E-Book 1998-2007 - Diverse Autoren - E-Book

E-Book 1998-2007 E-Book

Diverse Autoren

0,0
25,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. E-Book 1: Wer heiratet meinen Papi? E-Book 2: Eine alleinerziehende Mutter E-Book 3: Baby Leon - und alle Wogen glätten sich E-Book 4: Unerwartet und geliebt E-Book 5: Matheo - Sohn einer verbotenen Liebe E-Book 6: Kein Traum, sondern Wirklichkeit E-Book 7: Candy und Penny - für jeden Streich zu haben E-Book 8: Ein Papi auf Probe? E-Book 9: Ein Opa nach meinem Herzen E-Book 10: Lukas und seine erste große Liebe

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1162

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Wer heiratet meinen Papi?

Eine alleinerziehende Mutter

Baby Leon - und alle Wogen glätten sich

Unerwartet und geliebt

Matheo - Sohn einer verbotenen Liebe

Kein Traum, sondern Wirklichkeit

Candy und Penny - für jeden Streich zu haben

Ein Papi auf Probe?

Ein Opa nach meinem Herzen

Lukas und seine erste große Liebe

Mami – Staffel 28 –

E-Book 1998-2007

Diverse Autoren

Wer heiratet meinen Papi?

Tonia wünscht sich so sehr eine Mami

Roman von Sonngarten, Anna

Milena Berg stand von ihrem Schreibtisch auf, ging ans Fenster und schloß es energisch zu. Gedankenverloren blickte sie auf die Lichter der Großstadt. Es mußte schon nach zwanzig Uhr sein, denn die Dunkelheit lag tief auf den Häusern, und die Abendluft, die bis eben durchs Fenster geströmt war, hatte ihr Büro unmerklich in einen Kühlschrank verwandelt. Fröstelnd setzte sie sich wieder an den Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm ihres PCs. Plötzlich klopfte es an ihre Bürotür, und im gleichen Augenblick trat ihr Chef herein.

»Ach, Milena. Sie sind immer noch hier?« fragte Arno Pawelka.

»Ja. Ich habe heute nachmittag viel Zeit bei einem Klienten verloren.«

»Bei wem waren Sie?«

»Bei Herrn Müller-Dellenhoff und seiner Gattin«, antwortete sie. Man konnte deutlich heraushören, daß sie der Termin mit dem stadtbekannten Kunstsammler Nervenkraft gekostet hatte.

»Ach ja, die beiden«, sagte Pawelka und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

Milena runzelte die Stirn.

»Es mag Sie vielleicht nicht trösten, aber Herr Müller-Dellenhoff ist ganz begeistert von Ihnen. Er sagte wörtlich: ›Endlich haben Sie mal eine Kunstexpertin eingestellt, die nicht nur sehr gut aussieht, sondern auch etwas von der Materie versteht, Pawelka‹.«

Arno Pawelka hatte den Tonfall des alten Herrn so gut imitiert, daß Milena unwillkürlich lachen mußte.

»Na, so gefallen Sie mir schon besser, Milena. Eine so schöne Frau sollte nicht die Stirn runzeln«, sagte Arno Pawelka vertraulich, indem er den Blick auf der jungen Frau mit tiefbraunen sanften Augen ruhen ließ. Milena fühlte sich unbehaglich. Sie hackte auf ihrer Tastatur herum, als sei ihr plötzlich etwas ganz Wichtiges eingefallen, das keinerlei Aufschub duldete. Arno Pawelka sah lächelnd zu ihr herunter. Sie war ein Glücksgriff für seine Abteilung, die sich mit der Versicherung aller Art von Kunst befaßte. Frau Berg hatte nach einer Ausbildung zur Versicherungskauffrau Kunstgeschichte studiert und war nun seit einem halben Jahr seine Assistentin. Er konnte ihr vertrauen. Sie war kompetent in der Sache, aber was in seiner Branche noch wichtiger war: Sie konnte mit Klienten umgehen. Das Ehepaar Müller-Dellendorf war dafür ein Beispiel.

»Milena, machen Sie Schluß für heute«, schlug Pawelka vor und fügte dann hinzu: »Sagen Sie, erwartet Sie eigentlich niemand zu Hause?«

»Nein... nicht mehr«, antwortete Milena und hielt mit ihrer Tätigkeit abrupt inne.

»Nicht mehr?« wiederholte Pawelka.

»Ich bin vor drei Monaten bei ihm ausgezogen.«

»Ach, davon wußte ich gar nichts«, sagte Pawelka unsinnigerweise, da Milena und er bisher kein privates Gespräch geführt hatten. Außer Milenas Sekretärin Anna Krüger wußte niemand in der Abteilung irgend etwas Privates über Milena. Sie war stets freundlich, aber auch sehr zurückhaltend.

»Wo wohnen Sie denn jetzt?«

»Bei meiner Tante. Es ist zur Zeit nicht leicht, etwas Passendes zu finden... Ich möchte schließlich nicht aufs Land ziehen«, erklärte sie und lächelte.

»Da kann ich Ihnen sicherlich helfen«, murmelte ihr Chef mehr zu sich selbst und fügte dann laut hinzu: »Mal sehen, was ich für Sie tun kann, Milena. Oder möchten Sie bei Ihrer Tante wohnen bleiben?«

»Nicht unbedingt... Ich glaube..., es wäre sehr freundlich von Ihnen...« Milena war verlegen. Sie wußte, daß es Pawelkas Hauptaufgabe war, Kontakte zu pflegen, und darauf verstand er sich meisterhaft. Wahrscheinlich hatte er auch unter den Immobilienmaklern der Stadt Freunde.

Pawelka machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Schon gut, Milena. Sehen wir mal, was sich da machen läßt«, sagte er und rauschte davon. Milena atmete tief durch und lächelte. Daß sich ihr Chef um ihre persönlichen Angelegenheiten kümmern würde, verursachte ihr ein Gefühl wie eine warme Dusche. Hatte sie nicht schon lange darauf gewartet, daß ihr Chef sich auch einmal für sie persönlich und nicht nur für ihre Arbeit interessierte? Milena mußte vor sich selbst zugeben, daß sie für Arno Pawelka mehr empfand, als sie durfte. Schließlich wußte sie, daß er verheiratet und Vater von drei Kindern war. Das alles sagte ihr der Verstand, aber ihre Gefühle sprachen eine andere Sprache. Sie sah in ihrem Chef immer nur den hochgewachsenen Mann mit den grauen Schläfen, dessen Augen stets lebhaft funkelten, als könne er niemals den Humor verlieren. Das waren ihre Gedanken, während sie noch einige Papiere ordnete und sich ihre Termine für den nächsten Tag anschaute. Morgen mußte sie einen Fotografen aufsuchen, dessen Fotos beim Transport von einer Ausstellung Schaden genommen hatten. Namentlich war ihr der Fotograf bekannt, aber sie kannte nur wenige Arbeiten. Na ja, schlimmer als die Müller-Dellenhoffs konnte der Fotograf nicht sein, überlegte sie und schloß die Tür zu ihrem Büro hinter sich zu.

*

Jens Overbeck hatte schlecht geschlafen, denn Tonia, seine fünfjährige Tochter war nach einem bösen Traum in das Bett ihres Vaters geschlüpft und hatte darin die weitere Nacht verbracht. Quer natürlich und sehr unruhig. Jens war immer wieder von ihren Fußtritten geweckt worden oder fand ein

Ärmchen in seinem Gesicht wieder. Tonia war jedenfalls wie jeden Morgen seit halb sieben putzmunter und plapperte drauflos, während Jens gerädert und unausgeschlafen seinen Kaffee schlürfte. Ihr Geplapper drang nicht recht zu ihm vor. Er antwortete einsilbig mit ›Hm‹ und ›Ja‹, was der Kleinen bald auffiel.

»Du hörst gar nicht richtig zu, Papa«, sagte sie und stemmte die Ärmchen in die Hüfte.

Jens sah seine Tochter an. Ihre großen blauen Augen schauten vorwurfsvoll unter den blonden Ponyfransen hervor. Jens schaute sie an, als sähe er sie heute das erste Mal. Die kleine zarte Gestalt, der Schmollmund und die treuen Kinderaugen rührten ihn immer wieder aufs neue.

»Du hast recht, meine Kleine. Aber ich habe schlecht geschlafen und ausgerechnet heute einen wichtigen Termin. Wenn ich dich nachher aus dem Kindergarten abhole, sieht die Welt wieder etwas rosiger für uns aus.«

Tonia machte nicht den Eindruck, als hätte sie das mit dem rosiger verstanden, aber sie gab sich zufrieden, und Jens konnte sich wieder seinem Kaffee und seinen Gedanken widmen. Auf dem Weg zu Tonias Kindergarten, den die beiden zu Fuß zurücklegten, ging er noch einmal seine Argumente durch, die er gegenüber dem Versicherungsvertreter geltend machen wollte. Er rechnete fest damit, daß man ihm irgendeinen Schreibtischmenschen schicken würde, der von Kunst nicht die geringste Ahnung hatte. Sie wollen die Fotos ersetzt haben? Kann man da nicht einfach neue Abzüge machen lassen? So stellte sich Jens Overbeck die Fragen des Versicherungsvertreter vor, und er würde dann versuchen zu erklären, daß man natürlich nicht einfach neue Abzüge machen kann, womöglich auch noch in einem Supermarkt. Er würde erklären müssen, daß die Arbeit eines Fotografen die Fähigkeit Fotos selbst zu entwickeln beinhaltete. Daß gerade das die Kunst sei. Er war so in Gedanken vertieft, daß er noch nicht einmal bemerkt hatte, daß Tonia und er den Kindergarten bereits erreicht hatten. Überhaupt war es wohl eher Tonia gewesen, die ihren Vater an der Hand zum Kindergarten geführt hatte, als umgekehrt.

»Ach, Herr Overbeck. Darf ich Sie kurz sprechen?« begrüßte ihn Frau Meyer, die Erzieherin aus Tonias Gruppe.

»Hm, ich habe heute morgen nicht viel Zeit. Um was geht es denn?«

»Wir planen eine kleine Fotoaktion für unser Sommerfest... Und wir dachten, wo Sie doch Fotograf sind...«

»Ja, das bin ich..., aber ich mache keine Schnappschüsse. Und um so etwas geht es Ihnen doch, oder?«

»Tja, eigentlich schon«, sagte Frau Meyer und lächelte, um ihre Enttäuschung zu verbergen.

»Ich überleg’ es mir noch«, sagte Jens einlenkend. Frau Meyer deutete dies als Zustimmung und begann sogleich ihre Pläne auszuschmücken. Jens winkte ab.

»Ich sagte, daß ich es mir noch mal überlege. Heute mittag, wenn ich Tonia abhole, sage ich Ihnen Bescheid.«

Die Erzieherin verstummte augenblicklich und sah Jens Overbeck besorgt an. So kannte sie Tonias Vater, für den alle Erzieherinnen heimlich schwärmten, gar nicht. Er war stets freundlich und gutgelaunt. Außerdem sah er verdammt gut aus. Groß und breitschultrig, und seine tiefblauen Augen ruhten aufmerksam auf dem Gesicht seiner jeweiligen Gesprächspartner. Ein Blick, der einem durch und durch ging. Das fand nicht nur Frau Meyer. Vielleicht hat er mit seiner Ex-Frau Probleme, vermutete sie. Denn daß man mit Mara Mai, der bekannten Schlagersängerin, Probleme haben konnte, glaubte Frau Meyer unbesehen. Es kommt nicht oft vor, daß nach einer Scheidung das Kind beim Vater lebt. Aber daß es im Falle von Tonia die richtige Entscheidung war, darüber war man sich im Kindergarten einig. Frau Meyer sah Jens Overbeck zum Ausgang eilen. Hoffentlich überlegt er es sich noch mal mit den Fotos, dachte sie und nahm ihre gewohnte Arbeit auf.

Zu Hause angekommen hatte Jens gerade seine Jacke abgelegt, als es an der Wohnungstür klingelte. Offensichtlich hatte er die Haustür nicht geschlossen. Ein Vergehen, daß man ihm in dem Altbaumehrfamilienhaus oft ankreidete. Er ging zur Tür und stellte ganz bewußt eine strenge verschlossene Miene zur Schau. Der Versicherungsvertreter sollte ja nicht glauben, daß Jens ein vertrottelter Künstler war, den man leicht über den Tisch ziehen konnte. Dann öffnete er und sah sie. Es verschlug ihm die Sprache. Vor ihm stand die aparteste Frau, die er jemals zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Sie war mittelgroß. Ein enggeschnittener Wildlederrock, zu dem sie eine kurze Bluse trug, betonte eine zarte weibliche Figur. Ihr mittelbraunes Haar fiel in weichen Wellen bis auf ihre schmalen Schultern und umrahmten ein Gesicht von außergewöhnlicher Schönheit. Große dunkelbraune Augen ruhten fragend auf ihm.

»Bin ich hier richtig? Ich möchte zu dem Fotografen Jens Overbeck.« Fang jetzt bloß nicht an zu stottern, fuhr es Jens durch den Kopf. Er räusperte sich kurz und trat einen Schritt zur Seite.

»Bitte, treten Sie näher. Ich bin Jens Overbeck.« Lächelnd reichte sie ihm die Hand und stellte sich vor.

»Milena Berg. Ich arbeite als Sachverständige für Kunst bei der Fortuna GmbH.«

Jens nickte bloß. Er wußte bereits, daß er verloren hatte. Gegen so eine Frau würde er nicht ankommen können. Doch irgendwie kümmerte ihn das jetzt alles nicht mehr. Ihm ging nur noch die Frage durch den Kopf, wie er Milena Berg um ein Rendezvous bitten könnte. Milena betrat die Wohnung des Fotografen, und ihr Blick fiel auf einen weißen Flügel, der inmitten eines riesigen Wohnraums stand. Herumliegende Notenbücher verrieten ihr, daß dieses stilvolle Instrument nicht nur zu Dekorationszwecken hier aufgestellt war. Ihr Blick glitt an Jens vorbei auf Wände, die mit seinen Fotoarbeiten behängt waren. Gern hätte sie sich weiter umgesehen, aber das verbot ihr die von ihrer Firma verlangte Geschäftsstrategie. Niemals zeigte man einem Klienten, daß man sich für sein Privatleben interessierte. Das galt als unprofessionell. Deshalb wandte sie sich erneut dem Fotografen zu. Er sah gut aus, obwohl er nicht rasiert war. Und das T-Shirt, das er trug, hatte auch schon bessere Tage gesehen. Überhaupt fand sie seine Kleidung ein wenig zu lässig. Aber er gefiel ihr trotzdem. Er war der Typ großer Junge. Dunkelblondes unfrisiertes Haar, tiefblaue Augen. Ein wenig unbeholfen in seiner Art sich zu bewegen. Seine Gestik spontan, herzlich. Doch seine Hände verrieten Sensibilität und Feingefühl.

Milena lächelte unwillkürlich. Ich muß mich auf die Sache konzentrieren, sonst werde ich verlegen, schoß es ihr durch den Kopf.

»Darf ich die Arbeiten, um die es geht, sehen, Herr Oberbeck?« fragte sie ernst.

»Aber natürlich. Sie dürfen auch gern einen Blick in meine Dunkelkammer werfen«, schlug Jens vor.

»Ja, das würde ich sehr gern, und das ist darüber hinaus auch notwendig, um mir ein genaues Bild über das Ausmaß des Schadens machen zu können, der Ihren Arbeiten zugefügt worden ist«, erklärte Milena.

Jens war zum zweiten Mal innerhalb weniger Augenblicke sehr überrascht. Die junge schöne Frau schien wirklich etwas über die Arbeitsweise von Künstlern zu verstehen. Er öffnete ihr die Tür zu seinem sogenannten ›Allerheiligsten‹. Wenn er in diesem Raum arbeitete, war er für niemanden zu sprechen. Eine rote Lampe signalisierte: Auf keinen Fall die Tür öffnen. Das hatte mittlerweile sogar Tonia begriffen, obwohl er selten in der Dunkelkammer arbeitete, wenn Tonia da war. Kinder haben kein Zeitgefühl, und er wußte, daß er von seiner kleinen Tochter nicht erwarten konnte, daß sie stundenlang geduldig abwartete, bis Papa wieder zum Vorschein kam.

»Sind das die Fotos, die beschädigt wurden?« fragte Milena und nahm einige Fotos in Augenschein.

»Ja genau. Das sind sie«, bestätigte Jens.

»Es sieht so aus, als sei irgendwie Feuchtigkeit an die Fotos gelangt. Ich frage mich, wie das passieren konnte. Die werden die Fotos doch wohl nicht in einem Kühltransporter durch die Gegend kutschiert haben...«, grübelte Milena.

»Sie werden sie einfach unsachgemäß gelagert haben«, äußerte Jens seine Vermutung. »Die Ausstellung ging bis zum Monatsende. Ich habe meine Arbeiten aber erst drei Wochen später zurückerhalten.«

»Das wird es sein«, bestätigte Milena und sah Jens dabei an. Plötzlich erschien ihr die Situation in der engen schummrig beleuchteten Dunkelkammer sehr intim. Und obwohl Jens in gebührendem Abstand vor ihr stand, fühlte sie seine physische Präsenz in ungewohnter Deutlichkeit.

»Tja, wie dem auch sei. Wozu ist man versichert, wenn man in so einem Fall nicht entschädigt wird«, sagte sie und legte die Fotos wieder auf ihren Platz.

»Allerdings wird sich die Höhe der Entschädigung nach dem derzeitigen Verkaufswert richten«, gab Milena zu bedenken. »Können Sie mir dazu schriftliche Angaben machen?«

»Natürlich«, sagte Jens und reichte Milena eine Mappe mit Rechnungen über die letzten Verkäufe. Milena warf einen Blick darauf.

»Sie sind gut im Geschäft, Herr Overbeck«, stellte sie lächelnd fest. »Das ist schön für Sie, allerdings weniger gut für uns. Aber wir werden uns das Geld von den Ausstellungsmachern wiederholen«, sagte sie und klappte die Mappe wieder zu.

»Dürfte ich die Unterlagen mit ins Büro nehmen? Ich werde sie meinem Chef vorlegen müssen, wenn ich Ihren Fall bearbeite.«

Jens nickte. Er war wieder einmal sprachlos. So einfach hatte er sich die Sache nicht vorgestellt. Und jetzt bedauerte er das schon beinahe, denn es sah so aus, als wolle die Kunstsachverständige ihren Besuch bei ihm beenden. Sollte er ihr noch etwas anbieten? Er könnte sie auch zu seiner nächsten Ausstellung einladen, fiel ihm ein. Doch noch ehe er eine Entscheidung diesbezüglich getroffen hatte, war die junge Frau bereits an der Tür.

»Vielleicht sehen wir uns auf Ihrer kommenden Ausstellung«, sagte sie noch und reichte ihm eine schmale unberingte Hand.

»Ja, das würde mich sehr freuen. Ich schicke Ihnen eine Einladung«, versprach Jens eilig und hielt ihr die Tür auf. Als er sie hinter Milena geschlossen hatte, atmete er tief durch. Was für eine Frau, dachte er und lächelte.

*

»Hat jemand für mich angerufen?« fragte Milena, als sie auf dem Weg in ihr Büro bei ihrer Sekretärin vorbeikam.

»Nein, das heißt doch. Der Chef wollte etwas von Ihnen. Sie sollten gleich mal in sein Büro kommen«, antwortete Frau Krüger, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Erst als Milena zögerte, in plötzlicher Unentschiedenheit, ob sie erst ihre Unterlagen oder sofort zu ihrem Chef eilen sollte, blickte die Sekretärin auf. Sie fand die junge Frau verändert. Ihr sonst eher blasser Teint war gerötet, und Frau Krüger fragte sich, was geschehen war.

»Gab es Probleme mit dem Fotografen?« fragte sie geradeheraus.

»Nein, nein. Wieso?« Milena wirkte nicht überzeugend. Zumindest nicht auf Frau Krüger.

»Sie sehen so aus, als sei das Treffen mit Herrn Overbeck irgendwie... schwierig gewesen«, stellte sie fest. Milena legte ihre Unterlagen einfach auf Frau Krügers Schreibtisch ab und ließ sich in den erstbesten Besuchersessel fallen.

»Ja, Sie haben recht. Es war irgendwie anders«, sagte sie. Aber aus dem Lächeln, mit dem Milena diese Aussage begleitete, konnte Frau Krüger nicht recht klug werden.

»Und was war so anders?« fragte sie gelassen.

»Ich weiß nicht recht... Kennen Sie Herrn Overbeck?«

»Flüchtig. Er ist schon lange Klient bei uns, und es ist hier so üblich, daß man die Ausstellungen der Klienten besucht. Bei einer dieser Gelegenheiten habe ich ihn gesehen. Aber ich habe nicht mit ihm gesprochen.« erklärte Frau Krüger.

»Hm. Er sieht gut aus, nicht wahr?«

»Ist das jetzt eine Feststellung oder eine Frage. Sie wissen, über Geschmack läßt sich streiten«, sagte Frau Krüger sachlich.

Milena lächelte. »Aus meiner Sicht ist dies eine Feststellung«, antwortete sie.

»Um das festzustellen, hat der Chef Sie nicht losgeschickt«, bemerkte Frau Krüger, aber es klang mehr besorgt als tadelnd, denn sie hatte Milena, die ihre Tochter hätte sein können, schon lange ins Herz geschlossen. Auch wenn sie das niemals direkt zeigen würde. Frau Krüger war eine strenge, stets auf Etikette bedachte Dame mittleren Alters. Sie hätte durchaus bei entsprechender Kleidung und mit einer anderen Frisur jünger aussehen können. Aber das lag nicht in ihrer Absicht. Sie trug stets ein schlichtes, aber perfekt sitzendes Kostüm und hatte ihr blondes Haar, in das sich die ersten Silberfäden eingeschlichen hatten, zu einer Hocksteckfrisur aufgetürmt, aus der sich keine einzige Locke hervorgewagt hätte. Frau Krügers Äußerung verfehlte dennoch nicht ihr Ziel. Milena sprang auf und wurde ganz ernst.

»Der Fall Overbeck ist eindeutig. Wir müssen ihn entschädigen. Ich mach’ mich gleich mal an die Arbeit«, sagte sie mit plötzlichem Eifer und eilte in ihr Büro.

»Denken Sie auch noch an den Chef. Herr Pawelka wartet nicht gern!« rief Frau Krüger Milena noch hinterher. Doch sie dachte in Wirklichkeit, daß es nicht schaden konnte, wenn Milena Arno Pawelka warten ließ. Anna Krüger hatte ihre eigene Geschichte mit Arno Pawelka hinter sich. Sie hatte sich längst damit abgefunden. Doch wenn sie etwas verhindern könnte, so würde sie verhindern, daß es Milena so erging , wie es ihr ergangen war.

*

»Das mit dem Sommerfest geht klar, Frau Meyer«, sagte Jens gutgelaunt, als er Tonia vom Kindergarten abholte. »Aber erwarten Sie bitte nicht zuviel. Wie gesagt, verstehe ich mich nicht auf Schnappschüsse...«

»Das freut mich aber, daß Sie es sich noch anders überlegt haben, Herr Overbeck... Haben Sie noch ein paar Minuten Zeit, dann erklär’ ich Ihnen rasch, was wir vorhaben«, fragte Frau Meyer.

»Ja, bitte, schießen Sie los.«

»Wir wollen einfach einige Eindrücke vom Sommerfest einfangen und die Fotos später im Kindergarten ausstellen. Dann können die Eltern Abzüge erwerben, die wir mit Gewinn verkaufen möchten. Im Außengelände soll ein neues Klettergerüst gebaut werden. Aber noch fehlt uns dazu das Geld. Sie wissen, daß die Gelder knapp bemessen sind.«

»Eine gute Idee. Ich werde mein Bestes zum Gelingen der Aktion beitragen«, versprach Jens und lächelte der hübschen Erzieherin aufmunternd zu. Seit der für ihn denkwürdigen Begegnung mit Milena Berg, sah er die Welt mit anderen Augen. Was er heute morgen noch als irgendwie lästig empfunden hatte, erschien ihm jetzt als eine nette Abwechslung. Warum keine Schnappschüsse von fröhlichen Kindern, dachte er. Das ist mal was anderes. Jens Overbeck war bekannt geworden durch seine eigentümlich verfremdeten Landschaftsaufnahmen. Seine Fotoarbeiten entstanden hauptsächlich in der Dunkelkammer. Es war die Kunst des Entwickelns, mit der Overbeck die schemenhaften sich in Nebel und Dunst verlierenden Landschaften zauberte. Mittlerweile hatte er einige bedeutende Auszeichnungen gewonnen, und seine Arbeiten erzielten auf dem Kunstmarkt Höchstpreise. Jens Overbeck konnte jetzt gut von

seiner Arbeit leben. Eine kleine Hand schob sich plötzlich in seine. Tonia war vom Spielen mit ihren Freundinnen hereingekommen, als sie ihren Vater entdeckt hatte.

»Hallo, Schatz« , begrüßte Jens seine Tochter und hob sie in die Höhe, um ihr einen Kuß auf die Wange zu drücken. Tonia schlang die Ärmchen um den Hals ihres Vaters und schmiegte sich an ihn.

»Was gibt es denn heute zum Mittagessen?« fragte sie dann.

»Tja, meine Kleine. Papa hat heute nichts gekocht. Wie wär’ es, wenn wir in der Stadt etwas essen gehen?«

Tonia war einverstanden.

In der Stadt herrschte lebhafter Betrieb. Die ersten warmen Frühjahrstage hatten viele Menschen nach draußen gelockt, die sich in Straßencafés niederließen, um ihre Mittagspause im Freien zu verbringen. Nach dem obligatorischen Hamburger konnte er Tonia dazu überreden, noch im Eiscafé nebenan einzukehren. Während Tonia sich über ihren Eisbecher hermachte, den sie nach Kinderart in stiller Verzückung genoß, nippte Jens an seinem Cappuccino und beobachtete den vorbeiziehenden Menschenstrom. Völlig unerwartet sah er plötzlich Milena Berg an sich vorbeigehen. Fast hätte er sich an seinem Cappuccino verschluckt. Und das nicht nur wegen des unerwarteten Widersehens, sondern wegen Milenas männlichem Begleiter. Ein großer gutaussehender Mann Ende vierzig. Er trug einen teuren Anzug und hatte seinen Mantel lässig über dem Arm hängen.

Selbstsicher dirigierte er Milena, deren Arm er umfaßt hielt, in ein Café, das schräg gegenüber lag, wo Jens mit Tonia saß. Jens konnte die beiden von seinem Platz aus beobachten, aber er konnte auf die Entfernung nicht hören, über was sie sprachen. Seine gute Laune war dahin. Wer war dieser Mann nur, der ihm zumindest eines voraus hatte, nämlich am selben Tisch zu sitzen mit der Frau seiner Träume? War Milena verheiratet, oder war es ihr Freund? Das waren für Jens plötzlich ganz dringende Fragen, und die Ungewißheit darüber nagte an ihm.

»Was ist, Papa? Was schaust du immer da rüber?« fragte Tonia, die wie viele Kinder ein untrügliches Gespür für Stimmungsschwankungen hatte.

Jens zuckte unmerklich zusammen. »Ach, nichts weiter. Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne. Aber ich glaube, ich habe mich geirrt«, redete sich Jens heraus.

»Ich bin fertig mit meinem Eis. Gehen wir weiter?« Tonia sah keinen Grund, noch länger auf ihrem Stuhl zu sitzen.

»Ja, gleich. Laß mich eben noch meinen Cappuccino austrinken. Du kannst ja schon einmal der Kellnerin winken«, schlug Jens vor. Er wäre gern noch länger geblieben, aber aus Erfahrung wußte er, daß es wenig Sinn machte, von Tonia das auch zu erwarten. Außerdem konnte er von seinem Platz aus nichts weiter über Milena in Erfahrung bringen. Nachdem er bezahlt hatte, setzten Vater und Tochter ihren Rundgang fort, der sie wie immer zu einem nahgelegenen Spielplatz führte.

Arno Pawelka hatte seine Unterredung mit Milena Berg ins Private verlegt, indem er ihr vorschlug, die Mittagspause gemeinsam zu verbringen. Die Kantine war für diesen Zweck völlig ungeeignet. Da gab es zu viele Zuhörer. Deshalb hatte er ihr den Vorschlag gemacht, in der Stadt eine Kleinigkeit zu essen.

»Milena, Sie sind jetzt über ein halbes Jahr in meiner Abteilung«, begann Pawelka die Unterredung.

Milena horchte auf und hörte unwillkürlich auf zu essen.

»Lassen Sie sich es gut schmecken, Milena. Ich habe keinerlei Beanstandungen. Im Gegenteil, ich bin sehr zufrieden mit Ihnen«, beruhigte er die junge Frau und lächelte.

»Ich möchte mit Ihnen über unsere zukünftige Zusammenarbeit sprechen. Eine Zusammenarbeit, die eine engere vielleicht bis ins Private hineinreichende Mitarbeit von Ihnen verlangt. Ich möchte wissen, ob Sie sich das vorstellen könnten.«

»Nein..., das heißt, ja. Also..., ich weiß nicht, was Sie meinen, Herr Pawelka.«

Arno Pawelka lächelte wieder.

»Das dachte ich mir. Nun, Milena. Unsere Arbeit verlangt Kontaktpflege. Und diese Kontakte erstrecken sich auf die ersten gesellschaftlichen Kreise. Leute, die in Politik und Kultur den Ton angeben, müssen uns vertraut sein. Wir können nicht mit jedem per Du sein, aber wir müssen die Leute mit Namen anreden können. Das gehört zu unseren Aufgaben, wenn wir weiterhin Marktführer sein wollen.«

Milena nickte. »Ich verstehe. Aber was hat das mit mir zu tun.«

Arno Pawelka lächelte zum wiederholten Male.

»Eine schöne Frau kann mehr Türen öffnen, als der mächtigste Mann«, behauptete Pawelka, und es hatte den Anschein, als ließe er sich diesen Satz auf der Zunge zergehen.

»Sie brauchen mich als Türöffnerin?« fragte Milena erstaunt.

»Sie sollten es nicht so prosaisch ausdrücken. Ich brauche eine Frau an meiner Seite, die nicht nur etwas von der Sache versteht, sondern auch gute Umgangsformen besitzt und von solch erlesener Schönheit ist, wie Sie es sind.« Pawelka legte die Hand auf Milenas Arm, als wolle er seinen Worten damit Nachdruck verleihen. Milena sah ihn kurz an und merkte, wie sie unter seinen Blicken rot wurde.

»Könnten Sie sich vorstellen, mich in Zukunft häufiger zu begleiten? Auch zu Abendterminen und auch mal ins Ausland?« fragte er, und seine Stimme hatte auf einmal diesen wunderbar tiefen vertrauenerweckenden Klang.

Milena nickte. Natürlich konnte sie sich das vorstellen! Welche junge Frau am Anfang ihrer Karriere hätte sich das nicht vorstellen können?

»Fein, Milena. Ich hole Sie heute abend um acht Uhr ab. Abendgarderobe ist nicht erforderlich.«

»Wohin geht es denn?«

»Lassen Sie sich überraschen«, sagte Pawelka und grinste spitzbübisch.

*

Mara Mai plauderte mit ihrem Friseur über die neuesten Klatschgeschichten der Stars und Sternchen ihrer Branche, während Fred Freiländer mit wenigen geübten Handgriffen Maras Frisur begutachtete. Er nahm vorsichtig jede einzelne blonde Haarsträhne seiner Kundin in die Hand und prüfte sie sorgfältig, indem er sie zwischen den Fingerspitzen rieb. Dann kontrollierte er die Haarlänge, modellierte eine vorläufige Frisur und fragte so nachdenklich, als hinge der Weltfriede davon ab...

»Was meinst du, Mara. Sollen wir den Goldton deiner Haare noch ein bißchen verstärken?«

Mara warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Sie war gerade von einer anstrengenden Tournee zurückgekehrt und hatte von sich selbst den Eindruck, eine Generalüberholung nötig zu haben.

»Da überlasse ich mich ganz dem Fachmann, Fred. Nur mein Typ darf nicht verändert werden. Dann bekomme ich mit meinem Mann Ärger.«

»Okay, dann laß mich mal machen«, antwortete Fred und rührte sogleich die Farbe an. »Wie war die Tournee? Ist dir dein Publikum treu geblieben?« fragte er verschwörerisch.

»Ja, das ist es. Ich bin müde, aber sehr zufrieden. Fast alle Konzerte waren ausverkauft.«

»Das freut mich zu hören. Wie sieht es denn mit dem Grand Prix aus in diesem Jahr. Tut sich da was?«

»Nein, leider habe ich immer noch kein Lied gefunden. Bisher habe ich nur hundsmiserable Kompositionen angeboten bekommen. Und mit so etwas gehe ich nicht auf die Bühne. Das wäre künstlerischer Selbstmord«, sagte sie wichtig.

»Schade. Du weißt, als dein Friseur spekuliere ich immer darauf, mal bei so einem denkwürdigen Ereignis wie dem Grand Prix dabei zu sein. Hinter den Kulissen, versteht sich – als dein Friseur. Stelle ich mir wahnsinnig aufregend vor.« Fred lachte albern, und Mara stimmte mit ein.

»Ich würde dich auch auf jeden Fall mitnehmen, Fred. Aber dazu müßte ich erst einmal die Vorausscheidung gewinnen. Seit das Publikum per TED entscheiden darf, ist es noch schwieriger geworden. Außerdem haben wir in Deutschland zur Zeit nur ein paar Komponisten und Texter, die annehmbare Arbeit abliefern.«

»Ich verstehe. Und diese wenigen sind so gut im Geschäft, daß sie sich ihre Sänger und Sängerinnen selbst aussuchen können.«

»Ja genau. Für die Nachwuchssänger ist es nicht einfach«, seufzte Mara.

»Dabei ist der Schlager doch wieder im Kommen, hab’ ich nicht recht?« fragte Fred und strich die Farbe auf.

»Ja, doch. Die Leute stehen wieder auf gefühlvolle Lieder, die man mitsingen kann. Ich will mich auch nicht beklagen. Ich bin gut im Geschäft«, sagte Mara und lächelte selbstverliebt in den Spiegel.

»Ach, da fällt mir was ein. Ich wollte mich heute abend doch mit meinem Ex-Mann und meiner Tochter treffen. Da muß ich gleich mal anrufen«, sagte sie und tippte die Nummer in ihr Handy. Leider war niemand da, und sie mußte ihre Nachricht dem Anrufbeantworter anvertrauen.

»Wie geht’s denn der kleinen Tonia?« fragte Fred, nachdem Mara ihr Handy wieder ausgeschaltet hatte.

»Ich hoffe gut. Ich habe sie seit vielen Wochen nicht mehr gesehen. Wenn du so einen Beruf hast, läßt sich das mit einem normalen Familienleben nicht vereinbaren.« erklärte Mara nüchtern.

»Und? Bedauerst du das nicht auch manchmal... Ich meine, wie soll ich das sagen...«, stotterte Fred und machte ein gespielt verzweifeltes Gesicht dazu.

»Ich weiß schon, was du sagen willst. Eine normale Mutter möchte doch bei ihrem Kind sein, nicht wahr? Das meinst du doch?« fragte Mara und wußte, daß sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Fred selbst hatte keine Familie. Alle wußten, daß er Männer bevorzugte. Doch man sprach nicht darüber. Wozu auch. Jedenfalls liebte Fred Kinder.

»Ja, irgendwie schon«, gab Fred zu.

»Zu Anfang hatte ich ein schlechtes Gewissen«, gab Mara zu. »Meine Ehe mit Jens klappte nicht. Wir ließen uns scheiden, und dann mußte ich auch noch die Entscheidung treffen: Kind oder Karriere. Aber eigentlich bedaure ich es nicht. Vielleicht bin ich eine schlechte Mutter. Aber ich bin halt eine erfolgreiche Sängerin. Und das bedeutet mir sehr viel«, sagte Mara entschieden. Und so wie sie es sagte, klang es so, als sei sie vollkommen überzeugt von dem, was sie tat. Fred nickte zustimmend trotz seiner Zweifel.

»Ich glaube, daß Tonia mich verstehen wird, wenn sie erst einmal groß ist. Und ich glaube auch, daß sie stolz ist, eine so berühmte Mama zu haben. Welches Kind hat das schon?« Fred nickte wieder und dachte: Ich wünsche dir, daß du recht behältst, aber ich glaube nicht, daß es so sein wird. Was hat das Kind schon davon, daß seine Mutter eine bekannte Sängerin ist? Soll Tonia sich Mara Mais CD’s anhören, während die Mutter in der Weltgeschichte herumgondelte? Von Konzert zu Konzert reiste und sich ab und zu mit Tonia zum Essen verabredete? Das waren Freds Gedanken, aber niemals würde er etwas davon gegenüber Mara verlauten lassen. Sie war eine seiner besten Kundinnen. Durch sie war er so etwas wie ein Starfriseur geworden. Er hatte ihr viel zu verdanken, und außerdem war Mara ansonsten eine ganz reizende Person. Plötzlich klingelte ihr Handy. Sie nahm ab.

»Hallo?«

»Hallo Mara, ich bin es, Jens. Du hast eine Nachricht auf dem AB hinterlassen.«

»Ja, ich wollte mich heute abend mit euch zum Essen verabreden. Ich bin von meiner Konzertreise zurück und dachte, wir könnten uns wie immer bei Da Carlo treffen.«

»Von mir aus geht das klar. Aber bitte nicht zu spät. Normalerweise ist Tonia um acht im Bett.«

»Oh, so früh schon.«

»Mara! Tonia ist fünf.« Jens war immer wieder erstaunt über Maras Ignoranz. Sie hatte scheinbar jegliches Gefühl für kindliche Bedürfnisse und Verhaltensweisen verloren. Oder sie hatte es nie besessen. Beim letzten Treffen hatte Mara einen Tisch für einundzwanzig Uhr in einem Feinschmeckerlokal bestellt. Abgesehen davon, daß Tonia müde und überdreht war, hatten sie überhaupt nichts gefunden, was der Kleinen geschmeckt hätte. Aber anstatt daß Mara einsah, daß sie einen Fehler gemacht hatte, warf sie Jens vor, Tonia falsch zu erziehen. Es wäre fast zu einem richtigen Streit gekommen. Doch letztlich hatte Jens wieder einmal eingelenkt, weil er nicht wollte, daß Tonia unter dem schlechten Einvernehmen ihrer Eltern litt. Jens und Mara waren zwar geschieden, aber sie waren noch immer Tonias Eltern.

»Also gut. Wie wär’s denn um halb sieben«, schlug Mara jetzt vor.

»Das geht in Ordnung. Treffen wir uns im Restaurant, oder kommst du uns abholen?«

»Im Restaurant. Ich habe vorher noch viel zu erledigen«, erklärte Mara.

»Okay, dann bis um halb sieben, bei Da Carlo.«, sagte Jens und legte kopfschüttelnd auf. Konnte sie sich nicht denken, daß Tonia ihr vielleicht gern etwas gezeigt hätte? Ein neues Bild vielleicht, oder eine Bastelarbeit, oder einfach ihre neue Bettwäsche mit Bibi Blocksberg? Mara behandelt Tonia wie eine Erwachsene, dachte Jens und schüttelte wieder den Kopf.

*

Wenn Milena darüber erstaunt gewesen war, daß Arno Pawelka sie zu einem Abendessen im Kreise seiner wichtigsten Kunden eingeladen hatte, anstatt den Abend mit ihr allein zu verbringen, so ließ sie es sich nicht anmerken. Die anderen drei Herren am Tisch waren alle Anfang fünfzig und gewohnt, bei einem gemeinsamen Essen über Geschäftliches zu plaudern. Milena tat ihr Bestes, um sich den Anschein zu geben, als gehöre sie dazu und genieße den Abend in vollen Zügen. Hin und wieder fing sie einen prüfenden Blick von Pawelka auf. Milena konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, hier fände ein sogenannter Gabeltest statt. Konnte sie sich in dieser Gesellschaft von Kunstkennern, und allen die sich dafür hielten, angemessen bewegen? Stellte sie die richtigen Fragen, und gab sie vor allem die passenden Antworten? Milena hielt sich anfänglich zurück, und als einer der Herren sie fragte, ob sie bei der Eröffnung der Galerie Buchheim zugegen gewesen wäre, und wie ihr das sehr avantgardistische Programm der Galerie gefallen habe, wurde Milena zu ihrem Ärger rot. Denn sie kannte keine Galerie mit diesem Namen und konnte absolut nichts dazu sagen. Pawelka half ihr aus der Klemme, indem er selbst einiges zur Galerie Buchheim sagte und dann das Thema wechselte, indem er auf den Fall Overbeck zu sprechen kam. Dazu konnte auch Milena etwas sagen. Nach dem zweiten Glas Prosecco legte sich Milenas Nervosität, und plötzlich bemerkte sie, daß die Herren offenbar versuchten, sich mit scharfsinnigen Kommentaren gegenseitig auszustechen, um bei Milena Punkte zu sammeln. Milena stellte plötzlich fest, daß sie eigentlich bloß an passender Stelle zu lächeln brauchte, und daß ihre Meinung gar nicht gefragt war. Pawelka hatte sich mittlerweile lässig in seinem Stuhl zurückgelehnt und beobachtete amüsiert das Platzhirschverhalten seiner alten Geschäftspartner. Aus seiner Sicht war der Abend ein voller Erfolg. Milena Berg war genau die Mitarbeiterin, die er sich schon immer gewünscht hatte. Und daß sie ihm nicht gleichgültig war, wie er bemerkt hatte, machte die Sache um so spannender.

Am anderen Ende der Stadt fand ein Abendessen ganz anderer Art statt. Tonia und Jens saßen seit einer Viertelstunde an dem von Mara bestellten Tisch und warteten. Tonia spielte mit ihrem Besteck, nachdem sie sich an den eingepackten Teigstangen satt gegessen hatte. Jens wurde zusehens ärgerlicher und bestellte schon einmal einen Espresso.

»Laß doch bitte das Besteck liegen«, sagte er schlechtgelaunt zu seiner kleinen Tochter, als es das zweite Mal zu Boden gefallen war. Tonia schaute verdutzt. Nicht deshalb, weil ihr Vater wollte, daß sie das Besteck liegen ließe, sondern wegen seines Tonfalls. Sie schaute ihn mit großen Augen an.

»Bist du sauer, weil Mama nicht kommt?« Jens hustete. Er hatte sich an seinem Espresso verschluckt. Dann lächelte er schuldbewußt.

»Du hast recht, Tonia. Ich bin sauer, weil Mama uns wieder einmal warten läßt.«

»Na ja. Das kennen wir doch schon«, sagte die Kleine ein wenig altklug. »Mama hat immer viel zu tun. Sie ist halt berühmt.«

Jens nickte ergeben. Dazu konnte er eine Menge Einwände machen. Aber er unterließ es. Es war vielleicht besser, wenn Tonia glaubte, ihre Mutter tue ihr Bestes, doch ihr Beruf ließe ihr keine andere Wahl. Plötzlich kam Mara hereingeschneit. Sogleich stürmten drei Kellner gleichzeitig auf sie zu, halfen ihr aus dem Mantel und begleiteten sie zu ihrem Tisch. Bei diesem Personenaufkommen hatte Jens gar nicht bemerkt, daß Mara nicht allein gekommen war. Ihr Manager war auch zugegen. Doch als er Peer Ravell entdeckte, fiel Jens auf, daß für insgesamt vier Personen gedeckt war. Also war die Anwesenheit von Peer Ravell kein Zufall. Jens kochte innerlich vor Wut.

Mara merkte davon nichts und stürzte sich auf ihre Tochter.

»Tonia, mein Engel! Laß dich anschauen! – Wie habe ich dich vermißt. Ich habe dir auch etwas mitgebracht. Schau mal!« Sie holte eine Barbie-Puppe in eleganter Abendrobe aus ihrer Handtasche und stellte sie stolz auf den Tisch.

»Na, was sagst du dazu? So ein Kleid hat Mama neulich erst auf ihrem Konzert angehabt.«

»Toll!« stimmte Tonia zu. »Die nehme ich mit in den Kindergarten. Dann kann ich allen zeigen, wie meine Mama aussieht«, überlegte Tonia, und Mara nickte zustimmend, als sei das eine ganz hervorragende Idee. Jens verdrehte die Augen. Merkte Mara gar nicht wie absurd ihr Verhalten war? Eine Barbie-Puppe als Anschauungsmaterial, damit Tonia zeigen konnte, wie ihre Mama aussah? Aber Mara schien diese Idee wirklich gut zu finden.

»Hallo, Jens«, hörte er plötzlich eine Stimme an sein Ohr dringen.

»Ach, hallo, Peer. Interessant dich hier zu sehen. Ich dachte zwar, dies sei ein Familienessen, aber vielleicht gehörst du ja mittlerweile zur Familie, und ich habe es nur noch nicht bemerkt.« Jens versuchte ein Lächeln, was den Sarkasmus seiner Worte noch zusätzlich unterstrich. Peer räusperte sich.

»Ich werde nicht lange bleiben, aber Mara hat euch eine erfreuliche Mitteilung zu machen. Und da ich daran nicht ganz unbeteiligt bin, hat sie mich gebeten, sie zu begleiten«, erklärte Peer. Jens nickte nur.

»Setz dich doch, Peer. Was

stehst du hier herum?« Mara zog Peer an ihre Seite. Auf der einen Seite des Tischs saßen nun Tonia und Jens und ihnen gegenüber Peer und Mara. Peer winkte dem Kellner zu und bestellte vier Gläser Prosecco. Jens Laune war auf dem Nullpunkt. Er verzichtete deshalb auch auf den Hinweis, daß man einem fünfjährigen Kind keinen Alkohol auftischen konnte.

»Es gibt etwas zu feiern«, sagte Mara aufgedreht. »Peer hat ein Lied für mich entdeckt, weil ich bei der Vorentscheidung singen werde. Ich bin ganz aus dem Häuschen, weil es wirklich sehr schön und wie gemacht ist für meine Stimme.«

»Ja, Mara hat recht. Wir rechnen uns große Chancen aus, mit diesem Lied bis ganz weit nach vorn zu kommen«, bestätigte Peer.

»Wer hat es komponiert?« fragte Jens, um überhaupt etwas zu sagen. In Wahrheit interessierte er sich nicht im geringsten für Maras Karriere.

»Kai Bonhofer«, sagte Mara feierlich. In diesem Augenblick kam der Prosecco. Sie nahm ihr Glas und hielt es in die Höhe, indem sie den Namen Kai Bonhofer nochmals in aller Ehrfurcht wiederholte.

Jens zuckte die Schultern, während der Kellner zögerte, ob er das vierte Glas Prosecco wirklich vor dem kleinen Mädchen absetzen sollte. Jens nahm dem Kellner die Entscheidung ab, indem er das Glas entgegennahm.

»Tut mir leid, aber der Komponist ist mir völlig unbekannt«, sagte er in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, daß er diese Tatsache nicht für eine Bildungslücke hielt.

»Was, du kennst Kai Bonhofer nicht? Er hat für alle Größen des Showbusineß geschrieben. Du kennst doch sicher die Titel: ›Nur wer liebt, der lebt‹ oder ›Herz aus Stein‹.« Mara wollte nicht glauben, daß Jens diese Titel nicht kannte. Auch Peer steuerte noch einige Titel dazu, um dem Gedächtnis von Jens auf die Sprünge zu helfen.

»›Wenn du gehst‹ oder ›Meine Tränen erzählen von dir‹.« Jens schüttelte störrisch den Kopf, während sich Peer und Mara gegenseitig Liedtitel zuriefen. Plötzlich meldete sich Tonia zu Wort.

»Wann bekomm’ ich denn eigentlich meine Spaghetti?«

»Ach, mein Schatz. Du hast bestimmt Hunger«, sagte Mara mitfühlend und winkte dem Kellner, der sofort kam. Zu Peer gewandt sagte sie: »Über die Promotion sollten wir vielleicht ein anderes Mal sprechen. Jetzt wollen wir erst einmal etwas essen. Tonia möchte bestimmt auch etwas erzählen, nicht wahr, mein Engel?« Peer hatte den Wink verstanden und fragte Jens der Höflichkeit halber, was es bei ihm Neues gäbe. Jens antwortete einsilbig und auch nur aus Höflichkeit, denn er hatte überhaupt keine Lust, mit Peer über seine Arbeit zu sprechen. Tonia hingegen erzählte aus dem Kindergarten, und Mara hörte aufmerksam zu, bis das Essen kam. Nach der Mahlzeit verabschiedete sich Peer.

»Ich möchte euch nicht länger belästigen. Ihr habt euch lange nicht gesehen und wollt sicher noch etwas allein miteinander besprechen«, erklärte er und machte sich auf den Weg. Jens war das nur zu recht, aber als er dann verschwunden war, kam doch kein vertrautes Gespräch zwischen ihm und Mara auf. Sie lebten einfach in verschiedenen Welten und sahen sich darüber hinaus zu selten. Tonia war inzwischen müde geworden. Sie hatte das Köpfchen auf den Tisch gelegt und betrachtete ihre Barbiepuppe, die sie vor ihrem Gesichtchen spazieren führte.

»Scheint ja im Augenblick gut bei dir zu laufen, Mara«, sagte Jens. Dabei blickte er auf die Tischdecke, um Mara nicht ansehen zu müssen. Heute reizte ihn einfach alles an ihr. Ihre trendy Klamotten, ihre Frisur und die rotlackierten überlangen Fingernägel. Am meisten nervte ihn jedoch, daß sich Mara für unwiderstehlich hielt. Sie warf denn auch lachend den Kopf in den Nacken und bestätigte seine Vermutung.

»Ja, es läuft großartig. Aber reden wir einmal von dir. Gibt es etwas, was ich noch nicht weiß?«

Jens lachte unfroh auf.

»Die Frage müßte anders lauten, Mara. Gibt es etwas, das du über mich oder deine Tochter weißt?«

Mara zog die Augenbrauen hoch.

»Soll das ein versteckter Vorwurf sein?« fragte sie spitz.

»Da gibt es wohl kaum etwas zu verstecken«, murmelte Jens, der bereits befürchtete, daß selbst diese harmlose Unterhaltung in einem Streit enden könnte. Zugegeben war es nicht immer Maras Schuld gewesen, wenn sie sich gestritten hatten, aber sie hatten sich beide vorgenommen, wegen des Kindes in Zukunft auf Streitereien zu verzichten. Und jetzt steuerten sie wieder einmal geradewegs auf einen Krach zu. Tonia hielt damit inne, ihre Barbiepuppe auf dem Tischtuch tanzen zu lassen und schaute von einem zum anderen. Sie hatte ein untrügliches Gespür für Mißtöne zwischen ihren Eltern.

»Wann kommst du denn noch mal zu uns nach Hause? Ich glaube, Tonia würde sich freuen, wenn sie dir mal etwas zeigen könnte, was sie gemalt oder gebastelt hat«, sagte Jens, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

»Oh, das würde ich wirklich gern, aber in der nächsten Zeit habe ich wirklich viel zu tun...«, sagte Mara und streichelte Tonia verlegen übers Haar. Sie traute sich nicht Jens in die Augen zu blicken. Doch Jens zuckte nur mit den Schultern. Er hatte keine andere Antwort erwartet. Sie muß es selbst wissen, dachte er resigniert.

»Ich denke, es wird Zeit für uns. Wir müssen morgen früh raus«, sagte Jens und wollte dem Kellner ein Zeichen geben.

»Laß das mal, Jens. Darum hat sich Peer schon gekümmert«, sagte Mara. »Wir können das als Geschäftsessen absetzen«, fügte sie als Erklärung noch hinzu.

Jens nickte nur. Es spricht Bände, wenn man ein geplantes Familienessen als Geschäftsessen deklariert, dachte er. Mara wurde immer mehr zur Geschäftsfrau, und immer weniger war sie die Mutter, die Tonia brauchte. Sie verabschiedeten sich ohne eine konkrete Verabredung.

»Wir telefonieren am besten. Ich kann im Augenblick keine Termine machen, aber ich denk an euch«, behauptete Mara.

Jens trug Tonia auf dem Arm. Sie hatte den Kopf an seine Schulter gelegt und war nahe daran, einzuschlafen. Mit der Barbiepuppe in der Hand winkte sie ihrer Mutter zu und schloß die Augen.

*

Tatsächlich nahm Tonia am nächsten Tag ihre neue Barbiepuppe mit in den Kindergarten und erzählte stolz herum, daß die Puppe genauso aussähe wie ihre Mutter. Ihre Mutter sei eine berühmte Sängerin und hätte auf ihren Konzerten so ein Kleid an wie ihre Puppe. Jens war die Angelegenheit ein wenig unangenehm. Irgendwie fand er das Theater, das Tonia um ihre Puppe machte, unnatürlich. Dann wiederum machte er sich klar, das das Unnatürliche nicht Tonias Verhalten war, sondern die Situation, der Tonia ausgesetzt war. Wenn das so weiterginge, konnte Tonia ihre Mutter bald häufiger im Fernsehen sehen als in Wirklichkeit.

In letzter Zeit dachte er immer häufiger daran, wie es wohl wäre, wenn wieder eine Frau in sein Leben träte. Natürlich dachte er dabei nicht nur an seine Tochter, obwohl er sich für Tonia ein normales Familienleben wünschte.

Milena Berg fiel ihm wieder ein. Bisher hatte er noch keine Gelegenheit gefunden, mit der schönen Kunstsachverständigen zu telefonieren. Was Rendezvous’ anbelangte, war er vollkommen aus der Übung gekommen. Während er über diese Dinge nachdachte, kam ihm der Zufall zu Hilfe, denn Milena Berg bat ihrerseits um eine geschäftliche Verabredung, bei der noch einige Dinge wegen des Schadensanspruchs geklärt werden sollten. Jens nahm die Gelegenheit wahr, ihr den Vorschlag zu unterbreiten, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.

»Können wir über diese Dinge nicht auch bei einem gemeinsamen Abendessen bereden?« schlug Jens vor und wartete gespannt auf Milenas Reaktion.

Die war nicht ganz so spontan herzlich, wie Jens sich erhofft hatte. »Bei einem Abendessen? Ja, wenn Sie meinen. Warum nicht«, antwortete sie zögernd.

Jens ließ sich nicht abschrecken und schlug ihr vor, sie von zu Hause abzuholen.

»Okay, um zwanzig Uhr«, willigte Milena schließlich ein. Als Jens aufgelegt hatte, bereitete ihm gleich eine neue Überlegung Kopfzerbrechen. Wohin sollte er Milena ausführen? Spontan dachte er an seinen Freund Walter Dahn. Ein Künstlerkollege und guter Freund von Jens, der in den Achtzigern als junger Wilder gefeiert worden war, um den es aber inzwischen still geworden war. Walter kannte sich bestens aus, was die In-Kneipen und Restaurants der Stadt betraf. Ihn würde er fragen. Denn Jens wollte nichts dem Zufall überlassen. Nicht, daß gleich das erste Rendezvous ein Reinfall wurde.

*

Anna Krüger war erfreut zu hören, daß Milena sich mit Jens Overbeck verabredet hatte. Allerdings war der Grund für diese Freude lediglich der Umstand, daß Milena überhaupt mit einem anderen Mann verabredet war, als mit Arno Pawelka. Anna Krüger hätte nicht zu sagen gewußt, warum sie Milena nicht einfach reinen Wein einschenkte. Warum erzählte sie ihr nicht einfach das, was sie wußte? Anna konnte nicht. Denn dann wäre sie nicht umhin gekommen, etwas über sich selbst und Arno Pawelka zu erzählen. Und das wollte sie nicht. Selbst nach Jahren, die inzwischen vergangen waren, konnte sie nicht über ihre Affäre sprechen. Es schmerzte sie zu sehen, wie begeistert die junge Frau von ihrem Chef war. Als wäre er ein Gott, dachte sie bitter, wenn immer Milena mit leuchtenden Augen davon berichtete, was Arno gesagt oder getan hatte. Pawelka hatte es sich nicht nehmen lassen, Milena ein Appartement zu verschaffen. Diese Tatsache wäre für sich genommen nicht weiter erwähnenswert gewesen. Doch erstens lag dieses Luxusappartement in unmittelbarer Nähe zu Pawelkas eigenem Haus, und zweitens wußte Anna Krüger, daß Milena die Kosten für dieses Appartement nicht selber tragen konnte. Pawelka selbst übernahm einen Großteil der Miete, was Milena jedoch nicht wußte. Sie zahlte ihre Miete an einen Strohmann. Pawelka zahlte den Rest. Die Abwicklung lief über Annas Schreibtisch. Pawelka war es entweder völlig egal, daß Anna davon Wind bekam, oder er hielt sie für dümmer als sie war. Als Milena Anna Krüger nun von ihrem Rendezvous mit Jens Overbeck erzählte, zeigte sie sich erfreut.

»Jens Overbeck will mit Ihnen ausgehen? Na, das freut mich zu hören.«

»Wieso?« fragte Milena nur.

»Nun, das ist doch ein sehr charmanter Mann und obendrein ein gefragter Künstler. Sie werden sicherlich einen schönen Abend haben«, redete sich Anna heraus.

»Ja, schon, aber ich kenne ihn doch gar nicht«, warf Milena ein.

»Und Pawelka? Kennen Sie ihn?« fragte Anna in einem Tonfall, der Milena aufhorchen ließ. Sie wollte schon fragen, wie Anna das meine, aber dann unterließ sie es. Denn sie hatte plötzlich das Gefühl, daß Annas Frage keine der üblichen Fragen war, sondern eine Warnung. Doch vor was mußte Milena gewarnt werden? Vor Pawelka etwa, oder vor sich selbst? Oder war Anna Krüger doch nicht die mütterliche Freundin, die sie vorgab zu sein? Milena sah Anna mit forschenden Augen an. Doch diese hatte sich wieder ihrer Arbeit zugewandt und tat so, als ob sie es nicht merke. Obwohl sie den forschenden Blick von Milena durchaus spürte. Nach einer Weile stand Milena auf und ging einige unbedeutende Worte murmelnd in ihr Büro. Sie versuchte sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, was ihr nach einigen Anläufen auch gelang.

*

»Hey, Jens!« begrüßte Walter seinen Freund und nahm die kleine Tonia auf den Arm.

»Mensch, du bist aber gewachsen, meine Prinzessin. Haben wir uns solange nicht gesehen?« Walter Dahn schaute Tonia prüfend an. Die lachte verschmitzt.

»Nein, so lange ist es nicht her, daß wir das letzte Mal in deinem Atelier waren. Tonia ist wirklich gewachsen«, sagte Jens und schaute stolz auf seine kleine Tochter.

»Ich komme ja auch schon nächstes Jahr in die Schule«, erklärte Tonia wichtig. Als sei diese Tatsache die Ursache für ihr Wachstum.

»Ach, tatsächlich! Das ist ja allerhand«, sagte Walter und stellte Tonia wieder auf die Füße. Tonia sah sich neugierig um. Sie liebte Walters Atelier, denn es gab hier eine Menge spannender Dinge zu entdecken. Walter Dahn lebte im permanenten Chaos. Hier in seinem Atelier lag einfach alles herum, was Walter zum Leben und arbeiten brauchte. Immer wenn Jens gegenüber Walter meinte, daß er persönlich in einem solchen Chaos nicht arbeiten könne, behauptete Walter, daß ihn diese Form der kreativen Unordnung inspiriere. Überhaupt fand er, daß Leute, die ständig aufräumten, nur zu faul zum Suchen seien. Für Tonia hatte Walters Unbekümmertheit den enormen Vorteil, daß sie hier nach Herzenslust herumstöbern durfte. Sie durfte sogar Walters Farben und Pinsel benutzen. Er fand immer Papier, Pappe oder manchmal ein Stück alte Leinwand, auf der Tonia herumklecksen konnte. Walter fand Tonias Gemälde immer ausgesprochen vielversprechend. Jens mußte manchmal im stillen darüber lächeln, aber natürlich war er Walter auch dankbar für dessen unkomplizierte Art. Als Fotograf konnte er Tonia solche Freiheiten nicht einräumen, aber das wußte Tonia.

»Na, Jens, dann erzähl mal von deiner neuen Flamme«, forderte Walter seinen Freund zum Sprechen auf. Jens hatte Walter am Telefon von Milena Berg erzählt.

»Neue Flamme?«

»Ja, ja, ich weiß, du magst solche Ausdrücke nicht«, sagte sein Freund grinsend, der, was Frauen anbelangte, ein Draufgänger war und somit genau das Gegenteil von Jens. Jens bedauerte schon fast, Walter überhaupt von Milena erzählt zu haben. Walter war ein prima Kumpel, aber die Anzahl seiner Bekanntschaften ging bei weitem über das hinaus, was für Jens normal war. Walter behauptete natürlich immer, daß die meisten dieser Frauen lediglich Modelle seien, und daß Frauen einfach wunderbare Geschöpfe seien, die er zu seiner Inspiration brauche. Natürlich sind Frauen wunderbare Geschöpfe, gab ihm Jens recht. Aber wozu brauchst du drei wunderbare Geschöpfe pro Woche. Es gibt schließlich Maler, die eine einzige Muse in ihrem Leben haben und dabei einen Schaffensdrang an den Tag legen, von dem wir beide uns eine Scheibe abschneiden können. So gingen ihre Streitgespräche hin und her, ohne daß der eine dem anderen wirklich böse wurde. Deshalb brauchte er Walters Rat.

»Wohin würdest du eine Frau, die dir wirklich wichtig ist, einladen?« frage er Walter.

Walter überlegte eine Weile, dann sagte er im Brustton der Überzeugung: »Na, zu mir nach Hause natürlich.«

Jens verdrehte die Augen. »Das ist doch nicht dein Ernst«, sagte er und ließ seinen Blick demonstrativ umherschweifen.

»Eine Frau hierher einzuladen halte ich für riskant.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst, Jens.«

»Nun, sie könnte auf den Gedanken kommen, daß du eine neue Hausangestellte suchst.«

Walter schien wirklich nicht zu verstehen, was Jens meinte.

»Eine Hausangestellte? Wieso?« fragte Walter, doch Jens konnte sich mit der Antwort Zeit lassen, weil es in diesem Augenblick an der Tür klingelte. Walter ging zur Tür, und Jens schlenderte durch das weitläufige Atelier auf der Suche nach Tonia. Er fand sie in einer Ecke sitzend. Sie hatte einen Skizzenblock gefunden und betrachtete die von Walter angefertigten Zeichnungen. Jens war beeindruckt, mit welch stillem Ernst Tonia die Skizzen begutachtete. Sie war völlig in sich versunken und merkte nicht, daß ihr Vater näher kam. Jens schaute ihr über die Schulter. Es waren Porträtzeichnungen. Manche flüchtig, andere ausgemalt. Tonia fuhr einige Linien mit dem Finger nach.

»Paß bitte auf, Tonia, daß du die Skizzen nicht verwischst. Sie sind nur mit Kohle gezeichnet«, sagte Jens.

Tonia sah erstaunt zu ihrem Vater auf.

»Ich streichle die Bilder doch nur«, erklärte sie und legte sie behutsam zur Seite. Jens lächelte seine Tochter liebevoll an. Was sollte er dazu schon sagen? Plötzlich hörte er wieder Walter, der lärmend näher kam.

»Ich möchte dir jemanden vorstellen, Jens«, rief er. Ein junger Mann folgte Walter, der nach seinem äußeren Erscheinungsbild zu urteilen, ebenfalls Künstler hätte sein können. Doch als Walter Robert vorstellte, stellte sich heraus, daß Robert Gruber Restaurator war und eng mit der Versicherung zusammenarbeitete, bei der Milena Berg angestellt war. Und darüber hinaus stellte sich heraus, daß Robert Gruber Milena und auch ihren Chef Arno Pawelka kannte.

»O ja. Mit Frau Berg habe ich schon zusammengearbeitet. Sie ist noch nicht so lange dabei, aber ich glaube, sie ist echt kompetent.«

»Ich glaube, Jens interessiert mehr, wie sie so als Frau ist«, sagte Walter geradeheraus, und Jens verdrehte wieder einmal die Augen. Warum war er nur hierher gekommen? Robert schaute ihn neugierig an, als wäre von Jens irgend etwas Skandalträchtiges zu erwarten. Endlich sagte er betont cool:

»Ich weiß nicht, ob du da nicht ein bißchen zu spät kommst. Sie ist in letzter Zeit ständig mit Pawelka unterwegs, und man munkelt schon, daß sie Pawelkas neue Auserwählte ist. Ich weiß nicht, ob du Pawelka kennst, er ist so ein Richard-Gere-Typ, auf den alle Frauen fliegen. Er hat ständig neue Freundinnen. Seine Frau soll es angeblich mit Gelassenheit tragen.« Der Restaurator genoß es, ganz offensichtlich, so detailliert Auskunft geben zu können und sah Jens milde lächelnd an, als verdiene er sein ganzes Mitleid. Jens lächelte sparsam zurück und dachte, daß er Walter und diesen Restaurator jetzt am liebsten in den Boden stampfen würde. Er ahnte, daß Arno Pawelka nur der elegante Mann sein konnte, den er in Milenas Begleitung gesehen hatte. Aber ihm lag nichts daran, von Robert Gruber weitere Mutmaßungen zu hören. Als er eine halbe Stunde später das Atelier verließ, wußte er immer noch nicht, wohin er mit Milena ausgehen würde. Walter hatte ihm zwar zu seiner persönlichen Lieblingskneipe geraten, die auch dem Restaurator bekannt war, aber Jens wollte die Sache nun doch lieber allein in die Hand nehmen. Denn die Vorstellung, daß Walter an dem Abend dann selbst zugegen war und sich zu weiteren Indiskretionen hinreißen ließ, verursachte Jens Magenschmerzen.

*

Milena erwartete ihr Rendezvous mit gemischten Gefühlen. Wenn sie an den Tag zurückdachte, an dem sie Jens Overbeck in seiner Wohnung aufgesucht hatte, mußte sie lächeln. Er war ein zugegeben sehr sympathischer Mann, und warum sollte sie sich nicht mit ihm treffen? Schließlich war sie frei. Milena schaute in den Spiegel. Eigentlich wollte sie nur ihre Garderobe begutachten, aber dann schaute sie sich selbst wie eine Fremde im Spiegel an. Ich bin Ende Zwanzig und alleinstehend. Was erwarte ich eigentlich vom Leben? Milena stellte sich diese Frage heute zum ersten Mal. Und sie wußte keine Antwort darauf. Ihre Gedanken wanderten zu Arno. Seit einiger Zeit duzten sie sich. Milena stand immer noch unter dem Eindruck ihrer letzten Begegnung. Er war eines Abends noch sehr spät mit einer Flasche Champagner zu ihr gekommen.

»Ich wollte einfach mal sehen, wie Sie sich eingerichtet haben, Milena. Und da Sie mich nicht eingeladen haben, lade ich mich selbst ein«, sagte er gewohnt selbstbewußt und reichte ihr die gekühlte Flasche. Milena war zunächst sehr verlegen gewesen, aber unter Arnos charmanten Komplimenten ihr Äußeres und die geschmackvolle Einrichtung betreffend, hatte sie sich bald gefangen. Und nach dem ersten Glas Champagner war ihr plötzlich ganz leicht zumute gewesen, so daß sie Arno übermütig eine Partie Schach angeboten hatte.

»Ich spiele grundsätzlich nur mit Menschen, die ich duze«, antwortete er. Milena hatte nicht gewußt, ob das der Wahrheit entsprach, oder nur Mittel zum Zweck gewesen war.

»Sie spielen nur mit Menschen, die Sie duzen?« wiederholte sie mit betonter Nachdenklichkeit. Dann hatte sie ihr Glas in einem Zug ausgetrunken.

»Das Du müßten Sie mir schon anbieten, Herr Pawelka. Sie sind der Chef. Und, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, deutlich älter als ich.«

Arno Pawelka hatte gegrinst und den Blick auf der jungen Frau ruhen lassen.

»Ich heiße Arno«, sagte er dann feierlich. Sie hatten erneut die Gläser klingen lassen, und Arno hatte das charmanteste Lächeln zu sehen bekommen, das ein Mann sich wünschen konnte. Allerdings hatte er sich dann nach der ersten Partie zunächst einmal geschlagen geben müssen.

»Du hast mich schachmatt

gesetzt, Milena. Das kann ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen.«

»Du wirst deine Revanche schon noch bekommen, Arno, aber nicht heute«, sagte Milena bestimmt. »Ich muß morgen früh raus.«

»Wer sagt das?«

»Mein Chef«, antwortete Milena lächelnd.

»Na, wenn das so ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu gehen«, sagte Arno seufzend.

Als die Tür ins Schloß gefallen war, hatte Milena noch eine Weile mit dem Rücken an die Tür gelehnt gestanden, bis sich ihr pochendes Herz wieder beruhigt hatte. War sie dem Ziel ihrer Wünsche an diesem Abend näher gekommen? Sie wußte keine Antwort darauf, und ihr Spiegelbild, das sie jetzt immer noch betrachtete, wußte die Antwort auch nicht.

Plötzlich klingelte es an der Tür. Milena erwachte aus ihrer Tagträumerei und schrak zusammen, dabei hatte sie Jens doch erwartet. Schnell suchte sie ihre Handtasche und ihren Schlüssel. Sie wollte Jens nicht in ihrer Wohnung empfangen. Sie lief die Treppen hinunter und begegnete Jens im Treppenhaus.

»Ach, hallo, Frau Berg. Sind Sie schon soweit?« fragte der überraschte Jens, als Milena ihm entgegengeeilt kam.

»Ja, ich bin schon zur Stelle«, antwortete sie und geriet sofort in Verlegenheit, als sie registrierte, daß Jens sich seinen Teil dachte.

»Nun, ich lasse auch nicht jeden in meine Wohnung. Es sei denn, ich bin mit einer Kunstexpertin verabredet«, sagte Jens und grinste. Milena ärgerte sich, daß er sie durchschaut hatte und das auch noch kundtat. Sie lächelte verkrampft. Kein guter Anfang für ein Rendezvous. Außerdem bemerkte Milena mit einem unauffälligen Seitenblick, daß Jens und sie zumindest was das Äußerliche anging, nicht zusammenpaßten. Milena trug ein weißes Kostüm von einfachem aber elegantem Schnitt mit dazu passenden weißen Pumps. Ihre Handtasche war ebenfalls weiß. Auf solche Dinge achtete Milena. Niemals wählte sie eine Handtasche, die nicht zu Stil und Farbe ihrer Kleidung paßte. Jens hingegen hatte ein Cordsakko von undefinierbarer Farbe an, schwarze Jeans und ein schwarzes verwaschenes Hemd. Doch Milena traute ihren Augen nicht, als sie einen Blick auf seine Krawatte warf. Gelb mit schwarzen kleinen Elefanten darauf. Das konnte nur ein Werbegeschenk sein. Und so etwas verbannte man, wenn man nur über ein bißchen Geschmack verfügte, in den hintersten Teil seines Kleiderschranks. Milena malte sich aus, daß sie nun den ganzen Abend auf dieses Ungetüm von Krawatte starren müßte. Doch es kam alles noch besser, als Jens geradewegs auf einen alten klapprigen VW-Bus zusteuerte. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre mit der Frage herausgeplatzt: Wollen Sie damit etwa noch fahren?

Jens fing Milenas Blick auf.

»Keine Angst, ich habe den Wagen gestern erst saubergemacht. Ihr Kostüm wird wohl keinen Schaden nehmen. Daß sie sich so elegant kleiden, überrascht mich allerdings..., obwohl es mir sehr gefällt«, beeilte er sich noch hinzuzufügen.

Milena lächelte gequält und überlegte angestrengt, wie sie in den Wagen einsteigen sollte, ohne daß ihr enganliegender Rock einen Riß davontrüge. Irgendwie erklomm sie den Beifahrersitz und erwartete die nächste Katastrophe, die dann auch auf dem Fuße folgte. Jens fuhr mit Milena zum ›Blauen Reiter‹, einer Künstlerkneipe, wie der Name schon vermuten ließ. Milena kannte diese Kneipe dem Namen nach und wußte sofort, daß sie für dieses Etablissement wahrhaftig nicht die richtige Kleidung trug. Im ›Blauen Reiter‹ verkehrten viele freischaffende Künstler sämtlicher Schattierungen. Die erfolgreichen und weniger erfolgreichen. Die weniger erfolgreichen waren natürlich in der Mehrzahl und prägten mit ihrem geringen Budget das Gesamterscheinungsbild dieser Kneipe. In ihrem schneeweißen eleganten Kostüm fühlte sich Milena deplaciert und entsprechend unwohl. Außerdem hatte sie noch nicht zu Abend gegessen. Doch auf der Speisekarte, ein zerknitterter Zettel in einer Klarsichtfolie, wurden nur kalte Frikadellen oder Würstchen mit Brot angeboten. Hatte sie Jens falsch verstanden? Hatte er nicht davon gesprochen, daß sie zusammen essen gehen wollten? Jens bestellte beim Wirt, den er mit Vornamen anredete, zwei Bier. Milena wollte gerade einen Einwand erheben, weil sie erstens lieber Wein trank und außerdem etwas richtiges essen wollte, als Jens die Vorzüge dieser Kneipe, in der er schon seit vielen Jahren verkehrte, aufzuzählen begann.

»Ich liebe diese Kneipe«, begann er. »Schon als Student auf der Fotofachschule, habe ich hier mein Bier getrunken und mit den anderen gefachsimpelt. Mit dem Blauen Reiter verbinde ich richtig nostalgische Gefühle.«

Milena nickte nur. Irgendwie konnte sie Jens ja verstehen. Die Einrichtung der Kneipe war recht originell. Die Wände waren mit Bildern und Fotos regelrecht tapeziert, und es waren natürlich alles Originale. Einige der Exponate waren mittlerweile sicher richtig wertvoll.

»Von mir hängt auch ein Foto hier«, sagte Jens uneitel und wies auf ein effektvolles Schwarz-Weiß Porträt einer Frau an der gegenüberliegenden Wand.

»Ach, tatsächlich. Ist es eins Ihrer frühen Porträts, die neulich erst bei Horvaths Gallery gezeigt worden sind?« fragte Milena, deren Interesse nicht nur an der Kneipe, sondern an Jens Overbeck auf einmal wieder erwacht war.

»Ja, genau. Aber dieses Porträt ist nicht dabei gewesen.«

»Ich weiß. Es wäre mir aufgefallen. Wer ist diese Frau?« fragte Milena.

»Mara Overbeck. So hieß sie damals. Jetzt heißt sie Mara Mai«, antwortete Jens beiläufig.

Milena überlegte, ob sie Jens richtig verstanden hatte.

»Habe ich das richtig verstanden?«

»Ja, ich denke schon. Sie war meine Frau...«

»Mara Mai? Aber das ist doch diese Schlagersängerin, von der die Gazetten voll stehen.«

»Interessant, was Sie so alles lesen«, erwiderte Jens nur.

»Nun ja. In diesem Fall war es sicher kein Fehler.«

»Ich war mit Mara Overbeck verheiratet, nicht mit Mara Mai«, sagte Jens und überließ es Milena, sich einen Reim darauf zu machen. Irgendwie hätte er das Thema Ex-Frau gern umschifft. Aber dazu war es nun zu spät, und er trug selbst Schuld daran.