E-Book 1988-1997 - Diverse Autoren - E-Book

E-Book 1988-1997 E-Book

Diverse Autoren

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. E-Book 1: Die vertauschten Kinder E-Book 2: Unverhofft - und doch geliebt E-Book 3: Mami und ich – wir sind ein Team E-Book 4: ier ist die Welt in Ordnung E-Book 5: Sie dachte an das andere Kind E-Book 6: Auf einmal sind wir Eltern E-Book 7: Was auch geschieht... E-Book 8: Der Zirkus kommt E-Book 9: Von der Familie abgelehnt E-Book 10: Hilfe, unsere Eltern heiraten

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Inhalt

Die vertauschten Kinder

Unverhofft - und doch geliebt

Mami und ich – wir sind ein Team

ier ist die Welt in Ordnung

Sie dachte an das andere Kind

Auf einmal sind wir Eltern

Was auch geschieht...

Der Zirkus kommt

Von der Familie abgelehnt

Hilfe, unsere Eltern heiraten

Mami – Staffel 27 –

E-Book 1988-1997

Diverse Autoren

Die vertauschten Kinder

Jannik und Julians Welt gerät ins Wanken

Roman von Simon, Lisa

Mit einem wohligen Seufzer strich sich Michaela Voges über ihren gewölbten Leib. Nur noch wenige Wochen waren es bis zur Geburt ihres Kindes, von dem sie bereits wußte, daß es ein Junge war.

Auch Ingo, seit dreieinhalb Jahren Michaelas Ehemann, konnte die Entbindung kaum erwarten. Er war fast noch ungeduldiger als seine Frau, rief mehrmals am Tag vom Büro aus an, um sich nach Michaelas Zustand zu erkundigen. Amüsiert gab sie ihm dann zu verstehen, daß sich Mutter und Kind wohlfühlten.

Die letzte Zeit der Schwangerschaft zog sich auch für Michaela schrecklich lange hin. Acht Wochen vor dem Geburtstermin hatte sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge ihre Arbeit als Sekretärin aufgegeben. Sie liebte ihren Beruf, war sich aber im klaren darüber, daß die kommenden Jahre ausschließlich der Erziehung des Kindes gewidmet werden sollten. Im übrigen verdiente Ingo als Sachbearbeiter einer größeren Versicherung genug, um seine kleine Familie ernähren zu können.

*

Mit schmerzverzogenem Gesicht strich sich Michaela über den Rücken, und sofort sprang Ingo auf. »Was ist, Liebling?«

Sie lächelte. »Keine Bange, das sind noch nicht die Wehen. Unser Sohn hat sich ungünstigerweise dazu entschlossen, seine Füßchen gegen mein Rückgrat zu stemmen – und das ist alles andere als angenehm.«

Eifrig holte Ingo ein Kissen und drückte Michaela in einen Sessel. »Du sollst es so bequem wie möglich haben. Komm, setz dich, und laß mich weiter staubsaugen.«

Michaela wollte protestieren, doch Ingo hatte sich bereits den Staubsauger gegriffen. Es war Samstag vormittag, und wenn Ingo zu Hause war, half er, wo er nur konnte.

Schmunzelnd betrachtete Michaela ihn, wie er unbeholfen den Teppich im Wohnzimmer saugte. Von ihren wenigen Freundinnen wußte sie, daß deren Männer nicht halb so fürsorglich während der Schwangerschaft gewesen waren, wie es Ingo war. Sie wurde deshalb in ihrem Bekanntenkreis dafür beneidet.

Als Ingo schließlich mit der Arbeit fertig war, brachte er den Staubsauger zurück in die Abstellkammer, hockte sich vor Michaelas Sessel hin und strahlte über das ganze Gesicht. »Siehst du, ich werde auch mit dem Haushalt allein fertig. Ich verspreche dir, daß ich dir auch helfen werde, wenn unser Kleiner da ist und dich Tag und Nacht in Atem hält.«

Sie fuhr ihm zärtlich über das dunkle, kurzgeschnittene Haar. »Schön, daß du die Verantwortung mit tragen willst, aber ich denke, ich werde es auch ohne deine Hilfe schaffen; schließlich bin ich nicht die erste Frau, die Haushalt und Kind im Griff hat.«

Er streichelte sanft ihren Bauch. »Mag sein, aber ich würde mich so nutzlos fühlen, wenn ich dir die ganze Arbeit überließe. Und außerdem ist Hausarbeit eine angenehme Abwechslung von den langweiligen Schadensregulierungen, die ich täglich zu bearbeiten habe.«

Michaela lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Sie wußte, daß Ingo zu seinem Wort stehen würde und war sehr glücklich darüber.

*

Die erste Wehe kam so überraschend, daß Michaela vor Schreck aufschrie. Ingo war gerade zur Arbeit gefahren, als der messerscharfe Schmerz durch ihren Leib fuhr. Doch sie blieb ganz ruhig, atmete, wie sie es bei der Schwangerschaftsgymnastik gelernt hatte, und wählte dann die Nummer von Ingos Handy, ohne das er seit Wochen nicht aus dem Haus ging.

Er war gerade auf dem Parkplatz der Versicherung angelangt und versprach, sofort zurückzukommen. In der Zwischenzeit wurde Michaela von einer weiteren Wehe erfaßt, die so stark war, daß es ihr fast den Atem raubte. Sie blickte zur Uhr und hoffte, daß Ingo nicht von einem Verkehrsstau aufgehalten wurde, denn wie es aussah, würde es nicht mehr lange dauern, bis das Baby geboren wurde.

Eine Stunde, nachdem Michaela ins Entbindungszimmer gebracht worden war, erblickte der kleine Julian das Licht der Welt. Arzt und Hebamme bestätigten, daß der Kleine kerngesund sei und legten ihn der erschöpften, aber seligen jungen Mutter vorsichtig in die Arme.

Ingo, der es sich nicht hatte nehmen lassen, bei der Geburt anwesend zu sein, schien etwas blaß um die Nase, aber als er dann seinen Sohn zum ersten Mal berührte, färbten sich seine Wangen wieder zu einem gesunden Rosa.

»Sie bekommen ein Einzelzimmer«, verkündete später eine Schwester freudestrahlend. »Im Augenblick haben wir nicht viele Geburten, so daß wir den Müttern diesen ungewohnten Luxus bieten können.«

»Am liebsten würde ich gleich wieder nach Hause fahren«, erwiderte Michaela mit einem Blick auf das schlummernde Baby in ihrer Armbeuge. »Ich fühle mich überhaupt nicht schwächlich.«

Die Schwester lachte. »Das sagen sie alle, und dann merken sie schließlich, daß eine Geburt doch sehr viel Kraft kostet. Seien Sie froh, daß Sie jetzt ein paar Tage verwöhnt werden und wir uns um Ihren Sohn kümmern. Sie werden sich nach der Ruhe hier zurücksehnen, wenn Sie erst einmal einige Zeit zu Hause sind.«

»Ich finde, sie hat recht«, bemerkte Ingo. »Du mußt dich für deine neue Aufgabe schonen, und ich möchte, daß du dich ausruhst, solange es geht.«

Michaela lächelte schwach. »In Ordnung, ich werde mich fügen.« Sie küßte den weichen blonden Flaum auf Julians Köpfchen. »So schlecht finde ich die Idee gar nicht mal, mir das Essen ans Bett servieren und mich bemuttern zu lassen.«

Einen Tag später war sie froh, daß sie ihr Bett nur verlassen mußte, wenn es notwendig war. Die Besuche der Eltern und Freundinnen hatten mehr an ihren Kräften gezehrt, als sie geahnt hatte. Um so mehr freute sie sich auf den Tag, an dem sie endlich mit ihrem Sohn entlassen werden sollte…

*

Julians anfangs weißblonde Haare wechselten schnell zu einem kräftigen Dunkelblond. Als er drei Monate alt war, bekam er bereits sein erstes Zähnchen, und die jungen Eltern platzten fast vor Stolz.

Ingo hatte sein Versprechen gehalten. Sofern es seine Arbeit zuließ, nahm er Michaela im Haushalt alle Dinge ab, die sie wegen des quirligen Jungen nicht schaffte. Julian beschäftigte seine Mutter fast rund um die Uhr, und sie war für Ingos Hilfe sehr dankbar.

Doch er war nicht nur ein fürsorglicher Ehemann, sondern auch ein liebevoller Vater, der sich viel mit seinem Sohn beschäftigte. So konnte er stundenlang mit Julian spazierengehen, und es war ihm überhaupt nicht peinlich, dabei gesehen zu werden, wenn er den Kinderwagen schob.

»Du kannst dich zu deinem Mann wirklich beglückwünschen«, sagte Irene Hauser, Michaelas Mutter, anerkennend. »Wie er sich um den Kleinen kümmert, ist einfach rührend.«

Während die beiden Frauen im Wohnzimmer Kaffee tranken, badete Ingo sein Söhnchen, wie er es immer tat, wenn er zu Hause war.

»Ja, ich habe mit Ingo das große Los gezogen.« Michaela schenkte Irene Kaffee nach. Sie mußte lächeln, als aus dem Badezimmer ausgelassenes Lachen, vermischt mit Julians Jauchzen, ertönte. »Ich habe es mir längst nicht so anstrengend vorgestellt, Mutter zu sein. Dabei kann ich mich noch glücklich schätzen, daß Julian die Nacht über schon durchschläft und kaum mal quengelt.«

Irene nickte zustimmend. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, als du so klein warst. Mein Gott, jede Nacht hast du wie am Spieß geschrien, ständig hattest du Hunger.«

Michaela lachte. »Das hast du mir schon oft genug erzählt, Mutti. Muß ich jetzt ein schlechtes Gewissen haben?«

Ihre Mutter fiel in das Lachen ein. »Unsinn, die anstrengende Zeit vergißt man sowieso schnell, zurück bleiben immer die angenehmen Erinnerungen.« Sie zwinkerte ihrer Tochter zu. »Du warst ein entzückendes Baby, deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Michaela legte den Kopf schief. »Glaubst du, Julian wird eher nach mir schlagen oder nach Ingo?«

Irene zuckte mit den Achseln. »Bisher ist mir weder eine Ähnlichkeit mit dir noch mit deinem Mann aufgefallen. Ja, der Kleine hat Ingos Haarfarbe – aber seine Gesichtszüge…« Sie musterte Michaela mit prüfendem Blick, »… nein, auch dir ähneln sie nicht. Aber ich bin sicher, in einigen Monaten werden wir die ersten Merkmale seiner Eltern entdecken können. Würdest du mir noch ein Stück von diesem traumhaften Kirschkuchen geben?«

*

Aus dem Baby wurde schnell ein strammer Junge. Julian lernte beizeiten laufen, und seine Mutter hatte alle Hände voll zu tun, um den einjährigen Knirps vor scharfen Möbelkanten oder einem Fall auf die harten Küchenfliesen zu beschützen.

Michaela liebte ihre Rolle als Mutter, und sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, die Tage im Büro vor dem langweiligen Computer zu verbringen. Mit Wehmut dachte sie an die Zeit, wenn Julian alt genug war, den Kindergarten zu besuchen; dann mußte sie ihre Stelle wieder antreten, um sie nicht endgültig zu verlieren. Doch bis dahin war es noch eine ganze Weile hin, in der sie uneingeschränkt ihr Mutterglück genießen konnte.

Auch Ingo war mit seinem Leben restlos zufrieden. Er liebte seine Familie und fragte Michaela eines Tages, ob sie sich nicht ein zweites Kind wünschte.

Sie dachte kurz nach, dann sagte sie gedehnt: »Eigentlich möchte ich nicht, daß Julian als Einzelkind aufwächst. Doch ich denke, daß wir mit einem weiteren Baby noch ein paar Jahre warten sollten. Julian ist in einem anstrengenden Alter, und wenn ich jetzt wieder schwanger werde, kann ich mich nicht mehr so um ihn kümmern, wie er es braucht.«

Liebevoll legte er den Arm um ihre schmale Schulter. »Natürlich warten wir noch eine Weile. Ich wollte doch nur wissen, ob du dir vorstellen kannst, irgendwann einmal noch ein Baby zu bekommen.«

Sie schmiegte sich an ihn und murmelte: »Was kann es Schöneres geben, als von dem Mann, den man liebt, so viele Kinder wie möglich zu haben?«

Der Kuß, der folgte, wurde unsanft unterbrochen von Julian, der die günstige Gelegenheit genutzt hatte, um die Tischdecke des Eßtisches herunterzuziehen. Dabei fiel auch die Schale mit den Äpfeln zu Boden und zerbrach mit einem lauten Klirren. Julian erschrak dermaßen, daß er begann, wie am Spieß zu schreien. Erst, als Michaela ihn hochhob und ihn mit sanften Worten beruhigte, verstummte das Schreien und verebbte in einem unterdrückten Schluchzen.

»Du siehst ja selbst, daß ich im Augenblick keine Zeit für ein weiteres Baby habe«, erklärte sie Ingo lachend. »Unseren Sprößling kann man keine Sekunde aus den Augen lassen.«

Julian legte den Kopf gegen die Schulter seiner Mutter und steckte den Daumen in den Mund. Als Ingo eine lustige Grimasse schnitt, konnte der Kleine schon wieder lachen.

*

Wenn Michaela an diesem wunderschönen Frühlingsmorgen geahnt hätte, daß an diesem Tag ihre heile Welt zerstört werden sollte, wäre sie vermutlich gar nicht erst aufgestanden.

So aber machte sie sich gutgelaunt an die Hausarbeit, sowie Ingo das Haus verlassen hatte. Der mittlerweile zweijährige Julian hockte auf dem Teppich und baute aus seinen hölzernen Bauklötzen einen hohen Turm.

»Mama, fertig!« rief er voller Stolz und erhob sich vorsichtig, damit der Turm nicht einstürzte.

Michaela ließ das Fensterleder sinken. »Oh, wie hübsch. Wollen wir den stehen lassen, bis Papa nachher heimkommt? Er freut sich bestimmt genauso darüber, wie ich es tue.«

Julian nickte, trat zu seiner Mutter ans Fenster und blickte zu ihr empor. »Mama, helfen.«

Sie lachte. »Nein, mein Schatz, beim Fensterputzen kannst du mir nicht helfen, das wäre viel zu gefährlich für dich. Aber du kannst mir immer den Schwamm reichen, wenn ich ihn brauche.«

Der Knirps strahlte über das ganze Gesicht. Es gab nichts Schöneres für ihn, als seinen Eltern zu helfen. Sorgfältig achteten diese natürlich darauf, daß sich Julian dabei nicht verletzen konnte.

Irgendwann wurde es dem Jungen dann doch zu langweilig, und er stolzierte um seinen Turm herum, der etwas schief war und bisweilen gefährlich wackelte.

Ein Krachen ließ Michaela schließlich herumfahren; gleichzeitig ertönte Julians entsetztes Schreien. Die Bauklötze lagen verstreut auf dem Fußboden, und der Kleine hielt sich die Hand vor das Gesicht. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor.

»Um Gottes willen!« Michaela stürzte zu ihrem Sohn und riß ihn an sich, nur widerstrebend ließ er sich die Hand von der Stirn nehmen. Eine Platzwunde wurde sichtbar; vermutlich hatte die Ecke eines Bauklotzes den Jungen verletzt.

»Aua«, jammerte er. »Tut weh…«

»Ich weiß, mein Spatz. Aber es ist gar nicht so schlimm. Jetzt gehen wir ins Bad und waschen vorsichtig die Wunde ab.«

Julian wimmerte noch immer, ließ sich aber ohne Protest ins Badezimmer ziehen. Vorsichtig tupfte Michaela das Blut von der Stirn und entdeckte mit Erleichterung, daß es sich um eine relativ kleine Wunde handelte.

»Hm, am besten, wir gehen schnell mal zu Dr. Petri rüber, der soll sich das lieber erst mal ansehen.«

»Nein, nicht zum Onkel Doktor, der piekst mich wieder!«

Michaela mußte gegen ihren Willen schmunzeln. »Ich habe doch gar nicht vor, mit dir zum Kinderarzt zu gehen, sondern zu dem Doktor, der auf der anderen Straßenseite seine Praxis hat. Du warst doch letztens erst mit Papa dort, als er sich ein Rezept besorgte.«

Julians Miene verschloß sich. »Doktor piekst.«

»Bestimmt nicht. Aber er hat sicherlich eine gute Salbe, die er auf die Wunde machen kann, und das tut überhaupt nicht weh.«

Erst kürzlich war Julian beim Kinderarzt geimpft worden, und seitdem hatte er Angst vor allem, was einen weißen Kittel trug. Mit tröstenden Worten und Versprechungen brachte Michaela den Jungen schließlich dazu, daß er sich Schuhe und Jacke anziehen ließ.

Die Sprechstundenhilfe war sehr nett. »Aber natürlich wird sich Dr. Petri die Verletzung ansehen, es dauerte auch nicht lange.«

»Wissen Sie, ich wäre ja zu unserem Kinderarzt gefahren, aber der hat seine Praxis am anderen Ende der Stadt, und mein Mann hat den Wagen.«

»Ist schon in Ordnung.« Die Sprechstundenhilfe lächelte und nahm Julians Personalien auf. »Kommen Sie doch bitte gleich mit.«

Der Kleine sagte gar nichts mehr. Mit großen Augen betrachtete er die medizinischen Geräte und vergaß darüber seine Angst. Nur wenige Minuten später erschien Dr. Petri.

»Es handelt sich nur um eine kleine Platzwunde, die noch nicht einmal geklammert werden muß«, erklärte der Arzt nach der Untersuchung. »Ein Pflaster reicht, um die Verletzung in wenigen Tagen zu schließen.«

Michaela atmete erleichtert auf. »Da bin ich aber froh, daß es nichts Ernstes ist, Herr Doktor. Vielleicht war es sogar unnötig, daß ich gekommen bin.«

»Nein, überhaupt nicht, Sie haben völlig richtig gehandelt. Immerhin hätte es sich ja auch um eine tiefere Wunde handeln können, die man als Laie als solche gar nicht erkennen kann.«

Julian saß ganz still auf der Liege, während der Arzt vorsichtig desinfizierte und dann ein kleines Pflaster auf die Stirn klebte.

»So, junger Mann«, sagte Dr. Petri zufrieden. »Das war’s.« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Kinder in diesem Alter verletzen sich oft, und manchmal geht es nicht so glimpflich aus wie bei Julian. Sie sollten dringend seine Blutgruppe feststellen lassen, damit man im Notfall schnell handeln kann. Wenn es Ihnen recht ist, kann ich das heute gleich erledigen, wo Sie schon einmal hier sind.«

Michaela zögerte. Einerseits hatte sie Julian versprochen, daß er nicht gepiekst wurde, doch andererseits war die Sorge um ihn größer. Mit belegter Stimme fragte sie: »Wird es sehr weh tun?«

Dr. Petri lachte. »Nein, nur ein winziger Stich. Heutzutage gibt es hervorragende Tests, die es erlauben, mit sehr wenig Blut die erstaunlichsten Dinge zu untersuchen.«

Zum Glück war Julian ganz in das Betrachten der kleinen Plastikfigur vertieft, die ihm die Sprechstundenhilfe zur Belohnung für seine Tapferkeit geschenkt hatte.

»Gut«, sagte Michaela schließlich. »Dann walten Sie Ihres Amtes.«

Dr. Petri winkte seine Mitarbeiterin heran und ordnete an, Julian mit ins Labor zu nehmen. Michaela hob den Kleinen von der Liege und folgte mit einem beklemmenden Gefühl.

Die vielen Instrumente im Labor beeindruckten Julian so sehr, daß er kaum den Stich in seiner Armbeuge bemerkte. Er zuckte nur einmal erschrocken zusammen. Michaela strich ihm über den Kopf und beruhigte ihn schnell wieder.

»Ich werde noch heute die Analyse erstellen«, sagte die Laborantin zu Michaela, und zu ihrem Sohn: »Sieh mal, jetzt hast du sogar zwei Pflaster.«

Tatsächlich beäugte Julian das Pflaster auf dem Arm voller Stolz. Er nahm grinsend ein Gummibärchen entgegen und ließ sich von Michaela an die Hand nehmen.

»Morgen können Sie wegen des Befundes anrufen«, sagte die Laborantin zum Abschied und winkte Julian zu, der fröhlich zurückwinkte.

Zu Hause angekommen, beschäftigte sich Julian sogleich wieder mit seinen Spielsachen, die Bauklötze jedoch räumte Michaela vorsorglich in ihre Kiste.

Nach einem prüfenden Blick auf den Jungen griff sie zum Telefon und wählte die Nummer von Ingos Büro. Er mußte unbedingt wissen, was geschehen war – auch wenn es sich um eine Bagatelle handelte.

»Es war gut, daß du gleich zu Dr. Petri gegangen bist«, sagte er. »Und es ist wirklich von Vorteil, wenn wir Julians Blutgruppe kennen. Wer weiß, was er in nächster Zeit noch alles anstellt und woran er sich verletzt.«

»Ja, der Meinung bin ich auch«, gab Michaela zurück. »Ich bin so froh, daß die Wunde nur oberflächlich ist.«

Als Ingo am späten Nachmittag heimkam, lief ihm sein Sohn entgegen und präsentierte seine Pflaster. Natürlich lobte auch Ingo den Jungen dafür, daß er so tapfer gewesen war.

Nichtsahnend ging er wenig später ans Telefon, als es läutete. Michaela war bereits in die Küche gegangen, um das Abendessen vorzubereiten und achtete nicht auf das Telefongespräch.

Erst als Ingo mit versteinerter Miene die Küche betrat, blickte sie auf und erschrak. »Lieber Himmel, was ist denn mit dir geschehen?«

»Dr. Petri hat gerade angerufen«, erwiderte er tonlos. »Er sagt, mit Julians Blutprobe stimmt etwas nicht, und wir sollten morgen beide mit ihm in die Praxis kommen.«

Michaela ließ den Kochlöffel sinken. Sekundenlang starrte sie Ingo an, bevor sie fragte: »Was hat das zu bedeuten?«

»Keine Ahnung. Dr. Petri tat sehr geheimnisvoll, wollte mir nicht mehr verraten.«

Kraftlos ließ sie sich auf einen Stuhl fallen. »Geheimnisvoll? Denkst du, daß Julian an einer schlimmen Krankheit leidet?«

Er hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, aber irgend etwas scheint mit ihm nicht in Ordnung zu sein.« Noch immer stand er gegen den Türrahmen gelehnt. »Hoffentlich ist es nichts Ernstes.«

Michaela schlug die Hände vor das Gesicht. »Natürlich ist es etwas Ernstes, sonst hätte dir der Arzt Näheres am Telefon darüber gesagt.«

Er kam näher und zog sie von dem Stuhl hoch. Schluchzend warf sie sich ihm in die Arme. Die Angst um ihren Sohn lähmte beide und keiner konnte den anderen beruhigen.

*

Sie hatten eine schlaflose Nacht verbracht, während der sie sich den Kopf darüber zermartert hatten, welche Krankheit Julian wohl haben könnte. Nur mit Mühe hatte Ingo seine Frau davon abhalten können, mitten in der Nacht aufzustehen und im Gesundheitslexikon zu blättern. Er wußte, daß sie sich dann noch viel mehr ängstigen würde, als sie es ohnehin schon tat. Trotz der quälenden Ungewißheit versuchte Ingo, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Beim Frühstück am anderen Morgen war Julian der einzige, der Appetit hatte und fröhlich vor sich hin plapperte. Ingo trank nur schwarzen Kaffee, während Michaela noch nicht einmal den herunterbrachte.

Dann war es endlich Zeit, um zu Dr. Petris Praxis zu gehen. Die Sprechstundenhilfe schien bereits informiert zu sein, denn sie bat die kleine Familie sofort ins Sprechzimmer, wo der Arzt sie schon erwartete.

»Bitte, Herr Doktor«, flehte Michaela ohne Begrüßung. »Sagen Sie uns, was unser Sohn hat und wie man ihn heilen kann.«

Dr. Petri hob erstaunt die Augenbrauen. »Setzen Sie sich doch bitte erst einmal. Vielleicht wäre es angebracht, eine meiner Angestellten würde sich um Julian kümmern, solange wir miteinander reden.«

Julian, der erneute Süßigkeiten witterte, ging sofort mit der Sprechstundenhilfe aus dem Zimmer. Als Michaela ihn in der Anmeldung lachen hörte, tat es ihr fast körperlich weh.

»So, nun können wir reden«, sagte der Arzt zufrieden. »Es tut mir leid, wenn Sie sich wegen Julians Gesundheit Gedanken gemacht haben, aber das war nicht nötig.«

Ingo und Michaela wechselten einen schnellen Seitenblick. Bevor einer von ihnen eine Frage stellen konnte, fuhr Dr. Petri fort:

»Wenn Sie, Herr Voges, nicht erst vorige Woche einen Bluttest bei mir hätten machen lassen, wären mir die Unregelmäßigkeiten gar nicht ins Auge gefallen.«

»Welche Unregelmäßigkeiten?« fragte Ingo mit heiserer Stimme. »Würden Sie das mir und meiner Frau etwas genauer erklären?«

Dr. Petri nickte bedächtig. »Ich fürchte, was ich Ihnen jetzt sagen muß, wird ein herber Schock für Sie sein.« Sein Blick war fest auf Ingo gerichtet. »Es ist unwahrscheinlich, daß Julian… Ihr leiblicher Sohn ist.«

Sekundenlang schwebten die unheilvollen Worte wie eine Giftwolke in der Luft. Michaela saß bewegungslos da und starrte den Arzt an, der verlegen ihrem Blick auswich.

»Das ist doch unmöglich«, hörte sie schließlich Ingos Stimme neben sich. »Sie müssen sich irren.«

»Ausgeschlossen.« Dr. Petri beugte sich etwas vor und schob Ingo einige Unterlagen zu. Geduldig erklärte er die verschiedenen Blutgruppen und fügte dann hinzu: »Aber um wirklich jeden Irrtum auszuschließen, könnte ich eine weitere Probe von Ihnen und Ihrem Sohn nehmen und an ein Speziallabor schicken.«

Noch immer hatte Michaela nichts gesagt, doch nun erhob sie ihre Stimme. »Das wird das Beste sein, denn Julian ist der Sohn meines Mannes. Niemand anders kommt dafür in Frage.«

Während Ingo und Julian im Labor waren, ging Michaela ruhelos im Wartezimmer auf und ab. Noch immer wollte ihr Verstand nicht begreifen, was der Arzt gesagt hatte. Mit anderen Worten hieß das, daß sie Ingo betrogen hatte – ein ungeheuerlicher Vorwurf!

Schweigend machten sie sich später auf den Heimweg. Selbst Julian schien inzwischen begriffen zu haben, daß etwas vorgefallen war und war ausnahmsweise einmal still.

»Du glaubst doch nicht wirklich, daß Julian das Kind eines anderen Mannes ist, oder?« fragte Michaela, als sie zu Hause waren. »Das ist völlig absurd.«

Er fuhr sich mit einer verzweifelten Geste durch das Haar. »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Wenn die zweite Probe dasselbe Ergebnis aufweist, muß es wohl stimmen.«

Voller Empörung sprang sie auf. »Ja, hast du denn gar kein Vertrauen zu mir? Ich bin dir immer treu gewesen und habe auch in Zukunft nicht vor, dies zu ändern.«

Ängstlich blickte Ingo hinüber zur angelehnten Kinderzimmertür. »Würdest du bitte deine Stimme etwas senken? Julian muß nicht unbedingt erfahren, daß seine Mutter…«

Sie sank zurück in den Sessel und stöhnte laut auf. Es gab nichts zu ihrer Verteidigung zu sagen, obwohl sie sich keiner Schuld bewußt war…

*

Die Tage bis zum Ergebnis des Bluttestes erlebte Michaela wie einen Alptraum. Ingo hatte sich ihr entfernt, auch wenn er behauptete, daß dies nicht stimmte. Doch Michaela spürte, daß er ihr nicht glaubte und ertappte ihn immer wieder, wie er sie oder Julian kritisch betrachtete.

»Meine Arbeit leidet bereits unter dieser unerträglichen Anspannung«, sagte Ingo. »Wenn ich weiterhin mit meinen Gedanken ganz woanders bin, verliere ich möglicherweise noch meine Stelle.«

Michaela senkte den Kopf. »Soll ich mich schuldig fühlen, obwohl ich mir keiner Schuld bewußt bin? Ich kann nur immer und immer wieder betonen, daß Julian dein Sohn ist.«

»Ach ja? Und wie kommt es dann, daß er eine völlig andere Blutgruppe hat als ich?«

Hilflos hob sie die Arme. »Ich weiß es doch auch nicht. Es kann sich nur um ein Versehen handeln. Die zweite Blutprobe wird endlich Klarheit schaffen.«

Er warf ihr einen schnellen Seitenblick zu und preßte die Fingerspitzen beider Hände fest gegeneinander. »Und wenn nicht? Wenn die zweite Probe dasselbe Ergebnis wie die bei Dr. Petri aufweist?«

Julian kam auf seinen dicken Beinchen zu seinem Vater gewatschelt und reichte ihm eines seiner Plüschtiere. Ingo nahm den Kleinen hoch und setzte ihn auf seinen Schoß.

»Du mußt nicht denken, daß ich Julian weniger lieben würde, wenn er nicht von mir wäre, aber…«

»Ach, hör schon auf!« Sie sprang so hastig auf, daß der Kleine ein erschrockenes Gesicht machte. »Ich ertrage deine Anspielungen nicht länger. Was du mir da versuchst unterzuschieben, ist einfach nicht wahr!« Sie drehte sich um, damit man ihre Tränen nicht sehen konnte.

»Mami traurig?« fragte Julian zaghaft, und Ingo lenkte ihn sofort wieder ab, indem er ihn unter den Armen kitzelte.

Michaela war ins Badezimmer geeilt; im Hintergrund hörte sie ihren Sohn vor Vergnügen quieken. Ihr Blick fiel auf den Spiegel über dem Waschbecken, er zeigte ein verheultes Gesicht mit vor Ungläubigkeit geweiteten Augen.

Minutenlang stand sie da und betrachtete ihr Spiegelbild. Sie konnte noch immer nicht begreifen, daß Julians und Ingos Blutgruppe nicht übereinstimmten. Es mußte sich um einen Fehler in Dr. Petris Labor handeln – anders konnte es gar nicht sein…

*

Bereits am nächsten Nachmittag wurde das Ehepaar Voges in die Praxis gebeten. An dem ernsten Gesicht des Arztes konnte Michaela erkennen, daß er keine guten Nachrichten hatte.

»Das Labor hat dieselben Ergebnisse wie ich festgestellt«, sagte er, kaum, daß Michaela und Ingo Platz genommen hatten. »Ich hätte Ihnen gern gesagt, daß ich mich geirrt habe.«

»Aber das ist unmöglich«, erwiderte Michaela leise. »Ich muß doch selbst am besten wissen, wer Julians Vater ist.«

Dr. Petri hob die Schultern. »Das müssen Sie nun mit Ihrem Mann klären, Frau Voges. Ich bin nur für die medizinischen Fakten verantwortlich.«

Ingo saß mit kreidebleichem Gesicht da, ohne ein Wort zu sagen. Seine Hände hielten die Seitenlehnen des Stuhles so fest umklammert, daß die Fingerknöchel weiß hervortraten.

»Ist Ihnen nicht wohl?« fragte der Arzt besorgt. »Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen lassen?«

Ingo schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Es ist wohl besser, wenn wir jetzt gehen.«

»Wie Sie meinen. Aber falls Sie noch irgendwelche Fragen haben sollten, wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an mich.« Sein Blick streifte Michaela, und sie hätte zu gern gewußt, was Dr. Petri dachte.

Mechanisch erhob sie sich und reichte ihm die Hand. Ohne auf Ingo zu warten, verließ sie die Praxis. Julian hatte sie bei einer Nachbarin gelassen, so daß sie sich mit ihren eigenen Gedanken beschäftigen konnte.

Vor dem Praxiseingang blieb sie stehen. Die Menschen, die an ihr vorübereilten, beachteten die junge blonde Frau kaum, die geistesabwesend vor sich hinstarrte. Endlich trat auch Ingo aus der Tür, blinzelte kurz in die Sonne und überquerte die Straße, ohne seine Frau zu beachten.

»Ingo, warte auf mich!« rief sie und hastete ihm nach. »Wir müssen miteinander reden.«

Er drehte sich um, in seinem Gesicht war unverhohlene Abscheu zu erkennen. »Worüber müssen wir reden? Ich denke, seit dem heutigen Tag gibt es nichts mehr zu bereden zwischen uns.«

Sie umklammerte seinen Arm, und es war ihr völlig egal, daß sie dabei von Passanten gesehen wurde. »Du mußt mir glauben. Niemals habe ich auch nur mit dem Gedanken gespielt…«

»Laß uns nach oben gehen«, gab er kühl zurück. »Ich möchte nicht auch noch Zeugen für diese Erniedrigung haben.«

Wieder traten Michaela heiße Tränen in die Augen, doch sie erwiderte nichts, sondern folgte ihm schweigend. Julian freute sich, als hätte er seine Eltern mindestens einen Monat nicht gesehen und umarmte Ingo, als der ihn hochhob.

»Jetzt ist mir auch klar, warum der Junge keinerlei Ähnlichkeit mit mir hat«, sagte er, nachdem er die Wohnungstür geschlossen und Julian abgesetzt hatte. »Sogar deine Mutter hat schon öfters Anspielungen darüber gemacht.«

Michaela warf mit einer schnellen Kopfbewegung ihr langes Haar zurück. »Ist dir eigentlich jemals aufgefallen, daß er auch keinerlei Ähnlichkeit mit mir hat?«

»Zumindest hatte er bei der Geburt dein helles Haar.« Ingo ließ sich in einen Sessel fallen. »Die ganze Zeit über frage ich mich, wie du mir das alles antun konntest. Warst du in den anderen verliebt – oder hattest du nur Lust auf ein Abenteuer?«

»Es gibt und gab nie einen anderen.« Ihre Stimme klang weinerlich. »Wie oft muß ich dir das denn noch sagen?«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Dann zweifelst du immer noch an dem Ergebnis? Mach dich doch nicht lächerlich.« Er fuhr sich über die Augen. »Wenn du wenigstens den Anstand besitzen würdest, mir endlich deinen Seitensprung zu gestehen.«

»Was soll ich dir denn gestehen?« Verzweifelt rang sie die Hände. »Ich kann nur das wiederholen, was ich dir schon hundert Mal gesagt habe.«

»Und wie soll es jetzt weitergehen?« Er suchte ihren Blick. »Kannst du mir das verraten?«

Sie ließ sich auf der Kante der Couch nieder. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, aber ich habe nie etwas getan, wofür ich mich schämen müßte.«

*

Julian zuliebe versuchten Ingo und Michaela, ihre Ehe aufrecht zu halten. Auch wenn sich Ingo nach wie vor sicher war, daß der Junge nicht sein eigen Fleisch und Blut war, liebte er ihn von ganzem Herzen. Das vertrauliche Verhältnis zwischen den Eheleuten war allerdings stark abgekühlt.

Erst einen Monat nach dem verheerenden Blutergebnis weihte Michaela ihre Mutter ein.

Irene Hauser schüttelte fassungslos den Kopf, als Michaela geendet hatte. »Das ist ja unglaublich. Bist du ganz sicher, daß du Ingo nie betrogen hast?«

»Ach, Mutti, jetzt fang doch nicht auch noch damit an«, seufzte Michaela. »Ich bin doch noch nicht einmal mehr allein ausgewesen, seitdem ich Ingo kennengelernt habe. Wo hätte ich denn da einen anderen Mann treffen sollen? Und außerdem liebe ich Ingo und könnte ihn niemals betrügen.«

»Aber das Blutergebnis ist doch eindeutig, oder?«

»Schon, aber ich kann es trotzdem nicht glauben, trotz der Kontrollprobe.« Michaela machte ein unglückliches Gesicht. »Ich fürchte, über kurz oder lang wird unsere Ehe die Belastung nicht mehr aushalten. Ingo gibt sich zwar Mühe, aber ich sehe an seinem verletzten Blick, daß er ständig an diesen anderen Mann denkt, der in Wahrheit gar nicht existiert. Auch ich weiß nicht, wie ich diese Situation länger ertragen soll.«

Irene schürzte nachdenklich die Lippen. »Und du bist wirklich völlig sicher, daß du nie in Versuchung geraten bist?«

»Natürlich. Und wenn es tatsächlich einen anderen Mann gegeben hätte, würde ich es jetzt zugeben. Das wäre ich schon Ingo schuldig.«

»Nun, Julian sieht Ingo wirklich nicht ähnlich.«

»Mir auch nicht«, konterte Michaela. »Und ich bin trotzdem seine Mutter.«

Vorsichtig nahm Irene die Hand ihrer Tochter und streichelte sie. »Ich bin sicher, eines Tages wird sich alles als ein Mißverständnis herausstellen. Du und Ingo werdet euch daran gewöhnen, daß es da… eine Unstimmigkeit gibt.«

Zweifelnd hob Michaela den Blick. »Das wünsche ich mir auch, aber ich weiß, daß das nur ein Hirngespinst ist. Zwischen Ingo und mir wird es nie wieder so werden, wie es einmal war.«

*

Ein halbes Jahr später bat Ingo seine Frau mit ernstem Gesicht um eine Unterredung. Nur zögernd ließ sie sich ihm gegenüber nieder, als ahnte sie bereits, was auf sie zukommen würde.

Bevor er zu sprechen begann, hüstelte er nervös. »Die letzten Monate waren für mich die schlimmste Zeit meines Lebens, und ich bin sicher, dir ist es nicht anders ergangen.«

Sie nickte.

»Ich habe alles versucht, die Vergangenheit zu vergessen, doch es hat nicht geklappt. Tag und Nacht muß ich darüber nachdenken, daß es da ein Geheimnis gibt.« Er hob die Hand, als Michaela protestieren wollte. »Nein, ich möchte jetzt keine Ausflüchte hören. Ich liebe dich noch immer, und auch Julian bedeutet mir sehr viel, auch wenn ich ihn nun mit anderen Augen betrachte. Lange habe ich mit mir gerungen, ob ich dieses Leben weiterführen kann.«

Sie schluckte hart und gab mit tonloser Stimme zurück: »Bitte rede nicht um den heißen Brei herum – du willst dich scheiden lassen, nicht wahr?«

Er nickte erleichtert. »Ja, ich kann so nicht mehr leben. Natürlich werde ich für dich und den Jungen finanziell sorgen, aber ich würde am liebsten so schnell wie möglich ausziehen und die Scheidung einreichen, wenn es dir recht ist.«

»Wenn es mir recht ist? Mir bleibt doch keine andere Wahl.«

»Genau.« Er stand auf. »Ich werde ein paar Sachen packen und zunächst bei einem Arbeitskollegen unterkriechen, bis ich eine Wohnung gefunden habe.«

»Du willst schon heute ausziehen?« fragte sie erschrocken. »Aber das hat doch noch Zeit.«

Er war bereits an der Tür und erwiderte, ohne sich umzudrehen: »Nein, ich ertrage es keine Minute länger hier.«

Erst als Ingo gegangen war, begriff Michaela richtig, was geschehen war. Schluchzend brach sie zusammen.

*

Julian fragte jeden Tag nach seinem Papa, und Michaela mußte immer neue Ausreden erfinden, um den Kleinen zu beruhigen.

»Papa muß jetzt immer ganz viel arbeiten und kann sich nur am Wochenende um dich kümmern«, sagte sie mit gequältem Lächeln. »Sonntags kommt er wieder her und spielt mit dir.«

»Papa soll hier schlafen«, verlangte Julian lauthals. »Er soll nicht wieder weggehen.«

Ingo hatte vorgeschlagen, den Knirps an den Wochenenden zu sich zu nehmen, sowie er eine eigene Wohnung gefunden hatte; und Michaela zweifelte nicht daran, daß er sein Versprechen halten würde.

Aber wie sollte sie dem Jungen erklären, daß sich seine Eltern getrennt hatten? Keinesfalls durfte Julian jemals erfahren, daß er der Grund für die Trennung gewesen war.

Mit gespielt guter Laune schob Michaela ihrem Sohn einen Teller hin. »So, und jetzt ißt du schön dein Gemüse.«

Julian verzog das Gesichtchen; Blumenkohl gehörte nicht zu seinen Favoriten. Erst als Michaela betonte, wie sehr sich sein Papa freute, wenn Julian immer seinen Teller leer aß, schaufelte der Kleine das ungeliebte Gemüse in sich hinein.

Michaelas Herz krampfte sich zusammen. Julian hing abgöttisch an Ingo und würde alles tun, damit er zufrieden mit ihm war.

*

Ihrem Bekanntenkreis hatte Michaela nur erklärt, daß sie und Ingo sich getrennt hätten, weil sie sich nicht mehr verstanden. Ihre Freundinnen waren entsetzt, denn sie hatten Michaelas Ehe immer als vollkommen angesehen.

»Hat sich Ingo etwa eine Freundin angelacht?« fragte die dralle Uta. »Man trennt sich doch nicht einfach ohne Grund.«

Michaela hatte sich ihre Antworten genauestens überlegt. »Nein, Ingo hat keine Freundin – jedenfalls hatte er keine, als wir uns zur Scheidung entschlossen. Wir haben uns auseinandergelebt, das ist alles.«

Die anderen beiden, mit denen Michaela in einem kleinen Café saß, schüttelten ungläubig die Köpfe. Alle waren sie für den neuesten Klatsch zu haben, aber wenn es um eine von ihnen ging, waren sie wirklich sehr mitfühlend.

»Du siehst aber nicht sehr glücklich aus«, bemerkte Uschi. »Abgenommen hast du auch, das brauchst du gar nicht abzustreiten.«

Ungerührt hob Michaela ihre Tasse. »Du irrst dich, wenn du annimmst, daß ich unter der Trennung leide, es war unser beider Wunsch… auch wenn es nicht danach aussieht. Glaube mir, uns geht es jetzt beiden besser als vorher.«

»Ingo hat aber schnell eine eigene Wohnung gefunden.« Uta schaufelte bereits das zweite Stück Torte in sich hinein, während den anderen der Appetit vergangen war. »Sei froh, daß er sich so liebevoll um den Jungen kümmert.«

Michaela holte tief Luft. »Das bin ich auch, sonst hätte ich mich heute nicht mit euch treffen können.«

Seit einer Woche wohnte Ingo in seinen eigenen vier Wänden, ein Eineinhalbzimmer-Appartement in der Nähe seiner Arbeitsstelle. Julian hatte er am Freitag abgeholt und wollte ihn am Sonntag abend zurück zu seiner Mutter bringen.

Doch richtig genießen konnte Michaela den Nachmittag mit den Freundinnen nicht, zumal sie das einzige Gesprächsthema war.

»Meine Schwester hat es nicht so gut getroffen«, warf Gila ein. »Mein Schwager hat sich nach der Scheidung weder um die Kinder gekümmert noch Unterhalt bezahlt. Zum Glück hat meine Schwester schnell einen neuen Mann gefunden.«

Alle Blicke wandten sich nun Michaela zu, die verwirrt fragte: »Was ist denn jetzt los?«

»Gibt es etwa einen anderen Mann in deinem Leben?« Gilas Gesicht war vor Neugier rot angelaufen. »Hast du dich deshalb von Ingo getrennt?«

Wenn Ingo nicht dasselbe von ihr denken würde, hätte Michaela lauthals gelacht. So aber brachte sie nur ein lahmes Lächeln zustande, als sie leichthin erwiderte: »Ich muß euch leider schon wieder enttäuschen. Ingo und ich lassen uns scheiden, weil wir uns nicht mehr verstehen. Tut mir leid, daß ich mit keiner Sensation aufwarten kann.«

Uschi musterte Michaela kritisch. »Du hast bei unseren letzten Treffen keinerlei Andeutungen über deine Ehe gemacht. Du mußt doch schon länger wissen, daß es nicht mehr funktioniert.«

Das letzte Mal, als sich Michaela mit ihren Freundinnen verabredet hatte, war bereits lange her, noch bevor Dr. Petri Julians Blutprobe untersucht hatte.

»Wenn es Unstimmigkeiten in einer Ehe gibt, muß man es ja nicht unbedingt gleich weitertragen«, sagte Michaela und tat, als würde sie sich angestrengt mit ihrem halb aufgegessenen Kuchen beschäftigen. »Könnten wir jetzt mal das Thema wechseln?«

*

Irene Hauser, die am anderen Ende der Stadt wohnte, besuchte ihre Tochter nun regelmäßig einmal wöchentlich. Auch wenn sie ständig beteuerte, daß sie Michaela glaubte, konnte sie sich keinesfalls vorstellen, daß die Blutergebnisse falsch waren.

»Entweder du verschweigst mir etwas, oder die Leute im Labor sind nicht kompetent genug«, sagte sie ein ums andere Mal und betrachtete dabei stets ihren Enkel. Ihre Liebe zu ihm war ungebrochen, und Julian freute sich, daß er seine Oma nun so häufig sah.

Schon längst hatte es Michaela aufgegeben, sich vor ihrer Mutter zu rechtfertigen; sie war es leid, immer und immer wieder ihre Unschuld zu beteuern.

»In einem halben Jahr ist der Scheidungstermin«, sagte sie eines Tages. »Bis dahin muß ich herausgefunden haben, was im Labor falsch gelaufen ist.«

Irene musterte sie nachdenklich. »Du bist also felsenfest davon überzeugt, daß du keinen Fehler begangen hast?«

»Ja, und dabei bleibe ich. Irgend etwas müssen Dr. Petri und das Speziallabor verwechselt haben, und ich gebe nicht eher Ruhe, bis ich der Sache auf den Grund gegangen bin.«

»Warum läßt du diese ganze Geschichte nicht endlich ruhen?« gab Irene sanft zurück. »Sieh mal, du machst dich doch nur selbst kaputt damit. Und deine Ehe ist nicht mehr zu retten, selbst wenn du etwas herausfinden würdest.«

Mit gesenktem Blick nickte Michaela. Ihre Mutter hatte recht: Jedesmal, wenn Ingo kam, merkte sie, daß sie sich mehr entfremdet hatten.

»Trotzdem.« Sie streckte sich. »Die Wahrheit ist für mich wichtig, und auch wenn ich Ingo für immer verloren habe, so will ich, daß er von meiner Unschuld überzeugt ist.«

Irene hob die Augenbrauen. »Und wie willst du das anstellen?«

»Ich werde alles lesen, was ich über dieses Thema finden kann. Wozu gibt es denn Bibliotheken?«

*

Bereits wenige Tage später setzte sie ihr Vorhaben in die Tat um. In der Stadtbibliothek gab es eine ganze Abteilung mit Büchern über Blutanalysen und Blutgruppenbestimmungen und schnell schwirrte Michaela der Kopf von den vielen Titeln und Themen.

Mit einem ganzen Stapel Bücher kam sie atemlos zu Hause an, Irene hatte sich in der Zwischenzeit angeboten, auf Julian aufzupassen.

»Was denn, willst du die alle lesen?« fragte Irene erstaunt. »Das dauert ja Monate!«

»Nur das, was mir wichtig erscheint.« Michaela war völlig außer Atem und setzte sich. Dankend nahm sie die Tasse Tee entgegen, die ihre Mutter ihr aufgebrüht hatte.

»Du kannst von Glück reden, daß Ingo so großzügigen Unterhalt zahlt«, sagte Irene, nachdem sie ebenfalls Platz genommen hatte. »Wenn du gezwungen wärst, arbeiten zu gehen, hättest du für diese Lektüre wohl kaum Zeit.«

Michaela hatte bereits das erste Buch aufgeschlagen und blätterte hilflos darin herum. »Sowie Julian in den Kindergarten geht, werde ich meine Stelle wieder antreten. Ich möchte Ingos Geld nicht länger als nötig annehmen.«

»Hättet ihr euch nicht doch arrangieren können? Das Leben als alleinerziehende Mutter ist hart, selbst wenn man keine finanziellen Schwierigkeiten hat.« Irene wußte, wovon sie sprach. Michaelas Vater war gestorben, als sie fünf Jahre alt gewesen war.

»Ich wünschte, wir hätten nie diesen Test machen lassen«, seufzte Michaela und schlug das Buch wieder zu. »Dann wären wir noch immer eine glückliche Familie. Wie hätte ich denn Ingo halten können? Er hat kein Vertrauen mehr zu mir, und ich kann ihn sogar verstehen. Aber ohne Vertrauen kann keine Ehe bestehen.«

Auch Irene hatte sich eines der Fachbücher herangezogen und sah sich nun mit gerunzelter Stirn die farbigen Abbildungen an. »Da kann ich dir nur recht geben, mein Kind. Allerdings denke ich nicht, daß du mit dem Studium dieser Bücher weiterkommst.«

»Vielleicht nicht, doch ich muß es versuchen, es ist meine einzige Chance.«

»Aber du bist Laie, und dies hier ist Fachliteratur für Ärzte und Laboranten.«

Michaela lächelte schief. »Wer weiß, möglicherweise werde ich dadurch auch zum Fachmann.«

»Trink lieber deinen Tee, bevor er kalt ist«, sagte Irene schmunzelnd. »Und dann sollten wir mit Julian an die frische Luft gehen, anstatt über den verstaubten Büchern zu sitzen.«

*

Von nun an nahm Michaela jeden Abend, wenn der Kleine schlief, sich eines der Bücher vor. Irene hatte sich geirrt; bald wußte Michaela eine Menge über die verschiedenen Blutgruppen – allerdings war sie noch immer auf keinen Hinweis gestoßen, der ihr in ihrem Fall weitergeholfen hätte.

Das Verhältnis zu Ingo war mittlerweile wie das zu einem guten Bekannten, und irgendwann stellte Michaela fest, daß ihr überhaupt nicht mehr zum Heulen zumute war, wenn sie an ihn dachte.

Auch Ingo hatte sich schließlich an die neue Situation gewöhnt. Die Wochenenden gehörten nach wie vor Julian, und zu ihrer Erleichterung konnte Michaela feststellen, daß Ingo den Jungen noch immer wie seinen leiblichen Sohn behandelte.

Manchmal blieb Ingo noch auf eine Tasse Kaffee, wenn er Julian heimbrachte. Bei einer dieser Gelegenheiten verriet Michaela ihm, daß sie sich noch immer nicht mit dem Blutbefund abfinden konnte und viel darüber las.

»Was soll das, Michaela?« fragte er. »Denkst du wirklich, Dr. Petri und auch dieses Labor haben sich geirrt? Sieh den Tatsachen doch ins Auge – Julian ist nicht mein Sohn.«

»Er muß es sein«, beharrte sie. »Wenn ich dich damals betrogen hätte, würde ich mir jetzt kaum die Mühe machen, Nachforschungen anzustellen.«

Ein zweifelnder Blick traf sie. »Ich weiß nicht, warum du das alles tust, aber wegen mir brauchst du dir nicht diese Umstände machen.«

»Dann tue ich es eben für mich«, entgegnete sie trotzig und funkelte Ingo an. »Wenn ich Beweise für den Fehler finde, fühle ich mich wohler.«

Er blickte auf seine Uhr. »Ich muß los, es liegt eine anstrengende Arbeitswoche vor mir.«

Michaela wußte, daß er plötzlich so schnell fort wollte, weil ihm dieses Thema unangenehm war. Nachdem er sich gebührend von Julian verabschiedet hatte, verließ er fast fluchtartig die Wohnung.

Der Kleine konnte sich inzwischen schon recht gut ausdrücken und erzählte seiner Mutter alles über das Wochenende beim Papa. Als Julian dann von einer Tante Melanie sprach, die Ingo besucht hatte, wurde Michaela hellhörig. Es gab also bereits eine neue Frau in Ingos Leben, doch der Gedanke schmerzte nicht…

*

Schon dreimal hatte sich Michaela Nachschub aus der Bücherei geholt, doch schlauer war sie nicht geworden. Fast lustlos ging sie abends die dicken Wälzer durch, das meiste wiederholte sich. Doch plötzlich stutzte sie, ein Beitrag ließ ihre Aufmerksamkeit erwecken.

Es ging um ungeklärte Vaterschaftsfragen, und es gab in Berlin ein spezielles Labor, das mit modernster Technik hundertprozentig Klarheit geben konnte. Anschrift und Telefonnummer waren ebenfalls angegeben, und nachdem sich Michaela davon überzeugt hatte, daß das Buch erst kürzlich erschienen war, griff sie spontan zum Telefonhörer. Wenn ihr jemand helfen konnte, war es dieses Institut.

Sie schilderte der sympathischen Stimme am anderen Ende der Leitung ihre Situation und wurde sofort weiterverbunden. Auch der Arzt, mit dem sie dann sprach, erschien Michaela kompetent.

»Natürlich können wir mit Genauigkeit feststellen, ob Ihr Mann der Vater Ihres Kindes ist. Am besten, Sie lassen sich einen Termin geben und kommen alle drei nach Berlin.«

»Oh, ich glaube nicht, daß mein Mann dazu bereit wäre«, erwiderte Michaela verlegen. »Er will von der ganzen Sache nichts mehr wissen, in wenigen Monaten werden wir geschieden.«

»Das tut mir leid. Aber es reicht aus, wenn Sie die Blutgruppenbescheinigung seines Hausarztes und des Labors mitbringen.«

Zufrieden legte Michaela wenig später auf; in zwei Wochen würde sie mit Julian nach Berlin fahren. Der einzige Wermutstropfen war, daß die Untersuchung nicht ganz billig war, aber wenn Michaela all ihr Geld zusammenkratzen würde, würde es schon gehen.

*

Irene war alles andere als begeistert. »Wozu soll das gut sein? Du wirfst dein Geld zum Fenster raus für ein Ergebnis, das du längst weißt. Glaubst du wirklich, daß man dort feststellt, daß Ingo doch Julians Vater ist? So naiv kannst du doch gar nicht sein.«

»Dieses Labor ist meine letzte Chance, mehr kann ich nicht tun, um die Wahrheit herauszufinden«, sagte Michaela. »Aber ich verspreche dir, daß ich nichts weiter unternehmen werde, wenn in Berlin dasselbe Ergebnis festgestellt wird. Ich muß es dann eben als Laune der Natur hinnehmen, auch wenn mir das nicht leichtfallen wird.«

»Du bist sehr hartnäckig.« Irene schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Noch immer scheinst du fest davon überzeugt zu sein, daß sich alle irren außer dir.«

»Aber das muß ich doch, schließlich bin ich Julians Mutter – und das ist hundertprozentig sicher. Es kann sich nur um einen Irrtum der Ärzte handeln, und aus diesem Grunde fahre ich nach Berlin.«

*

Bevor sie mit dem Jungen zum Labor fuhr, mietete sie sich ein Zimmer in einer kleinen preiswerten Pension am Rande der Stadt. Sie wußte, daß das endgültige Ergebnis erst einige Tage später vorliegen würde und wollte dann unbedingt mit dem Arzt persönlich darüber sprechen.

Julian war fasziniert. Erst die aufregende Fahrt mit dem Zug, und dann der Trubel der Großstadt – der Knirps kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Auf die Minute pünktlich stand Michaela dann vor dem imposanten Gebäude. Irgendwo hinter diesen Fenstern also würde man feststellen, daß sich die anderen Ärzte geirrt hatten – oder auch nicht.

»Dr. Hufschmied erwartet Sie und Ihren kleinen Sohn bereits«, wurde Michaela gesagt und dann beschrieben, in welches Stockwerk sie mit dem Lift fahren sollte.

In der Eingangshalle entdeckte Julian einige Mitarbeiter mit weißen Kitteln, und sofort versteifte er sich. Obwohl Michaela ihn behutsam darauf vorbereitet hatte, daß er wieder gepiekst werden sollte, bekam er plötzlich Angst.

»Mama, ich will hier weg«, jammerte er, als sie mit dem Lift nach oben fuhren. »Es gefällt mir hier nicht.«

Sie strich ihm lächelnd über das Haar. »Es dauert bestimmt nicht lange. Du hast mir doch versprochen, daß du tapfer sein willst, nicht wahr?«

Julian schwieg verbissen, einerseits wollte er die Mama nicht enttäuschen, andererseits jedoch behagte es ihm überhaupt nicht, daß wieder in den Arm gestochen werden sollte – auch, wenn es ganz schnell ging.

Dr. Hufschmied sah genauso aus, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Groß, ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen und mit einer Goldrandbrille auf der Nase.

Er nahm Julian die Scheu, indem er ihn nach seinen Freunden und seinen Lieblings-Spielzeugen fragte.

»Sie können sehr gut mit Kindern umgehen«, lobte Michaela, denn Julian saß nun ganz entspannt auf ihrem Schoß.

Wieder lächelte er. »Kein Wunder, ich habe täglich mit kleinen Patienten zu tun, außerdem habe ich einen Sohn im gleichen Alter. Dürfte ich jetzt die Unterlagen sehen?«

Interessiert las er die Befunde, die Michaela aus ihrer Heimatstadt mitgenommen hatte. Hin und wieder nickte er geistesabwesend, dann hob er den Kopf und sagte: »Die Ergebnisse scheinen eindeutig zu sein… aber ich vermisse Ihren Blutgruppennachweis.«

»Meinen?« fragte sie bestürzt. »Wozu ist der denn wichtig? Es steht einwandfrei fest, daß Julian mein Sohn ist.«

Dr. Hufschmied wiegte den Kopf. »Ich habe während meiner langjährigen Praxis schon die erstaunlichsten Dinge erlebt. Kennen Sie denn Ihre Blutgruppe?«

Fieberhaft überlegte Michaela. Zwar war ihre Blutgruppe nach der Entbindung festgestellt worden, doch sie hatte das Dokument achtlos zu ihren Unterlagen gelegt.

»Ich fürchte, ich weiß sie nicht«, gestand sie kleinlaut. »Ich hätte daran denken müssen.«

»Aber das ist doch wichtig.« Der Arzt warf einen Blick auf Julian, den die Unterhaltung der Erwachsenen nicht im mindesten interessierte und sich lieber mit dem Geduldsspiel beschäftigte, das ihm Michaela in die Hand gedrückt hatte.

»Bei der Vaterschaftsfeststellung muß immer auch das Blut der Kindsmutter untersucht werden.«

Sie unterdrückte ein Stöhnen. »Dann werde ich mich wohl auch stechen lassen müssen. Meinen Sohn wird’s freuen, daß er nicht der einzige ist, der heute gequält wird.«

Der Arzt lachte schallend. »Na, so schlimm wird es nicht. Ich persönlich werde Ihnen beiden das Blut entnehmen und dann sofort mit der Analyse beginnen.«

Er hatte nicht gelogen, Michaela spürte kaum den Einstich. Und auch Julian zuckte nicht einmal mit der Wimper, sondern lächelte seiner Mutter aufmunternd zu.

*

Den ganzen nächsten Vormittag verbrachten die beiden im Berliner Zoo, von dem Michaela zwar schon viel gehört, den sie jedoch vorher noch nie besucht hatte. Sie war genauso begeistert von der großzügigen Anlage wie Julian, der gar nicht genug von den vielen exotischen Tieren bekommen konnte.

Mittags erreichten sie erschöpft die Pension, und Julian fiel fast augenblicklich in einen Tiefschlaf, nachdem er auf das breite Doppelbett gesunken war. Auch Michaela war müde, doch sie wußte, daß sie wie schon in der vergangenen Nacht keinen Schlaf finden würde. Ihre Gedanken kreisten um das bevorstehende Blutergebnis, und noch immer fragte sie sich, in welchem Zusammenhang ihre Probe dieses Ergebnis ändern könnte.

Mit zärtlichem Blick betrachtete Michaela das schlafende Kind. Julians Augen waren fest geschlossen, seine Wangen sahen rosig und gesund aus, und der volle Mund war leicht geöffnet.

Ganz sachte beugte sich Michaela zu ihrem Sohn herunter und küßte seinen seidigen Scheitel. Er war so ein tapferer kleiner Junge, daß er sich den Zoobesuch als Belohnung redlich verdient hatte.

Julian bewegte sich im Schlaf, wachte jedoch nicht auf, sondern rollte sich mit einem wohligen Seufzer auf die andere Seite. Wie gut, daß er noch zu klein war, um zu begreifen, daß sich sein Vater seinetwegen scheiden lassen wollte.

Auch Michaela legte sich hin, da sie nicht wußte, wie sie sonst die Zeit in dem bescheiden eingerichteten Zimmer totschlagen sollte. Mit weit geöffneten Augen lag sie da und starrte an die weißgetünchte Decke. Dabei fragte sie sich ständig, was wohl die Zukunft bringen würde.

*

Endlich kam die ersehnte Textnachricht auf ihrem Handy an, dessen Nummer Michaela Dr. Hufschmied hinterlassen hatte. Sie zog Julian ein frisches T-Shirt an, fuhr ihm mit dem Waschlappen über den Mund, da er kurz zuvor einen Schokoriegel gegessen hatte, und sagte: »Jetzt gehen wir noch einmal zu diesem netten Doktor in dem modernen großen Haus, und dann fahren wir nach Hause.«

Der Kleine strahlte. Er hatte zwar in den vergangenen Tagen viel von der Großstadt gesehen, doch nun sehnte er sich nach seinem Kinderzimmer mit den vielen schönen Spielsachen, nach der Oma und natürlich auch nach seinem Papa.

Dr. Hufschmieds Miene war nicht abzulesen, ob er eine gute oder schlechte Nachricht für Michaela hatte. Er bat sie in sein Sprechzimmer, in dem auch schon die erste Besprechung stattgefunden hatte.

Mit vor Spannung angehaltenem Atem setzte sich Michaela und versuchte einen Blick auf die Unterlagen auf der anderen Seite des Schreibtisches zu erhaschen.

»Julian«, sagte Dr. Hufschmied mit einer ermunternden Geste. »Magst du nicht zu meiner Sekretärin hinausgehen und dir unser schönes Aquarium zeigen lassen?«

Michaela hatte das Gefühl, daß ihr für einen Augenblick das Herz stehenblieb. Nun wußte sie, daß das Ergebnis nicht so ausgefallen war, wie sie es sich im stillen erhofft hatte.

Sowie Julian aus der Tür war, begann Dr. Hufschmied zu reden. Michaela konnte schon an seiner Miene sehen, wie unangenehm ihm dieses Gespräch war, noch bevor er das erste Wort ausgesprochen hatte.

»Nun, meine liebe Frau Voges, was ich Ihnen zu sagen habe, ist selbst für mich verblüffend. So etwas ist mir noch nie passiert, daher habe ich etliche Wiederholungen der Analyse vorgenommen.«

Von Angst ergriffen neigte sich Michaela leicht vor. »Bitte sagen Sie mir endlich die Wahrheit, ich ertrage diese Ungewißheit nicht noch länger.«

»Selbstverständlich. Also, weder dieser Dr. Petri noch das örtliche Labor haben sich geirrt – Ihr Mann ist einwandfrei nicht Julians Vater.«

Sie nickte mit ausdrucksloser Miene.

»Aber das Überraschende an der ganzen Untersuchung war… Sie können auch nicht Julians Mutter sein.«

Es dauerte einige Sekunden, bis sie begriff. »Was… meinen Sie damit? Natürlich bin ich seine Mutter.«

»Sind Sie da völlig sicher? Haben Sie Ihren Sohn nach der Geburt für einen Moment aus den Augen verloren?«

»Nein, ich bekam ihn doch sofort in den Arm gelegt… nachdem der Arzt und die Hebamme den Kleinen gewogen und untersucht hatten.«

»Aha. Geschah das im selben Raum?«

Michaelas Hände waren feucht, als sie sagte: »Nun, das wurde in einem Seitenraum des Entbindungszimmers gemacht. Ich verstehe nicht, was das alles soll.«

Er lehnte sich zurück und erwiderte mit ernster Miene: »Es gibt nur eine einzige Erklärung: Ihr Kind wurde im Krankenhaus vertauscht.«

»Aber das ist doch absurd!« rief sie voller Empörung. »Die Geburtsklinik hat einen guten Ruf, niemals würde man dort schlampig arbeiten!«

Er hob abwehrend die Hände. »Bitte entschuldigen Sie, ich kann Ihre Erregung verstehen. Doch ich nehme an, daß eine Verwechslung später ausgeschlossen ist, denn dann hätten Sie den Irrtum sicherlich bemerkt.«

Michaela versuchte sich an den Tag von Julians Geburt zu erinnern. »Ich entsinne mich, daß auch im Nebenzimmer eine Geburt im Gange war«, sagte sie mit schleppender Stimme. »Wir… also mein Mann und ich hörten zwischendurch Lachen und schließlich das Schreien eines anderen Babys. Kurz davor wurde Julian geboren.«

»Da muß die Ursache für die Vertauschung liegen. Am besten, Sie setzen sich mit der Klinik in Verbindung.«

Mechanisch nickte Michaela und sagte: »Ich fühle mich so hilflos. Am liebsten möchte ich die ganze Geschichte vergessen.«

»Das liegt natürlich ganz bei Ihnen«, gab er verständnisvoll lächelnd zurück. »Sie lieben Julian sehr und möchten ihn nicht wieder hergeben. Dann sollten Sie wirklich Gras über die Sache wachsen lassen. Das Ehepaar, bei dem Ihr leiblicher Sohn aufwächst, wird genauso schockiert über die Tatsache sein, wenn es erfährt, daß ihr Kind vertauscht wurde.«

»Würde das Krankenhaus überhaupt seinen Fehler einsehen?«

»Vermutlich nicht. Da würde dann nur eine einstweilige Verfügung helfen, damit Sie Einsicht in die Krankenakten bekommen. Dazu brauchen Sie natürlich einen fähigen Anwalt…«

Michaela stand mit weichen Knien auf, sie hatte genug gehört. Mit letzter Kraft dankte sie dem Arzt und bat, ihr die Rechnung zuzuschicken.

*

Der erste Weg führte Michaela, als sie aus der Bahnhofshalle trat, zur Wohnung ihrer Mutter. Julian war müde und quengelte, doch als ihm Michaela versprach, daß er bei seiner Oma übernachten durfte, war die Müdigkeit verflogen.

Am Telefon hatte Michaela Irene nichts von dem endgültigen Ergebnis erzählt, diese unglaubliche Neuigkeit wollte sie ihr unter vier Augen sagen.

Julian fiel Irene um den Hals und erzählte sofort von der großen aufregenden Stadt, in der er mit seiner Mama gewesen war.

Erst als Julian später mit einem Bilderbuch auf der Wohnzimmercouch saß, zog Michaela ihre Mutter hinaus auf den Flur.

Irenes Gesicht spiegelte Fassungslosigkeit dar, als Michaela ihr die Befunde vorlegte.

»Das ist doch unmöglich«, hauchte sie und griff sich an den Hals. »So etwas passiert doch nur in schlechten Filmen!«

»Wie du siehst, geschieht es auch in Wirklichkeit. Ingo und ich sind effektiv nicht Julians Eltern.«

Irene wankte in die Küche und sank auf den nächstbesten Stuhl. »Das ist zuviel für mich. Weiß es Ingo schon?«

»Nein. Während der Bahnfahrt hatte ich viel Zeit zum Überlegen – ich denke, ich werde es ihm überhaupt nicht sagen.«

»Aber das mußt du, er hat ein Recht zu erfahren, daß irgendwo ein Kind aufwächst, das in Wahrheit euer Sohn ist. Und außerdem kannst du Ingo endlich beweisen, daß du ihn nie betrogen hast.«

Michaela zog sich einen Stuhl heran. »Meine Ehe ist zerstört, daran gibt es nichts zu ändern. Ingo und ich lieben Julian, und wir werden ihn immer lieben.«

»Dann willst du keine Nachforschungen anstellen?«

»Nein, das werde ich nicht«, gab Michaela entschlossen zurück. »Ich könnte Julian nicht hergeben und statt dessen ein Kind großziehen, das mir völlig fremd ist. Mein Entschluß steht fest, und ich möchte dich bitten, daß auch du schweigst.«

»Natürlich«, gab Irene geistesgegenwärtig zurück. »Du darfst übrigens nicht denken, daß ich Julian jetzt weniger liebe als zuvor – er ist und bleibt mein Enkel.«

Mit Tränen in den Augen umarmten sich Mutter und Tochter, und Michaela war froh, in Irene eine Verbündete gefunden zu haben.

*

Nach dem folgenschweren Resultat der Blutuntersuchung war es schwierig, wieder in den normalen Alltag zurückzufinden. Michaela versuchte tapfer den Gedanken zu verdrängen, daß Julian nicht das Kind war, das sie neun Monate unter dem Herzen getragen hatte. Doch immer wieder ertappte sie sich dabei, wie es ihr einen Stich gab, wenn der Kleine vertrauensvoll zu ihr aufblickte und lachte.

Die Scheidung verlief reibungslos, da weder Ingo noch Michaela besondere Ansprüche erhoben. Es war ein grauer, verregneter Tag, als das Ehepaar Voges als geschiedene Leute aus dem Gerichtsgebäude trat.

Unschlüssig standen sie sich auf der Treppe gegenüber, bis Ingo sagte: »Wir könnten noch irgendwo einen Kaffee trinken, wenn du es nicht eilig hast. Ich habe mir heute den ganzen Tag freigenommen.«

»Gern.« Michaela zog den Kragen ihres Mantels höher. »Aber laß uns von hier verschwinden, der Ort wirkt so bedrückend.«

»Gute Idee. Nicht alle Menschen, die hier herauskommen, verstehen sich noch.«

In der Nähe gab es ein gemütliches Café, so daß sie nicht weit laufen mußten. Julian war bei Irene gut untergebracht, so daß Michaela genügend Zeit hatte.

»Mich interessiert, was du denkst«, sagte Ingo, als sie sich an einem der kleinen Tische gegenübersaßen. »Du siehst sehr nachdenklich aus.«

Sie zuckte unwillkürlich zusammen. Natürlich hatte sie wieder an die Geschichte mit Julian gedacht, doch sie sagte leichthin: »Es ist ein merkwürdiges Gefühl, nach vielen Jahren Ehe plötzlich geschieden zu sein, findest du nicht?«

»Hm, ich bin erstaunt, wie schnell das alles über die Bühne ging. Geht es dir wirklich gut, oder bist du mir böse, weil ich die Scheidung wollte?«

Sie strich sich das regenfeuchte Haar aus der Stirn und stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte. »Weißt du, damals, als du ausgezogen bist, dachte ich, die Welt stürzt ein. Ich konnte mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen… über den Grund der Trennung möchte ich jetzt übrigens nicht mehr reden, es wurde schließlich alles gesagt.«

Er nickte zustimmend. »Inzwischen hast du ja dein Leben in den Griff bekommen, wie mir scheint. Wann fängst du wieder an zu arbeiten?«

»Nächsten Monat, dann ist endlich ein Kindergartenplatz für Julian frei. Ich freue mich schon auf meine Kolleginnen und das Büro.«

»Du weißt, daß ich dich auch weiterhin finanziell unterstützen werde, nicht wahr? Mit deinem Gehalt kannst du die teure Wohnung kaum halten.«

Michaela hätte gern dankend abgelehnt, aber das wäre dumm gewesen. Im Gegensatz zu früher würde sie nur noch halbtags arbeiten, und davon konnte sie sich und Julian nicht ernähren.

Eine halbe Stunde später trennten sie sich freundschaftlich. Ingo hatte nichts von seiner Freundin erzählt, und Michaela war ihm dankbar dafür. Es wäre einfach peinlich gewesen, und Ingo schien taktvoll genug zu sein, um dies zu erkennen.

*

»Du bist überhaupt nicht traurig darüber, daß Ingo jetzt nicht mehr dein Mann ist?« fragte Irene später, als Michaela den Kleinen abholte.

»Nein, es tut nicht mehr weh, ihn verloren zu haben.«

»Und warum blickst du dann noch immer so sorgenvoll?« fragte Irene mit kritischem Blick.

Michaela setzte ein Lächeln auf. »Das hat nichts mit Ingo zu tun. Es ist wegen… Julian.«

»Du meinst, es ist schwer zu vergessen?«

»Schwieriger, als ich gedacht habe«, gab Michaela seufzend zurück. »Ich ertappe mich immer häufiger dabei, daß ich mir vorstelle, wie mein richtiger Sohn aussieht, ob die Leute, bei denen er lebt, gut zu ihm sind und ob er gesund ist.«

Irene schwieg einen Augenblick nachdenklich, dann sagte sie: »Wenn dich diese Gedanken so quälen, mußt du dich auf die Suche nach dem Kind machen, sonst wirst du seelisch daran zugrunde gehen.«

»Das kann ich nicht, Mutti!« rief Michaela mit Verzweiflung in der Stimme. »Selbst, wenn ich die Namen des anderen Elternpaares herausfinden würde, wäre mir damit nicht geholfen. Dieses andere Kind ist zwar mein Sohn, aber ich könnte ihn den Eltern nicht entreißen – und Julian würde ich selbst auch nie wieder hergeben.«

»Ich verstehe. Hast du Ingo noch immer nichts davon erzählt?«

»Nein, vielleicht werde ich es eines Tages tun, aber im Moment ist mir nicht danach. Er liebt Julian, obwohl er weiß, daß er nicht sein Sohn ist; daß er auch nicht mein Kind ist, spielt doch jetzt auch keine Rolle mehr.« Sie stand auf. »Wenn ich erst wieder im Büro bin, habe ich genug Ablenkung, um nicht ständig an die Verwechslung zu denken. Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man doch so schön, nicht wahr?«

Irene warf ihrer Tochter einen besorgten Blick nach, als sie mit Julian an der Hand die Wohnung verließ. Michaela war sensibel, das war sie schon als Kind gewesen. Und Irene bezweifelte, daß sich ihre Tochter mit dem gegenwärtigen Zustand abfinden konnte.

*

Zunächst sah es so aus, als würde Irene sich irren. Michaela ging in ihrer Arbeit auf, die Nachmittage gehörten Julian und dem Haushalt. Abends war Michaela meistens so müde, daß sie schon einschlief, bevor sie nachdenken konnte.

Julian war ebenfalls begeistert. Die vielen Kinder und die netten Erzieherinnen hatten es ihm angetan, und am liebsten wäre er auch am Wochenende dorthin gegangen. Aber da er ja dann seinen Papa besuchte, vermißte er den Kindergarten nicht allzu sehr.

Mit Fernsehen und langen Spaziergängen versuchte sich Michaela an den Wochenenden abzulenken. Mitunter besuchte sie auch außerplanmäßig ihre Mutter oder traf sich mit ihren Freundinnen. Irgendwann merkte sie jedoch, daß sie den Gedanken an ihren leiblichen Sohn nur verdrängte. Sowie sie eine ruhige Minute hatte, erschien dieses gesichtslose Kind, das sie vor drei Jahren zur Welt gebracht hatte, vor ihrem geistigen Auge.