so daß Annika genug Zeit zum Lesen hatte. Eiligst warf sie ihre Sachen in eine Ecke und sich auf ihr Bett. Welchen Brief sollte sie zuerst öffnen? Sie breitete die drei Umschläge auf der Decke nebeneinander aus und dachte eine ganze Weile nach. Dann nahm sie den rechten der drei und roch daran. Richtig! Sie hatte sich nicht getäuscht. Dieser roch nach Parfüm. Annika lächelte und legte ihn zurück. Sie nahm den linken, öffnete den Umschlag, zog den Brief heraus und las:

Sehr geehrte Frau 123!

Sie haben mich sehr neugierig gemacht. Wann kann ich Sie kennenlernen? Gerne würde ich Sie mit meinem neuen Manta zu einer Spritztour abholen. Ich arbeite in einer großen Autofirma, und mein Hobby sind Schlangen, die ich zu Hause halte. Rufen Sie mich doch mal an: 069/34566.

Ihr Danny.

Gräßlich! schoß es Annika durch den Kopf. Ihr Gefühl sagte ihr, daß dies bestimmt kein netter Mensch war und auch bestimmt nicht kinderlieb. Außerdem schien er viel zu jung zu sein. Enttäuscht legte sie den Brief zurück und nahm den mittleren. Im Gegensatz zum ersten war dieser sehr ordentlich geschrieben, auf weißem Papier, mit dem Computer ausgedruckt.

Darin stellte sich ein älterer Herr als Deutschlehrer vor, der allein durch seinen Beruf ja schon als guter Erzieher ausgezeichnet wäre, und außerdem über ein geregeltes Einkommen verfügen würde. Nach ein paar Höflichkeitsfloskeln endete der Brief recht unpersönlich. Und ein Foto hatte er auch nicht beigelegt. Die Enttäuschung wuchs zu einem größeren Berg an.

Sie nahm den letzten Brief. Dieser unterschied sich schon im Format zu den ersten. Er war mehr quadratisch, nicht rechteckig, und das Papier war ein teures, das sah sogar Annika. Außerdem duftete es unheimlich gut. Langsam öffnete sie den schönen Umschlag und zog ein ebenso schönes Briefpapier heraus. Sie las:

Meine schöne unbekannte Dame!

Hier schreibt Ihnen ein etwas einsamer Herr, der durch seine beruflichen Umstände leider wenig Gelegenheit findet, eine nette Frau kennenzulernen, der sich aber zu jung fühlt, um die Abende allein vor dem Kamin zu verbringen. Mein Leben teile ich mit sechzehn Trakehner-Zuchtstuten, nebst fünf Fohlen, drei Hengsten, einem Wachhund und drei Katzen. Ich bin achtunddreißig Jahre jung und suche eine naturverbundene Frau, die gerne ihre guten und auch schlechten Tage mit mir auf meinem schönen Gut auf dem Land verbringen möchte. Falls Sie mich näher kennenlernen möchten, schreiben Sie mir doch einfach zurück. Gerne würde ich mehr über Sie und Ihr Leben erfahren.

Mit lieben Grüßen

Ihr Christian

Annika starrte mit großen Augen auf die Zeilen, atmete tief ein und laut wieder aus. Ihr Herz schien Luftsprünge zu machen. Sie hatte das Gefühl, als habe man ihr gerade einen Koffer voll Geld vor die Füße geworfen. Ein Bild, am Brief festgesteckt, zeigte den Herrn vor dem Hintergrund einer wirklich himmlischen Landschaft und einem halboffenen Stall, aus dem ein Pferdekopf herauslugte. Annika hatte zwar noch kein Interesse an Männern, aber sie fand, daß dieser wirklich gut aussah, mit einer guten kräftigen Figur und braunen Haaren. Sie lehnte sich an die Wand, las den Text noch dreimal, nahm eine Nase von dem guten Duft und dachte: »Den oder keinen!« Noch einmal las sie den Brief und hatte das Gefühl, vor Glück gleich platzen zu müssen.

Sie rannte zum Telefon, um wenigstens etwas von dem Druck abzulassen, der sich in ihr aufstaute, und rief Frauke an. Zu ihrer Erleichterung war sie auch schon aus der Schule zurück. Sie las ihr feierlich alle drei Briefe vor, wobei sie sich den Besten natürlich bis zum Schluß aufhob. Auch Frauke konnte es kaum glauben. Und nachdem sie sich das Gestüt bis ins Detail vorgestellt hatten, kicherten sie noch eine halbe Ewigkeit über die Sache mit dem Manta. Als sie sich endlich wieder beruhigen konnte, beendeten sie das Telefonat, und Annika machte sich daran, dem Gestütsbesitzer namens Christian einen Antwortbrief zu schreiben. Lange mußte sie nachdenken, um nach dem dritten Anlauf zu dem Schluß zu kommen, daß das gar nicht so einfach war. Sie hatte ja gar keine Ahnung, was Erwachsene sich schreiben würden in solch einem Fall. Nach über einer Stunde hatte sie einen ihrer Meinung nach passenden Text formuliert. Voller Tatendrang holte sie die alte Schreibmaschine ihrer Mutter hervor und tippte:

Lieber Herr Mühlbauer!

Vielen Dank für Ihren Brief. Er hat mir sehr gut gefallen. Ich würde mich auch freuen, wenn wir uns einmal näher kennenlernen könnten. Meine Tochter würde sich bestimmt auch freuen. Sie heißt übrigens Annika und geht in die vierte Klasse, aber das braucht Sie gar nicht zu stören. Sie würde Ihnen bestimmt immer gern im Stall helfen, da sie Pferde über alles liebt. Ich bin übrigens sehr naturverbunden, da ich Landschaftsgärtnerin von Beruf bin.

Mit lieben Grüßen zurück

Ihre Monika Jordan

Ja, so gefiel ihr der Text. Zufrieden verschloß sie den Brief und klebte eine Briefmarke darauf. In weiser Voraussicht hatte sie vergangene Woche ihre Mutter gefragt, welche Briefmarke die richtige wäre. Zu guter Letzt suchte sie im Bad nach dem Parfüm ihrer Mutter und besprühte den Umschlag, wie in einer heiligen Handlung. Den Weg zum Briefkasten schien sie zu fliegen. Sie suchte nach den Leerungszeiten und fühlte sich enttäuscht an eine Schneckenpost erinnert. Wenn doch nur schon das Antwortschreiben da wäre, dachte sie voll Ungeduld. Wie sollte sie die nächsten Tage nur herumkriegen?

*

Doch dann ging alles schneller als gedacht. Auch am nächsten Tag holte sie zwei neue Briefe, angeblich für ihre Mutter, bei der Zeitung ab, und wieder fragte keiner nach, ob sie denn dazu berechtigt sei. Annika hatte jedoch kein Interesse an anderen Heiratskandidaten als an Christian, dem Gestütsbesitzer. Im Geiste wohnte sie schon bei ihm und besaß ein eigenes Pferd, welches sie jeden Tag würde striegeln können. Als dann tatsächlich am übernächsten Tag das Antwortschreiben bei der Zeitung hinterlegt war, überfiel sie große Angst. War es nicht auch möglich, daß er sich alles anders überlegt und doch kein Interesse mehr hatte? Würde ihr Traum wie eine Seifenblase zerplatzen?

Sie setzte sich abseits vom Stadtgetümmel auf eine frühlingswarme Mauer und riß mit zittrigen Händen den Umschlag auf. Wieder schlug ihr ein betörender Duft entgegen.

Meine liebe Frau Jordan!«stand da in schönen geschwungenen Buchstaben, mit Füller auf das teure Papier gemalt. Annika war erleichtert. Sie las weiter:

Mit Freuden habe ich Ihren Brief erhalten. Ich bin mir sicher, Ihre kleine Tochter würde sich bei uns sehr wohl fühlen. Sehr viele Kinder helfen uns das ganze Jahr über bei der Pflege der Tiere. Für mich ist die Pferdeaufzucht mein Lebensinhalt. Sie als Gärtnerin können sicher gut verstehen, was mir mein Beruf in und mit der Natur bedeutet. Als ich Ihren Brief las, sagte mir mein Gespür, daß wir zwei sicher gute Freunde (oder auch mehr?) werden würden. Was halten Sie von einem baldigen Treffen? Leider haben Sie mir nicht geschrieben, wo Sie wohnen, so daß ich keinen geeigneten Vorschlag über einen Treffpunkt machen kann. Ich will es trotzdem versuchen. Gerne würde ich sie zu einem Kaffee einladen, im Landgasthaus Fernblick, in Lichtenfels, kommenden Sonntag um drei Uhr Nachmittag. Als Erkennungszeichen schlage eine eine rosafarbene Rose vor.

Der Brief endete mit einer netten Grußformel und der Telefonnummer, die Monika anrufen sollte, falls sie an dem Treffen nicht teilnehmen wollte.

»O nein! O Gott! Annika schlug sich auf die Stirn. Der Schreck riß sie aus ihrem Dornröschenschlaf. Wie sollte sie denn dieses Treffen bewältigen? Soweit hatte sie noch nicht gedacht. Jetzt wurde es ihr doch wieder mulmig zumute. Ihre Mutter würde sie alleine sicher nicht dort hinbekommen. Im besten Fall könnte sie sie überreden, einen »Sonntagnachmittagsfamilienausflug« dorthin zu unternehmen. Aber dann wäre ja Stefan bestimmt dabei! Sie schüttelte verzagt den Kopf. Ein Blick auf die Uhr mahnte sie, schnellstens nach Hause zu gehen, sonst würde sich ihre Mutter sorgen. Sie war der Verzweiflung nahe. Es wollte ihr aber auch nichts Vernünftiges einfallen. Beim Klingeln an der Wohnungstür war ihre Laune auf den Nullpunkt gesunken. Mißmutig betrat sie die Wohnung, während sich Monika sichtlich über den Stimmungswechsel ihrer Tochter wunderte.

»Na, gab es wieder Ärger in der Schule?«

»Nein, nichts Besonderes. Ich fühl mich nur nicht so gut«, schwindelte Annika.

»Oh, das ist aber schade. Oma rief vorhin an, ob du heute kommen magst.«

Oma? Ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf und ließ ihre Laune wie den Meßstab bei »Hau den Lukas« nach oben schnellen. Oma, die Rettung in ihrer Not!